Archiv der Kategorie: Kammermusik

Schubert spielen

Hier sehr guter Interpretationsvergleich in VAN (Arno Lücker) zu:

Schuberts D-Dur-Sonate D 850 Mit Artur Schnabel, Sviatoslav Richter, Emil Gilels, Clifford Curzon, Wilhelm Kempff, Alfred Brendel und Mitsuko Uchida

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Außerdem vormerken: https://van-magazin.de/mag/hatto-beyerle/ hier

Wegen des Hinweises auf Primrose und seine Anregung zum Lagenwechsel, den man ignorieren können soll…

aus: Yehudi Menuhins Musikführer

Yehudi Menuhin / William Primrose: Violine und Viola / Fischer Taschenbuch 1982 (1976)

Wörthersee, Thunersee …

Die ganze Welt in drei Werken

… ja, wie ist es nur möglich? Wollten Sie wirklich darüber etwas lesen? Oder zuerst die Musik hören? Bitte HIER (mit Isabelle Faust und Alexander Melnikovm, weiterhin beim Lesen verfügbar halten).

 

Brahms Sonate Nr. 2 A-dur HIER (die im Text angegebenen Zeiten gelten nicht)

Brahms Sonate Nr. 3 D-moll HIER (die im Text angegebenen Zeiten gelten nicht)

Text: 2011© Dr. Jan Reichow für TACET Andreas Spreer / Cover Photo: ©Fotolia / olly / Booklet Layout : Toms Spogis

Haydn immer wieder entdecken

Quartette als Wundertüte

Ja, ich bin versucht, nach dem Neuansatz bei Op.33 – dank einer DLF-Sendung – mich etwas salopper auszudrücken. Aber ich suche gar kein neues Publikum, ich suche bei Haydn doch zunächst mich selbst, und werde alsbald mit Verwandten und Freund(inn)en darüber sprechen, als gebe es in puncto klassischer Musik wirklich Neuigkeiten, „als hätte ich den Finger in der Steckdose“. Aber in der Tat war mir z.B. dieser lustige Glissando-Effekt im Trio des Scherzos nicht in Erinnerung (z.B. beim Auryn-Quartett, von dem ich die Gesamtaufnahme besitze). Ich schaue erstmal, was in der Noten steht. Dann folgendes Youtube, bis und ab 1:05. Übrigens: es stört mich nicht, dabei moderne technische Schallgeräte zu betrachten. Aber…

Was ist mit dem Da capo? Was steht genau in der Partitur? Was geschieht in der „echten“ Aufnahme (auf die ich warte). Laut Anzeige dauert der Satz dort  3:04 (hat also ein wirkliches Dacapo). Ein schlechter „Joke“ im YouTube!

Henle Studienausgabe

Bisher:

Zur ersten: immer noch unverändert schön, auf seine Weise…

Zur zweiten: siehe hier

Nun werde ich aufs neue Charles Rosen lesen, das Beste immer noch, was ich kenne über Haydn in „Der klassische Stil“:

Und dann diese Sätze, nachdem er darauf kam, wie Haydn Erfahrung als Komponist komischer Opern sammelte:

Dieses Gefühl, daß Bewegung, Entwicklung und dramatischer Verlauf eines Werkes sämtlich im Material enthalten sind und daß man das Material dazu bringen kann, seine geballte Ladung so zu entladen, daß die Musik sich nicht so wie im Barock entfaltet, sondern wahrhaft von innen getrieben ist – dieses Gefühl war Haydns größter Beitrag zur Musikgeschichte. Unsere Liebe mag ihm für andere Dinge gelten, aber diese neue Auffassung von Musik änderte alles in ihrem Gefolge. Deshalb zähmte Haydn seine Exzentrik oder seinen groben Humor nicht, sondern benutzt sie, und zwar nicht mehr hemmungslos, sondern mit Respekt für die Integrität jedes einzelnen Werkes. Er begriff, daß Konflikt im musikalischen Material des tonalen Systems möglich war und zur Erzeugung von Energie und Dramatik eingesetzt werden konnte. Das erklärt die außergewöhnlich Vielfalt seiner Formen, denn die Methoden änderten sich mit dem Material.

Uner »Material« sind hier vor allem die am Anfang eines jeden Stücks implizierten Beziehungen zu verstehen. Haydn hat noch nicht zu Beethovens Vorstellung einer sich allmählich entfaltenden musikalischen Idee gefunden und erst recht nicht zu Mozarts weitem Blick für tonartlich Massen, der in manchem sogar Beethoven überstieg. Haydns Grundideen sind knapp, werden unverzüglich vorgestellt und vermitteln augenblicklich den Eindruck latenter Energie, nach dem Mozart selten strebte. Sie drücken unmittelbar einen Konflikt aus, dessen volle Austragung und endliche Lösung das Werk ausmachen. Das ist Haydns Aufffassung der »Sonatenform«. Die Freiheit dieser Form besteht nun nicht mehr wie in einigen großen Werken der 1760er Jahre im Ausleben einer launenhaften Phantasie, sondern im freien Kräftespiel eine phantasievllen Logik.

Quelle Charles Rosen: Der klassische Stil / Haydn – Mozart – Beethoven / dtv / Bärenreiter Verlag München, Kassel etc. 1983 (Seite 131 f)

30.06.23 Die CD ist angekommen. Aber mein Scanner ist nicht funktionsfähig. Daher so:

 

Kein Zweifel: Wer diese CD nicht besitzt, ist ärmer! Auch der Text ist sehr lesenswert (setzt ebenfalls an bei Haydns Erfahrungen als Komponist komischer Opern). Autor: © Richard Wigmore.

Selbstkritische Frage: wie gut höre ich (oder Sie)? Lesen Sie den Booklet-Text Seite 13 (zum ersten Satz). Hören Sie die Wiederholungen, z.B. die des Durchführungsteils. Hören Sie die Scheinreprise? Etwa nach dem Innehalten auf den Fermaten (bei 4:05)? statt bei 4:33? Dies ist keine Scheinreprise, sondern die wirkliche Reprise in der „falschen“ Tonart, „Korrektur“ wenig später. Die besagte Wiederholung etwa bei 5:45? Von Neuharmonisierung des Themas in den allerletzten Takten kann man nach so vielen Veränderungen kaum sprechen: es wird zu einer Schlusspassage umgedeutet. Zur schönen Freiheit der Interpreten darf man wohl rechnen (was man erst beim Blick in die Noten feststellt), dass die Pause bei 5:18 und 7:52 um einen ganzen Takt verlängert ist, Takt 124 die letzte Sechzehntelgruppe + Achtel (fast) nicht mehr zu hören ist.

Gutes vom Geigenspiel

Was ich gerne höre

die neueste CD

Man sollte aber diese CD besitzen, nicht nur um die hinreißende Musik zu hören, sondern auch um den klugen Text zu lesen. Reinhard Goebels besonderer Blick auf das herrliche Instrument fasziniert, – auch wenn man durch den medialen Abstand ohnehin immunisiert ist gegen eine Fetischisierung der bloßen Klang-Eigenschaften. Es ist die alte Geschichte: warum gerade dieses Instrument (und nicht etwa die Gambe), warum wird man des neutraleren Charakters nicht überdrüssig und verlangt nach anderen Mischungen?

Ich könnte ein Loblied singen auf den sehnsüchtigen Klang der Hörner, auf die melancholische Kantilene der Klarinette, auf die rührende Unschuld der Oboe, – aber etwas Schwärmerisches über den Geigenton??? Ich denke an Kolisch und sein spöttisches Wort über „die Religion der Streicher“, an das nervende Dauer-Vibrato , und an das mickrige Pizzicato und sonstwas, ich höre Leute verzückt vom Cello reden, vom Zauber der Bratsche, die sie dann auch lieber Viola nennen. Nein, ich übertreibe: aber wenn es um die Geige geht, rede ich von Musik: vom „Adagio molto e mesto“ aus Beethovens op. 59 Nr.1, vom Siciliano einer Bach-Solosonate, vom Anfang des Sibelius-Konzertes.

Ja, aber dann gibt es auch noch Janine Jansen mit den 12 Stradivaris. Da ändert man leichtfüßig die Meinung und achtet geduldig auf den Unterschied der Klangfarben und der Saitenübergänge.

Ach, ist es möglich, dass ich im Begriff bin, mich peinlich zu wiederholen? Dann will ich lieber nur nachlesen, welcher Meinung ich wirklich bin: hier.

Dann hätte ich aber auch noch ein anderes Beispiel, von dem ich weiß, dass mich beim Hören der reine Geigenklang begeistert hat. Es mag auch an der genial-idiomatischen Schreibweise des Geigers Eugène Ysaÿe legen, ebenso an der bestechenden Technik und Musikalität der beiden Interpretinnen, in meinem Fall kommt die Erinnerung an den Lehrer Wolfgang Marschner hinzu, dessen Unterricht ich 1961/62 genoss: seine suggestive Art, eine französische Spielweise als Ideal zu vermitteln: eine gewisse Glätte und Eleganz, die er unnachahmlich etwa an der „Havanaise“ von Saint-Saëns exemplifizierte, während er sie bei Bachs Solo-Partiten selbst völlig vermissen ließ. Und ich glaube ihm aufs Wort, wenn er von dieser Aufnahme meint:

Das Violinduo Penny-Starkloff setzt die Tradition und Verkörperung eines besonderen Klangbildes gepaarter Violinen nicht nur fort, sondern belebt es in exzellenter Weise. Dies war der Hauptanreiz für mich, für diese Kombination meine „Sinfonischen Variationen“ zu schreiben.

