Archiv für den Monat: Dezember 2018

Die Fuge als Tanz

Eine Gavotte bei Rameau und in BWV 882

 

Ich bin ein wenig stolz auf die Entdeckung dieses Rameau-Zitates, das dem großen Bach-Forscher Alfred Dürr entgangen zu sein scheint, obwohl er kurz vorher begründet hat, weshalb das Praeludium der Fuge glaubwürdig „in Stylo francese“ aufzufassen sei. (Und vielleicht – wie die 16. Variation der Goldberg-Variationen als „Französische Ouvertüre“ – den Beginn der zweiten Hälfte des Wohltemperierten Klaviers markieren solle.)

Für mich ein quasi offizielles Statement zur Leichtigkeit des Seins, die auch zum Gewebe einer Fuge gehört. Es geht bei Bach nicht immer zu wie in „Gottes Busen kurz vor der Weltschöpfung“ (Goethe), – das könnte vielmehr ein Vorurteil des Genie-Zeitalters sein.

Extern: hier (Fuge ab 3:54) In dieser Fuge ab 4:36 Zwischenspiel – vgl. oben Rameauthema.

Zum Jahresende 2018 – mein Sinnspruch:

  

Mehr als ein Mönch am Meer – mehr Menschen und der Himmel leer.

*   *   *

Diesseits: der Kammerton klassischer Kommunikation.

(Unglaublich schöne, erfindungsreiche Werke, hervorragend gespielt!)

Sitar hören!

Eine Reminiszenz

 Hier hören!

(Skript der Sendung folgt unten)

Und gleich fortfahren : Hören und Sehen ⇓

NACHTRAG:

Skript des Pausenbeitrags Live-Konzert des Sitarmeisters Purbayan Chatterjee, Oetkerhalle Bielefeld am 13. November 2013, produziert im Studio Rheinklang Köln (Technik Timo Ackermann). Am Mikrofon: Jan Reichow.

1) Alap beginnt, geht unter Text weiter

Wenn man mich so fragt, also … wie man indische Musik verstehen lernen soll… ich glaube, um das Wort Raga kommt man nicht herum. Aber wenn ich im Konzert sitze, habe ich davon nicht viel, wie sieht das denn praktisch aus? Ich soll auf jeden einzelnen Ton achten, – das lohnt sich, weil das Material des Ragas dann doch – sagen wir – für eine halbe oder dreiviertel Stunde absolut gleich bleibt. 100 Varianten, aber immer dieselben Töne, in immer neuen Färbungen, Betonungen, Verzögerungen. Man gewöhnt sich dran, man liebt es.

Man weiß: auch ein indischer Zuhörer ist kein wandelndes Raga-Lexikon. Aber… dort hat man den richtigen Nerv dafür, bei uns interessiert es ja den Normalverbraucher auch nicht so brennend, ob eine Sonate in C-dur oder G-moll steht. Man hört aufs Thema. Und was daraus wird.

Bei indischer Musik haben wir das Problem, dass wir womöglich gar kein Thema erkennen, sondern… das ist ein Fluss ohne Ufer.

Es gibt aber Themen! Ich weiß. Der Inder sagt dazu „Composition“ – das ist in etwa ein Thema, das man erfassen kann, es ist nicht lang, wird mehrfach wiederholt und geht in Improvisationen über, aber es kehrt immer wieder. Manchmal auch nur seine Kurzform. Es ist nicht unbedingt spektakulär, es tut einfach seinen Dienst, man freut sich, sooft es auftaucht.

Am einfachsten, man passt besonders gut auf, wenn der Trommler sich fertig macht, der Tablaspieler, dann steht das Thema unmittelbar bevor, man ist dann eigentlich schon ganz glücklich, ich will nicht sagen erschöpft, der Sitarspieler stimmt kurz nach und dann kommt eine schöne klare Melodie.

2) Thema Maru Bihag Tr. 5 0:00 bis 0:28

Purbayan Chatterjee im Jahre 2006 bei einem Konzert in Bonn, im Pantheon. Da gab es dieses wunderschöne Thema im Raga Maru Bihag. Der Anfang, der Alap hatte eine halbe Stunde gedauert und endete in einem rauschenden Jhalla, dem Grundtonklang der leeren Saiten. Und dann dieses herrliche Thema!

3) Thema Maru Bihag (unter folgenden Text) Ende 1:30

Das ergibt sich sozusagen ganz logisch aus dem Vorhergegangenen und lässt sich leicht behalten, man ist erfreut, wenn es unversehens wieder auftaucht, aber es geht keine Fahne hoch, schaut hier bin ich, man hat es ja mit einem fortwährenden Kontinuum zu tun, die Zeit …. könnte man vielleicht sagen …. ist ein Ausschnitt aus der Ewigkeit.

Man sollte einfach möglichst viele solcher Themen hören und sie liebgewinnen und im Sinn behalten. Purbayan Chatterjee ist ein Meister der süßen Töne. Zum Beispiel der andere Raga aus dem Bonner Konzert von 2006? Raga Jogkauns.

