Archiv für den Monat: März 2021

Kleinigkeiten zu Bach

Die wunderbare (verwundbare) Symmetrie

Es ist Zeit, mal wieder Bach zu bewundern: lassen Sie doch das schöne Menuett aus der E-dur-Partita BWV 1006 mal wieder in Ruhe an sich vorüberziehen, singen Sie es innerlich durch. Ich habe es extra noch nach Takt-Gruppen geordnet umgeschrieben. Sie sehen, wie in Takt 27 der Anfang wiederkehrt, Sie erkennen den gleichmäßigen 4-taktigen Periodenbau, und die Achtel ab Takt 29 können Sie leicht gedanklich umkomponieren, so dass sie den A-Teil von oben – statt ihn in einen Halbschluss zu führen – alternativ und doch ähnlich zuendebringen.

Merken Sie, wie Ihnen die Symmetrie gut tut? Oben 2 Zeilen A-Teil, unten 2 Zeilen Wiederkehr, in der Mitte 4 Zeilen B-Teil.

Ich erinnere mich gut, wie ich diese Partita studiert habe, gleichzeitig mit meinem Freund Klaus Giersch; ich trug mir seine Fingersätze und Auf- und Abstriche sorgfältig ein, weil er sie bereits von unserm Lehrer Franzjosef authentisch übernommen hatte. Da es sich hier um 2 Menuette hintereinander handelt, fragte ich aus irgendeinem Grund noch schriftlich nach, ob wir das erste Menuett nach dem zweiten als Dacapo (und dann ohne interne Wiederholungen) noch einmal spielen sollen. Ich wollte nicht der Dumme sein, falls das stilistisch selbstverständlich ist; irgendwo in einer Orchestersuite war das wohl schon mal vorgekommen, jedoch – die flapsige Antwort war: „wennste willst“… Klar, ad libitum. Ich erwähne das nur, weil über wirklich Wichtiges im Wechselverhältnis dieser beiden Menuette dabei gerade nicht gesprochen wurde. Das war typisch für Geiger, sie kümmern sich um Fingersatz und Phrasierung aller Stücke: aber um sie wirklich zu „studieren“, muss man sie nicht unbedingt analysiert und verstanden haben. Dachte man insgeheim. Man kennt sie ja, man kann sie sogar schon auswendig. – Vielleicht sollte man sich aber einmal produktiv verunsichern und sie anders lesen. Hier ist unsere heutige Übung.

Ich weiß, dass es einen Stolperstein im Ablauf gibt; er wurde von mir listigerweise eingebaut. Der Zweck heiligt die Mittel…  Falls Sie einige Zeit investieren mussten, um ihn zu entdecken, bitte ich um Vergebung. Meine Absicht war, die Attraktivität der Symmetrie auf uns wirken zu lassen, man trennt sich schwer von der Vorstellung, dass gerade dieser wohlgefällige Eindruck unser kritisches Vermögen aushebelt. Es dauert nicht lange, bis man dann sagt, die Form solcher Tänzchen sei doch recht simpel.

Aber schauen Sie nur in der vierten Zeile auf die Takte zwischen 14 und 17! Sie haben vielleicht das Notenbeispiel gar nicht angeklickt, um die Taktzahlen leichter lesen zu können??? Bitte schön.

*    *    *

Und nun die eigentliche Arbeit: Bach im Original. Es ist gar nicht so leicht, den Stolperstein zu identifizieren, es handelt sich um eine Dehnung, fast eine motivische Wiederholung, um ein Viertel verschoben. (Kleiner Scherz: Die Stufe, die man erwartet hat, ist gar nicht da…)

vgl. mit dem Orig. unten (!)

Darauf, den Vorgang so unmäßig zu verdeutlichen, kam ich durch die relativ neue Monographie von Moosbauer, deren Analyse mich nicht zufriedenstellte, obwohl sie in den Details korrekt ist.  Ohne eine solche Analyse analysieren zu wollen, gebe ich sie hier wieder; allein das Unbehagen könnte schon zu musikalischeren Ideen führen.

-pen bestehenden Figurationen den Weg. Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz. (Seite 169)

Quelle Bernhard Moosbauer: Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine Solo / Bärenreiter Werkeinführungen / Kassel 2015 / ISBN 978-3-7618-2220-3

Was mich stört, ist das bloß Buchhaltērische einer solchen Beschreibung. Schon der Hinweis, dass Bach „auf das Mittel des zur Differenzierung gebrauchten Wechsels des Tongeschlechtes beim zweiten Teil eines Paares gleichnamiger Tänze verzichtet“, regt mich auf. Niemand weiß, worauf Bach verzichtet, wenn er das schreibt, was er schreibt. Und erst recht verwendet er keine „Bausteine“, um dann irgendwelchen Figurationen einen Weg zu bereiten. „Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz.“

Ist von lebendiger Musik die Rede? Daran gibt es jedenfalls keinen Zweifel, wenn ein wirklicher Analytiker sich ihr zuwendet, – der die notwendigen „Formalitäten“ schnell hinter sich bringt und freilich eines genauen Lesens bedarf („Stau in Takt 12“):

Gewiss gibt es auch hier strittige psychologisierende Deutungen – „faßbare Größenordnungen, die aber vom Sog linearer Energie immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden“, „ein Einsprengsel, wie eine flüchtige Erinnerung formaler Deutlichkeit zuliebe, damit das Menuett nicht haltlos verströmt“ -, aber das ist wunderbar gesagt und verleitet vielleicht zu einem leisen Widerspruch, der in die Musik zurückführt.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik / dtv Bärenreiter Kassel 1987 / ISBN 3-423-04460-8 (Zitat Seite 54)

Bei Moosbauer, der offenbar seinen Kühn auch gelesen hat, führt leider selten eine Formulierung begeisternd in die Musik zurück. Wie etwa dort, wo Kühn die Formenwelt der Suite beschreibt, darunter die Doppel-Fassungen bestimmter Sätze:

»In der Art der Musette« ist diese zweite Gavotte komponiert. Gern werden Tänzen solche (oft kontrastierenden) Alternativsätze beigegeben (»Bourreé II«, »Menuet II«): formales Vorbild für das spätere Menuett-Trio (= »Alternativsatz«) der klassischen Symphonie (…). Eine andere Fassung desselben Tanzes meinen dagegen die Agréments – ausdruckssteigernde, wie improvisiert wirkende Verzierungen – und das Double. In Bachs h-moll-Partita für Violine solo löst es das ruhige Schreiten des Sarabande in rastlose Motorik auf:

Quelle Clemens Kühn a.a.O. Seite 123 f

Hat sie sich wirklich vom Tanz so weit entfernt?

Die Bourrée, von der eben die Rede war, hier (extern) in der Interpretation von Johannes Moser:

Grundlagen jeder Musik: Bewegung und Gleichgewicht (nach Clemens Kühn)

Zur Idee der Bewegung gehören die Begriffe „Fortspinnung“ und „Sequenz“: Sie knüpfen an den Themenkopf an.

Die Fortspinnung treibt weiter. Aber das geschieht leicht, mehr assoziativ als zielstrebig. In aller Regel unterstützen Sequenzen die lockere Fortführung. (…)

Nicht Symmetrie bestimmt den Fortspinnungstypus, sondern fließendes Weitertreiben, nicht inhaltliche Entsprechung zweier Hälften, sondern motivische Ausspinnung in den drei Teilen, nicht entgegengestellter Kontrast, sondern ungehinderte motivische Energuie: Fortspinnung meint Bewegung  statt Gleichgewicht.