Bezaubernd „französisch“ sind seine Bagatellen für zwei Violinen, – aber natürlich ist es eher die fast 30minütige Sonate von Eugène Ysaÿe, an deren Klangbild ich mich nicht satthören kann. Es ist nämlich nicht nur das Klangbild – diese beiden (mir unbekannten)  Geigerinnen spielen einfach unglaublich  gut. Wenn ich die Aufnahme beim Blindhören einordnen müsste, würde ich sagen: Weltklasse! Marschner muss ein guter Lehrer gewesen sein!

Coviello Classics hier

Man merkt wohl, dass mein Lob der größeren Marschner-Komposition, die er „Sinfonische Variationen“ nennt, irgendwie nicht rüberkommen will.

Stimmt, ähnlich wie er es damals mit mir gehalten hat, als er merkte, dass ich „die Karten meines Lebens“ nicht vollständig auf das Geigenspiel setzen mochte, sondern dass mir nebenbei noch andere Ziele vorschwebten, etwa: mehr Bach und Alte Musik und schließlich auch arabische und indische Musik – dass ich z.B. ihm, dem Pädagogen Marschner, nicht nach Freiburg folgen wollte, als er dorthin berufen wurde. Seine etwas zurückhaltend verklausulierte Beurteilung sollte ja eigentlich nur dazu dienen, dass die Firma Oetker in Bielefeld mein Musikstudium weiterhin mit monatlich 230.- DM unterstützte. Während er mir abschließend nochmal seine Meinung „geigen“ wollte…  Es reichte allerdings auch so:

Nicht immer verlaufen Geiger-Sympathien so früh im Sande, – kaum zu glauben, fast genau 60 Jahre später: die neueste CD von RG kommt wie eh und je auf dem geradesten Weg:

DANKE, so ist es uns recht, scherzando aus Solingen, Dein JR

Quartett als Duo

Geht nicht. Oder doch?

Hören Sie die Musik über YouTube, – kehren Sie hierher zurück und versuchen Sie synchron die Noten im Duo-Text mitzulesen: 1 Kadenztakt vorweg (fehlt im Duo), ab 2:08 Wiederholung der Exposition, also wieder zurück an den Anfang der Notenseite:

(Quelle: hier)

Die Duo-Noten stammen so nicht von Haydn, entsprechen aber (reduziert) ziemlich genau dem Ablauf des originalen Quartett-Satzes, von dem hier noch vier weitere Seiten wiedergegeben sein sollen, incl. der Doppelstrichseite, von der aus wieder der Sprung zurück an den Anfang erfolgt:

Des Rätsels Lösung (Zitat Nachwort der Duo-Edition):

Die vorliegende Sammlung ist eine Bearbeitung für zwei Violinen von Werken Joseph Haydns. Der Verfasser war ein Zeitgenosse Haydns, Näheres ist jedoch nicht bekannt.

Die Sammlung wurde zunächst bei dem Wiener Verleger Giovanni Cappi herausgegeben, kurz danach erschien sie bei Bernard Viguerie in Paris. Der Verlagszeichnisnummer Vigueries nach war dies im Jahre 1798.

Alle Sätze sind Kombinationen von verschiedenen Sätzen aus Streichquartetten, Symphonien und Klaviertrios.

(Offenburg 2004 / Mihoko Kimura)

(JR) Die Kombinationen erscheinen uns heute reichlich unbekümmert, wenn etwa der erste Satz aus einem Klaviertrio stammt, der zweite und dritte Satz aber aus der Sinfonie mit dem Paukenschlag. Andererseits ist es ein interessantes Dokument der (suggerierten) Praxis: wie nämlich die Musikliebhaber der Zeit mit den beliebten Originalen umgehen. Eine Potpourri-Technik, – wobei aber die „Ganzheit“ der ursprünglichen Sätze weitgehend gewahrt bleibt (nicht die der Werke). Erwähnenswert, dass z.B. das Rondo von Duo I eine Transposition des berühmten „all’ongarese“ aus dem Klaviertrio G-dur nach F-dur darstellt. – Ob insgesamt der Verkaufstitel im Jahre 1798 korrekt ist oder einen Raubdruck verschleiert, wage ich nicht zu entscheiden.

Natürlich gibt es großformatige Duos zwei Violinen „sui generis“ (für Violine und Cello sowieso – Kodaly! -, Violine und Bratsche sowieso – Mozart!), etwa von Spohr oder gar Ysaÿe, aber es ist nicht befriedigend, wenn man sie unterhalb eines virtuosen Niveaus zu bewältigen sucht (Intonation!). In diesem besonderen Fall ist es aber reizvoll, die Haydn-Quartett-Sätze im Ohr zu haben – also Musik in ihrer anspruchsvollsten Form -, aber nun in ihrer reduzierten Version zu realisieren,  ohne dass die formalen Blöcke verkindlicht erscheinen. Man spürt: „da fehlt was“ , aber trotzdem ist es kein „best of“, keine Sammlung „schöner Stellen“, – man ahnt den „Zugzwang“ der großen Form und ist glücklich trotz des defizienten Wahrnehmungswinkels. Es ist nur eine Ohren-Übung, fühlt sich aber an wie der (musikalische) Ernst des Lebens. Mehr davon!

Ich denke mit Sympathie an die Laienmusiker:innen jener Zeit, die noch keine Kassettenrecorder und keine Handys kannte. Und mit Trauer an Kinderzimmer unserer Zeit, in denen das Handy als wichtigstes und allgegenwärtiges Spielzeug  bereitliegt. Jämmerliche Ersatztätigkeit der Finger, die dazu da sind, reale Welt zu be-greifen..

Edition Offenburg als Beispiel.

Der Fehler

Zum Vergleich (eine auto-didaktische Maßnahme)

Den Fehler hatte ich im vorigen Artikel begangen.

Bitte rufen Sie beide Links auf, den ersten im folgenden Bild bei „Ansehen auf YouTube“, den anderen darunter, so wie angegeben. Beide gleich abrufbereit…

The 5 fugues arranged for string quartet are: – No. 1 in C minor after Bwv 871 (0:00) – No. 5 in D major after Bwv 874 (1:48) – No. 2 in E flat major after Bwv 876 (3:30) – No. 4 in D minor after Bwv 877 (4:54) – No. 3 in E major after Bwv 878 (6:52)

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Die Mozart-CD des Klenke Quartetts, bitte unten bei HIER, also bei jpc, aufrufen und runterscrollen bis dorthin, wo man die Einzeltitel anspielen kann (im Bild ganz unten sichtbar ab „Tracklisting“ ). Vergleichen Sie Fuge für Fuge, also genau gemäß der entsprechenden Nummerierung.

  HIER

Und? Wissen Sie nun, worin der Fehler bestand? Ich entschuldige mich, sowohl bei Leser:innen wie bei den Künstlerinnen. Ehrlich. Es war keine raffinierte Absicht, so zu verfahren. Aber jetzt, da es nun einmal so passiert ist…

Prüfungsaufgabe: Beschreiben Sie den Unterschied der Interpretationen.

Stimmung! Raum! Klang!

Das Hören selbst hören

Ich komme zurück auf die CD „Discovery of Passion“ und nehme den schon besprochenen Track 9 als Beispiel. „Hor che’l ciel e la terra“, ein Monteverdi-Madrigal, im Original für 6 Stimmen, – schwer zu akzeptieren, dass statt des  emotionalen Ineinandergreifens der menschlichen Stimmen eine flinke Blockflöte mit ihren Läufen über dem ruhigen Continuo brilliert. Hat sie noch mit dem Ausdruck des Textes zu tun? Wohl nicht, Erinnerung an das vokale Vorbild wirkt eher störend, der Augenblick gilt, der ungeschützt herausragende hohe Ton, die lerchenhaften Kapriolen, das rhythmische Beben des Atems. Und das alte Vorurteil, die Flöte stimmt nicht ganz, hier und da, es sind nur Einzeltöne, sie sind offenbar so gewollt oder wenigstens akzeptiert, und ich bin im Zweifel, ob es nicht nur mein Ohr ist, das sie anders erwartet. Unzulässigerweise. Wie kann ich herausfinden, was objektiv gilt. Cello und Cembalo beginnen, der harmonische Rahmen ist eindeutig, und wenn die Flöte dazukommt, scheint der erste hohe Ton zu tief, und erst in der Folge fügt sich alles harmonisch zusammen, auch wenn die Flöte zurückkehrt zum Ausgangston und sogar darüber hinausgeht. Die Modulationen, – alles wunderschön, bis zur Kadenz bei 1:08. Man badet in den Klängen. Die darauffolgenden Tupfer (ich denke an den Text: „veglio, penso, ardo, piango!“) sehr fein artikuliert, in der Tonlänge kalkuliert, bei 2:14 denke ich wieder an den Text („e chi mi sface“ ) und fühle den Schmerz im Beben der Vierergruppen – und dann kommt der Halt bei 2:49, die hohe Terz des darunterliegenden Akkordes, was ist damit? … sie steht im Raum und ist tief… 2:52 darf ich das fühlen und monieren? Oder mich an die kleinen Tücken der Physik erinnern, die auch wieder zu den Ausdrucksmitteln der Musik gehören?