4) Thema Raga Jogkauns CD II Tr. 3 0:00 bis 0:48

Und zum Schluss gab es damals noch etwas ganz anderes: ein leichtfüßig aufsteigendes Thema im Raga Sohini, (Musik) es lebt von einem leicht dissonanten Ton in der Höhe, reizend und charmant, – man vergisst es nicht, aber man kann es nicht nachsingen. Angeblich stammt es von den jungen Sängerinnen aus dem höfischen Milieu der vorigen Jahrhundertwende, den Kurtisanen. Unglaublich bezaubernd, wie es sich plötzlich aus den improvisatorischen Girlanden herauswindet. Und die Tabla assistiert ihm, wie aus dem Nichts auftauchend.

5) Thema Sohini (CD II Tr. 6 schon ab 0:00 unter Text, 1:52 hoch, nach Thema drunterlegen)

Ganz wesentlich ist es zu begreifen, dass die Schönheit des Sitarspiels aus dem Gesang kommt. Ravi Shankar hat das immer wieder betont, und auch der große Vilayat Khan, Gayaki Ang nannte er das. Ich vergesse nie, wie mir sein jüngerer Bruder Imrat Khan vor vielen Jahren, ich glaube 1976, gründlich erklärt hat, was es damit auf sich hat: Instrumentalstil und Gesangsstil, über beides verfügt die Sitar. Sie kann ja auch virtuos lärmen und mit atemberaubender Brillanz auftrumpfen, aber Sitarspiel wäre nicht das, was es heute ist, ohne dieses Ziehen der Töne, dieses Singen. Imrat Khan. Ich habe das mal rausgesucht. Über singing style und instrumental style.

6) Imrat Khan Zitat aus 1976 ab 20:20 bis ca. 22:40

Wenn man solche indischen Gesangsmelodien hört, deren Töne so wundersam verschleiert sind, diese grazile Gebärdensprache, weiche Glissandogewänder, dann ahnt man natürlich, dass ein indischer Musiker sich nicht ohne weiteres für karge westliche Melodien begeistern kann.

Ich fand es rührend, wie sich einer der größten Meister mal irrte, – ein melodischer Gedächtniskünstler! -, er wollte seine europäische Lieblingsmelodie zitieren, jeder kennt sie: „Au clair de la lune, mon ami Pierrot“.

7) Chaurasia Wort- und Liedzitat Int. Tr.4 ab 4:17 bis 4:44

Bemerkenswert ist das nur, wenn man weiß, was er aus ganz ähnlichen Motiven in seiner eigenen Musik hervorzaubert, sobald er Flöte spielt. Hariprasad Chaurasia.

8) Chaurasia: CD I Tr. 3 ab 9:45 bis 10:42 (ab hier auf langen Tönen unter Text)

Meditation?

Es wäre leicht, über die mystische, meditative Komponente im Flötenspiel Chaurasias zu sprechen, jeder würde nicken und sagen, ja, das kenne ich, das ist indisch, und gerade bei uns im Westen ist er regelrecht darauf festgenagelt worden. Es gab Einladungen in Meditationszentren, wo er möglichst ohne Tabla spielen sollte und vorwiegend „getragene Melodien“. Das ist aber eine absurde Verkennung der indischen Kunstmusik. Da geht es nicht nur um stille Versenkung, sondern genau so um Ekstase, das hat der große Geiger Yehudi Menuhin einmal ganz richtig betont. Es ist eine höchst kontrollierte Ekstase, zu der meist eine wahnsinnige Virtuosität gehört, und sie muss auch unter Beweis gestellt werden, sie ist ein Schritt auf dem Weg in die Ekstase. Man hört das ja auch von indischen Yogis… das ist nicht nur Atemkontrolle, sondern das ist eine ganz verrückte Körperbeherrschung, bis hin zu sonderbarsten Techniken.

Das gilt auch für Sänger und Sängerinnen, die eine geradezu instrumentale Virtuosität entfalten, während die Instrumentalisten die Kunst des differenziertesten Gesangs entwickelt haben. In Bielefeld hat WDR3 doch einmal die einzigartige junge Sängerin Kaushiki präsentiert. Erinnern Sie sich? Das war ein Musterbeispiel.

9) Kaushiki : CD Maru Bihag Tr. 3 ab vor 8:00 / 9:45 ab 10 / Tr. 4 ab 5:30

Es ist atemberaubend, aber merkwürdigerweise erschreckt diese instrumentale Behandlung der Stimme manche westlichen Zuhörer, während die gleiche virtuose Technik auf einem Instrument uns zum Staunen bringt. Und dann erst das Melodiespiel. (Musik)

Auch Ravi Shankar wurde gerühmt für die Kunst, auf der Sitar zu singen, und alle haben sich auf ihn berufen. Sie erinnern sich bestimmt an das große Projekt „West meets East“, als der große Geiger Yehudi Menuhin bei Ravi Shankar in die Lehre ging und einige Ragas erlernte, Ton für Ton, die Tonverbindungen und die besondere In-tonation. Was ihn faszinierte, war nicht nur der Geist, die Mystik, sondern die Andersartigkeit der Technik, die Feinheit des Gehörs. Ich hatte das Glück, Menuhin einmal zu treffen.