(Kühn a.a.O. Seite 44 f)

Die Gestaltung musikalischer Form verdankt der Tanzmusik Grundlegendes: das Taktprinzip selbst wie auch die Unterscheidung »schwerer« und »leichter« Takte, analog dem schwer-leicht der Tanzschritte; motivisch-rhythmische Symmetrie und die gleichgewichtige Entsprechung von Taktgruppen, analog der Symmetrie der Tanzfiguren. Im periodischen Gestalten der Klassik (…) schlägt sich das am nachdrücklichsten nieder; ob hier allerdings die Abfolge »schwer-leicht« oder umgekehrt »leicht-schwer« das metrische Verhältnis von Takten regelt, ist strittig – und dürfte sich auch einer abstrakten Normierung entziehen.

(Kühn a.a.O. Seite 52)

Das Erlebnis der Symmetrie ist wunderbar, verlangt aber nicht nach endgültiger Fixierung; die Wahrnehmung der Aufhebung einer Symmetrie erscheint nicht als Zerstörung, sondern als Belebung.

P.S. (in Arbeit)

Ich hätte noch ein paar Kleinigkeiten in petto, die ich nie klein finde, wenn es um Bach geht. Die eine ist ganz einfach zu erledigen, obwohl sie bei Moosbacher recht umständlich behandelt wird. Zwei Schlangenlinien am Ende des Grave-Satzes der Sonata BWV 1003 a-moll. Auch er hat bei Greta Moens-Haenen nachgelesen, die allerhand Beispiele für geschlängelte Linien liefert, trifft dann aber wohl die falsche Entscheidung.

Ich will zwar nicht behaupten, dass die etwas unglücklich gezogene Bindung über der dritten, langen Zweiunddreißigstelkette einen anderen Grund hat als Platzmangel. Denkbar wäre es immerhin, dass das bindende Element in Frage gestellt wird, woraus der Gedanke des Bogenvibratos nach vorne tritt: die Viertelnote des Sextintervalls f’/d“ löst sich auf in 8 „staccatierte“ Zweiunddreißigstes und der Ton e“ als Triller-Beginn über dis“ schließt sich an, während, das f‘ zum fis‘ übergeht. Ziemlich absurd, dass sich dieser Übergang als Glissando vollziehen soll.  Die phrygische Sekunde vom f‘ zum e‘ wird ausgehebelt, indem das f‘ vorweg zum fis“ wird, was aber als harmonischer Fortgang denkbar ist (bei Bach auch sonst vorkommt), sogar als letzte Steigerung vor dem Einklang e’/e“.

Und der Fingersatz „unspielbarer“ vierstimmiger Akkorde, wo allen Ernstes die Hinzuziehung des Daumens erwogen wird, weil sowas irgendwo bei Bruhns schon mal vorkommt? Ebenfalls absurd.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass man „alle Finger auf der Saite liegen lassen“ soll? Ohnehin muss man die Kunst des arpeggierten Akkordspielens erlernen, und man es so flexibel handhaben wir ein Cembalospieler. Und zwar von unten nach oben, von oben nach unten, auch „zurückbrechend“ auf die beiden Mittelsaiten wie in den Takten 22/23 dieses C-dur-Adagios. Und während man von unten nach oben bricht, findet man auch den rechten Moment, einen Finger der linken von der unteren Saite auf die höhere springen zu lassen. Also man spielt in Takt 158 (s.o.) auf den beiden unteren Saiten die Oktave a/a‘ mit den Fingern 1/3 als massiven Vorschlag und lässt auf den beiden höheren Saiten die Oktave c“/c“‘ mit 1/4-Griff aufjubeln. Man darf hören, dass es schwierig ist, denn etwas Großes ist in Arbeit, die große Kadenz in e-moll und der himmelstürmende Abschlussteil vor dem „al riverso“.

Aber was man dann als zweite Möglichkeit (s.o.) liest, ist – mit Verlaub gesagt – barer Unsinn. Mit Daumenaufsatz, umklammern Sie nur munter den Geigenhals und versuchen Sie nicht nur den Griff zu erzwingen, sondern ihn mal so zwischendurch einfließen zu lassen. Oder im nächsten Beispiel (s.u.): Greifen Sie mal g‘ auf der D-Saite und c“ auf der A-Saite – diesen 2. Finger schön senkrecht stellen, denn er darf die E-Saite nicht berühren, weil Sie noch das leere E dazugesellen wollen – so: gesetzt den Fall, Sie können diesen dreistimmigen Griff schon mal klangvoll spielen, jetzt bitte noch den Daumen aus der Gegenrichtung auf die G-Saite zu klemmen: man kann Sie nur beglückwünschen, wenn Sie über solche Schlangenfinger verfügen und diesen Griff einigermaßen locker aufgesetzt bekommen.  Locker? ja, Sie wollen ja auch noch weiterspielen…

Und was steht da jetzt von „Quintgriff“ — mit Verweis auf den Barré-Griff der Gitarristen? Mein Gott, man sollte womöglich einen der verfügbaren Finger auch noch flach über die Saiten legen, und vielleicht gerade den, der senkrecht stehen soll, damit er die leere E-Saite nicht tangiert — jaja, da gibt es „erschwerende“ Aspekte. Aber zwei Wochen Kerkerhaft wären leichter zu absolvieren.

Bach-Repetitorium JR

Um den Faden nicht zu verlieren…

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15.02.2022 http://s128739886.online.de/bachs-lamentoformel/ hier

15.02.2022 http://s128739886.online.de/kavakos-mit-bach/ hier

10.05.2022 http://s128739886.online.de/schon-wieder-bach/ hier

Goebels Jahrsiebtprojekt

Beethovens Welt – eigene Fußnoten und Werke von Freunden & Zeitgenossen

Einige Nachrichten von Reinhard Goebel

Foto ©Wolf Silveri

Franz Clement Violinkonzert No. 1 D-Dur 1805

Violinkonzert No. 2 d-moll 1807

Rondo A-Dur für Violine & Streicher 1815

L.van Beethoven Konzertsatz C-Dur für Violine 1792

Franz Schubert Konzertsatz D-Dur für Violine D 345 1816

Antonin Reicha Sinfonia Concertante E-Dur für 2 Violoncelli & Orchester 1808

Bernhard Romberg Concertino g-moll für 2 Violoncelli & Orchester 1815

Anton Eberl Concerto B-Dur für 2 Klaviere & Orchester 1803

Jan l. Dussek Concerto B-Dur für 2 Klaviere & Orchester 1806

L. v. Beethoven Konzert Es-Dur No. O für Klavier Den Haag 1788

J.N. Hummel Konzert G-Dur op.17 für Violine, Klavier & Orchester 1805

Paul v. Wranitzky Sinfonie D-Dur op.36 – 1799

Joseph v. Eybler „Follia mit allen Instrumenten“ 1801

Anton Eberl Sinfonie Es-Dur Op. 33 1803/5

Sinfonie d-moll Op. 35 1806

Franz X. Sterkel Ouverture F-Dur für Orchester 1810

Bernhard Romberg Trauer-Sinfonie für Königin Luise von Preussen 1811

Luigi Cherubini Sinfonie D-Dur für großes Orchester 1815

J.V.Vorisek Sinfonie D-Dur 1821

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TEXT RG

Dass die beiden großen Beethoven-Jubiläen 2020 und 2027 – die Feier der 250.Wiederkehr seines Geburtstages am 17.Dezember 1770 in Bonn sowie die 200. Wiederkehr seines Sterbens in Wien 1827 – zu einer (kleinen) Beethoven-Dekade ausgerufen werden, ist kaum zu vermuten. Anders als der Reformator Luther, dessen „Dekade“ wir seit 2007 eher lustlos feiern, war Beethoven sesshaft: Bonn, Wien, ein Abstecher nach Berlin, das kann man touristisch beileibe nicht aufbereiten! Allerdings ist zu befürchten, dass – wie bei allen vorausgegangenen Jubiläen von Musik-Heroen seit dem Dreifach-Jubiläum 1985 – einmal mehr wieder nur der bereits hinlänglich bekannte Kanon von Werken erklingt und die Chance einer historisch korrekten Positionierung des Œuvres im Koordinaten-System seiner Entstehungs-Zeit ungenutzt verstreicht, allenfalls von Musikwissenschaftlern hinter dicht verschlossenen Türen durchgeführt wird. Mit dem Kongress-Bericht wäre dann ab ca. 2037 zu rechnen.