Wie oft haben wir uns im WDR darüber ereifert, wenn ein Kollege, der die „Aufführungspraxis“ hasste, seine englischen Lieblingsfeinde verbal abstrafte („da stimmt kein Ton!“), und ich vermutete, das ihn die Abwesenheit des Vibratos irreführte: vielmehr, er kennt gutes Geigenspiel nur mit starkem Vibrato, er hat sich an die Schärfung des Tones, die sich aus dem Vibratoausschlag ergibt, derart gewöhnt, dass er den bloßen Ton, den vibratofreien, als unrein empfindet. Allerdings: wenn man das formuliert, wird der andere es mit Empörung zurückweisen, denn sein Ohr ist ihm heilig und unfehlbar wie der Papst.

Ich will an dieser Stelle keineswegs eine Kritik der CD festmachen, die mir ein riesiges Vergnügen bereitet hat. In diesem Artikel ist sie mir jedoch auch Anlass, einem schwierigen Thema der alten Musik, der Kammermusik, gerade der aus Streichern und Bläsern zusammengesetzten Ensemblemusik nachzugehen: es sind ja schon Leute darüber verzweifelt. Streicher stimmen permanent nach, vergleichen die C-Saite des Cellos mit der E-Saite der Geige, verabreden, dass die unterste Quint etwas enger eingestimmt wird. Und wenn ein Klavier mitwirkt, diskutiert man anders als wenn ein Cembalo dabei ist, das einer bevorzugten barocken Stimmung angepasst ist. Intonation ist keine Privatsache, und wer sich auf entsprechende Lehrgänge einlässt, wird reich beschenkt. Ich würde behaupten: das hat zwar mit Physik zu tun, aber man wird auch musikalischer. Als Orientierung über die Vielfalt der Thematik geben ich die Inhaltsübersichten der beiden Hefte, die mir zur Verfügung stehen, beide im Verlag Bärenreiter:

Hemann 1981 Geller 1997

Am E-dur-Dreiklang in der Kreutzer-Etüde Nr. 9 übe ich, den Weg zum obersten Flageolet-Ton zu kontrollieren; damit man nicht zu hoch ankommt. In der letzten Sechzehntelgruppe wahlweise  auch schon mit Flageolets auf e und h, überhaupt dort in der 7. Lage verweilen (+ Sprung) und einfach – spielen.

Der entscheidende Punkt (wie immer): man muss sich motivieren. Ein Beispiel in eigener Sache: der Anblick von Tonleitern ödet mich an, aber die folgende Seite aus Hemann hatte von vornherein mehrere Sympathiepunkte: sie bestätigten die Urstudien von Flesch, die Schradieck-Übungen, die mir seit Jahrzehnten vertraut sind, und in der Anmerkung das Problem mit den höchsten Flageolettönen. Das zieht mich an, und ich bleibe „am Ball“ bzw. im Spiel. Grete Wehmeyers Wort von der „Kerkerhaft am Klavier“ – um es im Stil eines ehemaligen Vorgesetzten zu benennen – ist nicht „zielführend“.

Kann man Intonation heute auch online trainieren?

https://de.wikipedia.org/wiki/Streckung_(Musik) hier

Intonation und historische Stimmungen (Andreas Puhani):

https://musikanalyse.net/tutorials/stimmungen/ hier

BEETHOVEN IX. (Thema Raum)

Die beiden Beethovenaufführungen sind nur dank eines Zufalls in diesen Artikel gelangt: die Genfer Aufführung hat mich als erste durch den Raumeindruck fasziniert, mir schien, dass die Stimmen des Orchesters besser denn je aus dem Gesamttext herauszulesen waren. Ich wollte eigentlich die Sinfonie gar nicht als Ganzes hören und stieg beim langsamen Satz eine, konnte dann aber beim Übergang zum Chor-Finale, das ich früher immer etwas gefürchtet habe, nicht aufhören. Der „Rest“ war gewaltig, ekstatisch, der Bass ein glaubwürdiger Redner und Rufer, der Chor keine geballte Masse an der Grenze zur Hysterie, man war nicht das ferne Publikum, sondern in den Raum mit einbezogen, angesogen, eine riesige Zahl von Sympathisanten und Empathisten, „Millionen“ in der Tat, wie es in Musik und Text behauptet wird.

Weiterhin (immerhin noch bis 1.1.22 abrufbar?):

GENF https://www.arte.tv/de/videos/097958-000-A/ludwig-van-beethoven-die-neunte/ ab 2:12 hier

Vorbei (nur bis 30. Dezember verfügbar – warum? ein Weihnachtswerk?)

WIEN https://www.arte.tv/de/videos/094540-001-A/beethoven-symphonie-nr-9/ ab 3:00 hier

Hand und Fuß

Stunden am Klavier

Seite 8

Es ist dieser Aufsatz, der einiges in Bewegung setzt, und nicht nur bei mir bzw. bei mir nicht nur, weil ich die Widmung unter dem englischen Abstract wichtig nehme, sondern weil Hand und Fuß samt Körper ringsumher für mich ein Dauerthema waren, ob am Klavier (s.a. hier), auf der Geige oder bei der täglichen Gymnastik (die sich auf 5 Übungen beschränkt). Daher wird dieser Blog-Artikel partout nicht fertig werden, weil das Thema sich dermaßen verzweigt. Zumal im Widerspruch: z.B. Glenn Gould betreffend. Sein Contrapunctus I gefällt mir nicht, – erst bei Zenck gewinnt der Ansatz neue Aspekte -, Performanz statt Analyse? und schon sitze ich wieder in der Fugen-Falle, schaue in die Analysen und bin doppelt unzufrieden, nicht nur mit mir, sondern auch mit allerhand viel tüchtigeren Vorgängern. Da gibt es keine helfenden Hände. Andererseits habe ich heute Geburtstag. Es ist nie zu spät für eine Renaissance. Wie 1956, 1964 und über die Jahrzehnte immer wieder. Jetzt sind zwei CDs dazugekommen, die Unruhe stiften, „Fuga Magna“ und Mozarts Bach-Fugen mit ihren zu schnellen Tempi. Gilt das individuelle Streicher-Denken oder die Versenkung der 10 Finger in die Tasten? Im Hintergrund das mutmaßliche Klangdenken des Pianisten Chopin mit seinen Präludien ohne Fugen.

immerhin: mit Fingersätzen…

s.a. hier

Fuge D-dur BWV 874 Welches Tempo? Hören Sie Barenboim, András Schiff  (ab 5:18), Angela Hewitt oder die russische Schule. Seltsamerweise könnte Gustav Leonhardt (ab 3:28) als Gegenbeispiel dienen, das allzuschnell vorübergeht. Man kann die Schönheit der Harmonien nicht „auskosten“. Aber was soll man auf dem Cembalo schon auskosten? könnte man zynisch fragen. Vielleicht ist es Mozart, der die „altväterische“ (unerbittliche) Fuge nun prinzipiell in die flottere Welt der Streicher versetzen will? (Indiskutabel aus meiner Sicht die gehackte und willkürlich phrasierte Gould-Version hier).

Als es mir damals mit der Fugen-Form (oder -technik?) ernst wurde, studierte ich Adam Adrios Analyse in „Das Musikwerk“ von vornherein distanziert, weil sie offenbar mehr „vom Hörer aus“ argumentierte (statt vom Werk). Sein Musterbeispiel ist Contrapunctus III, von dem ich Seite 1 und 2 aus der Graeser-Partitur wiedergebe:

Hier folgt der entsprechende Analyse-Teil bei Adam Adrio (beide Blätter untereinander zu denken).  Geben Sie sich nicht zuviel Mühe, die Gedankengänge nachzuvollziehen. Denn…

… hier folgt auch gleich noch das Urteil Walter Kolneders aus dem Bd. IV seines Werkes: Die Kunst der Fuge / Mythen des Jahrhunderts (Heinrichshofen Wilhelmshaven 1977 Seite 622):

Wenn Sie sich informieren wollen, was reale und was tonale Beantwortung des Themas bedeutet, sind Sie schnell fündig hier. Und wenn Sie nun auf die Altstimme ab Takt 5 anschauen, so liegt der Fall wohl gar nicht so eindeutig, wie Kolneder insinuiert: die ersten drei Takte des Comes bieten zweifellos eine tonale Beantwortung, er macht eben nur die leittönige Wendung des Dux im 4. Takt nicht mit (weil daraus eine hinaus-modulierende würde), sondern er bleibt in der Tonart, – weiß es also besser, ganz wie im realen Leben Walter Kolneder…

Und nun schauen Sie auf Track 6, 7 und 8 der folgenden CD:  Gerade diese 3 Contrapuncti, in stufenweise gesteigertem Tempo, die Nr. XI ein Wunder an Komplexität und Durchsichtigkeit. Trotz des Tempos! Man muss das Ganze „akribisch“ hören, all die glasklar wiederkehrenden Motive erfassen, dann braucht man nicht auf die Visualisierung einer Architektur zu warten. Und Notenleser sind kaum im Vorteil. Trotzdem seien wenigstens vier Seiten der Partitur  (von insgesamt 10) unten abgebildet. Es geht aber um die sinnlich greifbare, hand-greifliche Realität. Am Klavier dürfte es durchaus in Zeitlupe stattfinden… Als ebenso schnelle Alternative sehe ich nur die Gesamtaufnahme mit Musica Antiqua Köln (1984), was für ein Zufall, – genannt Goebel.

s.a. hier

Armida + Cembalist (Goldberg)

Das Ende der Fuge: die Vereinigung aller Themen, in Takt 176 das Achtelthema mit b-a-c-h-Motiv, das in Takt 91 zum erstenmal aufgetreten war (das wäre auf der 5. von 10 Seiten, dieser Formteil beginnt auf der Armida-CD Tr. 8 genau bei 2:00. Beginn der folgenden letzten Seite 10 bei 3:46).