10) Ravi Shankar unter Menuhin Text Raga Jhinjhoti Tr. 1 ab 10:13 bis 12:05

verbinden mit: ab 13:16 bis 14:37

11) Text Menuhin (CD Südind.Violine ab Anfang)

Yehudi Menuhin (CD Südindische Violine 0:00 bis 2:30

In Indien war ich begeistert von der Qualität von Ekstase und Mysterium.. Diese beiden Elemente sind immer da in indischer Kunst, sei es Tanz, Musik, Skulptur, – die indischen Menschen sehnen sich nach Ekstase, ob es physisch oder geistig ist. Und als ich die indische Musik zum erstenmal hörte, schon mit Ravi Shankar und Chatur Lal und Ali Akbar Khan in Delhi in ’52, da war ich hingerissen.

Welche Beziehung gibt es zwischen europäischer und indischer Musikkultur?

Es ist stilistisch wenig, was sie gemeinsam haben. Natürlich die Quinte, aber die Intervalle sind vielmehr so wie bei uns im Mittelalter, ganz rein, sie sind nicht temperiert, und darum hat die indische Musik abgelehnt unsere Harmonie, weil natürlich unsere Harmonie ist nicht möglich ohne eine temperierte Skala. Das ist auch fabelhaft für einen Musiker, für einen Streicher, mit indischen Musikern zu spielen, weil die spielen absolut rein. Ihr Ohr ist viel feiner als das unsrige. Die sind immer von einer perfekten Quinte begleitete, the drone, wie man so sagt. Darum sind die Intervalle auch so unglaublich fein, bis in Vierteltöne, sondern noch ganz kleinere Intervalle, die sie als Verzierungen der Skala benützen. es ist überhaupt von der Verzierungsseite her, von der akuten, präzisen Tonhöhe her, Intervalle, wie auch – wie auch das Inspirierende von der Spontaneität und Improvisatorischem her, das ist sehr stimulant, sehr gut, ich finde, jedes Mal, dass ich mit Ravi Shankar spiele, bin ich … irgendwie … als ob ich … erfüllt, als ob ich Vitamine genommen hätte.

Ja, wunderbar, er sprach damals von Vitaminen, er meinte die belebende Wirkung der indischen Musik. Vilayat Khan dagegen, der große Gegenspieler Ravi Shankars, war im Alter von Krankheit gezeichnet, ohne an Inspiration zu verlieren. Und wer das Glück hatte, sein letztes Konzert in Deutschland zu erleben, am frühen Morgen nach der Indischen Nacht in Stuttgart 1997, der wird das nie im Leben vergessen. Er sprach von Gayaki Ang, seinem Vermächtnis, vielmehr dem Vermächtnis seiner Schule, seiner Musikerfamilie, die sich bis zu dem legendären Amir Khusrau zurückverfolgen lässt, fast 800 Jahre. Und dann singt der alte Mann, dessen Bronchen schon schwer angegriffen waren, es war erschütternd.

12) Vilayat Khan 18:50 bis (nach) 20:49

Please, try to understand my broken English: what is the Gayaki Ang, which your humble servant has invented on Sitar in last 800 years after Amir Khusrau. I am a very humble man, it is not my power, someone else has done this. Actually the Gayaki Ang is… (singt) Sitar is (spielt) but: (zieht die Töne, singt wieder) bis 20:49 (Sitar auf Bhairavi-Grundton, weitere Passagen in der Höhe).

Vilayat Khan starb 2004, Ravi Shankar 2012, zwei Welten der indischen Musik, die untergingen. Übrigens auch zwei verschiedene Verhaltensmuster gegenüber der westlichen Welt.

Wer will sich im Westen heute noch der Hördisziplin einer strengen Raga-Aufführung unterwerfen? Wer will in Indien Jahrzehnte seines Lebens opfern, um in der Kunst der Raga-Interpretion zur Meisterschaft zu kommen?

Doch! Es sind erstaunlich viel interessierte Menschen geblieben, die sich weiterhin der physischen und geistigen Spannweite klassischer Raga-Musik aussetzen wollen.

Es ist auch letztlich gar nicht so schwer, sich diese Spannweite stufenweise zu erschließen, wenn man sich nur an den Stufen des Themas orientiert: vom absoluten Nullpunkt der vollkommenen Ruhe bis zur äußersten Ekstase.