Wie Eleonore Büning – heute Musik-Ressort-Chefin der FAZ – in ihrer Dissertation, gedruckt als „E.E.Bauer – Wie Beethoven auf den Sockel kam“ – belegt hat, war die Inthronisation des Meisters ein in Berlin 1824 – 1830 geleistetes Politikum, das die Marginalisierung und Degradierung sämtlicher Zeitgenossen bedingte – und auch nach sich zog. „Nein, Beethoven ist nicht der beste Komponist! Er ist einer der besseren, aber wenn alle so komponieren würden, gäbe es nur noch das Chaos in der Musik“ schrieb kurz zuvor noch ein Zeitgenosse – und in der Tat wurden viele seine Werke vom Wiener Publikum und von der Presse der Zeit gleichermaßen erst ein mal mit Befremden rezipiert. Zumal mit der „Eroica“ von 1806 war Beethoven den entscheidenden Schritt zu weit gegangen – er wird geschäumt haben, als er in der Musikzeitung las, dass der (aufgrund seiner hohen pianistischen Fähigkeiten ohnehin ungeliebte) Konkurrent Eberl in seiner Sinfonie op.33 in gleicher Tonart aus dem gleichen Jahr 1806 weitaus mehr Tradition mit romantischem Ausblick zu verbinden imstande war. Während Wien immer für Neues von jungen Komponisten offen blieb, fuhr Berlin voll auf Beethoven ab und die eigene Musikproduktion „runter“. Die Verbildlichung, Heroisierung und Vergöttlichung nahm in Preußen geradezu groteske Züge an: vor keinem Komponisten vorher oder gar nachher haben sich die Massen derart verneigt wie vor Beethoven.

Dass das Jahrsiebt 2020-27 zu einer spannenden, bereichernden Erfahrung für die Hörer werden kann, ist insofern unwahrscheinlich, da es die Konzert-Dramaturgie seit Jahrzehnten versäumt hat, den ungeheuer reichen und bis in die kleinsten Facetten der Programmatik seitens US-amerikanischer und englischer Musikforscher aufgearbeiteten Kalender des Wiener Konzertlebens zur Kenntnis zu nehmen.

Diese Arbeiten belegen, dass man zwischen 1800 und 1815 in Wien wöchentlich mindestens ein Konzert mit der Ur-Aufführung einer gewichtigen Komposition erleben konnte – und das, obwohl es in Wien (anders als in Berlin, Paris, London oder Leipzig) vor der Gründung der „Gesellschaft der Musikfreunde“ keine geregelte, kommerziell-öffentliche Konzert-Reihe gab. Sämtliche Konzerte waren also den Aktivitäten des Kaiserhauses (der Konzert-Kalender der Kaiserin Marie Therèse II. ist eine Fundgrube für „Sonder-Repertoire“), des Adels oder der konkurrierenden Künstlern zu verdanken – Ausdruck einer wahren Musik-Begeisterung und Gegenstand breiten öffentlichen Interesses….

Warum nun ausgerechnet Europas östlichste Hauptstadt über dieses so überaus vitale Musikleben verfügte, ist schwer zu sagen. Gluck und vor allem Haydn, der übrigens seine Sinfonien nur für Esterhazy, Paris und London, nie aber eigentlich Wien geschrieben hat, mögen international mehr als nur eine „gewisse Anziehungskraft“ besessen haben. Zu ihnen gesellte sich ab 1781 dann Mozart. Zu allererst aber war Wien die Hauptstadt eines wahrhaft gigantischen Reichs: Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Slowenien, große Teile Nord-Italiens bis vor die Tore des Kirchenstaats und auch des heutigen Polen waren habsburgisch dominiert – und in der bis 1806 zudem noch Deutschen Kaiserreichs-Hauptstadt zu reüssieren, war ganz sicher der mehr oder minder geheimste Traum aller Instrumentalisten und Komponisten deutscher Zunge.

Beethoven, aus dem heute noch kleinen, seinerzeit aber auch schon dreckigen Bonn am Rhein in das damals schon grandiose Wien kommend, musste erst einmal mit Schrecken feststellen, dass es in der Reichs-Hauptstadt von grandiosen Talenten nur so wimmelte. Und er wird vor Beginn seiner Taubheit sehr gut hingehört und sehr genau registriert haben, was das spezifisch wienerische Element der Musik ausmacht – Mozart hatte genau das, unter Verzicht auf seine westeuropäisch orientierte galante Manier, auch getan, tun müssen!

Beethoven allerdings verzichtete auf Nichts: er verband das ihm Nützliche mit dem ihm Dringlichen – über das die meisten aus dem habsburgischen Reich stammenden Musiker nicht verfügten: dem Wissen um die von fürstlichem Wohlwollen und Publikums-Akklamation unabhängige Eigengesetzlichkeit der Musik. Es war dies das Erbe seiner Bonner Lehrjahre bei dem C.P.E. Bachs Ideen verpflichteten Lehrer Chr. G. Neefe – dieser als Komponist keine große Leuchte, immerhin aber als Erzieher! – während doch der Großteil der mittleren Wiener Talente sich eher im Nachahmen verschliss.

Niemand hat die Unterscheidung zwischen affirmativer U- und widerständiger E-Musik derartig vorangetrieben wie Beethoven. Bei aller Tiefe und „Künstlichkeit“ ist in der Musik Bachs, Händels und Mozarts der U-Anteil übrigens erheblicher, als wir das heute zu hören imstande und auch zu akzeptieren bereit sind! Und auch Beethovens hat in seiner „Musik für die große Öffentlichkeit“ bisweilen viel mehr U einfließen lassen, als allgemein geglaubt, gehört wird! Um an die Zeitgenossen „ran“ zukommen, mußte er ihnen schon „entgegen“ kommen.

Nur: dieses Element von vielleicht 20 % eines Werkes im „wienerischen“ Gusto – den zeitgenössischen Hörern als Hinwendung und Anerkennung ihrer Wünsche erkennbar und entsprechend dankbar aufgenommen – hören wir heute nicht mehr, da uns die zeitgenössischen Standards nicht bekannt sind. Wir vermeinen lediglich zu hören, dass eine Komposition mit „viel Wien“ und nur 20 % der beim ersten Hören undurchdringlichen Künstlichkeit dem Genre flacher Gesellschaftsmusik zuzuschreiben sei….