Seite 10

Ich weiß, an dieser Stelle wäre eine intensive Behandlung der Großen Fuge von Beethoven fällig; sie würde den Rahmen sprengen. Zumal es auch eine Klavierfassung für vier Hände (vom Komponisten) gibt. Darüberhinaus erinnere ich mich an den Cassetten-Mitschnitt eines langen, erleuchteten Einführungsvortrags von Walter Levin mit dem LaSalle-Quartett, doch das führt den Bach ins Uferlose. Daher – weiter:

Themenwechsel

Chopins Hand Nachbildung Polish Museum, Rapperswil

Ganz entspannt?

Zitat aus dem folgenden Buch:

ISBN 3-7957-0224-0

Ich besitze das Buch seit 1994, war damals positiv beeindruckt, jetzt aufs neue, bin aber vor allem dankbar für das sympathische, inspirierende Gespräch

Für mich wird es spannend, sobald von den Schultern die Rede ist (man täusche sich nicht über den Titel dieses Artikels „Hand  und Fuß“). Warum habe ich das nicht viel früher begriffen? Ich brauchte diese empathische Atmosphäre. Es ist wirklich von Nutzen, die Übungen nun auch im Buch – ohne Instrument – gründlich zu verstehen, im folgenden Absatz zum Kopfkreisen z.B. das Wort „vorsichtig“ nicht zu übersehen…

Der „Student“ im Video ist Benjamin Laude. Mehr über ihn hier. Bei 5:10 spricht er über sein frühes Problem: die Schultern. „taut“= (an)gespannt / 12:20 Alexander Brailowsky s. Handbewegungen hier „play with weight“ / Janos Starker / Pollini / Balladen „poetic“ play / my father Nocturne ab 18:21 (auch ich denke an meinen Vater, sein Beharren auf der Breithaupt-Methode, an „sein“ Nocturne in F-dur, jetzt bin ich bereit, neu über die Gestik nachzudenken).

Wer ist dieser junge Pädagoge? siehe hier . Natürlich: der Ton ist anders, dozierender, man möchte widersprechen, aber es ist eine gute Übung, „weich“ und zugänglich zu sein. Was meint er zum Pedal ab 6:10, sind es Hinweise oder Vorschriften? Ab 9:35 Prélude op.28 Nr.13, größtenteils ohne Pedal-Angaben.

Mein Problem bei Chopins Prélude Nr. 1 in C-dur war die gedruckte Pedalisierung, die ich folgendermaßen geändert habe (siehe unten, eingezeichnete rote Klammern). Mir lag daran, dass die Töne der linken Hand verschwinden, um den Hauptmelodieton der rechten Hand (Daumen) klingen zu lassen. In der vielleicht irrigen Annahme, dass Chopins damaliges Klavierpedal sich weniger „wolkig“ über den ganzen Takt breitet als das moderne.

Meine Pedal- und Klangübung

Kommentar: im Adagio üben!

Pedal – das soll heißen: rote Klammer P Akkord linke Hand, rechte Hand (Terz- oder Sekund) P neu, nur der Daumen bleibt liegen bis zum Tonwechsel am Taktende. Ausnahmen: Takt 15, 21, 22, wo man den Daumen (wegen des weiten Spreizgriffs oben) nicht liegen lassen kann, der ff-Gesamtklang aber alle weiterklingenden Töne gut verträgt, meinetwegen als „Wolke“. Am Anfang auf den schon tönenden Daumen rechts warten, bis man ihn wirklich klingen hört, deshalb adagio und frei, Terzanschlag glockenklar.

Wie es damals war:

Die E-dur-Etüde von Chopin kannte ich als erste (weil mein Vater sie gern übte und „en famille“ vorspielte), habe sie auch mit Ehrgeiz einstudiert (bis endlich sogar der Mittelteil einigermaßen ging, ich bin ja kein Virtuose), aber dann erschrak ich: am Anfang steht keinerlei Pedaleinzeichnung, sondern legato, – soll das etwa ohne Pedalhilfe funktionieren? Ein Legato wie auf der Orgel? Steht überhaupt irgendwo eine Pedal-Vorschrift? ja, aber erst auf der zweiten Seite unten, wo nach der Chromatik der H-dur7-Akkord im Raume steht und glänzen soll, fortissimo.

   

Der rote Eintrag zu Cortot bezieht sich auf seine Notenausgabe (mit Übungen), nicht auf die alten Tonaufnahmen, da hätte ich es gar nicht wahrgenommen. Sehr wahrscheinlich hat er recht. Aber die 10 Chopin-Bände von Paderewski habe ich mir 1960 im Polnischen Pavillon (?) Ostberlin gekauft, und ich hänge daran, wie an der Kropp-Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers.

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Zurück zum Anfang:

Es gibt Leute, die Bach am Klavier ohne Pedal spielen wollen. Was für ein Unsinn… Die Schönheit des Klaviertons kommt vom Pedalgebrauch her, – wegen der mitklingenden Resonanztöne, nicht um ein mangelhaftes Legatospiel vorzutäuschen.

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Nochmals: zurück zum Anfang – beim Üben kein Druck, kein Blitzstart…

Das Bewusstsein aber ist ganz und gar wach. – Noch mehr über die Hand hier im Blog.

(Grafik soeben Thema Startblock wikihow , ganz am Anfang Antonello da Messina ca.1470.)

Zur Lösung eines Fugen-Problems bei BWV 865

Vielleicht erscheint es nur beim Langsam-Üben, – aber es ist da, wenn Sie die Stelle betrachten, unter der die grünen Pfeile stehen, auch unmittelbar davor und danach: was ist denn das für eine Stimmführung???

aus folgendem Zusammenhang:

Bach: Wohltemperiertes Klavier Teil I BWV 865 Fuge-A-moll (2 von 6 Seiten)

Die römischen Zahlen bezeichnen die „Durchführungen“, die jeweiligen Themen-Auftritte in den verschiedenen „Stimmen“ sind mit grünen Häkchen gekennzeichnet. Die Durchführung II verwendet das Thema in Gegenbewegung (Umkehrung), alles was in I aufwärts geht (vgl. mit Takt 1ff), geht jetzt abwärts. Die oben abgeschriebene Stelle finden Sie in der vorletzten und letzten Zeile des zweiten gedruckten Notenblattes, die Töne des Themas sind in meiner Abschrift rot eingekreist (die Farben dienen nur der Distinktion).

Wollen Sie das Stück erst hören??? Mit Glenn Gould??? Bitte HIER – (sehr gut, um den Form-Überblick zu üben, folgt später) – aber der Themen-Einsatz, um den es mir im obigen Beispiel ging, wird Ihnen kaum auffallen: versuchen Sie’s doch mit Blick auf die Minuten und Sekunden: ab 0:51…

Meine (kleine) Lösung für die Stimmführungshärte dieses Taktes: der Tenor, – er hat seit Takt 22 geschwiegen und soll mit Gewicht zurückkehren, mit einem Themeneinsatz in Engführung, einem Scheineinsatz, denn er endet schon nach 5 Tönen, begründet aber die Verdichtung des Satzes wenig später in parallelen Terzen, vergleichbar dem Takt 10, Steigerung zum Schluss der Durchführung, hier wie dort. Man vergleiche den Gipfel dieses Spiels mit Terzparallelen im Schlusstakt der ganzen Fuge: aufgetürmt zu 7 Stimmen!

Um zu einem Ende zu kommen, zitiere ich einen Satz von Alfred Dürr (S.215) zur Datierung dieser Fuge im Lebenswerk Bach:

Mit seltener Einmütigkeit hat die Forschung in dieser Fuge eine aus frühen Jahren ins WK übernommene Komposition Bachs gesehen, und tatsächlich muß auffallen, daß sich gerade in den Werken des jungen Bach Sätze von ungewöhnlicher Ausführlichkeit erhalten haben; erinnert sei an das Capriccio in honorem Johann Christop Bachii BWV 993.

D.h. vor 1705. (Siehe hier.)

Zum Thema dieser Fuge schreibt Dürr (a.a.O. S.211), es gehöre

zu dem in einer diatonischen Leiter aufsteigenden Typus, der in der Tonika verbleibt und schließt, so daß die Beantwortung erwahrungsgemäß real erfolgt.