Oder – als nützliche Übung für Anfänger – in umgekehrter Richtung: vom Kurzthema am Höhepunkt des Ragas zurück zur längeren Version, und immer ausgebreiteter bis hin zum Anfang, dort wo die ersten schönen Perioden in das Geschehen hineinlocken. Ich habe das mal nach Purbayan Chatterjees Konzert in Bonn geübt, angefangen mit der schnellsten Version vom Schluss aus, und dann rückwärts gehend:

13a) Thema 20:41 bis 20:48 + Tr. 5

und etwas früher, langsamer…

13b) Thema 17:35 bis 17:48 +

noch ein Zeitsprung, wieder etwas früher….

13c) Thema 12:12 bis 12:40 +

die Aufmerksamkeit wächst automatisch, und wir haben schließlich das Thema in Originalgestalt….

13d) Thema 00:00 bis (nach Bedarf) Musik unter Text

… wir sind also rückwärts zum Ausgangspunkt gekommen, zum Thema, zur „Main Composition“.

Es wäre wunderbar, wenn man aus diesem Stadium der Ruhe heraus tatsächlich in ein indisches Konzert eintauchen könnte und dann den ganzen Zyklus erleben würde, mit allen Zwischenstufen, in allen Details: bis hin zu dem ekstatischen Finalzustand, – man könnte auch sagen: dem Zustand äußerster Lebendigkeit. Da braucht man keine Vitamine mehr! (Musik ausgeblendet)

Dank an Dr. Werner Fuhr und Kanak Chandresa !

Afghanische Lieder (©JR vor 1974)

Alte Arbeiten rekapitulieren

Es ist auffallend, wie sehr man dazu neigt, gegen Jahresende Bilanz zu ziehen, und dies nicht nur das vergangene Jahr betreffend, sondern weit zurückgreifend. Die WDR-Aufnahmereise mit Abdul Wahab Madadi fand im April 1974 statt und hat mich viele Jahre danach noch bewegt. Aber auch vorher schon, weil ich wissen wollte, was mich dort erwartete, und auch weil Madadi ja im WDR arbeitete (er war Musikchef bei Radio Kabul gewesen). Wir machten Sendungen gemeinsam, ich beschäftigte mich mit den damals greifbaren Schallplatten und schrieb Einzelstücke nieder: Transkribieren hieß das, und in diesem Punkt hatte ich im Studium (bis 1970) einiges in Seminaren bei Josef Kuckertz gelernt. Der Sinn des Aufschreibens einer Musik, die ausschließlich mündlich lebte, war auch damals nicht unumstritten, aber in der Wissenschaft galt eben das, was geschrieben und veröffentlich werden konnte. Für mich war die Methode durch Bartók geheiligt, und ich erlebte täglich, dass die Arbeit des Niederschreiben der beste Weg war, sie zu verinnerlichen und lieben zu lernen. Bis heute kann ich jede Musik, die ich transkribiert habe, ziemlich genau imaginieren; ob sie für andere einen ähnlich Nutzen hat, kann ich nicht sagen. Falsch wäre es, sie nach diesen Noten einstudieren zu wollen;  das wäre nur möglich, wenn man das tönende Original tönt (oder einen „originalen“ Musiker). Das Unglaubliche ist, dass ich heute fast alle diese Stücke, die mir damals kostbar wurden, auch weil die Schallplatten so zerbrechlich und vergänglich erschienen, im Internet wiederfinden kann. Ja, der alte Schnittfehler im „Herati Lullaby“ (siehe ganz unten), den Mark Slobin 1970 hat durchgehen lassen, zu schweigen von dem etwas hohlen Klang, wird „in alle Ewigkeit“ erhalten bleiben, und schon Madadi, der das Original gesungen hatte und den wir 1974 mit dem gleichen Lied noch einmal aufgenommen haben (ohne die intime Atmosphäre wieder herbeizaubern zu können), war unglücklich darüber. Und zu den wenigen, die das Lied heute noch in dieser Version auf Anhieb erkennen, gehört vielleicht die zeitgenössische Komponistin Carola Bauckholt, die 2009/2010 eine Zeile originalgetreu in eine Komposition (für Salome Kammer) aufgenommen hat.

 youtube ab 36:54

 youtube ab 41:04

 youtube

 

 Alle Transkriptionen ©JR

Weiteres über afghanische Volksmusik siehe unter Shah Kokojan hier. Über Afghanistan heute (2015) und vor 41 Jahren hier. Über Badakhshan hier. Über Baktrien (Fotos aus Nord-Afghanistan 1974) hier. Über den Rhythmus (auch eines der auf dieser Seite oben wiedergegebenen Lieder Lyrichord Seite 2 Nr.6) hier.

 Skizze: JR / Musik hier

 Text: Mark Slobin

 Beispiel-CD Tr.17

(Fortsetzung folgt)

Bach am Ende des Jahres

Man braucht die Noten nicht!