Ohne an Beethovens Größe und seiner nahezu aggressiven Selbst-Stilisierung, dem an Carl Philipp Emanuel Bach orientierten „Original-Genie“ zu kratzen – nein doch, er „konnte nichts dafür, er war so“ – ohne seine eminente Bedeutung in Frage zu stellen, könnte doch in oder sogar zwischen den beiden Jubeljahren der Versuch gemacht werden, ihn dadurch ein wenig zumindest zu relativieren, dass wir uns einmal explizit den Zeitgenossen zuwenden.

Denn mehr noch als der von Beethoven selbst eingeschlagene ist der ihm von der Nachwelt bereitete, gesellschaftlich sanktionierte und später auch in vorauseilendem Gehorsam planierte Weg von Opfern gesäumt: irgendwelche frühen Gutmenschen haben Schubert zumindest teilweise aus dieser Opfer-Rolle erlöst, aber ansonsten wird das gesamte Wiener Musikleben zwischen Mozarts Tod anno 1791 und Brahms im kollektiven Bewusstsein von Beethoven „beherrscht“…

Alle anderen seinerzeit gut klingenden Namen, ob sie – wie die Violinisten Clement, Schuppanzigh oder Mayseder oder die beiden Cellisten Kraft – nun als Interpreten-Komponisten zum zeitgenössisch-aktuellen Ruhm Beethovens beitrugen oder ob sie als Pianisten oder Komponisten direkte Konkurrenten und somit Feinde waren, sind vergessen, ihre Memoria ist ausgelöscht.

Dass sich übrigens weder die österreichische Musikwissenschaft noch die Musikstadt Wien aktuell um diese Komponisten „kümmert“, hängt damit zusammen, daß der Sissi-Wolferl-Beethoven-Kult den internationalen Tourismusladen zum Selbstläufer gemacht hat. Warum auch die täglich in Massen aus Asien einfallenden Touristen mit der Botschaft verunsichern, Wien sei mehr als SiMoBe und Staatsoper – habe ich da etwas vergessen? Sicher aber auch tut der seitens der Wissenschaft in Großbritannien und den USA praktizierte „distant mirror“ der Sache keinen Schaden – er macht die Beschäftigung mit dieser Materie im Gegenteil zu einem äußerst exklusiven Vergnügen!

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Meine augenblickliche Repertoire-Liste „Beethovens Welt“ ist das Ergebnis von zehn Jahren Arbeit. Die Liste ist bereits kondensiert: Kompositionen von Cartellieri, Paer, Albrechtsberger, Pleyel und Salieri wurden nach ersten Experimenten als unergiebig und wenig repräsentativ ausgeschieden. „In Arbeit“ sind noch Konzerte für mehrere verschiedene Solo-Instrumente sowie Solo-Kantaten und Faschingsmusiken.

Mit Ausnahme der beiden frühen Beethoven-Kompositionen – des Klavierkonzerts Nr. 0 und des Violinkonzert-Fragments – liegt das Entstehungsdatum aller Werke zwischen 1800 und 1815, dem Zeitraum also, in dem Beethoven seine Sinfonien 1 bis 8 komponierte, in einem seiner Skizzenbücher aber bereits Motive der 1824 erst vollendeten 9. Sinfonie festhielt. Für fast alle Werke sind exakte Angaben über die Ausführenden, sowie Ort und Zeit der Uraufführung erhalten. So ist bekannt, daß Clements Violinkonzert Nr.1 zusammen mit der „Eroica“ am 7.April 1805 im Theater an der Wien aufgeführt wurde – und auf Beethovens Violinkonzert op. 61, von Clement im Dezember 1806 aufgeführt, dessen 2. Violinkonzert d-moll im Jahr 1807 folgte, diese drei Werke also in einem äußerst engen Abhängigkeits-Verhältnis zueinander stehen.

Beethoven selbst hatte in Bonn bereits mit der Komposition eines voll orchestrierten Violinkonzerts begonnen, das aber Fragment blieb, wohingegen der Solo-Part seines ersten Klavierkonzerts mit einem reduzierten Orchester-Klavierauszug vollständig erhalten ist. Dieser Klavier-Part wirkt nicht besonders „mozartisch“, wie überhaupt auch für die anderen Konzerte meiner Programme – das Doppelkonzert von Hummel ist hier expressis verbis ausgenommen – „Mozart“ nicht die Folie ist, bisweilen kaum noch der Ausgangspunkt sein dürfte, sondern ein eigenes, auch weit über Haydn herausragendes Idiom erarbeitet wurde, das bei Eberl und Reicha bereits eindeutig romantisch ist. Reichas Sinfonia Concertante für zwei Violoncelli geht dabei bis in experimentelle Extreme von Form und vor allem Spieltechnik. Für wen es der enge Beethoven-Freund geschrieben hat, bleibt rätselhaft. Ebenso fragwürdig ist, ob es überhaupt jemals öffentlich produziert wurde.

In einigen Sinfonien schimmert Haydns europaweit bewunderte Manier durch – was bei einem Entstehungs-Datum vor der Eroica 1806 kein Wunder ist, aber bei den später entstandenen Werken dann ein wenig altmodisch klingen kann. Nicht jeder Komponist war gewillt, augenblicklich Beethovens Manier zu folgen, warum auch ? Cherubini gar komponierte nur eine Sinfonie, weil er Haydn und Mozart ohnehin in diesem Genre für unschlagbar hielt. Bezeichnenderweise hört man aber in Cherubinis einziger Sinfonie auch ein spätes hommage an den vermeintlich längst vergessenen Gluck : besonders seine beiden Iphigenien blieben auf Europas Bühnen das gesamte 19. Jhdt. über präsent. Fidelio hingegen verschwand in der Versenkung – aus der er alle paar Jahre wieder mit viel Lärm hervorgeholt und zur Reanimation auf die Bühne gehievt wird.

Eberl, der ungeliebte und leider viel zu früh verstorbene Konkurrent Beethovens, erreicht titanische Höhe aus eigener Kraft : fabelhafte Musik, für Hörer aber, die Beethovens Schrägheiten gewohnt sind und für essentiell erachten, ist sie manchmal vielleicht ein wenig zu positiv gestimmt! In Eberls Kompositionen ist „noch Luft nach oben“ – jene Luft, die Beethoven dann bis 1815 der Sinfonie nahm, so dass er selbst zehn lange Jahre am Konzept, an Form und Inhalt seiner Neunten rumbastelte – und spätere Komponisten sich überlegen mussten, ob sie überhaupt Sinfonien zu schreiben wagen dürften. Die chronologisch späteste Sinfonie meines Programms, die 1821 entstandene einzige Sinfonie des Tschechen Vorisek (*1791) , beweist, dass man mit der „Gnade der späten Geburt“ aus dem Schatten Beethovens heraustreten und in klassischer Romantik komponieren konnte

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Mein Interesse an den Beethoven-Zeitgenossen reicht bis in die späteren Gymnasial-Jahre um 1970 zurück, als ich zum ersten Male die Violinstimme von Beethovens Violinkonzert op.61 sah, wo es über dem Notentext heißt „Per clemenza per Clement“ – was mir mein damaliger Lehrer nicht erklären konnte. In Vor-Wikipedia-Zeiten stand – und auch heute noch steht das Lexikon MGG – Die Musik in Geschichte und Gegenwart – stets griffbereit zwischen Schreibtisch und Notenständer, also war das Rätsel schnell gelöst. Zu einer wirklichen Beschäftigung mit Clement und dem Umfeld kam es nicht, da ich mich seinerzeit doch mehr zu den Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs und vor allem zu der Musik des 17. Jahrhundert hingezogen fühlte und erst einmal wissen wollte, „wie das so so geht“. Das Unbekannte, gerade das nicht „in aller Munde“ seiende interessiert(e) mich lebenslang brennend mehr als jegliches „Repertoire“.

