Ein wildes Wunderwerk in G-moll

Form-Erfassung mit dem bloßen Ohr

Ich brauche den Kontrast und habe die November-Abende mit BWV 884 und 885 verbracht, G in Dur und Moll, einem Dioskuren-Doppel-Paar sondergleichen, das erste mehr für die flinken Finger, das andere für die dunkle Seite der Phantasie. Soll ich sagen: prometheisch, frei nach Goethe?

Nein, für mich ist diese Fuge das ausgeflippt böse Gegenstück zu dem leichtfüßig geschäftigen Chor „Lasset uns ihn nicht zerteilen“ aus der Johannes-Passion. Der Text dafür, den ich nicht singen möchte, würde beginnen mit „Halt – die Schnauze!“, aber das sollte hier nicht einmal geschrieben stehen! Vielleicht lieber: „Bedecke deinen Himmel Zeus!“ – was aber nun überhaupt nicht im Sinne Bachs wäre. Denn wie könnte eine Schimpf-Kanonade zu diesen herrlichen Stampfausbrüchen und derart ekstatischen Terz-Parallelen führen wie in den Durchführungen III und IV?! Die leicht verrückte Begeisterung stellt sich auch nicht unbedingt bei Glenn Gould ein, – aber man kann sich ohne Mühe selbst hineinsteigern. (Sagen wir: ab 1:30!)

Durchführung I : ab Anfang //  II : ab 0:45 // III : ab 1:13 // IV : ab 1:35 Ende : 2:22 /// Auch beim Blick auf die mitlaufende Zeit ist das Thema jeweils bei Durchführungsbeginn nicht leicht zu erfassen, da der Kontrapunkt sich durch Prägnanz (und durch G.G.s Spiel) stark in den Vordergrund drängt.

Oder wählen Sie das Abspielen im externen Fenster, damit Sie die Noten mitlesen können hier. Dabei ist zu beachten, dass ich auf den ersten beiden Seiten auch das Ende der Durchführungen rot gekennzeichnet habe. Danach folgt – vor Beginn der nächsten – ein kurzes Zwischenspiel.

Übrigens finde ich die Interpretation gehetzt und gehämmert, aber immer noch besser als nett gesäuselt oder gar feinsinnig vorgetragen. Die Form-Abschnitte werden nicht hervorgehoben, und – wie erwähnt – nicht einmal die Themeneinsätze.

Meine Studien-Partitur stammt aus Ungarn Editio Musica Budapest, die roten Einzeichnungen zur Form entsprechen dem Buch von Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band II / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982.

Römische Zahlen bezeichnen die Durchführungen (I-IV), Themeneinsätze werden durch Bezeichnung der Stimmlage hervorgehoben (Sopran, Alt, Tenor, Bass), der Buchstabe ü davor bedeutet „überzähliger“ Einsatz.

Durchführung I : ab Anfang T, S, B + überzähliger T-Einsatz 0:32 bis 0:39 / Zwischenspiel

Durchführg. II : ab 0:45 A, S, B / Zwischenspiel ab 1:05

Durchf. III : ab 1:13 A+T in Terzen, S+A in Sexten var. / Zw.spiel ab 1:29

Durchf. IV : ab 1:35 T+B in Terzen, S+T in Dezimen var./ überz. B ab 2:10 bis 2:18 / 2:22

Der Hinweis „var.“ soll andeuten, dass eins der beiden gekoppelten Themenzitate abweichend (variiert) endet. Der Ehrgeiz geht aber nicht in die Richtung, dass man jede Kleinigkeit bewusst erkennt, jeden Kontrapunkt wahrnimmt. Eine saubere Analyse wäre was ganz anderes. Einfach ein paar Orientierungspunkte. Je mehr ich reinschreibe, desto weniger weiß ich. Übrigens gibt es da ja auch fälschlich sogenannte „Scheineinsätze“, z.B. in Takt 67, wenn der eigentliche Themenbeginn erst in Takt 69 erfolgt. Der Spaß liegt aber nicht im Täuschungsmanöver, sondern im Überquellen des Thematischen, in der Vorankündigung. So, wie auch in den Takten, die auf das ebenfalls abgewandelte Themenzitat der Durchführung IV (nach Takt 63) reagieren, indem die absteigenden Sechzehntel und das ganze „Terzenwesen“ überhandnehmen, um in der Zwischenkadenz zu kulminieren. All das gehört zu den Steigerungsmitteln dieser Durchführung wie auch die dramatische Unterbrechung und die wuchtige Kadenzierung, bevor der letzte, „überzählige“ Bass-Einsatz (T.79) kommt, der sich wiederum auch nicht ohne weiteres als Themenbeginn zu erkennen gibt: in all dem ist nichts Schulmäßiges, kein Abarbeiten eines Formschemas. Es kann nicht darum gehen, eine Fuge als Fuge zu hören. Deren Technik kann man gern analysieren, aber vor allem handelt es sich um ein Drama mit sehr heftigem Narrativ.

Man sieht auch in der Zusammenfassung zweier Stimmen in Terzparallelen, dass die Vierstimmigkeit der Fuge nicht unbedingt dahin führt, dass an Höhepunkten mit vier verschiedenen Zungen eine gewaltige Vielfalt simuliert wird, im Gegenteil: sie wird auffälliger kanalisiert und in Blöcken gegeneinandergesetzt, daher der Eindruck des Überfließens.

Ernst Kurth hat dies am Ende seines großen Werkes über den linearen Kontrapunkt (siehe hier) eindrucksvoll hervorgekehrt:

 Die Technik eines steten Überfließens!

(Fortsetzung folgt)