Archiv für den Monat: November 2021

Die Welt an sich

Kapiert?

Man soll die Gelegenheit beim Schopfe fassen, sobald man etwas kapiert: aufschreiben, abschreiben oder was auch immer. Kopieren, was man kapiert. Das geht auch. Mir geht es so mit dem Ding an sich. Jahrelang dachte ich, dass sei so etwas wie Platos „Idee“ in seiner „Ideenlehre“, von der ich auch noch nicht viel wusste. Oder wissen wollte. Seit ich in einem aus der Stadtbibliothek Bielefeld entliehenen Buch eine graphische Skizze gesehen habe, darin durch einen Kreis markiert: die Idee oder das Ding an sich, seitdem weiß ich gar nichts mehr. Aber jetzt! Hier:

Aber viel früher (in Bielefeld) hatte ich bei Nietzsche Aphorismen gelesen, in denen er über das „Ding an sich“ bei Kant spottete. Da war es für mich eine Weile tabu. Ich wollte mich natürlich auf das letztlich Richtige beschränken und las erstmal keinen Kant mehr… So hielt man das in Bielefeld. Man wollte ganz vorne mitspielen, nicht auf den Hinterbänken bei den Hinterweltlern, die ich natürlich auch nur von Nietzsche kannte. Am 31.Mai 1965 kaufte ich mir in Köln antiquarisch das Buch von Jaspers über Nietzsche (für 12.-DM) und ahnte, dass ich Nietzsche nie verstanden hatte. Jedenfalls nicht im philosophischen Sinne. Hier las ich nun, und es dämmerte mir: „Versuchen wir eine Welt zu denken, wie sie an sich sei, so scheitern wir.“ Ist das nicht reinster Kant? „Die Welt ist Ausgelegtsein.“ Sie ist, wie wir sie auslegen… Mit ihm sind wir durchaus keine Hinterweltler, „Hinterwelt“ – das ist nicht Bielefeld!

Quelle: Nietzsche – Einführung in das Verständnis seines Philosophierens / Von Karl Jaspers / Verlag Walter de Gruyter & Co. Berlin und Leipzig 1936

Um nun zu prüfen, dass ich den Text oben, der von Volker Gerhardt stammt (genaue Quelle weiter unten), nicht vorschnell verstanden habe, gebe ich auch die darauffolgenden Seiten wieder, die den Sinn der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich näher beleuchten. Und wir erfahren, dass man von diesem eigentlich gar nicht sprechen kann. Es wird nämlich nur erschlossen. Es könnte dasein. Aber es ist nicht vorhanden…

Quelle Volker Gerhardt: Immanuel Kant – Vernunft und Leben / Reclam Stuttgart 2002

Ich lasse es dabei bewenden. Habe ich mich nicht schon früher mit der Welt an sich befasst? Immer wieder, hier zum Beispiel, aber ich muss diese Themen heute nicht mehr miteinander verknüpfen. An sich steht doch alles bei Kant, oder – wenn man einmal den Einstieg gefunden hat – in Volker Gerhardts Buch über Kant.

Lebendiges Denken erleben? Zum Beispiel in einer Runde, die 2004 im Nachtstudio zusammensaß, darin auch Volker Gerhardt:

Noch etwas weiter zurück (Gegner 1788 bzw. Anhänger 1798):

Wie einen seine Mutter tröstet

Werbung, Musik und Zweifel

„Die Werbung sucht zu manipulieren, sie arbeitet unaufrichtig, und sie setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird.“ (Quelle: s.u. „Kommentar“ Video zur Penny-Werbung bei 19:20)

Süddeutsche Zeitung / Zeit der Zärtlichkeit  27./28.Nov. 2021 Seite 17 / Autor: Max Scharnigg

Alles wegtanzen!

Wunschbild Mutter

Kommentar

Trost

CORONA ?

Ja, was man

auch noch sagen sollte,

wurde von Bernd Schweinar gesagt,

bemerkenswerterweise aus dem Pop-Bereich,

heute verbreitet durch den Newsletter der NMZ (Martin Hufner):

Sehr geehrte Newsletterabonnentinnen und -abonnenten,

eine quietschfidele Selbstblockade erleben wir gerade in der Politik Deutschlands. Was die Corona-Pandemie angeht. Man möchte nicht mehr länger zuschauen. Es rappelt und ruppelt mal wieder zwischen Überbrückungsgeld, wildem Gefuchtel mit halbherzigen Entscheidungen.

Ich möchte Sie nicht zu sehr langweilen und greife deshalb auf ein Statement des hochgeschätzten Künstlerischen Leiters der Bayerische MusikAkademie Schloss Alteglofsheim und den Bayerischen Rockintendanten Bernd Schweinar zurück. Der antwortete auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur:

Kultur lebt seit jeher von der Polarisation! Ich bin groß geworden mit Themen wie Friedensbewegung und Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Bei beiden Themen haben zahlreiche Künstler:innen eindeutig und voluminös Position bezogen. Das vermisse ich in der heutigen Pandemieproblematik. Die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft beschwören vielfach nur jene herauf, die selbst die Spaltung betreiben. Kultur darf sich hier nicht einschüchtern lassen. Es geht um nichts weniger, als ein funktionierendes Kulturleben mit Publikum in der Zukunft. Und wer sich durch seine Impfverweigerung ausgrenzt bzw. Kultur damit schädigt oder unmöglich macht, den braucht die Kultur auch in Zukunft nicht mehr als Publikum! Diejenigen will ich persönlich auch gar nicht mehr in einem Konzert sehen. Zudem stelle ich die Fußballfrage auch in der Kultur. Ungeimpfte Künstler:innen brauchen unsere Bühnen nicht, weil sie diese Bühnen im Moment beschädigen! Wenn ungeimpfte Künstler:innen sich eigene Bühnen für ungeimpftes Publikum schaffen – mit eigenem finanziellen Risiko – dann sei ihnen das unbenommen.“

*     *     *     *

Und noch etwas zum Lesen, eine Kolumne von Christoph Schwennicke über den wahren Grund für das deutsche Corona-Desaster:

HIER

Lebenslust Mozart

Die Quintette

Ich glaube, dass diese Worte, für sich genommen, selten gepaart werden. Seltsamerweise. Daher dieser Blogtitel. Bei Mozart vergisst inzwischen kaum noch jemand, von Melancholie oder Todesahnung zu sprechen. Ganz besonders, wenn es sich um „späte“ Werke handelt. Und die Werke, die mir dank dieser Aufnahme in kürzester Zeit unentbehrlich geworden sind, stammen aus seinen beiden letzten Jahren. Zum Glück wusste er das nicht, als er sie schrieb. Und zu meinem späten Glück gehört noch etwas anderes: ein neues Buch, das ich ab sofort zu meinen schönsten zähle, das mich am Computer immer wieder  zwingt, Namen einzugeben, die das Glück des Südens evozieren, meinetwegen auch das von Untergang und Tod, Pompeji, Herculaneum, Paestum – nein, der letzte  Name passt nicht ganz. Oder nur so wie die Ballons zu den Schnecken der Streichinstrumente. Paestum verschwand nicht sang- und klanglos, ein griechisches Kleinod in Kampanien. Es versandete und versumpfte erst 500 Jahre nachdem der Vesuv die anderen Städte ausradiert hatte. Es wurde nur etwa zur gleichen Zeit wiederentdeckt, ein Wunder der Archäologie und der antiken Mittelmeerkultur.  Paestum 1752. (Mozart war noch nicht geboren.)

(siehe hier)

Wie der Taucher mir auf die Sprünge half…

Und was beim Mozart-Hören erst recht zu denken gab:

Zunächst natürlich die schiere Musik, aber das frühere Quintett KV 593 vor dem späteren, sobald ich begriff, warum es auch in der 3-teiligen CD-Folge den abschließenden Höhepunkt bildet (Tr.5-8). Der Ideenreichtum liegt auf der Hand, aber das rauscht nicht in vollkommenem Gleitflug vorüber, als opake Gestalt, sie ist vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert. Um das Offensichtliche noch einmal hervorzuheben, hier 2 Seiten aus dem langsamen Satz, die die „gruppendynamischen“ Verhältnisse ins Licht rücken:

Alldies vermischt sich in der täglichen Lektüre merkwürdigerweise mit der eigenen Biographie (die Neigung zum Griechischen, die von meinem Vater stammt, leider auch die Vernachlässigung der neuen Sprachen), die frühe Begeisterung für Nietzsches „Geburt der Tragödie“ mit dem Sprung zu Wagners „Tristan“. Die verrückte Möglichkeit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen„. Als Steigerung einer „ewigen Wiederkehr“ !