Womit wir zu einer unserer Ausgangsfragen zurückkehren: dem Unterschied zwischen tonal und real. (Hier muss keine Wendung ausgeglichen werden, die schon im nächsten Themazitat  aus der betreffenden Tonart herausführen würde.)

Noch eins muss ich unbedingt fairerweise erwähnen: ich finde, dass diese Fuge außerordentlich schwer zu lernen ist, nicht nur weil sie vierstimmig ist und doch ins Tempo kommen soll, also: besonders langsam geübt werden muss! Aber: das Üben ist keine Freude, – mit den Händen einzeln und fingersatzmäßig ganz sorgfältig behandelt, gut ausgehört. – es  d a u e r t  und es ist musikalisch über eine lange Zeit einfach unattraktiv.

Wie motiviert man sich? Ich vermute: allein über das Fingergefühl, die Schönheit der feinen Bewegungen und den anmutigen Tanz der Finger im Daierkontakt mit den Tasten. Ich werde vom Fortschritt der Bemühungen berichten.

Endgültiger Abschluss dieses Artikels (für heute). Weiter geht’s allerdings zunächst noch hier:

Robert Levin: „Bach’s tonal cosmology: Examining his structural
procedures“ – seminar on December 15, 2021

30. Dezember: Endlich!!!

Lebenslust Mozart

Die Quintette

Ich glaube, dass diese Worte, für sich genommen, selten gepaart werden. Seltsamerweise. Daher dieser Blogtitel. Bei Mozart vergisst inzwischen kaum noch jemand, von Melancholie oder Todesahnung zu sprechen. Ganz besonders, wenn es sich um „späte“ Werke handelt. Und die Werke, die mir dank dieser Aufnahme in kürzester Zeit unentbehrlich geworden sind, stammen aus seinen beiden letzten Jahren. Zum Glück wusste er das nicht, als er sie schrieb. Und zu meinem späten Glück gehört noch etwas anderes: ein neues Buch, das ich ab sofort zu meinen schönsten zähle, das mich am Computer immer wieder  zwingt, Namen einzugeben, die das Glück des Südens evozieren, meinetwegen auch das von Untergang und Tod, Pompeji, Herculaneum, Paestum – nein, der letzte  Name passt nicht ganz. Oder nur so wie die Ballons zu den Schnecken der Streichinstrumente. Paestum verschwand nicht sang- und klanglos, ein griechisches Kleinod in Kampanien. Es versandete und versumpfte erst 500 Jahre nachdem der Vesuv die anderen Städte ausradiert hatte. Es wurde nur etwa zur gleichen Zeit wiederentdeckt, ein Wunder der Archäologie und der antiken Mittelmeerkultur.  Paestum 1752. (Mozart war noch nicht geboren.)

(siehe hier)

Wie der Taucher mir auf die Sprünge half…

Und was beim Mozart-Hören erst recht zu denken gab:

Zunächst natürlich die schiere Musik, aber das frühere Quintett KV 593 vor dem späteren, sobald ich begriff, warum es auch in der 3-teiligen CD-Folge den abschließenden Höhepunkt bildet (Tr.5-8). Der Ideenreichtum liegt auf der Hand, aber das rauscht nicht in vollkommenem Gleitflug vorüber, als opake Gestalt, sie ist vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert. Um das Offensichtliche noch einmal hervorzuheben, hier 2 Seiten aus dem langsamen Satz, die die „gruppendynamischen“ Verhältnisse ins Licht rücken:

Alldies vermischt sich in der täglichen Lektüre merkwürdigerweise mit der eigenen Biographie (die Neigung zum Griechischen, die von meinem Vater stammt, leider auch die Vernachlässigung der neuen Sprachen), die frühe Begeisterung für Nietzsches „Geburt der Tragödie“ mit dem Sprung zu Wagners „Tristan“. Die verrückte Möglichkeit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ . Als Steigerung einer „ewigen Wiederkehr“ !

*    *    *   

Der Autor des Paestum-Buches, Tonio Hölscher, zieht Parallelen von dem griechisch besiedelten Ort Paestum im antiken Kampanien zu der griechischen Insel Thasos, wo es uralte steinerne Belege über bestimmte Treffpunkte der Jugend gibt:

Auf Thasos, an der Südküste der Insel, weit von dem städtischen Hauptort entfernt, stürzt die Küste bei der Örtlichkeit Kalami mit einer Felsterrasse in das Meer ab (…). Zum Wasser hin sind in die Felswand Dutzende von Inschriften in Buchstaben des 4. Jahrhunderts v. Chr. eingeschrieben, die mit einem ungewöhnlich reichen Vokabular schöne Epheben preisen: kalós und hōraíos, schön; hēdýs, süß; eúcharis, anmutig; euprósōpos und kalliprósōpos, von schönem Gesicht; euschémōn, von guter Haltung; eúrythmos, von schöner Bewegung; chrysoús, golden; argyroús, silbern glänzend, und so fort. Es sind emphatische Zeugnisse homoerotischer Beziehungen: geschriebene Komplimente erwachsener Liebhaber an ihre favorisierten jungen Geliebten, nicht nur flüchtig ausgesprochen oder aufgeschrieben, sondern in anspruchsvoller Schrift, in aufwändigen technischen Akten des Eingravierens mit Meißel und Hammer zum Ausdruck gebracht. Teils waren die Inschriften von der Terrasse aus zu lesen, teils aber nur vom Wasser aus, mit ihren großen Buchstaben sogar aus einiger Entfernung: also entweder für Insassen von Booten oder für Schwimmer im Meer. Die sorgfältig in den Fels gehauene Schrift, sicher durch Farbe in ihrer Lesbarkeit verstärkt, lässt erkennen, dass es ein etablierter Adoleszenz-Treffpunkt der höheren Gesellschaft war: ein Ort, an dem die städtische Jugend, zusammen mit ihren Bewunderern, sich auf den Klippen am Meer traf, in weiter Distanz zum Zentrum der städtischen Lebensordnung. Die Terrasse bot Raum zur Anknüpfung von Beziehungen, an einzelnen Stellen konnten die Jugendlichen vom steilen Felsen ins Meer springen und die trainierte Eleganz ihrer nackten Körper zeigen, andere konnten mit Booten auf spielerischen Fischfang gehen – und die erwachsenen Liebhaber konnten ihre Zuneigung in Inschriften am Felsen manifestieren. Alles erinnerte an die Tomba della caccia e pesca. Es wird sich zeigen, dass dies nicht nur spielerischer Zeitvertreib, sondern eine bezeichnende Situation der antiken Jugendkultur war, in der homoerotische Beziehungen eine starke, heute der Erklärung bedürfende Bedeutung hatten.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 41f / Weiteres siehe hier, Rezensionen hier.

Die „starke, heute der Erklärung bedürftige Bedeutung“ der homoerotischen Beziehungen in der griechischen Antike war schon in meiner Schulzeit ein Thema, blieb allerdings in Andeutungen und humoristisch gemeinten Bemerkungen stecken. Es wäre eine Chance gewesen, den damals noch geltenden Paragraphen 175 ernsthaft zu analysieren. Unvorstellbar jedoch in einer Zeit, als die Sexualität ganz allgemein unter einem verbalen Tabu stand, das überall wirkte; das Wort „Lebenslust“ hätte man damals gemieden. Dabei buchstabierten wir Platons „Gastmahl“, entzifferten Catulls Verse an Lesbia. Aber ich erinnere mich an einen Tag, als mein Vater (ausgerechnet er, der bekennende Altsprachler) das englische Wort „Sex Appeal“ gebrauchte. Mir stockte der Atem.

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Riemann-Kauf mit frischer Tinte besiegelt…

Darüber hätte ich mit meinem Vater – glaube ich – reden können. Ich vermute, er hat sich das Quartett im Mai 1921 in Berlin zum Partiturspiel-Üben zugelegt, als angehender Kapellmeister, sein Riemannsches „Handbuch der Orchestrierung“ trägt die unkorrigierte Signatur vom 24.V.1921. Das Lerchen-Quartett. Ob er deren Gesang jemals bei Ausflügen aufs Land identifiziert hat? Er kannte keinen einzigen Singvogel, war aber zweifellos ein begeisterter Schwimmer und erinnerte sich zeitlebens an die Ostsee bei Kolberg oder in Wieck bei Greifswald , nahm später fürlieb mit dem Freibad Wiesenstraße in Bielefeld. Der neueste Stempel mit der Adresse Paderborner Weg 26, weitab dort oben am Waldrand (heute Furtwänglerstraße), galt erst ab 6. Dezember 1957, mein Vater genoss das eigene Haus keine zwei Jahre. 9 Monate nach seinem Tod begann – im Frühling 1960 – mein Studium in Berlin, wo er 40 Jahre vorher das seine begonnen hatte. Muss das denn sein, soviel Geschichtlichkeit in eigener Sache? Natürlich, wenn es ohne Jammern abgeht. Wir bezeichneten uns ironisch und zukunftsfreudig als Epheben. Und empfanden keine Defizite.