Ich beteuere dies, damit Nicht-Leser weder durch das Notenbild abgeschreckt werden, noch durch das Wort Fuge, und wenn es sich zugleich um eine „Tripel-Fuge“ handelt, – worin viel geschieht -, muss das nichts anderes bedeuten, als dass sie drei Themen hat, die sukzessive zusammengefügt werden. Kein Problem, es läuft vor allem auf ein besonders farbenprächtiges Linienspiel hinaus. Wir orientieren uns spielend mit Hilfe einer formalen Übersicht, die durch Zeitangaben und Nummerierung der Abschnitte angedeutet sei. Alles andere tut das Ohr und unsere normale Musikalität. Bach zum Jahreswechsel, jawohl, mit Geduld und Zuversicht. Mein Youtube-Vorschlag entspringt allerdings einer schnellen Auswahl: Glenn Gould (hier) fällt aus wegen absurder Tempo-Entscheidung und Phrasierung, ebenso leider auch Grigory Sokolow (hier). In diesem Fall auch Angela Hewitt. Bei meiner Beurteilung spielt auch die Interpretation der wunderbaren Praeludiums eine Rolle, das nicht zu langsam, aber voll heimlicher Leidenschaft sein sollte, – wie bei Philipp Emanuel Bach. Das Spiel von Evelyne Crochet gefällt mir, nicht als ob es „stilvoll“ sei, eher „romantisch“, aber es ist da nichts, was die musikalische Intention des Hörens stört. Drei Stimmen in lebendiger Wechselwirkung. (Das Praeludium scheint mir fast zu langsam, die Fuge aber – ab 3:28 – berückend schön: HIER ).

Die Durchführungen (in diesem Fall sind es fünf; der Begriff Durchführung bedeutet in der Fuge etwas anderes als in der Sonate: nämlich ganz einfach den Durchgang eines Themas durch alle Stimmen, manchmal auch um einen Einsatz verkürzt oder auch durch einen zusätzlichen verlängert). In diesem Fall sind es drei Themen, die jedes für sich und schließlich alle miteinander abgehandelt werden. Die Fuge ist dreistimmig, mein Ehrgeiz wäre es, dieses dreifach gewundene harmonische Band wirklich in drei Linien mit den Ohren gleichsam wie mit Augen zu verfolgen und die Themen jeweils zu identifizieren).

I Thema 1 3:28 – 3:42 – 4:01 – 4:32

II Thema 2 4:49 – 4:53 – 4:57 – 5:01 – 5:14

III Thema 1 5:20 (+ Th. 2 ab 5:26) – 5:41

IV Thema 3 5:48 – 5:52 – 5:56 – 5:58 usw.

V Thema 1 6:24 – Th. 2 ab 6:57 – Th. 1 ab 7:13 (+ Th. 3 ab 7:15, Th. 2 ab 7:18) – Th. 1 ab 7:37 abschließend  (mit Th. 3 und Th. 2) Ende 8:01.

Inwiefern ist uns damit geholfen? Weil ein Sinn zutage tritt… Welcher Sinn?

Der Sinn dieser Fuge ist (stellvertretend für den Rest der Welt?) die vollkommene Fügung in der unablässigen Bewegung. Ein Bauwerk, das lebt. So würde ich es spontan sagen und habe nun die Last der Begründung. Oder reicht es, mein grundloses Vergnügen zu betonen, – selbst wenn es sich mit dem Gefühl der Trauer mischt? Tempus fugit. Ohne dass dies als kopflose Flucht zu verstehen ist. Besser: Ergo fuga vivit.

In der Musikwissenschaft wird zuweilen die Steigerung der kontrapunktischen Mittel als kompositorisches Ziel der barocken Form aufgefasst. Als Beleg zitiere ich hier Alfred Dürr, der die Fis-moll-Fuge mit der anderen großen Tripelfuge des Wohltemperierten Klaviers vergleicht:

Am ehesten verwandt mit dieser Fuge ist diejenige in cis-Moll des WK I. Doch ist die Themenbehandlung der beiden insofern verschieden, als dort das „Laufthema“ als zweites erklingt, jedoch am Schluß wieder verschwindet, um einer Steigerung durch Engführung der beiden übrigen Themen zu weichen; hier dagegen trägt das Laufthema selbst durch seine unaufhörliche Bewegung einen wesentlichen Teil zur Steigerung bei – einer Steigerung, die endlich durch die Kombination der drei Themen am Fugenschluß ihre Krönung erfährt. Versucht man den Unterschied beider Fugen in Worte zu fassen, so könnte man die cis-Moll-Fuge als besonders eindrucksvoll, die fis-Moll-Fuge dagegen als besonders durchdacht bezeichnen.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel Basel London etc 1998 (Zitat Seite 355)

Ich finde das etwas mager, ohne direkt widersprechen zu wollen. Einerseits ist von Steigerung und Krönung die Rede, andererseits ist die Charakteristik nur aus dem Vergleich der beiden Fugen gewonnen, die etwas manches gemeinsam haben, nämlich ein „Laufthema“. Ich würde mit der kantablen Schönheit des Hauptthemas in Fis-moll beginnen (während das großartig lapidare Thema der Cis-moll-Fuge aus nur 5 Tönen besteht). Und mit der Merkwürdigkeit, dass der Einsatz des Laufthemas ziemlich genau in der Hälfte der Fuge liegt (nach Takt 35) und dass von nun an dieser Puls nicht für eine Sekunde Ruhe gibt – bis zum Schlusstakt (Takt 70). Mit dem Kadenz-Ausklang  des „krönenden“ Hauptthemas. Damit ist eine gewisse Symmetrie gegeben, was aber nicht schon als Sinngebung zu verstehen ist. In der oben zum Vergleich herbeigerufenen Fuge Cis-moll hat das Laufthema schon vor dem letzten Viertel der Fuge seinen Lauf eingestellt, ohne dass deshalb ein Spannungsabfall erkennbar wäre.