*    *    *   

Der Autor des Paestum-Buches, Tonio Hölscher, zieht Parallelen von dem griechisch besiedelten Ort Paestum im antiken Kampanien zu der griechischen Insel Thasos, wo es uralte steinerne Belege über bestimmte Treffpunkte der Jugend gibt:

Auf Thasos, an der Südküste der Insel, weit von dem städtischen Hauptort entfernt, stürzt die Küste bei der Örtlichkeit Kalami mit einer Felsterrasse in das Meer ab (…). Zum Wasser hin sind in die Felswand Dutzende von Inschriften in Buchstaben des 4. Jahrhunderts v. Chr. eingeschrieben, die mit einem ungewöhnlich reichen Vokabular schöne Epheben preisen: kalós und hōraíos, schön; hēdýs, süß; eúcharis, anmutig; euprósōpos und kalliprósōpos, von schönem Gesicht; euschémōn, von guter Haltung; eúrythmos, von schöner Bewegung; chrysoús, golden; argyroús, silbern glänzend, und so fort. Es sind emphatische Zeugnisse homoerotischer Beziehungen: geschriebene Komplimente erwachsener Liebhaber an ihre favorisierten jungen Geliebten, nicht nur flüchtig ausgesprochen oder aufgeschrieben, sondern in anspruchsvoller Schrift, in aufwändigen technischen Akten des Eingravierens mit Meißel und Hammer zum Ausdruck gebracht. Teils waren die Inschriften von der Terrasse aus zu lesen, teils aber nur vom Wasser aus, mit ihren großen Buchstaben sogar aus einiger Entfernung: also entweder für Insassen von Booten oder für Schwimmer im Meer. Die sorgfältig in den Fels gehauene Schrift, sicher durch Farbe in ihrer Lesbarkeit verstärkt, lässt erkennen, dass es ein etablierter Adoleszenz-Treffpunkt der höheren Gesellschaft war: ein Ort, an dem die städtische Jugend, zusammen mit ihren Bewunderern, sich auf den Klippen am Meer traf, in weiter Distanz zum Zentrum der städtischen Lebensordnung. Die Terrasse bot Raum zur Anknüpfung von Beziehungen, an einzelnen Stellen konnten die Jugendlichen vom steilen Felsen ins Meer springen und die trainierte Eleganz ihrer nackten Körper zeigen, andere konnten mit Booten auf spielerischen Fischfang gehen – und die erwachsenen Liebhaber konnten ihre Zuneigung in Inschriften am Felsen manifestieren. Alles erinnerte an die Tomba della caccia e pesca. Es wird sich zeigen, dass dies nicht nur spielerischer Zeitvertreib, sondern eine bezeichnende Situation der antiken Jugendkultur war, in der homoerotische Beziehungen eine starke, heute der Erklärung bedürfende Bedeutung hatten.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 41f / Weiteres siehe hier, Rezensionen hier.

Die „starke, heute der Erklärung bedürftige Bedeutung“ der homoerotischen Beziehungen in der griechischen Antike war schon in meiner Schulzeit ein Thema, blieb allerdings in Andeutungen und humoristisch gemeinten Bemerkungen stecken. Es wäre eine Chance gewesen, den damals noch geltenden Paragraphen 175 ernsthaft zu analysieren. Unvorstellbar jedoch in einer Zeit, als die Sexualität ganz allgemein unter einem verbalen Tabu stand, das überall wirkte; das Wort „Lebenslust“ hätte man damals gemieden. Dabei buchstabierten wir Platons „Gastmahl“, entzifferten Catulls Verse an Lesbia. Aber ich erinnere mich an einen Tag, als mein Vater (ausgerechnet er, der bekennende Altsprachler) das englische Wort „Sex Appeal“ gebrauchte. Mir stockte der Atem.

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Riemann-Kauf mit frischer Tinte besiegelt…

Darüber hätte ich mit meinem Vater – glaube ich – reden können. Ich vermute, er hat sich das Quartett im Mai 1921 in Berlin zum Partiturspiel-Üben zugelegt, als angehender Kapellmeister, sein Riemannsches „Handbuch der Orchestrierung“ trägt die unkorrigierte Signatur vom 24.V.1921. Das Lerchen-Quartett. Ob er deren Gesang jemals bei Ausflügen aufs Land identifiziert hat? Er kannte keinen einzigen Singvogel, war aber zweifellos ein begeisterter Schwimmer und erinnerte sich zeitlebens an die Ostsee bei Kolberg oder in Wieck bei Greifswald , nahm später fürlieb mit dem Freibad Wiesenstraße in Bielefeld. Der neueste Stempel mit der Adresse Paderborner Weg 26, weitab dort oben am Waldrand (heute Furtwänglerstraße), galt erst ab 6. Dezember 1957, mein Vater genoss das eigene Haus keine zwei Jahre. 9 Monate nach seinem Tod begann – im Frühling 1960 – mein Studium in Berlin, wo er 40 Jahre vorher das seine begonnen hatte. Muss das denn sein, soviel Geschichtlichkeit in eigener Sache? Natürlich, wenn es ohne Jammern abgeht. Wir bezeichneten uns ironisch und zukunftsfreudig als Epheben. Und empfanden keine Defizite.

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„Das hat er vom Vater“ war in meiner Jugend eine oft gebrauchte Formel, die ich nicht gern hörte. Ich bewunderte ihn, traute mir aber mehr zu, und zumindest in der Körperlänge erfüllten sich meine Erwartungen früh. Wenn mir gesagt wird, dass Details eines Mozart-Quintetts aus dem „Lerchen-Quartett“ von Haydn abgeleitet seien, ohne dass man freilich die enge Verwandtschaft spürt, bin ich skeptisch. Wie kommt es, dass ein Kenner wie Charles Rosen das Quintett KV 593 seitenlang analysiert (S.321-326), aber eine intime Nähe zu Haydn allenfalls beim letzten Quintett KV 614 konstatiert? Je kleiner die betrachteten Motive, desto ähnlicher, – und desto unmotivierter, sie zu vergleichen.

Quelle Charles Rosen: Der klassische Stil / dtv Bärenreiter 1983

Das inspirierendste Kapitel in diesem Buch ist und bleibt für mich das über Haydns Erschließung des Konversationstons im Streichquartett, der u.a. seine „Erfahrungen als Komponist komischer Opern widerspiegelt“, auch wenn ihm dort der Erfolg versagt blieb (S.131). Hier zunächst wieder ein Blick auf das „Lerchenquartett“:

Inspirierend zugleich beim Blick auf Mozart, den Opernkomponisten auch in seinen Quintetten, deren Lust an der bloßen (?) Musik jedoch Haydns Konversationston überbietet.  Eine Entfaltung psychologischer Netzkonstruktionen – über Abgründe hinweg. Zum Beispiel im ersten Satz KV 593, wenn die Introduktion am Ende wiederkehrt und magisch die ganze Spannweite der Mozart-Musik-Welt aufleuchten lässt. Das mindert nicht im geringsten den Eindruck des „Lerchen“-Quartetts, lässt nur jede Familienähnlichkeit unwesentlich werden.