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„Das hat er vom Vater“ war in meiner Jugend eine oft gebrauchte Formel, die ich nicht gern hörte. Ich bewunderte ihn, traute mir aber mehr zu, und zumindest in der Körperlänge erfüllten sich meine Erwartungen früh. Wenn mir gesagt wird, dass Details eines Mozart-Quintetts aus dem „Lerchen-Quartett“ von Haydn abgeleitet seien, ohne dass man freilich die enge Verwandtschaft spürt, bin ich skeptisch. Wie kommt es, dass ein Kenner wie Charles Rosen das Quintett KV 593 seitenlang analysiert (S.321-326), aber eine intime Nähe zu Haydn allenfalls beim letzten Quintett KV 614 konstatiert? Je kleiner die betrachteten Motive, desto ähnlicher, – und desto unmotivierter, sie zu vergleichen.

Quelle Charles Rosen: Der klassische Stil / dtv Bärenreiter 1983

Das inspirierendste Kapitel in diesem Buch ist und bleibt für mich das über Haydns Erschließung des Konversationstons im Streichquartett, der u.a. seine „Erfahrungen als Komponist komischer Opern widerspiegelt“, auch wenn ihm dort der Erfolg versagt blieb (S.131). Hier zunächst wieder ein Blick auf das „Lerchenquartett“:

Inspirierend zugleich beim Blick auf Mozart, den Opernkomponisten auch in seinen Quintetten, deren Lust an der bloßen (?) Musik jedoch Haydns Konversationston überbietet.  Eine Entfaltung psychologischer Netzkonstruktionen – über Abgründe hinweg. Zum Beispiel im ersten Satz KV 593, wenn die Introduktion am Ende wiederkehrt und magisch die ganze Spannweite der Mozart-Musik-Welt aufleuchten lässt. Das mindert nicht im geringsten den Eindruck des „Lerchen“-Quartetts, lässt nur jede Familienähnlichkeit unwesentlich werden.

*     *     *     *

Man macht sich keine Vorstellung, wie streng, ritualisiert und andersartig die Adoleszenz in andern Zeiten und Kulturen abläuft. Pauschale Begriffe und Urteile sind nicht angebracht. Und genau das haben wir damals nicht gelernt, wenn wir mit sonderbarem Widerstand das Gastmahl von Plato lasen und glaubten,  die Liebe mehr oder weniger „platonisch“ auffassen zu sollen. Allzu „weichlich“ erschienen uns die Gespräche. Was für ein Müßiggängerleben,- wir kannten wohl auch schon das Wort „Sklavenhaltergesellschaft“. Immerhin studierte man gelegentlich Jacob Burckhardts schonungslose Analyse „Zur Gesamtbilanz des Griechischen Lebens“ – seltsamerweise bei den Neusprachlern. 10 von 80 Seiten darin behandeln den Selbstmord… Umso freimütiger folge ich heute Tonio Hölschers „Taucher von Paestum“:

Die Prüfungen waren zum Teil hart, besonders in Sparta. Dort mussten die Epheben lernen, sich in dem weiten Territorium durch Stehlen die Nahrung zu sichern und Mordterror unter der unterworfenen Landbevölkerung zu verbreiten. In Kreta war es etablierter Brauch, dass die Epheben von einem erwachsenen Liebbhaber in die Berge entführt wurden, wo sie zwei Monate lang zusammen lebten, sich von den Produkten der Natur ernährten und sich auf die Anforderungen des Krieges vorbereiteten. Die homoerotischen Aspekte dieser Verbindungen hatten eine prägende gesellschaftliche Funktion: Die Epheben sollten in der Gemeinschaft mit einem erwachsenen Gefährten, der zugleich Partner und Vorbild war, die Kräfte ihres männlichen Körpers kennen lernen und in die Verhaltensformen der volljährigen Männer eingeführt werden. Dabei war man sich sehr wohl der Gefahren und Risiken homosexueller Erotik in frühem Alter bewusst: Es gab streng kontrollierte Normen des gebührenden Verhaltens: Bedrängende Übergriffe auf den jüngeren Partner wurden hart geahndet. Am Ende dieser Zeit machte auf Kreta der ältere Liebhaber dem jüngeren drei symbolische Geschenke für seine künftige Rolle als Mitglied der Gemeinschaft: einen Becher für das Gelage der Männer, ein prachtvolles Gewand für die Teilnahme an den öffentlichen Festen und ein Opfertier für den gemeinschaftlichen Götterkult. In ähnlicher Form müssen die Jugendlichen auch in anderen Stadtstaaten diese Lebensphase als Umherstreifende, perípoloi, und „schwarze Jäger“ in der freien Natur mit Fangen von Kleintieren und Sammeln von Kräutern verbracht haben: Die Ausbildung der Epheben für den Eintritt in die Welt der erwachsenen Männer war überall eine zentrale Aufgabe. Und auch anderenorts war dabei die Führung der Jugendlichen durch erwachsene Männer in homoerotischen Verbindungen von entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich war diese Form der Homoerotik keine einseitige sexuelle Disposition, sondern ging in aller Regel mit heterosexueller Einstellung zu Ehe und Familie zusammen.

Quelle Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021 / Seite 66f

Es mag uns heute befremden, die griechische Antike von dieser Seite anzugehen, die in früheren Generationen vielleicht verschwiegen, idealisiert, cachiert wurde, so dass wir Jung-Humanisten, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“, keine Ahnung hatten, in welcher Weise sie ihre wilde Welt in absolut „körperlichen“ Modellen erfassten, visuell und taktil in Kunst übertrugen, die der Gewalt und dem Chaos abgerungen war. Unser Befremden ist das eines Ethnologen, der von der Universität zur Feldforschung übergehen will und nicht einkalkuliert hat, dass er die neuen Eindrücke nicht einfach „verarbeiten“ kann, sondern dass sie ihm einen Kulturschock verpassen, der ihn lähmt und blockiert.

Wir haben oben von Mozarts Ideenreichtum gesprochen, von der opaken Gestalt, die sich vielfältig durchbrochen, gruppiert und aufgefächert gerade in den Streichquintetten auftut, von den wechselseitigen Einflüssen zwischen Haydn und Mozart nichts mehr weiß. Etwas unglaublich Neues ist in die Welt getreten, und das darf man nicht weglächeln. Martin Geck hat – konventionell beginnend – den Prozess angedeutet:

Auf dem Feld des Quintetts ist Mozart seinem Lehrmeister in der Quartettkomposition, Joseph Haydn, unbedingt voraus: Wird diesem die Äußerung zugesprochen, »daß er die fünfte Stimme nicht finden könne«, so fühlt Mozart sich in der »fünften Dimension« – derjenigen des klangräumlichen Komponierens – ganz zu Hause.

Nicht nur dem Liebhaber, auch dem Kenner ist es immer wieder rätselhaft, wie nichts anderes als eine zweite Bratsche eine neue Welt der Kammermusik für Streicher aufzutun vermag. Und tritt uns im C-Dur-Quintett KV 515 eine unangestrengte, reife Klassizität entgegen, welche die Buntheit der Haydn-Quartette hinter sich lässt, so jagt uns die bittere Süße oder süße Düsternis des Quintetts KV 516 in g-Moll – eine von Mozarts Schmerzenstonarten – Schauer über den Rücken.

Quelle Martin Geck: Mozart Eine Biographie / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2005 (Seite 161f)

Noch einmal:

ZITAT (Der Taucher von Paestum)

Die Bilderwelt der griechischen Kunst in archaischer Zeit ist erfüllt von einer glanzvoll schönen Lebenskultur – aber im Hintergrund wird immer wieder das Bewusstsein der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Glanzes sichtbar. Die überwältigende Diesseitigkeit der Griechen erhält dadurch ihre Tiefendimension. Nirgends wird das so prägnant deutlich wie in der Inschrift für einen jungen Athener, die den vorbeikommenden Wanderer anspricht:

»Sieh an das Grabbild des Kleoitas und klage, Wie schön er war und doch sterben musste!«

Friedrich Schiller, Mozarts Zeitgenosse, schrieb viele Jahrhunderte später seine Nänie, die mit den Zeilen beginnt:

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Nachtrag 2. Januar 2022

Nach dem Mozart-Tag gestern – immer wieder mit unverhofften Einblicken (man kann nicht alles konsumieren), zum Schluss vollständig die großen Sinfonien (samt Chor-Einschüben und „Zugabe“ der Arie Donna Anna!!!) mit Currentzis, heute noch einmal zum Tagesbeginn das Streich-Quintett D-dur KV 593, Auryn / TACET – unvergleichlich. Danach entdeckt, dass es einen großartigen Text darüber gibt, wie so oft bei Villa Musica (Dr. Karl Böhmer): besonders treffend die Verbindung zwischen musikalisch nachvollziehbaren Sachverhalten und biographischem Kontext.