Um mich einstweilen aus der Affäre zu ziehen: Für mich ist der Sinn einer Fuge erfüllt, wenn ihre Schönheit offenbar wird: indem ihr Beziehungsreichtum spürbar wird, die einzelne Stimme mit den anderen wunderbar verflochten erscheint. Wenn sie in jedem Punkt, in jedem Takt einleuchtend wirkt.

Natürlich ist es für den Musiker interessant, diesen motivischen Beziehungsreichtum nachgewiesen zu bekommen, was man so vielleicht selbst nicht leisten kann oder will; weil man mit dem Üben beschäftigt und in den Fingern spürt, dass „alles in Ordnung“ ist.

Man sehe sich nur zwei von vier Seiten in Ludwig Czaczkes fabelhaftem Analyse-Werk an, die sich nur mit dem Lauf-Thema beschäftigen. Man staunt und ist zugleich geneigt, das Buch zugunsten der Musik beiseitezulegen…

Wir wollten uns ganz den Ohren anvertrauen, ich vermute, vertrauensvolle Rezipienten haben längst die Fuge, falls sie sie noch nicht kannten oder auch dann, vollständig gehört. (Notenleser haben vielleicht entdeckt, dass in der Oberstimme des Taktes 8 ein Ton fehlt, das fis‘ vor dem eis‘.)

Der nächste Schritt wäre, wenn ich so sagen darf, dass man sich meditativ-analytisch in die einzelnen Themen hineinversenkt, immer wieder: das Haupthema ab 3:28 , so oft und so lange, bis man es auswendig singen kann. Es ist ein Gesangsthema, – absteigender Moll-Dreiklang, Aufschwung zur Sexte und schrittweiser Abstieg zum Grundton. Ein Thema des Aufblicks, der Verwunderung und der Anbetung. (Man kann selbstverständlich auch andere Worte finden.)

Das Thema 2 ab 4:49 ist kurz, rhythmisch und etwas drängend, es wird sofort (voreilig!) nach 4 Tönen in der nächsthöheren Stimme imitiert, und im gleichen Abstand immer wieder, sechsmal, – es ist nicht leicht zu erfassen, welche Zitate fugenmäßig gemeint sind, denn das eigentlich Thema ist länger als die 4 rythmisierten Töne: es läuft mit einem Halteton und einem chromatischen Schritt weiter, der im Verlauf der großen Fuge aufgegeben wird. Dieser Bestandteil des zweiten Themas ist gewissermaßen „weich“, bleibt anpassungsbereit.

Das Thema 3 ab 5:48 , das „Laufthema“, würde man in einem anderen Stück gar nicht als Thema erkennen, es wäre halt eine in sich kreisende Sechzehntel-Figur aus 8 Tönen, die als Sequenz eine Stufe tiefer wiederholt werden, und – während die nächste Stimme diese Drehfigur übernimmt – in einem getupften Achtel-Kontrapunkt ausläuft. Es ist der „weiche“ Teil des Themas, der auch durch weitere Sechzehntel-Ketten ersetzt werden kann.

Damit hat man das Rüstzeug beisammen und kann sich wachen Sinnes durch alle Kombinationen und Modulationen führen lassen.

Eine Empfehlung noch, die vom Hauptthema ausgeht und es gewissermaßen auflädt: es geht um die Verwandlung der ersten drei Töne, des abfallenden Dreiklangs: sie lösen sich nach dem Einsatz das Hauptthemas im Bass (ab 4:01) vom Thema und führen als Motiv ein Eigenleben, wenig später in Umkehrung (auf- statt absteigend). Und im letzten Teil der Fuge verselbständigt es sich (ab 7:03) zu einem Gesang höherer Ordnung, einem Bicinium über einem gehenden oder eben laufenden Bass, wie man ihn damals aus der italienischen Triosonate (Corelli) übernommen hatte.

Für Notenleser lasse ich den Beginn dieses letzten Teils folgen, sowie kommentarlos zwei weitere Stellen:

 BWV 883 Fuge (s.o.) ab 7:03

 BWV 858 Fuge

 BWV 869 Praeludium 

Man vergleiche auch den Anfang des „Stabat mater“ von Pergolesi (hier), das Bach bearbeitet und mit deutschem Text versehen hat: „Tilge, Höchster, meine Sünden“ BWV 883 (hier).