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Man macht sich keine Vorstellung, wie streng, ritualisiert und andersartig die Adoleszenz in andern Zeiten und Kulturen abläuft. Pauschale Begriffe und Urteile sind nicht angebracht. Und genau das haben wir damals nicht gelernt, wenn wir mit sonderbarem Widerstand das Gastmahl von Plato lasen und glaubten,  die Liebe mehr oder weniger „platonisch“ auffassen zu sollen. Allzu „weichlich“ erschienen uns die Gespräche. Was für ein Müßiggängerleben,- wir kannten wohl auch schon das Wort „Sklavenhaltergesellschaft“. Immerhin studierte man gelegentlich Jacob Burckhardts schonungslose Analyse „Zur Gesamtbilanz des Griechischen Lebens“ – seltsamerweise bei den Neusprachlern. 10 von 80 Seiten darin behandeln den Selbstmord… Umso freimütiger folge ich heute Tonio Hölschers „Taucher von Paestum“:

Die Prüfungen waren zum Teil hart, besonders in Sparta. Dort mussten die Epheben lernen, sich in dem weiten Territorium durch Stehlen die Nahrung zu sichern und Mordterror unter der unterworfenen Landbevölkerung zu verbreiten. In Kreta war es etablierter Brauch, dass die Epheben von einem erwachsenen Liebbhaber in die Berge entführt wurden, wo sie zwei Monate lang zusammen lebten, sich von den Produkten der Natur ernährten und sich auf die Anforderungen des Krieges vorbereiteten. Die homoerotischen Aspekte dieser Verbindungen hatten eine prägende gesellschaftliche Funktion: Die Epheben sollten in der Gemeinschaft mit einem erwachsenen Gefährten, der zugleich Partner und Vorbild war, die Kräfte ihres männlichen Körpers kennen lernen und in die Verhaltensformen der volljährigen Männer eingeführt werden. Dabei war man sich sehr wohl der Gefahren und Risiken homosexueller Erotik in frühem Alter bewusst: Es gab streng kontrollierte Normen des gebührenden Verhaltens: Bedrängende Übergriffe auf den jüngeren Partner wurden hart geahndet. Am Ende dieser Zeit machte auf Kreta der ältere Liebhaber dem jüngeren drei symbolische Geschenke für seine künftige Rolle als Mitglied der Gemeinschaft: einen Becher für das Gelage der Männer, ein prachtvolles Gewand für die Teilnahme an den öffentlichen Festen und ein Opfertier für den gemeinschaftlichen Götterkult. In ähnlicher Form müssen die Jugendlichen auch in anderen Stadtstaaten diese Lebensphase als Umherstreifende, perípoloi, und „schwarze Jäger“ in der freien Natur mit Fangen von Kleintieren und Sammeln von Kräutern verbracht haben: Die Ausbildung der Epheben für den Eintritt in die Welt der erwachsenen Männer war überall eine zentrale Aufgabe. Und auch anderenorts war dabei die Führung der Jugendlichen durch erwachsene Männer in homoerotischen Verbindungen von entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich war diese Form der Homoerotik keine einseitige sexuelle Disposition, sondern ging in aller Regel mit heterosexueller Einstellung zu Ehe und Familie zusammen.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 66f

Es mag uns heute befremden, die griechische Antike von dieser Seite anzugehen, die in früheren Generationen vielleicht verschwiegen, idealisiert, cachiert wurde, so dass wir Jung-Humanisten, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“, keine Ahnung hatten, in welcher Weise sie ihre wilde Welt in absolut „körperlichen“ Modellen erfassten, visuell und taktil in Kunst übertrugen, die der Gewalt und dem Chaos abgerungen war. Unser Befremden ist das eines Ethnologen, der von der Universität zur Feldforschung übergehen will und nicht einkalkuliert hat, dass er die neuen Eindrücke nicht einfach „verarbeiten“ kann, sondern dass sie ihm einen Kulturschock verpassen, der ihn lähmt und blockiert.

Wir haben oben von Mozarts Ideenreichtum gesprochen, von der opaken Gestalt, die sich vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert gerade in den Streichquintetten auftut, von den wechselseitigen Einflüssen zwischen Haydn und Mozart nichts mehr weiß. Etwas unglaublich Neues ist in die Welt getreten, und das darf man nicht weglächeln. Martin Geck hat – konventionell beginnend – den Prozess angedeutet:

Auf dem Feld des Quintetts ist Mozart seinem Lehrmeister in der Quartettkomposition, Joseph Haydn, unbedingt voraus: Wird diesem die Äußerung zugesprochen, »daß er die fünfte Stimme nicht finden könne«, so fühlt Mozart sich in der »fünften Dimension« – derjenigen des klangräumlichen Komponierens – ganz zu Hause.

Nicht nur dem Liebhaber, auch dem Kenner ist es immer wieder rätselhaft, wie nichts anderes als eine zweite Bratsche eine neue Welt der Kammermusik für Streicher aufzutun vermag. Und tritt uns im C-Dur-Quintett KV 515 eine unangestrengte, reife Klassizität entgegen, welche die Buntheit der Haydn-Quartette hinter sich lässt, so jagt uns die bittere Süße oder süße Düsternis des Quintetts KV 516 in g-Moll – eine von Mozarts Schmerzenstonarten – Schauer über den Rücken.

Quelle Martin Geck: Mozart Eine Biographie / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2005 (Seite 161f)

Noch einmal:

ZITAT (Der Taucher von Paestum)

Die Bilderwelt der griechischen Kunst in archaischer Zeit ist erfüllt von einer glanzvoll schönen Lebenskultur – aber im Hintergrund wird immer wieder das Bewusstsein der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Glanzes sichtbar. Die überwältigende Diesseitigkeit der Griechen erhält dadurch ihre Tiefendimension. Nirgends wird das so prägnant deutlich wie in der Inschrift für einen jungen Athener, die den vorbeikommenden Wanderer anspricht:

»Sieh an das Grabbild des Kleoitas und klage, Wie schön er war und doch sterben musste!«

Friedrich Schiller, Mozarts Zeitgenosse, schrieb viele Jahrhunderte später seine Nänie, die mit den Zeilen beginnt:

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Nachtrag 2. Januar 2022

Nach dem Mozart-Tag gestern – immer wieder mit unverhofften Einblicken (man kann nicht alles konsumieren), zum Schluss vollständig die großen Sinfonien (samt Chor-Einschüben und „Zugabe“ der Arie Donna Anna!!!) mit Currentzis, heute noch einmal zum Tagesbeginn das Streich-Quintett D-dur KV 593, Auryn / TACET – unvergleichlich. Danach entdeckt, dass es einen großartigen Text darüber gibt, wie so oft bei Villa Musica (Dr. Karl Böhmer): besonders treffend die Verbindung zwischen musikalisch nachvollziehbaren Sachverhalten und biographischem Kontext.

All dies – der Abschied von Haydn, die geplante kleine Konzertreihe, der neue Schaffenselan – sind in das D-Dur-Quintett eingeflossen. Es ist ein Werk von höchstem Anspruch zwischen übermütigem Scherz und tiefer Melancholie – eines seiner großen Meisterwerke in der majestätischen Tonart D-Dur.(…)

Auch für den zweiten Satz könnte man eine Äußerung des englischen Mozartforschers zitieren: „Er bringt die wahre Essenz des ersten Satzes zum Vorschein. Die Vermischung von Heiterkeit und Traurigkeit ist deutlicher, das Licht heller, der Schatten tiefer. Die Nachbarschaft von Lächeln und Tränen ist enger, in der Musik wie im Leben, und ihre gemeinsame Wurzel in der Seele des Komponisten sichtbarer.“ In der Tat hat sich Mozart in diesem G-Dur-Adagio rückhaltlos ausgesprochen: im erhabenen Ernst seines Hauptthemas wie in der tiefen Verzweiflung der Molleinschübe, die nicht zufällig an das Andante der „Jupitersinfonie“ erinnern. Zunächst singt die erste Violine eine ätherische Arie, die mit einer Kette von Seufzerfiguren schließt. In der Durchführung werden diese Seufzer durch die Stimmen und durch die Tonarten geführt, um in einer der schönsten Stellen von Mozarts gesamter Kammermusik zu gipfeln: einer Kette zart-schmelzender Vorhalte über Pizzicato, die zur Reprise zurückleiten. Zunächst aber hat Mozart dem Hauptthema einen Molleinbruch gegenübergestellt: Pochende Triolen der Mittelstimmen grundieren ein Geigensolo, das von schierer Verzweiflung kündet. Das Cello antwortet mit Trillern, die wie dumpfe Paukenwirbel klingen. Die Welt des Requiems ist hier nicht mehr weit (…).

Die Lektüre führt zwangsläufig zu erneutem Hören, – intelligenter, musikalischer, olympischer, – ich muss heute auch den „Taucher von Paestum“ zuendelesen. Ich bin reif… vielleicht fast wie der junge Mozart. (Hierher gehört ein belustigtes Emoji.) 🙂 (Danke!)