Immer aber registrierte ich dennoch, was es im Radio und „auf Platte“ so an bemerkenswert „Anderem“ neben den mir zutiefst unbehaglichen Beethoven-Sinfonien gab: Gidon Kremers Aufnahme des Beethoven-Konzert-Fragment C-Dur war (wie Susanne Lautenbachers weitaus ältere Aufnahme des Violinkonzerts „Gesangs-Szene“ von Louis Spohr) ein seltener Einblick in eine Terra Incognita, die zu entdecken ich mir „für später nach der Pensionierung“ vornahm, ganz felsenfest.

Am Tag nach meinem finalen Abschied von Musica Antiqua Köln, dem Ensemble, dem ich bis zum 13. August 2006 dreiundreißig lange Jahre treu gedient hatte, wurde mein Arbeitszimmer fundamental umgestaltet: all der Kram um „Bach & das 17. Jhdt.“, auch etliche Regalmeter von Büchern über das Violinspiel in Geschichte und Gegenwart waren am Abend des 14. August Geschichte und wanderten in den Keller. Griffbereit hinter den Schreibtisch kamen nun Mozart-Dokumente, Beethoven-Briefe und neben der gigantischem Garland-Publikation „The Symphony 1720 – 1840“ ein Werk-Katalog „Johann Christian Bach“ zu stehen – und mit den Methoden, die ich in meinem Studium der Musik-Wissenschaft lernte, mehr noch aber in der Praxis von Musica Antiqua durch Anwendung kapierte, erschloss ich mir diese anfänglich durchaus gefürchtete Terra Incognita .

Nein: ich steige nicht in verstaubte Archive, vatikanische Grüfte – dies ist sowieso eine Mär des Marketings – um „Stücke“ zu finden: ich vertraue den Büchern, die ich lese und bestelle die mir die vielversprechenden Sachen bei den Bibliotheken als Scans, erstelle computerisierte Partituren und erprobe die Stücke peu-à-peu auf dem Podium. Da fällt – wie bereits gesagt – manch eine Komposition recht schnell als affirmative Tagesproduktion auf und durch: weg damit!

„Künstlerisches Selbstbewusstsein“ bedeutet für mich: zu wissen, was ich zu leisten imstande bin – aber auch: genau die Felder zu kennen, auf denen ich nichts zu sagen habe, weil mir die Worte, weniger das Wissen als vielmehr das Interesse für solche Repertoire-Bereiche fehlen. Beethovens Sinfonien-und Konzert-Œuvre interessiert mich nicht – ersteres ist bei der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen akut in so wunderbaren Händen: warum also sollte ich meine bescheidene Rest-Lebenszeit damit vertun, deren unübertreffliche Leistungen durch irgendwelche verdrehten Distinktions-Maßnahmen zu diskreditieren?

Meine Interessen galten immer den durch die heroisierende Musikgeschichts-Schreibung des 19. Jahrhunderts mundtot gemachten Opfern. Und so sind Clement, Wranitzky, Eybler, Reicha und Romberg „genau mein Ding“ –

Alle Werke liegen in modern computerisierten Partituren, korrigierten und bezeichneten Stimmensätzen vor. Die Vorlagen stammen aus der ÖNB (Österreichische Nationalbibliothek), der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde sowie tschechischem Privat-Besitz.

rg 2020

Der obige Text wird in diesem Blog (JR) wiedergegeben mit freundlicher Erlaubnis des Autors

©Reinhard Goebel / zur realen Web-Präsenz bitte HIER

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„Beethovens Welt“ – die Aufnahmen im Überblick bei jpc (screenshot)

Zu diesen Aufnahmen im externen Fenster hier, dort die einzelne CD anklicken, um danach in Einzeltracks hineinhören zu können.

Was ist wesentlich?

Vom Sinn des Lebens und vom bloßen Wohlstand

Und von Hans Blumenberg.

Zitat

Ein Gott, der ein trostbedürftiges Wesen geschaffen hat, also auch nur ein im Schmerz der Tröstung fähiges Wesen, könnte nicht als wohlmeinend gedacht werden, wenn er diesem Geschöpf Spendung und Empfang von Trost versagte, woher auch immer sie kommen mögen. […]

In früheren Generationen fanden Eltern ihren Trost wegen des eigenen Elends und Unglücks bei dem Gedanken, es könnte ihren Kindern einmal besser ergehen, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür nur gering sein mochte oder sogar alles dagegen stand. Man muß ein trostbedürftiges Wesen nicht der Wahrheit ins Auge sehen lassen, nicht den unbedingten Realismus von ihm fordern. Wittgenstein hat zutreffend gesehen, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet ist, wenn sie nicht mehr gestellt wird; es ist dieselbe Grundposition, die Freud veranlaßt hat zu sagen, wer nach dem Sinn des Lebens fragt, sei krank. Trost bedeutet auch und vor allem, daß die Frage nach dem Sinn des Leides, das Trostbedürftigkeit erweckt, nicht mehr gestellt wird. Dazu kann es genügen, im unerträglichen Faktum der betroffenen Existenz den Willen einer nicht-menschlichen, also nicht als niedere Bosheit zu empfindenden Macht zu sehen. Es genügt, daß die Betroffenheit des eigenen Daseins dem Willen der anderen entzogen ist, indem  sie dem Willen des anderen unterstellt wird. Die Frage nach der Wahrheit der Existenz dieses Willens ist beantwortet, wenn sie nicht mehr gestellt wird. Insofern ist die Funktion der Kontingenzbewältigung an Wahrheit gebunden. Nur steht diese Wahrheit aus Gründen der Veränderung der Faßbarkeit des Gottesbegriffs nicht mehr unter der Gehorsamsforderung der Anerkennung von Tatsachen. Unser ganzes Weltbild beruht auf Sätzen, die des Zusatzes bedürfen, es könne so sein, müsse es aber nicht. […].

Quelle Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Suhrkamp Verlag Berlin 2019 (Seite 83 f „Trostlosigkeit der Wahrheit“)

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(Der Ton ist teilweise katastrophal. Es liegt nicht an unserm Gerät.)

Wie Goebel in Frankreich

1975 und heute

das früheste Cover (Detail)

.    .    .    .    . der Goebel-Text 1975

das Programm 1975

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Le Parnasse Français

.    .    .    .    . .    .    .    .    . der Goebel-Text 1978

Archiv LP 1978 (Ausschnitt)

das Programm 1978 (LP Cover Ausschnitt)

Reinhard Goebel und königliche Meister

was das nun wieder ist? … ein kleiner Umweg über Innsbruck HIER

TEXT 2015 ©RG

Pars pro toto: welch eine wundervolle Idee, unter dem 1978 zweifellos recht großmundigen Titel meiner ersten „französischen“ Aufnahme für die Archiv-Produktion – Le Parnasse Français – heute die Sammlung sämtlicher französischen Musiken, die ich in den folgenden 25 Jahren dann für das Label machte, zusammenzufassen.