Bei Hermann Keller findet sich immerhin ein Hinweis, was den besonderen Reiz dieser Fuge ausmacht, und man kann sich vorstellen, dass diese Prozedur der thematischen Zusammenfügung nicht erst im Verlauf des Komponierens stattfindet, sondern zu Beginn, oder – sagen wir – nach der Erfindung des Hauptthemas und den Überlegungen, was man ihm zutrauen kann:

Quelle Hermann Keller: Die Klavierwerke Bachs / Ein Beitrag zur ihrer Geschichte, Form, Deutung und Wiedergabe / Edition Peters Leipzig 1986 (Seite 283)

Nun kann man sich von der Fuge BWV 883 nicht trennen, ohne vom Praeludium gesprochen zu haben, das ihr im Wert nicht nachsteht. Ja, man kann es nicht genug rühmen, es ist mehr als ein Prae-Ludium, oft spiele ich es nach der Fuge ein zweites Mal. Es ist unergründlich schön, bewegt und bewegend; um es zu kennzeichnen, fällt mir als erstes das Wort „flehentlich“ ein, oder – wenn das zu sentimental klingt – „inständig“, zu den ersten beiden Melodietönen höre ich den leisen Ruf „Hilf mir“. Christoph Bergner, dessen „Studien zu den Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach“ (Hänssler Verlag 1986) ich immer wieder lesenswert finde, fällt am Ende der Besprechung dieser „Aria“ fast aus der Rolle des Referenten heraus:

Die Differenzierung des Materials hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht, der in diesem Stück wohl zugleich ein musikalisches Ereignis von kaum überbietbarem Rang bezeichnet. Solch hohe Kunst des musikalischen Ausdrucks begegnet in der Musikgeschichte selten.

Genauso ist es: man weiß am Ende nicht, ob man vor Glück lachen oder weinen soll. Ist es ein überströmendes Gefühl der Hoffnung? In Takt 29 ein Moment der Beklommenheit, der Verzagtheit. Und die rollende Bewegung der linken Hand in die Reprise hinein  ist das Gegenteil einer blitzartigen Eingebung. Aber die Lösung ist da. Sie war immer schon da, – jetzt erst gehen einem die Augen auf.

Die Form ist einfach, liegt aber nicht auf der Hand, da die phantastische Motivik für ständige Metamorphose sorgt. In Takt-Relationen ausgedrückt: 11 + 9 + 9 + 11. Die letzte Zahl (statt 13) ergibt sich, wenn man die bloße Dehnung der Takte 40 und 41 abrechnet.

Vielleicht versucht man es einmal mit dieser Aufnahme? Hier. (Keine der Interpretationen, die ich kenne, trifft in Tempo und Dynamik den Geist der Unruhe, der stimulierend in diesem Stück waltet. Im vorliegenden Fall aber stört mich noch mehr die fehlende Ruhe in der Fuge, der hüpfende Charakter des Hauptthemas, das dem Praeludium folgt.)

Nachricht über meinen Vater

Aufgefunden nach 81 Jahren

 1937   1941

Die ganze Geschichte dazu kenne ich, muss ich aber eigentlich nicht detaillierter erzählen. Man kann die historische Situation mit etwas Phantasie leicht rekonstruieren. Erinnert etwas an Friedrich Wieck und Robert Schumann. Interessant finde ich, dass mein Vater zu dieser Zeit einen Männerchor und einen Madrigalchor leidet (nicht leitet). Leidensfähig also war er. Und vor allem: kein Schürzenjäger. „… und kann nach Lage der Sache eine Verbindung empfohlen werden.“

Das Ergebnis (siehe Foto) war übrigens mein älterer Bruder, ein Sonntagsjunge, geb. am 5. März 1939.

… so viele Geschichten, Religionen und Ideologien

 Und was folgt daraus? (Tue nichts!)

ZITAT (Harari)

Bis dahin wusste ich recht wenig über Meditation und war der Ansicht, dazu gehörten alle möglichen komplizierten mystischen Theorien. Ich war deshalb erstaunt, dass sich der Kurs als sehr praxisorientiert erwies. Unser Lehrer, S.N. Goenka, brachte den Teilnehmern bei, im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen dazusitzen und die gesamte Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, der durch die Nase in den Körper strömt und wieder herausfließt. „Tue nichts“, sagte er immer wieder, „versuche nicht, den Atem zu kontrollieren oder auf eine besondere Weise zu atmen. Nimm einfach nur die Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks wahr, wie auch immer er sein mag. Wenn der Atem einströmt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt fließt der Atem hinaus. Und wenn du die Konzentration verlierst und dein Geist damit beginnt, zu Erinnerungen und Fantasien abzuschweifen, bist du dir einfach bewusst – jetzt schweift mein Geist vom Atem ab.“ Das war das Wichtigste, was jemals irgendjemand zu mir gesagt hat.