Mit Blick auf Bach

Spitta, Heinichen, Goebel

Endlich besitze ich den Spitta, den Beginn der großen Bach-Forschung, zwei gewaltige Bände à 800 + 1000 Seiten. Und da ich gerade auf Heineken gekommen war, schaue ich, was es dort darüber zu lesen gibt. Zu Anfang des Kapitels CÖTHEN, Band I, Viertes Buch, Seite 613:

in Rom also traf Fürst Leopold auf den Komponisten Heinichen, der später in Dresden wirkte. Als stiller Konkurrent von Bach? Findet man etwas darüber in Wikipedia, hier? Immerhin… Aber wo habe ich kürzlich etwas über sein gelehrtes Hauptwerk gelesen, das Bach gut studiert haben soll?

„Musik & Ästhetik“ – Ich muss später darauf zurückkommen, aber es ist (für mich) sensationell, wie hier die Fäden zusammenlaufen. Genau dieses Werk von Heinichen besitze ich seit wenigen Tagen, ein Original, so wie es Bach vor Augen und in Händen gehabt haben könnte:

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wo sind Reinhard Goebels CDs? Ich muss sie aufs neue hören, tolle Musik, und da gibt es einen Parallel-Satz (hier Tr.1) zu einem Satz der Brandenburgischen Konzerte, Thema Jagd. Ich muss vor allem die Booklet-Texte nachlesen. Wer sonst könnte mir den Komponisten und die Zeit so gegenwärtig machen wie RG?

©Reinhard Goebel / hören: hier

Scheint die Zumutung zu groß, einen solchen Text wie den hier folgenden zu entziffern? Und wenn er von Bach wäre statt von Heinichen?

Anmerkung (a): Es sei mir erlaubt, hier eine Frage einzuwerfen, nämlich woher es komme, dass es zur Zeit in unserm Land so viele übermäßige Kontroversen, soviel Widerspruch, soviel Diskussion zwischen den alten und neuen Komponisten gibt? Antwort: die häufigste (um nicht zu sagen: einzige) Ursache ist, dass sich beide Teile um das Hauptprinzip, worauf alles in der Musik ankommt, nicht einigen können, – ob nämlich die Musik und ihre Regeln nach dem Gehör oder nach der sogenannten Vernunft eingerichtet sein sollten. Die Alten halten es mehr mit der Vernunft, die Neuen aber mit dem Gehör. Und weil also beide Parteien in den ersten Fundamenten nicht einig sind, kann es nicht ausbleiben, dass die aus zwei konträren Prinzipien gemachten Schlüsse und Konsequenzen ebensoviele untergeordnete Kontroversen und tausend genau entgegengesetzte Konsequenzen gebähren. Bekanntlich haben die Alten sich zwei Richter in der Musik gewählt: Ratio und Auditum (Verstand und Gehör). Die Wahl wäre richtig, weil sie beide unentbehrlich sind. Jedoch wegen des jeweiligen Anteils dieser beiden Kommandanten wollen die heutigen Zeiten mit den vergangenen nicht mehr übereinstimmen, und das Altertum wird hierin zweier Fehler beschuldigt.

Mein erster Versuch in O-Ton Heinichen… lesen Sie doch bitte selbst weiter. ⇑

Zu den Dresdener Concerti

©Reinhard Goebel

Von der Fuge

Armida Quartett – s.a. im Blog hier (Köln!)

Und wo liegt das tertium comparationis? Im Verfasser des Textes, der auch hinter der Werk-Auswahl steckt.

©RG

Fröhliche Wissenschaft

Nietzsches Buchtitel wird vom Journalismus gern beschworen, wenn es darum geht, die präzise gedachten Wörter- und Satzfolgen mit einer gewissen Leichtigkeit zu versehen, was durchaus von Flapsigkeit zu unterscheiden ist. Andere bleiben einfach bei dem Grundsatz: seriöse Forschung muss auch in einem ruhigen Ton vorgetragen werden, der Vertrauen schafft und auch Zweifler zum Mitdenken ermuntert. Goebel gehört zu den letzteren, wenn auch von einem sanguinischen Temperament angetrieben. Es ist immer auch amüsant ihm zuzuhören.

Ganz anders sieht es aus, wenn der leichte, kommunikative Spiritus nicht durch fundiertes Wissen gesteuert wird. Das Buch von Klaus Eidam ist schon 20 Jahre alt, hat aber unnützerweise die Leistung echter Wissenschaftler – passend zur Coronazeit – fragwürdig gemacht. Es beginnt mit dem ehrenwerten Hermann Keller, – und man tut gut daran, jedes einzelne Faktum zu überprüfen, kaum jemand kommt ungeschoren davon. Hier können Sie üben: beginnen Sie vielleicht mit dem zuletzt genannten Thema B-A-C-H, transponieren Sie es „zwei Ganztöne nach oben“, dann haben Sie D-CIS-E-DIS.

 

Gesegneter Absch(l)uss ins All:

Joachim Ernst Berendt? Ein Dilettant auch er. Ich habe keine Lust mehr, mich mit seinen Gedanken zur Harmonie der Welt oder zur Musikästhetik von Kürbissen und Petunien auseinanderzusetzen. Mir genügt unsere verbale Begegnung vor rund 30 Jahren: hier (Gegen „Nada Brahma“).

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Zurück zum Thema B-A-C-H: Wie beginnt die cis-Moll-Fuge denn wirklich? CIS-HIS-E-DIS (-CIS). Vielleicht meinte der Besserwisser anderthalb Töne, so dass sie tatsächlich mit CIS bzw. DES begänne, – dann wäre es eben DES-C-ES-D bzw. CIS-HIS-DIS-CISIS. Und nun schauen Sie bei Keller nach (Seite 53), wie sorgfältig er mit dem Thema umgeht, das – nebenbei – wahrhaftig nicht aus 4, sondern aus 5 Tönen besteht. Die aber haben nichts mit B-A-C-H oder seiner Transposition zu tun. (A propos Keller: noch eine sehr nützliche Lektüre, obschon etwas alt…)

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel 1965 / sen letztes großes Werk, sein erstes: Die musikalische Artikulation / insbesondere bei Bach / Stuttgart 1925

Des weiteren zur Lektüre empfohlen:

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel 1998

Wie allein bin ich?

Einzeln, einsam oder wirklich allein?

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Safranski bezieht sich auf Burckhardt

Jacob Burckhardt – das ist mein Italien (Michelangelo)

.    .    .    .    . Notiz im Buch

Meine Mutter hatte das hineingeschrieben, ein Geschenk also von Frieder Lötzsch, einem Klavierschüler meines Vaters, in dessen Todesjahr 1959. Er galt als intellektuelles Wunderkind, als er auf Langeoog mit den Älteren diskutierte; er belehrte sie alle und zitierte Aristoteles (Thema „Persönlichkeit“). Nach Jahrzehnten traf ich ihn bei einem Ehemaligen-Treffen in Bielefeld wieder, wir hatten uns nicht viel zu sagen. Seine Veröffentlichung des Jahres 2006 betraf einen unserer ehemaligen Lehrer, den Philosophen Helmuth Dempe, den ich erinnere dank eines heftigen „Gesprächs“, das zwischen ihm und meinem Vater entbrannte, beide recht intensive Rechthaber. Beim Kaffee im Freudental an der Sparrenburg-Promenade. Lauter typische Einzelne. Wie auch ich, im jüngeren Umfeld, zumal ich Geige spielte und klassische Musik ernst nahm. Sehr befremdend eigentlich, dass ich – obwohl Altsprachler und eher schüchtern – zum Schulsprecher gewählt wurde.

Es ist eigentlich immer dasselbe Problem mit den Anderen: ob man mehr vom Individuum her denkt – oder mehr von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Freundschaft, den Außenbindungen her denkt. Man kann es überall herauslesen, wenn man will. Ein Beispiel: das aktuelle Spiegelgespräch:

Quelle Der Spiegel Nr.46 / 13.11.2021 Seite 96 (Gespräch Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash).

Gab es nicht schon immer „Persönlichkeiten“? Leute mit bedeutender Ausstrahlung?

Renaissance, Wiedergeburt. Und Gegenwart.