In der Tat ist das, was Musica Antiqua Köln und ich innerhalb eines Vierteljahrhunderts für die Archiv-Produktion aufnahmen, so etwas wie die die Blütenlese der französischen Instrumentalmusik unter dem Sonnenkönig und seinem Nachfolger Louis XV. Und sehr schwer nur, ja kaum noch kann man sich heute vorstellen, mit welchem Befremden das Publikum der 1970er Jahre dieses Idiom selbst in Frankreich zur Kenntnis nahm, wurde doch Barockmusik grundsätzlich mit maschinell ratternden Abläufen „à l’italien“ gleichgesetzt.

Nun also ein verstörend neuer Ton von Diskretion & Leichtigkeit & gespreizter Verfeinerung, eigentlich unbarocker Zurückhaltung und gezügelter Affekte. Selten wird diese Musik so elementar traurig oder auch so mitreißend jubelnd, wie die von Bach, Telemann und Heinichen, immer bleibt sie dem Theater, dem Rollenspiel und verklausulierter Gestik verpflichtet – evoziert augenblicklich bei aller Bewunderung immer auch freundliche Distanz. Weder reißt sie uns in die Tiefen tränenüberströmten Leidens hinab, noch katapultiert sie uns auf direktem Weg in den Himmel…

Schwer vorstellbar im digitalen Zeitalter ist auch, unter welchen Bedingungen man vor dieser Zeitenwende unveröffentliche Musik aufarbeitete! Filme und Fotos von Musikalien herzustellen, dauerte Wochen, manchmal Monate, – und so fuhr ich anfangs mit dem Nachtzug nach Paris und deckte mich im Lesesaal der Bibliothèque Nationale in der Rue de Richelieu mit billigen, schnell verblassenden Fotokopien der Stimmbücher ein, die gleichwohl noch in moderne Partitur übertragen werden mussten: eine extrem zeitaufwendige, aber ebenso befriedigende und vor allem beruhigende Arbeit, die mich mein gesamtes Musica-Antiqua-Leben hindurch an den Schreibtisch fesselte.

Damals, als sich die Laden-Regale der Musikalien-Handlungen in aller Welt noch nicht unter der Last hunderter überflüssiger Faksimiles bogen, als die bizarrsten Repertoire-Wünsche und sämtliche Autographe Bachs noch nicht nur einen mouse-click und ein download entfernt waren, entwickelten wir in unserem Ensemble zu jeder Komposition eine persönliche Beziehung – und wir waren enorm stolz auf unser wirklich einzigartiges Repertoire, welches Bewunderung, Neid, manchmal aber auch – besonders bei jenen hardlinern, die nach wie vor glaubten, Musik sei „die deutscheste der Künste“ – Unverständnis und Häme hervorrief.

Für meine Kollegen und mich vergrößerte sich mit jeder neuen Komposition französischer Provenienz sowohl die Liebe zu unseren lateinischen Nachbarn und ihrer wunderbaren Kultur – gleichzeitig änderte sich auch der Blickwinkel auf den heute so grotesk überbewerteten Kultur-Transfer zwischen Frankreich und Deutschland: veritable Frankreich-Begeisterung gab es zwischen 1680 und 1690. Um 1700 waren die Wellen der Begeisterung längst abgeebbt und all die Neuigkeiten, die die französische Staatsmusik den verarmten Nachbarn vermittelt hatte, bereits derartig inkorporiert und amalgamiert, daß man nur noch von einem „vermischten Geschmack“ sprechen kann.

Le Parnasse Français – ein kaum über das Stadium der Kopfgeburt hinausgekommener Plan eines Denkmals für Louis le Grand, zu ihm als Apollo seines Zeitalters aufblickend u.a. die Dichter Moliere, Corneille, Quinault , Racine und als einziger Komponist Jean Baptiste Lully – wurde im Laufe des langen Lebens seines Schöpfers Titon du Tillet (1677 – 1762) fortwährend in Buchform weiter entwickelt ( „Suite du Parnasse Français“ 1727/32/43 und 1755 ) und personell bereichert: trat Lully noch in Person auf, so wurden die Nachkömmlinge nur noch in Form von Porträt-Medaillons an den Felsen Parnass gehängt und das Projekt entzog sich durch Übervölkerung und zu erwartender Kosten-Explosion einer finalen Realisierung.

Es versteht sich, daß in den exklusiven Zirkel zu Füßen des großen Königs nur Schüler und Epigonen des bereits 1687 verstorbenen Lully aufgenommen wurden – immerhin mit Elisabeth Jaquet de la Guerre auch ein Frau !! – und alle diejenigen lange, bzw. für immer ausgeschlossen blieben, die sich irgendwelcher Italianismen verdächtig oder sogar schuldig gemacht hatten. Überhaupt fand man erst nach dem Tode Aufnahme in den Parnass – wobei für Voltaire dieses eherne Gesetz selbstverständlich gebrochen wurde.

All denjenigen Komponisten, die die Stagnation des französischen Musikgeschmacks beklagt und die Öffnung hin zum italienischen Idiom gefordert oder gar praktiziert und somit für Wandlung und Fortschritt gesorgt hatten – wie den Musikern des „Style Palais Royal“ Forqueray, Blavet, Leclair und Couperin – blieb der Parnass ebenso verschlossen wie dem im Dresdener Orchester spielenden Pierre Gabriel Buffardin. Der vermeintlichen Preisgabe veritabler französischer Werte folgte die Damnatio Memoriae als gerechte Strafe.

Unser „Parnass Français“ aus deutschem Blickwinkel ist also im Wesentlichen von Dissidenten bevölkert – Komponisten, die man noch nicht einmal aus Gnade in die zweite Reihe stellte, wie den in Rom ausgebildeten, in Paris zeitlebens marginalisierten Charpentier. Erstaunlich aber ist, daß der „Paix du Parnasse“ – ein auf enormer Stilhöhe gewähltes Kompositions-Emblem des François Couperin „le Grand“ – nur zwischen den Lateinern Lully und Corelli besiegelt wurde und die Leistungen deutscher Komponisten überhaupt nicht zur Sprache kamen. Unüberbrückbar tief waren die jahrhundertelang ausgehobenen Gräben zwischen den Franzosen und den Deutschen, die sich dennoch beide auf Charlemagne, Karl den Großen als Reichsgründer beriefen: Telemanns Gastspiel 1737/38 in Paris und Voltaires Aufenthalt in Potsdam 1750/53 blieben rühmliche Ausnahmen in einem ansonsten immer frostigen Klima zwischen den beiden Völkern.

Ohne sentimentale Übertreibung darf ich sagen, daß es meine Nachkriegs-Erziehung war, die diese anhaltende tiefe Liebe zur französischen Kultur auslöste – durchaus mitvollzogen von meinen internationalen Kollegen im Ensemble Musica Antiqua Köln. Uns alle hat die lange Beschäftigung mit der französischen Musik vor allem im ersten Jahrzehnt unserer Bühne-Präsenz ungeheuer bereichert, unsere Telemann-Interpretation bestimmt, sowie Ohren und Herz für das geöffnet, was man im 18. Jahrhundert hierzulande „vermischten Geschmack“ zu nennen pflegte.

Nach 15 Jahren Abstinenz – nach 1985 befassten wir uns fast ausschließlich mit dem Erbe deutscher Musik – dann im Jahr 2000 den Soundtrack für Gérard Corbiaus Film „Le Roi danse“ beisteuern zu dürfen, war weitaus mehr als nur ein Engagement unter vielen, es war mehr als nur die Rückkehr zu den Wurzeln, mehr als nur ein déjà-vue: ich fühlte mich veritablement in den „Parnasse Français“ erhoben – und es war eine fabelhafte Zusammenarbeit, an die ich immer mit größter Freude zurückdenken werde.