All dies – der Abschied von Haydn, die geplante kleine Konzertreihe, der neue Schaffenselan – sind in das D-Dur-Quintett eingeflossen. Es ist ein Werk von höchstem Anspruch zwischen übermütigem Scherz und tiefer Melancholie – eines seiner großen Meisterwerke in der majestätischen Tonart D-Dur.(…)

Auch für den zweiten Satz könnte man eine Äußerung des englischen Mozartforschers zitieren: „Er bringt die wahre Essenz des ersten Satzes zum Vorschein. Die Vermischung von Heiterkeit und Traurigkeit ist deutlicher, das Licht heller, der Schatten tiefer. Die Nachbarschaft von Lächeln und Tränen ist enger, in der Musik wie im Leben, und ihre gemeinsame Wurzel in der Seele des Komponisten sichtbarer.“ In der Tat hat sich Mozart in diesem G-Dur-Adagio rückhaltlos ausgesprochen: im erhabenen Ernst seines Hauptthemas wie in der tiefen Verzweiflung der Molleinschübe, die nicht zufällig an das Andante der „Jupitersinfonie“ erinnern. Zunächst singt die erste Violine eine ätherische Arie, die mit einer Kette von Seufzerfiguren schließt. In der Durchführung werden diese Seufzer durch die Stimmen und durch die Tonarten geführt, um in einer der schönsten Stellen von Mozarts gesamter Kammermusik zu gipfeln: einer Kette zart-schmelzender Vorhalte über Pizzicato, die zur Reprise zurückleiten. Zunächst aber hat Mozart dem Hauptthema einen Molleinbruch gegenübergestellt: Pochende Triolen der Mittelstimmen grundieren ein Geigensolo, das von schierer Verzweiflung kündet. Das Cello antwortet mit Trillern, die wie dumpfe Paukenwirbel klingen. Die Welt des Requiems ist hier nicht mehr weit (…).

Die Lektüre führt zwangsläufig zu erneutem Hören, – intelligenter, musikalischer, olympischer, – ich muss heute auch den „Taucher von Paestum“ zuendelesen. Ich bin reif… vielleicht fast wie der junge Mozart. (Hierher gehört ein belustigtes Emoji.) 🙂 (Danke!)

Déjà vue, Dvořák

Was ich schon fast vergessen hatte (oder gerade nicht)

  Neu: KONKRET / Kodály Fotos rechts JR 1979 Rumänien World Network 1997

ZITAT aus Konkret:

  Tempi passati / weiter siehe ⇒⇓

Quelle Berthold Seliger „Valium fürs Volk“ in Konkret Juni 2021 hier

Eine neue CD mit Kelemen + dieses Foto, da gab es keine Sekunde Bedenkzeit, ich weiß, was er kann, siehe hier. Ich erinnere mich auch gut an Altstaedt mit Beethoven (verloren gegangener Blogartikel vor 11.11.2014) und seit Jahrzehnten an Lonquich, zuletzt mit Brahms hier und seit 1985 (?) an sein unvergleichliches Mozart-Spiel. Neuland: der Cellist Altstaedt schreibt! (CD-Text zu Dvořák, aufgehängt am Wort Dumky, das ich beim Abegg-Dvorak-Text noch recht kurz abgetan habe, siehe hier). Jeder Ansatz, einen Booklettext „in der heutigen Zeit“ mit solchem Ernst anzugehen, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Das soll kein verkapptes Eigenlob sein, denn in der Frühzeit der sorgfältigen Klassikausgaben war es selbstverständlich, dass der begleitende Text eine Schlüsselrolle spielte. Man muss vermitteln, dass die Musik sich nicht in einem schönen Klangerlebnis erschöpft.

Etwas Besseres aber als diese CD zwischen den Welten der oberen und unteren Musik hätte ich mir heute nicht wünschen können, eine Offenbarung. Es ist doch nur Dvořák? Sozusagen „gehobene Unterhaltung“? Für die einen weiterhin, für andere vielleicht: Musik als Mittelpunkt der Welt.

Seltsamerweise fehlt dem Booklet eine entsprechende Einführung zu dem Kodály-Werk, das ja viel unbekannter ist und der Einbettung viel mehr bedarf. Ich empfehle den Text bei Villa Musica hier , jedenfalls als Anregung (z.B. Korrektur fällig zum Begriff Verbunkos), dazu ein intensiver Blick in die Noten: hier. Oder in aller Vorsicht (rein privat) auch bei IMSLP (Petrucci) hier.

Übrigens: das Titelbild hat mich angerührt und tolle Erinnerungen wachgerufen. Damit wollte ich aber nicht sagen, dass es zur CD wirklich passt, nicht einmal zu Kodály und seiner Begeisterung für die ungarische Bauernmusik.

Zum Reinhören: Hier

Was den Text angeht, muss ich bei näherer Betrachtung doch etwas Wasser in den Wein gießen. Man gewinnt fast den Eindruck, dass Dvořák sich tatsächlich auf den ukrainischen Nationaldichter Tarás Shevchenko und sein Epos „Kobzar“ bezieht. Da wird gefragt, ob der Komponist den berühmten Kobzaspieler Ostap Veresai vielleicht gehört habe, mit der Zither sei er ja in seiner Jugend  (in …) aufgewachsen. „Sein Vater war Zitherspieler (wie der Ururgroßvater J.S.Bachs) …“. Schon hier wäre nachzufragen, ob eine Kobza eigentlich eine Zither sei oder vielleicht doch eine Art Laute. Zumal Bachs Vorfahr „sein meistes Vergnügen an einem Cythringen gehabt hat“ (O-Ton J.S.B.), was wohl als Cister angesehen werden kann, während Dvořáks Vater in seiner Gastwirtschaft eher auf einer (österreichisch-alpenländischen) Zither zum Tanz aufgespielt hat. Der Gebrauch solcher Assoziationen mit flotten Assonanzen stimmt skeptisch. Und die gesungenen Geschichten der ukrainischen Kobsaren, die Stalin ermorden ließ, hatten im übrigen mit Dur- und Mollwechsel nichts zu tun, und das geschah auch nicht 1939, wie im Booklet vermutet, sondern schon 1932 in Kharkiv. Missverständlich auch, diese Dumky- Aufnahme „à la memoire des grands artistes“ zu widmen, als seien sie mit Tschaikowskys Widmungsträger Nikolaj Rubinstein, dem Gründer des Moskauer Konservatoriums, irgendwie wesensverwandt. Im Blick auf ein im guten Sinn naiveres Lesepublikum wäre auch erwähnenswert gewesen, dass Hölderlin nun aber auch gar nichts mit Dvořák gemeinsam hat (es sei denn, er wäre ebenfalls mit Hegel zur Schule gegangen). Und anders als Janáček hat er wohl auch nicht das „Slawische“ von Haus aus so leidenschaftlich verehrt, sondern ist durch den Verleger Simrock drauf gekommen oder mittelbar durch das Vorbild Brahms, dessen „Ungarische Tänze“ so erfolgreich waren… Mit einer „echten“ Volksmusik, die erst durch Bartók und Kodály deutlich von der sogenannten „Zigeunermusik“ der städtischen Showbühnen und Salons in Wien oder Budapest unterschieden wurde, hatte das nichts zu tun. Wer weiß – vielleicht hat Barnabás Kelemen auch deswegen keinen entsprechenden Text beigesteuert? Mit dem „slawischen Charakterzug“, den Dvořák in Schuberts Klaviermusik gespürt haben soll, muss man es wohl nicht so genau nehmen; denn schon im nächsten Satz seines Essays ist es der „slawische oder ungarische Charakterzug“, und er verdeutlicht: „Während seines [Schuberts] Aufenthaltes in Ungarn assimilierte er nationale Melodien und rhythmische Besonderheiten, übernahm sie in seine Kunst, und wurde so Vorreiter von Liszt, Brahms und anderen, welche ungarische Melodien zu einem integralen Bestandteil der europäischen Konzertmusik machten.“ Er sah das „Slawische“ offenbar nicht als Kampfbegriff, sondern als Oberbegriff für alles, was in der Volksmusik „bezaubernd und neu“ ist:

Aus den reichen Beständen slawischer Konzertmusik, in ungarischen, russischen, böhmischen und polnischen Abarten, haben die heutigen Komponisten Nutzen und werden daraus weiterhin vieles aufgreifen, das bezaubernd und neu in ihrer Musik ist. Man kaum etwas dagegen haben, denn, wenn Dichter und Maler vieles von ihrem Besten auf nationalen Legenden, Liedern und Traditionen aufbauen, warum sollte es der Musiker nicht tun?

So sah Dvořák selbst kein Problem, diesen „slawischen“ Stil später mit „amerikanischen“ Elementen anzureichern, Motiven aus Negro Spirituals oder indianischer Musik, die er nicht etwa indigenen Sängern ablauschte, sondern gedruckten Notensammlungen entnahm – wie übrigens auch Pablo de Sarasate und Brahms: letzterer ließ aus solchen Gründen seine Ungarischen Tänze ohne „besitzanzeigende“ Opuszahl veröffentlichen, und Sarasate entzog sich einer möglichen Copyright-Klage, indem er im eigenen Konzert eine Originalmelodie, deren Komponist ihm namentlich bekannt geworden war, übersprang.

Ich sage nichts gegen die sentimentale Popularmusik der Großstädte, alles an seinem Platz! Aber es gibt eine herrliche Geschichte über den Kolporteur des „Zigeunerweisen“-Mythos: als man Sarasate auf einer seiner Tourneen in Bukarest mit einem autochthonen Zigeuner-(Roma-?) Ensemble beglückte, meinte er: „Mais, c’est mauvais, ça!“.