Hannah Arendt nach Safranski

Das muss man verinnerlichen, den Satz von der „Balance zwischen Einheit und Vielheit“. Die Demokratie bewirke und bewege die Lebendigkeit der Gesellschaft dadurch, dass die Einzelnen einander dabei helfen, jeweils neu anzufangen. „Doch die damit einhergehende Nichtübereinstimmung der Individuen muss lebbar bleiben. Das leistet die Demokratie mit ihrem rechtsstaatlichen Regelwerk, das den Differenzen und der Pluralität einen Rahmen gibt. Nur so entsteht die Balance zwischen Einheit und Vielheit. “

Jeder kommt von einem anderen Anfang her und wird an einem ganz eigenen Ende aufhören.

Aber das ist im realen Leben eine zu abstrakte Formel. Denn das Kernproblem liegt heute anders: Wir leben in einer Kultur,

die getrieben ist von einem Konzept der Unendlichkeit, dem unerschütterlichen Glauben daran, dass alles für immer so weitergeht. Diese Kultur ist sehr erfolgreich. Aber wenn man es mit Endlichkeitsproblemen zu tun hat, ist es nicht ideal, keine Vorstellung von Endlichkeit zu haben. Und die Themen, die aus meiner Sicht das 21. Jahrhunderrt bestimmen – Artensterben, Klimawandel und alle anderen ökologischen Probleme – sind Endlichkeitsprobleme. Wenn die Insekten weg sind, sind sie weg. Und wir auch. Ganz einfach.

So Harald Welzer im Interview der Süddeutschen Zeitung (Johanna Adorján) am 13./14. November 2021 (Seite 56), und es wird konstatiert:

2020 hat die tote Masse auf diesem Planeten die Biomasse erstmals übertroffen. Das bedeutet, es gab auf der Welt mehr Menschgemachtes als Natur.

Mehr, mehr, mehr. Die Litanei der Ökonomen.

Wenn etwas Großes passiert ist wie die letzte Finanzkrise, stehen sie da und sagen: „Huch“. Dann schweigen sie drei Monate. Und wenn die Politik agiert hat, sagen sie: „Im nächsten Quartal rechnen wir mit einem Wachstum von soundso viel Prozent.“ Mehr Beitrag haben sie nicht. Auch bei Corona: keine einzige Idee. Nur Hochrechnungen, ab wann wieder mit Wachstum zu rechnen ist. (…)

Harald Welzer gibt einen interessanten Hinweis zur Sprachpraxis, nämlich, statt „Wachstum“ immer „gesteigerter Verbrauch“ zu sagen. Er sagt:

Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: „Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen“. Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt.

Das war am Wochenende zu lesen. Sehr interessant auch seine These, die an Ernst Bloch anknüpft: „Gott wurde säkularisiert, der Teufel aber nicht.“

Ja, die Aufklärung hat nur Gott für tot erklärt. Den Teufel – das Prinzip des Widersacherischen, wie es bei Bloch heißt – nicht. Und so kommt es, dass es bei jeder Katastrophe dieselbe riesige Überraschung gibt. Ein Amoklauf an einer Schule in Amerika: Na so etwas, wie konnte denn das passieren? Der Unfall, die Katastrophe, das Misslingen ist in unserer Gesellschaft systematisch nicht vorgesehen. Es wird immer als Unfall gesehen, als Abweichung von der Normalität, nicht jedoch als Teil der Normalität. (…) Ein Unglück, ein Terroranschlag, ein Erdbeben wird immer als einzelnes Phänomen betrachtet. Eine Art negatives Wunder, dass es überhaupt geschah. Es wird völlig überhöht, ist „tragisch“, „unvorstellbar“. Es muss dann auch immer ein Schuldiger gefunden werden, der das zu verantworten hatte. Dabei, und jetzt kommen wir wieder zum Thema Endlichkeit: Es kann nicht immer gutgehen. Es kann immer etwas passieren. Man muss sogar damit rechnen, dass schreckliche Dinge passieren.

Und heute liegt das Buch vor mir, „Nachruf auf mich selbst“ – einzelner geht es nicht:

Welzer: Nachruf auf mich selbst

dies bewegte mich 1980 / 1982 – die Unterstreichungen stammen von damals . . . rückblickend finde ich mich damals jung …

Die 90er Jahre?

Nach der „Jahrtausendwende“ – ein großer Sprung:

Berlin 2017 / 2019 München 2019

Donnerstag 18.11. 2021 – die neue ZEIT ist da: ich habe Zeit, sie zu durchblättern, schließlich bin ich nicht allein, der Kaffee ist längst fertig. Seelenlage: ausgeglichen.

Aber ich bin abgelenkt durch Artikel und Blickfang auf der nächsten Seite: Foto gemeinfrei. Denn der abgebildete Springer, ein junger Mann, war schon damals tot, sonst wäre dies kein antikes Grabmal.

Paestum um 480 v. Chr. s.a. hier

Zurück zu „Seelenlage: Schmerzlich“. Da heißt es zu dem Buch von Daniel Schreiber („Allein“):

Schreiber ist Experte für Tabus. Er hatte 2017 in dem schmalen Band Zuhause erzählt, wie er sich als schwuler Junge in einem ostdeutschen Kaff durch die Kindheit litt. In Nüchtern (2014) geht es um Sucht. Der Autor weiß, wie es sich anfühlt, randständig zu sein, beäugt und beurteilt zu werden. Alleinsein, schreibt er, ist etwas, was auch anderen Furcht einjagt, weil Einsamkeit als ansteckend wahrgenommen wird, sie ist mit Scham behaftet, wird versteckt.

Es ist die Selbstoffenbarung, die Schreibers Buch von dem Werk Rüdiger Safranskis gänzlich unterscheidet, auch wenn die Titel ähnlich sind. […] Hier nun: Start bei der Renaissance! Safranski arbeitet sich durch die Reformation über Rousseau zu Kiekegaard vor, verweilt bei Stefan George, Zwischenstopp bei Ricarda Huch und Hannah Arendt (niemand soll ihm sagen, wie beim Romantik-Buch, er habe die Frauen vergessen!), am Ende landet er bei Ernst Jünger – »Der Einzelne als Stoßtruppführer«

Es ist ein Fast Forward durch die Philosophie. Man kann sich vorstellen, wie so ein Buch zu Weihnachten an die Papas geht und wie wenig nach einem Cognac noch auffällt, wie grob es geschnitzt ist. »Wer als Einzelner erlebt, steht im Freien, ohne sich deshalb schon befreit zu fühlen.« Nun ja. Ob italienische Stadtstaaten sich »in der Arena des polyzentrischen Kräftespiels wie eigensinnige Individuen« verhielten? Sind die großen Künstler von Florenz vor allem »Darsteller des eigenen Ichs«? Eigentlich nein. Wohin führen solche Vereinfachungen? Mit Sicherheit weit weg vom Schmelzkern des Themas, einer eigenen Einsamkeitserfahrung.

Quelle DIE ZEIT 18. November 2021 Seite 72 „Seelenlage: Schmerzlich“ Daniel Schreiber und Rüdiger Safranski erkunden das vereinzelte Ich auf verblüffend verschiedene Weise / Von Susanne Mayer

Stadtstaat und Kosmopolitismus

Die großen Begriffe der italienischen Stadtstaaten uomo singolare, uomo unico“

Quelle Jacob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952 (1860)

Siehe auch hier: http://s128739886.online.de/athen-und-florenz/

Sobald man das Individuum hervorhebt, ist es ein notwendiger Schritt zu bedenken, dass kein Individuum für sich allein existiert.

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Quelle Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen / Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017

P.S. Ich verweise dankbar auf den Artikel, in dem ich wohl zum ersten Mal im Blog auf dieses schöne Lexikon hingewiesen haben (ebenfalls in der Vorweihnachtszeit, Thema SEELE): hier

Und was ist, was vermag eigentlich der einzelne schöpferische Mensch?