Somit erneut enthousiasmiert für die französische Kunst widmeten wir uns dem instrumentalen Schaffen Marc Antoine Charpentiers, dessen Todestag sich 2004 zum 300. Male jährte. Diese Aufnahme war der Schwanengesang des Ensembles: ich verabschiedete mich vom Parnass herab und erklomm stattdessen die Treppenstufen zur „Salle des Suisses“ im Palais des Tuileries. Aus meinem alten Leben nahm ich die Liebe zur französischen Kunst in mein neues Leben mit – und habe im Repertoire des „Concert Spirituel“ einen neuen Forschungs-Mittelpunkt gefunden.

rg

Texte wiedergegeben mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Reinhard Goebel ©2021

Wissenschaft und Vorurteil

A propos Karl Lauterbach (ohne Mundartfärbung)

Die Wissenschaft, in der ich tätig bin, also die klinische Epidemiologie, unterscheidet sich insofern von der philosophischen Wissenschaft, als [dass] die Bandbreite dessen, was als wissenschaftlich gesichert gilt, doch viel klarer umrissen ist. Während man in der Philosophie nie zu einem vollständigen Konsens darüber kommen wird, ob eine materialistische oder idealistische Sicht auf die Welt richtig ist, liegt das Spektrum in der Epidemiologie viel näher beieinander. Natürlich sind auch die medizinischen Disziplinen diskursiv, aber hier wird doch meist eher über bestimmte Schattierungen gestritten. Ein Beispiel: Wissenschaftlich ist mittlerweile relativ klar, dass der AstraZeneca-Impfstoff gut wirkt. In Details gibt es zwar noch Diskussionen, aber dabei geht es eher darum, noch das Haar in der Suppe zu finden, wie Christian Drosten es zutreffend genannt hat. In der Öffentlichkeit entsteht unterdessen oft der Eindruck, die Bandbreite der Meinungen in der Virologie oder Epidemiologie wäre extrem groß. Im vergangenen Sommer schien es etwa so, die Virologie streite darüber, ob wir jemals einen Impfstoff für Covid-19 bekommen werden. Dabei waren es nur wenige Leute, die daran zweifelten. Für 95 Prozent der Virologinnen und Virologen war indes klar, dass man für ein Virus, das über ein Spike-Protein in die Zelle eindringt, ein Vakzin wird entwickeln können.

Quelle hier (bitte erst später öffnen und nachlesen)

Ich wähle das Beispiel meiner eigenen (an mir selbst „erprobten“) Vorurteile, um nicht mit dem Finger auf (imaginäre) Lauterbach-Verächter zu zeigen. Ich beginne also mit dem Satz, den man ertragen sollte: Karl Lauterbach gehört für mich zu den maßgebenden Politikern unserer Zeit. Zunächst die Punkte seines Lebenslaufes, die Zündstoff hergeben: also aus dem Wikipedia-Artikel hier folgende Zitate:

Karl Lauterbach [- geboren in Düren -]  wuchs in Oberzier in unmittelbarer Nähe der Kernforschungsanlage Jülich auf, sein Vater arbeitete in einer nahe gelegenen Molkerei. Trotz sehr guter Leistungen in der Grundschule erhielt nur eine Hauptschulempfehlung, wechselte dann aber mit Unterstützung seiner Lehrer zuerst auf die Realschule, dann aufs  Gymnasium am Wirteltor, wo er sein Abitur ablegte.

Ein Markenzeichen Lauterbachs war lange Zeit die Fliege, die er des Öfteren anstelle einer Krawatte trug. Bei Talkshowauftritten im Jahr 2020 zum Corona-Virus trägt Lauterbach bewusst keine Fliege mehr, da er sich so, nach eigener Aussage, eine höhere Akzeptanz seiner Einschätzungen bei jüngeren Zuschauern verspricht.

Fehlt noch: eine Anmerkung zur allmählichen Veränderung seiner widerspenstigen Haartracht. Ist er nur etwas ungeschickt in seinen Anpassungsversuchen?

In dem oben schon zitierten Artikel werden die an Stammtischen (gesetzt, sie fänden noch statt) zutage tretenden Vorurteile nicht zum Thema, – nichts Thymotisches also – abgesehen vom „Hass“, der fast wie eine Naturkatastrophe erscheint, der man aus dem Wege gehen könnte.

ZITAT

Noch eine Frage zum Schluss: Seit Beginn der Pandemie werden Sie im Netz von Gegnern der Corona-Maßnahmen immer wieder mit Hasswellen überzogen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, sich das nicht weiter anzutun?

Nein, das habe ich nicht. Ich versuche einfach, so gut ich kann, also nach bestem Wissen und Gewissen, einen Beitrag zu leisten. Damit werde ich erst aufhören, wenn ich den Eindruck habe, dass ich diesen Beitrag nicht mehr leisten kann, mich aber nicht durch die Anfeindungen und Bedrohungen einschüchtern lassen.

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Einige Notizen, die der Unschlüssigkeit bei der Analyse eigener Vorurteile entsprechen:

Zur Erforschung der Sprechmelodien in den Dialekten hier oder auch hier

Speziell zu  Lauterbachs Tonfall: Vorurteil Kölsch? hier

Das Thema ist anregend genug, aber dann sollte auch irgendwann Schluss sein mit vordergründigen Abschweifungen à la Krawatte, Frisur oder Slang. Wer nicht aus dem Rheinland stammt oder hier lebt, braucht vielleicht etwas länger, um zu abstrahieren.

Sehr gut über Rawls hier / des weiteren hier (Wiki)

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Schon bevor die neue ZEIT eintraf, kam ich auf die Idee, mich – statt mit Lauterbach „persönlich“ – mit den maßgebenden Impulsen seines Lebens zu beschäftigen, dem philosophischen Ansatz und den naturwissenschaftlichen Prinzipien. Eher sollte es nicht weitergehen: Eine plausible Verbindung des Lebens „da draußen“ mit den notwendigen geistigen Bewegungen. Idealer Ansatzpunkt: das Gespräch mit einem Paläontologen, der zu meiner Überraschung weniger über seine fossilen Fundstücke spricht als über das Genom und die „Schnittstelle zwischen Mama und Kind“. Und damit verabschiede ich mich fürs erste und (Vorurteil!) suche ein paar Bücher heraus (unten im Überaum, im Regal gleich neben Adolf Portmann, wo auch Dawkins steht, nein eher irgendwas zur anthroposophischen Vorurteilsgenerierung). Vorweg das ZEIT-Zitat, die Frage, von der aus das Gespräch mit Shubin an Fahrt gewinnt:

ZEIT: Als Paläontologe kraxeln Sie durch die Arktis und hauen jahrmillionenalte Fossilien aus dem Fels. Im Labor untersuchen Sie unsichtbare zeitgenössische Genome. Ist diese Kombination der Schlüssel, um das Ganze zu verstehen?

SHUBIN: Evolution ist eine komplizierte Angelegenheit. Da brauchen Sie jedes Werkzeug, das Sie kriegen können. Die Fossilien zeigen mir, wie das alte Leben aussah. Auf der anderen Seite müssen wir die Gene verstehen, um das Geschehen in unseren Zellen zu verstehen.

ZEIT: Wie muss ich mir das vorstellen?