Dabei wäre, was da gespielt wurde, durchaus kompatibel gewesen, es war nicht etwa eine andere Welt, sondern die unterhaltende Welt eines absolut im westlichen Sinne kultivierten (oder „sogar“ vom Adel geprägten) Publikums. Kein Anwesender hätte einem Geiger wie jenem armen Kerl auf dem CD-Cover ein Ohr geliehen oder gar die Hand gegeben.

Grausam wird es erst, wenn man sich nur wenige Schritte hinausbewegt: die Kluft zwischen der Musik, die das Cover dieser CD imaginiert, und der Musik des gebildeten Bürgertums in den Großstädten des 19. Jahrhunderts kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Ich empfehle die einschlägigen Schriften von Béla Bartók oder das schmale Buch von Zoltán Kodály über „Die ungarische Volksmusik“ (Corvina Budapest 1958), aus dem hier noch zitiert sei:

Man muss nur einige Seiten in diesem Buch lesen – ohne sich sofort über den erst in jüngerer Zeit problematisierten Z-Ausdruck aufzuregen – und verstanden haben, dass der Begriff Volksmusik bei Kodaly einen diametral entgegengesetzen Sinn hat gegenüber dem, der in der hochromantisch getönten Musik von Dvořák zu wirken scheint. Zwar gab es in den „slawischen“ Ländern auch schon frühe Sammlungen, die – oberflächlich betrachtet – ethnographisch anmuten. Für sie gilt dennoch genau das, was Kodály beschreibt: „die Sammler von damals (…) beachteten nur die in die Mittelklasse eingedrungenen Lieder, sie konnten sich eben nicht zu jenen entscheidenden ‚zehn Schritten‘ entschliessen, die vom ländlichen Herrensitz zur Bauernhütte führten“. Er verweist auf unzählige Beispiele, die zeigen, dass das Volk und seine Lieder dieser inmitten des Volkes wohnenden adeligen und gebildeten Klasse so wenig bekannt waren, als wären beide durch eine eherne Mauer voneinander getrennt gewesen.“ (Seite 15) Und ein Roman, der bekanntlich nicht tönt, wie z.B. „Der Kobsar“, sagt rein gar nichts über die Akzeptanz der realen Musik, um die es allein geht, die aber niemand kennt. Daher klingt auch „Kammermusik“ von Kodaly, der wirklich in die abgelegenen Dörfer ging, so erschreckend anders als die von Dvořák, der im Sinfonieorchester zuhaus war. Und das macht diese CD auch so spannend! Aber sie sollte zugleich Widerspruch wecken und aushalten.

Original 1935 (deutsch1958)

Ich schaue natürlich ins Lexikon MGG, zunächst einmal online, so gut es geht, hier, dann auch ins Original aus Papier und frage mich, ob die Autorin Anna Dalos auch Musikethnologie studiert hat, was nirgendwo so naheliegt wie in Budapest. Das Fazit ihrer Arbeit über Kodálys autobiographische Sinfonie in C (1961) sehe ich hier. C-dur??? Über die früheste der drei Phasen seines Lebenswerks folgendes aus dem MGG:

Quelle Anna Dalos in MGG Personenteil Bd.10 Sp.399

Es könnte 1961 gewesen sein, als der alte Zoltán Kodály in der Kölner Musikhochschule zu Gast war und mit dem Madrigalchor probte. Er war sehr streng, wie man erzählte, und niemand fand ihn sympathisch, jedoch souverän in der musikalischen Praxis. Hermann Schroeder hatte ihn geholt, selbst Traditionalist, der sich gegen B.A. Zimmermann und Stockhausen zu behaupten suchte, wie in Berlin, wo ich herkam, etwa mein Kontrapunktlehrer Ernst Pepping gegen (?) vielleicht Boris Blacher, den Rektor der Hochschule. Mein Harmonielehreprofessor Max Baumann zerriss mit Worten und Gesten die Diplomarbeit eines Studenten über serielle Musik, die damals diesen Namen noch nicht trug. Ich las  neben Adorno auch ein Buch von Stuckenschmidt, das die Leuchttürme an den Ufern einer weltweit Neuen Musik skizzierte, darin ein wohltuend verständnisvoller Beitrag über Béla Bartók. Zukunft auch dort. In Köln gestand mir ein hochbegabter Kommilitone, Wilhelm Empt, der schon als NRW-Komponist ausgezeichnet worden war: „Ich komme von Bartók nicht los. Genausowenig wie von Kafka.“ Man glaubt heutzutage kaum noch, was für Glaubenskämpfe und Intrigen damals (vor 1968) an den Hochschulen und außerhalb kursierten. „Armes Deutschland!“, sagte ein Schülervater kopfschüttelnd, als der WDR eine seiner Kompositionen für Jugendliche – „Traumspiel“ – als Mitschnitt produzierte. Für ihn wars Avantgarde. Für die jungen Leute auch, mit Deutschland hatte das absolut nichts zu tun. Es war neu und offen, wie er selbst.

.    .    .    .    .    .

Zurück zum jungen Kodály. Was ist an dem Duo op.7 so außergewöhnlich? wie würde ich Leuten den Zugang zu dieser Musik erschließen, die noch nichts Ähnliches gehört haben?  Ich würde expressionistische Bilder hervorsuchen, zerklüftete Landschaften, alpine Gipfel und Schluchten, grüne Wildnis an Sturzbächen, würde an den alten Stilus phantasticus erinnern, – und das soll pentatonisch geprägt sein? solche Aufschwünge, solche Abstürze? wie kann Pentatonik solche Spannungen entwickeln? der Komponist soll in den österreichischen Alpen gewesen sein, als er das Werk entwarf, in Feldkirch, er soll sich tatsächlich melodisch am Verlauf der Gebirgsketten orientiert haben. Unberechenbar, aber aus Stein. Wenn er pentatonische Reihen verwendet hat, dann nicht nur eine, sondern auch: chromatisch versetzte, irgendwohin transponierte und miteinander verschlungene, wie sonst könnte es so verstörend wirken, wenn die beiden Instrumente sich plötzlich zu einem gewaltigen Gleichklang verbinden, reine Oktaven, markerschütternd.

*    *    *

Versuch, einen Gedanken festzuhalten.

Früher hätte ich gesagt, das Radio sei das ideale Medium zum Vermitteln von Musik. Wenn man es nicht als bloße Abspielstation betrachtet, sondern als eine Verführung zum Hören. Ein von Persönlichkeiten – nicht von Vorschriften – geprägtes Medium zum Ohren-Aufschließen. Damit setzt man sich nicht aufs hohe Ross, man zeigt nicht, wo’s langgeht, sondern berichtet allenfalls von gelungenen Hörerfahrungen. Das ist Sache einer persönlichen Moderation. Mich interessiert zwar jeder Mensch, auch musikalische Laien, die eigene, authentische Hörerfahrungen beschreiben, was aber nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Statements weitergegeben werden müssen. Was öffentlich gesagt wird, sollte auf Wissen beruhen, nicht auf Vermutungen, Gefühlen oder didaktischem Ehrgeiz. Und nicht der/die eine redet, während der/die andere das Briefing dafür zusammenstellt: das stammt aus falsch verstandenen, arbeitsteiligen Vorgängen. Jeder erfahrene Musiker hört sofort, ob jemand, der differenziert über Musik zu reden versucht, Ahnung vom Gegenstand hat oder nur gebrieft ist. Und das Laienpublikum hört das auch, und es fühlt sich gerade nicht abgeholt, wenn es laienhaft angesprochen wird, es fühlt sich schlicht beleidigend unterschätzt.

Weitere Abschweifungen in diesen Tagen (9.Juni)

Weiterhin FAUST bzw. Faust II . Auch Schuberts letzte Sonate (Clifford Curzons flexible gegen Korsticks langsame Version). Die absurd schnelle Fassung der VII. Beeth. aus Delphi unter Currentzis. Durchgepeitscht, dazu absurder Tanz. Enggefasst, also Produktionen aus einem kurzen Zeitraum der Kulturgeschichte: zwischen 1827 und 1832 (Beethoven VII 1812). Altersparallelen, Schubert als Euphorion.

17. Juni Noch etwas zum Radio und zur Situation des (öffentlich-rechtlich verstandenen) HÖRENS: Kann man es hören, wenn ein Musikprogramm nicht von Menschen, sondern von Algorithmen generiert wird? Ich z.B. reagiere auf sehr gute Musikstücke gereizt, wenn ich ahne, dass sie dank ihrer Verträglichkeit auftauchen, – dass ein Stück nur aus seiner Umgebung herausgelöst ist, um einen geschmierten Prorammverlauf zu gewährleisten.

Man sollte es nicht versäumen, sich mit allen Veränderungen zu befassen, die sich auf eine gewissermaßen kartografierte Erfassung der menschlichen Kulturbedürfnisse gründen. Lesenswert z.B. Martin Hufner über „Die Selbstverüberflüssigung des Kulturradios“ hier.

Nachtrag

Wilhelm Empt: aus den 10 Duos für zwei Violinen 2. Auflage Köln 1987 / Zur Erinnerung

damals im Eigenverlag (unveröffenlicht)