Hier war mir das Büchlein noch neu. Jetzt ist es mir aus einer veränderten Situation heraus von neuem wichtig geworden. Ich schaue nicht mehr als erstes auf die Tiere, auf die Natur, sondern auf den Menschen, der an die Stelle Gottes tritt. In der Kunst ebenso wie bei der Herstellung einer wohlgeformten Holzkelle oder eines Hauses. Da sollte ich den entscheidenden Sprung der Gedanken darstellen oder wiedergeben…

Über Musik reden

Niveauunterschiede (Notizen, – vielleicht erweiterbar, ehe sie veralten)

Thema Donaueschingen, also Neue Musik / Artikel hier (Moritz Eggert) und worauf er sich bezieht: hier (Jan Brachmann)

Chaya Czernowin „Unhistoric Acts“ (2021) hier

Wir brauchen eine neue Sprachfähigkeit der Musik

„20:21 Rhythms of History“ Kreidler Trailer hier Werkkommentar hier

Beat Furrer: Tableaux I-IV (2021) hier

https://www.swr.de/swrclassic/donaueschinger-musiktage/vod-donaueschinger-musiktage-2021-nowjazz-100.html hier Pressetext:

„Nine-sum sorcery“, das aktuelle Projekt des Duos LABOUR mit der Sängerin Hani Mojtahedy, ist ein musikalisches Beschwörungsritual. Düster-dystopische Klänge treffen hier auf die Dramatik traditioneller persischer Melodien und Poesie. Seit über zwanzig Jahren treten der Pianist und Synthesizerspieler Thomas Lehn und der Computermusiker und Komponist Marcus Schmickler gemeinsam auf – als ein Duo, für das künstlerische Rückkopplungsprozesse und das bewusste Spiel mit dem Unvorhersehbaren immer wichtiger geworden sind.

Genannt „Nowjazz“???? Ist es wirklich auch gute iranische Musik? Etwas ganz anderes: Man müsste mal drüber reden…

HIER  https://www.hanimojtahedy.com/

Mit Musik reden

(„Learning the Blues“ im externen Fenster hier – aber man muss ihn auch sehen)

Interview mit BR-Klassik hier

Sie äußern sich in ihren Werken immer wieder politisch und sozialkritisch. Ist Jazz als Musik dazu besonders geeignet?

Wynton Marsalis: Musiker haben immer schon sozialkritische Dinge gesagt. Jazz ist als Ausdrucksform dafür perfekt, weil afroamerikanische Menschen schon immer unter der Last leiden, im Land der Freiheit frei zu sein, aber eine Mehrheit möchte sicherstellen, dass sie genau das nicht sind: frei.

Nachwort

Und wie und was spricht man sonst noch über Musik? Ich hätte einen Rat: Schauen Sie in die eben veröffentlichte Bestenliste, die vom „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ erstellt wurde. Da lernt man ganz nebenbei, wie man in etwa über Musik reden kann, quasi wie gedruckt. (Natürlich auch in alles hineinhören! Sonst ist jedes Wort zuviel!)

HIER  ⇐   ⇐   ⇐   ⇐   ⇐   ⇐   ⇐   ⇐ 

Oeconomia

Der Stachel im Fleisch

Wenn der Film beginnt, denkt man, ein Vogel fliegt im Morgenlicht durch die Landschaft. Doch es kommt schlimmer. Man muss sehen, lesen und begreifen…

HIER (abrufbar bis 7.2.2022)

Aus einem Interview mit der Regisseurin Carmen Losmann in der Süddeutschen Zeitung (Johanna Adorján) Montag 8. November 2021 Seite 19 Schlecht gedacht:

Hier wirds spannend: 23:43

26:10 „nach der Finanzkrise…“ siehe Wiki hier

35:15 „warum ist Wachstum wichtig?“… Wirtschaftswachstum siehe Wiki hier

37:30 „wir definieren Wachstum dadurch, dass …“ „wenn man bedenkt, dass in Indien… oder in … Indonesien … ganz viele Menschen anfangen, Geld zu haben, das sie für den Konsum ausgeben …“ 39:20 „aber … wo kommt das Geld her, damit Unternehmen gesamtwirtschaftlich Gewinne machen?“ (Pause) „Das ist ne gute Frage!“

ab 40:00

„Die Gewinnaussicht hängt vom Wachstum der Geldmenge ab.“

Die ökonomische Wissenschaft dient der Verschleierung von Macht. (Norbert Hering) 50:55

55:05 Für steigende Gewinne und steigendes Wirtschaftswachstum ist eine ständige Ausweitung der Verschuldung nötig. Das ist der berühmt-berüchtigte elephant in the room, über den niemand spricht. Der zentrale Akteur im Kapitalismus ist der Schuldner. Er ermöglicht die Profite und den Vermögenszuwachs der anderen.

Wer schöpft diese Gewinne ab? Wer ist das? Das sind ja meistens nur die oberen 10 Prozent. /

1:10:07 Es entstehen ja Vermögen, die nicht einfach nur da sind, sondern die wirtschaftlich und politisch auch Einfluss haben, also: ist das nicht ein Rechnungstrick zu sagen: prozentual gesehen, wachsen die reichen Vermögen geringer, aber es ändert sich ja nicht langfristig, auch wenn ich das über 50 Jahre hinwegrechne, nichts daran, dass die Reichen deutlich reicher bleiben und immer reicher werden. – Das ist so, ja. Kleine Wachstumsraten bei großen Vermögen (lacht) bringen erheblichen Zuwachs, und der ist größer vielfach als große Wachstumsraten bei kleinen Vermögen. Das gilt in in den Ländern, und das gilt auch zwischen den Ländern. Die absoluten Differenzen werden größer. 1:10:50 /

Wenn private Vermögen in dem Maße wachsen, und immer weiter wachsen, was bedeutet das auf der anderen Seite für die Verschuldung? – Also, wenn sich entweder Staaten verschulden, oder Unternehmen, um zu investieren, oder Haushalte, um Häuser zu bauen, dann erzeugt Verschuldung mehr wirtschaftliche Aktivität und mehr Wachstum. Das ist zunächst einmal gut, deswegen versuchen ja die Zentralbanken in der Welt eben genau diese Verschuldung mit ihren Politiken in irgendeiner Weise anzuregen. Das Ganze kann aber irgendwann auch zurückschlagen: die Geldgeber werden das nachrechen:  was brauchen Sie denn fürn Wachstum, und dann werden Szenarien gerechnet, die in der Regel nicht besonders günstig ausfallen. Und dann ist irgendwann das Vertrauen der Finanzmärkte und Kapitalmärkte in diese Volkswirtschaften weg. Dann fließt kein Kredit mehr, im Gegenteil, weil Länder, die überschuldet sind, völlig vom Kredithahn abgeschlossen werden, und dann geht alles mit rasantem Tempo nach unten. 1:12:05 / 1:12:20

Novemberabend

Krüdersheide

Fotos JR

Es mag noch so dunkel drohen, die Welt da draußen ist schön. Und drinnen auch.

Kontrastthema zuhaus

Erinnerung an dies und das.

Zufällig gerade heute noch an folgendes HIER (noch 6 Tage)

Und dieses gab es damals dazu noch zu lesen DW hier.

Vor kurzem erlebten wir eine Energie-Diskussion bei Markus Lanz, die eine Überprüfung verdient: hier (bis 4.11.2022 abrufbar). Wird der hochgeschätzte Harald Lesch dem Atom-Befürworter Thelen widersprechen?

Harald Lesch, Wissenschaftsjournalist
Er skizziert die Dimension der Klimakrise und deren weitreichenden Auswirkungen für die Erde und die Menschheit. „Wir können mit der Natur nicht verhandeln“, mahnt er.

Frank Thelen, Unternehmer
„Uns fehlt der Mut, wirklich neu zu denken“, sagt der Investor mit Blick auf die Herausforderungen der Energiewende. Er erläutert seine Zukunftsvision.

Irritation durch Bach

Was mich „am Laufen “ hält

Sonate für Violine solo, letzter Satz, BWV 1001 Presto

Vorher: Anleitung für Geigenschüler*innen [mich selbst] zum Üben mit Motiven!

Die unten im Notentext eingetragenen Bindungen habe ich von Dadelsen BJB 78 S.108

Beschreibung des Problems (Einwand: genügt es nicht, einfach nur zu spielen?)