SHUBIN:Als eine Art Krieg. Unser Genom wird, während es Generation für Generation seine Arbeit tut, ständig von Viren infiziert. In jeder Zelle herrscht Aufruhr. Soll man den neuen Mikroorganismus bekämpfen oder sich mit ihm arrangieren? Ein Beispiel: in der Plazenta erfüllt ein Protein eine besondere Aufgabe. Es heißt Syncytin und dient als molekularer Verkehrspolizist für den Austausch von Nährstoffen und Abfallprodukten zwischen Mutter und Fötus – wichtig für die Gesundheit des Embryos. Wissenschaftler entdeckten, dass es sich dabei um ein Virusprotein handelt. Irgendwann muss also ein Virus in uns eingedrungen sein. Es hackte sich in unser Genom, brachte dort das Programm für sein Protein unter – und wurde seinerseits gehackt. In der Folge verlor es seine Infektionsfähigkeit, wurde von seinem neuen Herrn zur Arbeit herangezogen – und arbeitet nun für uns an der Schnittstelle von Mama und Kind.

ZEIT: Ein typisches Drehbuch für biologische Innovationen? [Durchaus]

Etwas später:

Quelle DIE ZEIT 4. März 2021 Seite 33 »Die Natur ist ein fauler Fälscher« Wenn neues Leben entsteht, wird unentwegt geklaut und kopiert. Warum ist das so? Ein Gespräch mit dem Paläontologen Neil Shubin (Mit Urs Willmann)

Vorschlag: Jetzt zurück zum Philosophie-Magazin hier

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Keine Ausflüchte (ein Nachwort zum wirklich Wütendwerden)

Immerhin gab es gestern ein Statement der Bundeskanzlerin. Und die von ihr erzeugte Ratlosigkeit kann nicht mit einem Lob der Wissenschaft weggewischt werden. Eine weitere Leseempfehlung, denn:

Was die Kanzlerin und ihr Kanzleramtsminister zuletzt über Corona-Tests und die Corona-Warn-App gesagt haben, ist geradezu unverschämt. Es lässt uns vielleicht nicht zu Wutbürgern werden, aber zu Grollbürgern.

Sascha Lobo über Staatsversagen in der Pandemie – HIER. (Spiegel Netzwelt)

ZITAT

Noch im März könnte Amerika so viele Menschen geimpft haben, wie in Deutschland leben.

Im direkten Kontrast schmeckt Merkels »Teststrategie sicherlich im März« noch einmal erbärmlicher nach Dysfunktionalität, Widerwillen, Versagen in der Breite und der Tiefe. Wenn Deutschland wie bisher weiter mit unter 200.000 Impfungen am Tag vor sich hin dümpelt, dann stehen nicht nur zu Ostern über sechs Millionen Dosen unverimpft in der Gegend rum.

P.S. Ich zum Beispiel habe den lang ersehnten und begehrten Impftermin Mitte April…

Das Unbehagen an der Klassik

Am Beispiel Adalbert Stifters (nur ein Versuch, ein „Platzhalter“)

Es wirkt nach, seit der jüngsten Lektüre zweier Werke („Der Hochwald“ 1841 und „Brigitta“ 1843), zwiespältig trotz eines gewissen Vergnügens und freundlichen Zuspruchs von außen.

Siehe hier.

Eine Fortsetzung war erst möglich, als ich mich auch in meinem Widerstreben besser verstanden fühlte. Ich denke nicht nur an mich, sondern – sagen wir – an die Aufgabe, ich müsste dergleichen an meine Enkel vermitteln (reales Beispiel „Kleider machen Leute“).

Zur Vergegenwärtigung dessen, was mir – neben allerhand ruhevollen Naturschilderungen – als allzu selbstgenügsame oder sogar „papierene“ Ausdrucksweise aufgefallen war, lese man die unten im Text wiedergegebenen Beispiele. Es ist ja ganz anders als bei Kleist (natürlich), dessen stilistische Widerborstigkeit mich schon früh positiv gereizt hat. Sobald man eine bewusst stilisierende Absicht erkennt (statt Unvermögen), wird man ästhetisch wachsam. Hier ist ein Buch, das ich bis jetzt gemieden hatte, zumal der seit Schulzeiten vertraute Name Benno von Wiese nur noch die Assoziation „Nazi“ weckte. Victor Lange ist unverdächtig, ein differenzierter Sprach-Beobachter .

ZITATE (Victor Lange)

Quelle Victor Lange: Stifter – Der Nachsommer / in: Der Deutsche Roman, herausg. von Benno von Wiese / Vom Realismus bis zur Gegenwart / Bd.II / August Bagel Verlag Düsseldorf 1963 / Seite 34 bis 75

Es ging mir vor Jahren nicht wesentlich anders mit Goethe („Wahlverwandtschaften“) oder bei den vergeblichen Versuchen mit Jean Paul („Siebenkäs“). Beschämend, weil ich es zu Schumanns Ehren angestrebt hatte. Dagegen war mir E.T.A. Hoffmann in Berlin (vielleicht nur durch universitären Druck: Proseminar bei ???) früh zugänglich geworden. Ich hatte sogar eine ganz erfolgreiche Arbeit über die Erzählanfänge in den „Serapionsbrüdern“ geschrieben. Erfreuliche Wiederkehr der Eindrücke, als ich über das erste Klaviertrio von Brahms nachdachte („der junge Kreisler“).

Jetzt kam mir in Erinnerung, irgendwo über den Kanzleistil als eine deutsche Schule der Schreibkunst gelesen zu haben. War es bei Heinz Schlaffer? Also ist schnellstens eine „Nachlese“ in seinem genialen Büchlein fällig: über „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv 2003/2008). Wer sonst hat solche Ideen gewagt?!

P.S. Mit Bezug auf meine Nazi-Bemerkung zu Benno von Wiese fühle ich mich veranlasst – insbesondere nach weiterer Lektüre dieses Werkes zum Deutschen Roman – daraus die erste Seite über Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wiederzugeben, – Albrecht Schöne, dessen Buch „Barock-Symposion 1974“ in meinem Bücherregal der Wiederentdeckung harrt, zunächst jedoch nur dieses (Quelle s.o. Benno von Wiese a.a.O.):

Um noch einmal auf die Rehabilitation Adalbert Stifters gegenüber einem „modernen“ Urteil zurückzukommen. Sehr lesenswert ist nach wie vor Walther Killy:

Bei Proust I – wo?

Man müßte verhärtet sein, wollte man die Reinheit der Absicht nicht bemerken und von der Vergeblichkeit nicht ergriffen werden, mit der in deutscher Sprache, im 19. Jahrhundert und in einer alternden Kultur eine Art von erzieherischem ›Robinson‹ versucht wird. Allein wie dieser auf seiner Insel, leben die Menschen des ›Nachsommer‹ in einer anderen Welt und Zeit, überzeugt, daß alles ihnen zum Besten dienen und einen Sinn erweisen werde. Wäre Stifter nicht ein großer Erzähler gewesen, so hätte des Programmatische seines Werkes Leben und Wirklichkeit zum Erliegen gebracht. Es blieb dies seinen Nachfolgern minderen Ranges überlassen, die, vom „Bildungroman“ fasziniert, letzte Frage stellen zu müssen glaubten, wo der große Roman Welt aufstellt. Stifter war ein Dichter und …

Walther Killy „Utopische Gegenwart“ 1967

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Kein Ausweg (Alle Fotos: E.Reichow)