Wozu also überhaupt diese – nicht einmal vollständige – Abschrift? (z.B. fehlende Takte Blatt II, rechter Rand +4). Das Prinzip war schlicht, Parallelbildungen leichter aufzuspüren; sie liegen ja auf der Hand, aber man sollte sie sozusagen räumlich erfassen können, wie ein Lego-Gebilde. Nur eins sehe ich nicht als Weg zur Lösung: Noten und Takte zählen. Obwohl 4-Takt-Gruppen natürlich eine Rolle spielen. Kontinuierliche Sechzehntel von Anfang bis Ende in beiden Teilen, und durchaus gegliedert, denn auch in solchen „Laufsätzen“ gilt: nicht 16tel = 16tel, sondern was Clemens Kühn schreibt (vgl. ihn auch hier):

Aus rhythmischen Kräften gewinnt Bachs Musik ihre Motorik. Motivische Kräfte bestimmen ihre Linearität. Beide Momente, das Motorische und das Lineare, treffen sich im Formprinzip der barocken Fortspinnung: der – eher lockeren, forttreibenden – Anknüpfung von Motiven und Teilen.

Im Fall einer Arie (»Bereite dich, Zion«) schreibt derselbe Autor:

Die Ausdehnung der drei Formglieder gehorcht keiner Norm (…). Ihre Proportion ist also nicht dem Prinzip des Gleichgewichts verpflichtet. Zwar zeigt das Bach-Ritornell ein ausbalanciertes Verhältnis von 8 (=4+4)+4+4 Takten. Doch ist dies kein wesenhaftes Merkmal des Fortspinnungstypus. Zum Vergleich studiere man das Ritornell der Arie »Ach, mein Sinn« (Nr.19 aus Bachs ›Johannes-Passion‹: 8 Takte Vordersatz, 5 (2+2+1= abgespaltener Takt) Takte Fortspinnung, 3 Takte Epilog; oder aus der ›Matthäus-Passion‹ »Aus Liebe will mein Heiland sterben« (Nr. 58): Hier ist das Verhältnis 4+7+2 Takte.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik /dtv/Bärenreiter 1987 Seite 42 u 45

Ich hebe das hervor, weil man beim Violin-Presto leicht auf die Idee kommt, nach einem Symmetrie-Prinzip zu suchen, da es sich beim Üben geradezu aufdrängt, – allerdings nur sporadisch, am Anfang und am Ende der Teile.

Am Anfang: den Takten 1-8 entspricht deren Umkehrung in den Takten 55-62 , jedoch den Takten 9-16 entspricht erst der Achttakter ab Takt 67, deshalb steht am Ende der ersten Zeile Blatt II der Hinweis +4.

Am Ende: der letzten Zeile auf Blatt I entspricht ziemlich genau die letzte Zeile auf Blatt II, aber im Zwischenbereich wird die Zuordnung schwierig. Es geht offensichtlich nicht um berechenbare, voraussehbare Symmetriebildungen.

Inhaltlich geht man nie fehl, sich von den Kantaten und Passionen inspirieren zu lassen, in unserm Fall etwa auf die folgenden Arien des Laufens, Nachfolgens, Eilens zu schauen, zumal sie auch motivisch und in der Tonart nahe liegen:

„Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“

„Eilt, ihr angefocht’nen Seelen“

Übung: Spiele die 16tel-Linien, – aber auch mit „geigerisch“ angepassten Phrasierungen.

Es scheint mir kein Zufall, dass die Sechzehntel-Finalsätze der Bach-Solosonaten und insbesondere der hier vorliegende, von einem Geiger ganz anders charakterisiert wird als von einem Komponisten:

Die Sätze leben von der rastlosen Bewegung, vom Reichtum an verschiedensten Figuren, ihrer auf weite Strecken wellenförmigen Bewegungsart und den aus der differenzierten Faktur der Figuration und unterschiedlicher Bogensetzung resultierenden vielgestaltigen Artikulationsweisen. Sie sind gleichsam Gegenbild und Ergänzung zu ihren Vorgängersätzen in ruhigerem Zeitmaß.

Das Presto der ersten Sonate tendiert durch seine ungerade, auf dem Achtelwert als Grundeinheit beruhende Taktart (3/8) ins Tanzartige, nähert sich italienischer Giga und Corrente an.

Quelle Bernhard Moosbauer Bärenreiter Werkeinführungen S.72

Der Komponist Hans Vogt:

Es ist ein Unterschied, ob man die Varianten quasi buchhalterisch zur Kenntnis nimmt, oder ob man die musikalische Wirkung einer Steigerung wahrnimmt, die durch die Inszenierung der Varianten entsteht. Die Dramatik der Artikulation, die sich glücklicherweise in Bachs originaler Bogensetzung ablesen lässt: die doppelten Zweier-Bindungen, die Dreier-, Vierer- und Fünfer-Bindungen (ab Takt 32), die synkopische Schwerpunkte hineinzaubern (ab Takt 117) , Siebener-Bindungen (Takt 59 und 63), „reguläre“ Sechserbindungen (Takt 75 ff) wie in der Arie „Ich folge dir gleichfalls“. Die schöne Motivtafel bei Vogt lässt das schon ahnen. Es ist eigentlich eine typisch geigerische Dramatik, aber keine Tanzmeister-Agogik:

Quelle Hans Vogt: Bachs Kammermusik Reclam S.166

Um an dieser Stelle einen Schritt weiterzugehen, vergleiche man das weiterführende Sept-Akkord-Motiv im Teil I mit der Variante im Teil II, deren Einsatz ich vorläufig als „Reprise“ bezeichnen möchte (obwohl das Sept-Akkord-Motiv in Teil II ab Takt 67 bereits wörtlich wiederaufgenommen worden ist):

Es ist deutlich komplexer geworden und dabei auch längenmäßig gewachsen. Der neu „gefaltete“ g-moll-Dreiklang hat zudem mit dem erstmalig prominent wieder eingesetzten hohen b“  einen Wiederkehr-Charakter von Teil I mit den Takten 1-9f… Es ist aber mehr als eine Reprise, es ist eine Überbietung! Was sich auch in dem zeigt, was ihm kontrastmäßig vorangestellt wird und noch mehr in dem, was ihm nachfolgt.

Der „verkehrte“ (umgekehrte) Anfang von Teil II (gegenüber dem „Original“ von Teil I) wird wieder aufgegriffen mit der aufsteigenden Form des F-dur-Dreiklangs in Takt 83, dessen Beantwortung ab Takt 87 mit Weichenstellung in Richtung g-moll gegeben wird. Zugleich sei bedacht, dass der F-dur-Ansatz  mit dem aufsteigenden Es-dur-Ansatz in Teil I Takt 17 korrespondiert. (So neu war also die Umkehrung zu Beginn des Teils II gar nicht!)

Es kann nicht schaden, zwischendurch ohne alle Vorbelastung das Werk zu hören. Nocheinmal… nichtsalsdas…: Hören! Hören! Hören!

Nun könnte jemand sagen: für eine Reprise ist mir der Beginn dieses neuen Teils zu wenig „spektakulär“, – obwohl er diesen „versteckten“ Reprisenbeginn aus dem einleitenden Adagio derselben Sonate kennen müsste: anstelle des vierstimmigen Akkordes am Anfang des Taktes 14 mit dem c“ und der absteigenden melodischen Molltonleiter.

Man bedenke nur die Formenvielfalt der Präludien, die Christoph Bergner in seinen Studien zum Wohltemperierten Klavier so übersichtlich dargestellt hat; man kann es sozusagen als „Mustersammlung“ von Bachschen Formen überhaupt betrachten:

auf der nächsten Seite folgt noch 2.3. Die Spielpräludien: Cis-Dur, g-Moll, C-Dur, d-Moll, G-Dur

Ich denke bei unserm Presto am ehesten an das Präludium D-dur BWV 850 und sehe es unter 1.5. eingeordnet = „die periodisch freien Präludien“. Was natürlich nicht bedeutet, dass da periodisch sich gar nichts abspielt. Im Gegenteil, man erkennt die Reprise auf Anhieb, sie steht in der Subdominante: siehe hier, Noten Blatt II ab Takt 20. Interessanterweise bestand eine frühe Fassung dieses Präludiums (im Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach) nur aus 20 Takten. Alfred Dürr beschreibt den möglichen Ablauf des weiteren Komponiervorgangs, und alles entwickelt sich aus den ersten – 2 mal 4 – Tönen des ersten Taktes.

Quelle Alfred Dürr: J.S.B. Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc 1998 / S. 124

1. Assoziation: Man scheue sich nicht zu akzeptieren, dass Bach zuweilen „stückchenweise“ komponierte, – er wusste natürlich, wie sich auf diese Weise mehr daraus machen ließ,  er hat auf diese Weise ja sogar Fugen verdoppelt (Beispiel BWV 886), und es lässt sich nicht leugnen, dass das Wesentliche erst in der neuen Hälfte, also der erst später konzipierten, zum Vorschein kam.

2. Assoziation: Da ich mir gerade die rechte Hand dieses Klavier-Praeludium als Übe-Material für die rechte und die linke Hand zurechtgelegt habe, bin ich gewohnt, es ausdauernd ohne Bass-Stimme zu spielen – und habe festgestellt: es fehlt mir (fast) nichts. Alle Modulationen sind auch ohne Bass völlig einleuchtend. Insofern kam mir Nadja Zwieners Bemerkung zu Corellis Solissimo-Violin-Präludium zupass, die Sie im Artikel hier gegen Ende finden (rot markierter Satz).

(Fortsetzung folgt)

Das Buch

Dies ist nicht „Das Buch“, konnte und kann es nicht sein. Ein wissenschaftlicher Kommentar, mit eher abweisenden Eigenschaften. Das Skript daneben war wohl der erste Anlass, den Versuch zu wagen. Der Versuch eines Lernvorgangs, von dem die Begeisterung für den freien, musikalischen (nicht nur deklamierenden) Koran-Gesang in Erinnerung blieb. Viele Jahre später das Buch „Gott ist schön“ von Navid Kermani. Sehr verlockend. Ein unbekannter Verfasser aus Siegen. Ich kann gar nicht glauben, dass es erst 1999 kam. Was mich früh (1967) faszinierte, war der Bildband von H.G. Farmer: heute sind es – das sei zugegeben – seit gestern vor allem die Trompeten auf der Titelseite:

 

Mein Lieblingszitat aus der Einleitung (übrigens handschriftlich falsch korrigiert):

Einen solchen Bildband zu erwerben, war damals kostspielig, auch Wissenserwerb allgemein war schwieriger als heute: Kopieren nicht möglich oder teuer; ich saß viele Stunden in der Uni-Bibliothek und schrieb ab, was das Zeug hielt. Z.B. über Henry George Farmer aus dem alten MGG (heute besitze ich das alte und das neue Lexikon MGG, außerdem Groves u.a., selbstverständlich, und noch selbstverständlicher seit etwa 1995 – das Internet). Machen Sie sich also nicht die Mühe, meine Schrift zu entziffern: H.G. Farmer ist jederzeit einen Klick wert.

damals…

Heute (4.11.2021) – vorläufig (!) letzte Station:

Autor: Arnfried Schenk

Der Beitrag über die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink beginnt mit einem sehr einprägsamen Beispiel, das die Problematik der Übersetzungen blitzartig beleuchtet:

Ein Wort nur, aufgeschrieben vor über tausend Jahren, beendete im Jahr 2017 in Indonesien eine aussichtsreiche Politikerkarriere: Basuki Purnama wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sein Vergehen: Beleidigung des Islams, so seine Ankläger. Was Purnama damals während des Wahlkampfes um das Gouverneursamt von Jakarta, Hauptstadt des bevölkerungsreichsten muslimischen Landes, gesagt hatte, klingt eigentlich harmlos: der Koran verbiete es Muslimen nicht, bei Wahlen für Nichtmuslime zu stimmen. Wer anderes behaupte, missbrauche den Koran. Purnama ist Christ.

Die Hardliner, die es behauptet hatten, organisierten Massendemonstrationen gegen Purnama und strengten ein Gerichtsverfahren an. Sie beriefen sich dabei auf Sure 5, Vers 51 und fanden Gehör bei den Richtern: Der Vers brachte den Ex-Gouverneur ins Gefängnis. Genauer gesagt, seine Übersetzung ins Indonesische: »Oh ihr Gläubigen! Nehmt nicht die Juden und Christen zu Führern«, heißt es da.

Für Johanna Pink, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Freiburg, ist dieser Fall das Paradebeispiel für die Relevanz ihres Forschungsthemas: der muslimischen Koranübersetzungen. Ein bislang kaum beackertes Feld.

Quelle DIE ZEIT 4. November 2021 Seite 55 Auf Surensuche Der Koran ist ein mächtiges Buch. Wer ihn übersetzt, verfolgt damit auch politische Ziele. Die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink untersucht, welche gesellschaftlichen Auswirkungen das hat. Von Arnfrid Schenk.

Was liegt näher als nun erstmal nachzuschlagen, was mein Paret von 1970 dazu hergibt, – und ich sage es gleich: er sagt nicht „Führer“ sondern „Freunde“; aber ich tue, was noch näher liegt, ich google, komme in den Wikipedia-Artikel der Sure 5 und begegne dort ebenfalls der Paret-Übersetzung: nämlich hier. Lesen Sie hier z.B. ab dem Satz:  Die saudi-arabische Übersetzung hingegen nutzt das Wort „Beschützer“ statt „Freunde“ – schon sind Sie mittendrin im Problem der Übersetzung…

(In dem Wikipedia-Artikel über den indonesischen Politiker finden wir keine klärende Stellungnahme.)

Aber es beruhigt mich auch hinsichtlich meiner damaligen Paret-Lektüre, wenn ich heute in der ZEIT folgendes lese:

Und dementsprechend lese ich weiter über Nasr Hamid Abu Said: hier. Ihm erging es allerdings nicht viel besser als dem indonesischen Politiker…

Noch ein – heutzutage – brisantes Zitat:

»Wer den Koran übersetzt«, sagt Pink, »muss sich positionieren.« Dabei kommt es zu ausdauerndem Streit zwischen Salafisten und traditionellen Gelehrten, geht es etwa um die Attríbute Gottes: Soll man Gottes Hand oder Gottes Thron wörtlich nehmen oder metaphorisch? Für notorische Spannungen sorgt Sure 4 Vers 34: »Die Männer stehen über den Frauen (…). Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, (…) und schlagt sie«.

Wie geht man damit um? Pink sagt: Versteht man den Vers wörtlich, gibt er scheinbar den Männern die Erlaubnis, ihre Frauen zu schlagen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Mildert man den Vers durch Übersetzung quasi ab? Oder sagt man, der Vers stehe so da, sei aber nur im Kontext seiner Entstehungszeit zu verstehen, und fragt sich, welche Bedeutung er heute hat? Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt dieser Vers nicht als Problem, sagt Pink. Bei Übersetzungen in westliche Sprachen sei aber der Versuch zu erkennen, die Aussage abzuschwächen. Die Bandbreite, wie das Verb »daraba« übersetzt wird, ist groß: sie reicht von »schlagen« bis »strafen« zu »symbolisches, nicht schmerzhaftes  Schlagen« oder auch »trennt euch von ihnen«. Generell werde der Wunsch nach egalitären Lesarten des Korans größer.

Die Paret-Übersetzung (1962) wählt (natürlich) keine mildere Form, sondern die offenbar naheliegende. An anderer Stelle (Goldmann Verlag 1959) lese ich das Wort „züchtigen“.

Unter dem Artikel steht ein Link-Hinweis, mit dessen Hilfe man Quellen zu den Themen der WISSEN-Rubrik der ZEIT finden kann: www.zeit.de/wq/2021-45 d.h. hier , von dieser Seite aus kommt man auch direkt zum interessanten Projekt „The Global Qur’an“  hier.

Ich erinnere mich an eine schöne Initiative des WDR bzw. meiner Kollegin Anke Remberg aus der Redaktion RTK, einem größeren Publikum den Koran in einer dreiteiligen Sendereihe näherzubringen. Dabei sollte auch die Frauenfrage nicht ganz ausgespart bleiben. Wir sind also schnell wieder bei der angesprochenen Sure 4.

Vielleicht nicht ganz überzeugend. Die saudi-arabische Version dagegen kann man in der Gesamt-Rezitation der Sure 4 bei 17:05 mitlesen. (Mehr über Saad al-Ghamdi hier).