Wenn die Menschen die großen Fragen des Lebens stellen, haben sie in der Regel absolut kein Interesse daran, sich des Atemflusses bewusst zu werden. Vielmehr wollen sie Dinge wissen wie etwa, was passiert, wenn wir tot sind. Doch das eigentliche Rätsel des Lebens ist nicht, was geschieht, wenn wir tot sind, sondern was geschieht, bevor wir sterben. Wer den Tod verstehen will, muss das Leben verstehen.

Quelle Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert / C.H.Beck München 2018 (Zitat Seite 408f)

   

Teil I „Die technologische Herausforderung“ beginnt mit der Erklärung:

Die Menschheit verliert den Glauben an die liberale Erzählung, welche die Weltpolitik in den letzten Jahrzehnten bestimmte, genau in dem Augenblick, da die Verschmelzung von Informationstechnologie und Biotechnologie uns vor die größten Herausforderungen stellt, mit denen die Menschheit je konfrontiert war.

Als ich dieses Buch zu lesen begann, fühlte ich mich an den Tag erinnert, an dem ich „Die große Erzählung“ – oder wenigstens die fortwährenden Anspielungen auf ein „Narrativ“ – dingfest machen wollte, in diesem Fall auf Musik bezogen, nämlich hier. Warum soll sich diese Technik der Annäherung erledigt haben? Wenn in diesem Moment auch „nur“ von Weltpolitik die Rede ist, vom „Glauben an die liberale Erzählung“, es hindert ja den Autor nicht, auch die Musik sozusagen spielerisch einzubeziehen. („Mozart in der Maschine“ Seite 50ff)

Weil dieser Historiker, dem soviel auf rationalem Wege gelingt, in der Musik nichts Bemerkenswertes zustandebekommt, obwohl das musikalische Handwerk doch auch ohne Genie ganz gut zu beurteilen und sogar zu erlernen ist. Er meint Komponisten, Sänger und Djs, die „nach wie vor aus Fleisch und Blut“ sind.

Wir vertrauen auf ihre Kreativität, mit der sie nicht nur völlig neue Musik schaffen, sondern auch aus einer schwindelerregenden Fälle verfügbarer Möglichkeiten auswählen.

Gleichwohl wird auf lange Sicht kein Arbeitsplatz absolut sicher vor der Automatisierung sein. Selbst Künstler sollte man auf der Rechnung haben. In der modernen Welt wird Kunst üblicherweise mit menschlichen Emotionen assoziiert. Wir neigen zu der Annahme, Künstler würden innere Seelenkräfte bündeln, und der eigentliche Zweck der Kunst sei es, uns mit unseren Emotionen in Verbindung zu bringen oder irgendein neues Gefühl in uns auszulösen. Wenn es darum geht, Kunst zu bewerten, beurteilen wir sie folglich gerne nach ihrer emotionalen Wirkung auf das Publikum. Wenn man aber Kunst über menschliche Emotionen definiert, was würde dann passieren, sobald äußere Algorithmen in der Lage sind, menschliche Emotionen besser als Shakespeare, Frida Kahlo oder Beyoncé zu verstehen und zu manipulieren?

Schließlich sind Emotionen nicht irgendein geheimnisvolles Phänomen – sie sind das Ergebnis eines biochemischen Prozesses. Deshalb könnte in nicht allzu ferner Zukunft ein maschinell lernender Algorithmus die biometrischen Daten analysieren, die ihm von Sensoren auf und in unserem Körper zufließen, er könnte unseren Persönlichkeitstyp und unsere wechselnden Gemütslagen bestimmen, und er könnte berechnen, welche emotionale Wirkung ein bestimmtes Lied – ja sogar eine bestimmte Tonart – mit hoher Wahrscheinlichkeit auf uns hat.

Quelle Yuval Noah Harari: a.a.O. Seite 51

Wenn es um das Ergebnis biochemischer Prozesse geht, die erforschbar und manipulierbar sind, – was soll uns dann veranlassen, weiterhin Energie in diese furchtbaren Umwege zu investieren, die am Ende nichts als ein bestimmtes Lied ergeben? Dafür der ganze Konzertbetrieb und die gigantisch aufgeblähte Musikindustrie? Und warum übt ein Mensch jahrzehntelang Klavier, wenn er sich – ohne einen Finger zu rühren – alle Klavierwerke der Welt in meisterhaften Versionen und „gefühlsecht“ vom CD-Spieler (oder Nachfolgegeräten) einflößen lassen könnte?

Man bedenke allerdings, was die Geschmacksverstärker in der Kulinarik ausrichten. Oder gewisse Psychopharmaka, die „aufhellende“ Wirkung haben. Für mich würde vielleicht eine Weltschmerztablette täglich reichen, schon wäre ich der Sorge um weitere Bücher und Musikkonserven ledig. Geistige Nahrung – was ist das?

Wahrscheinlich doch das einzige, was uns lebendig hält.

Dementsprechend gehören für mich zu den hervorragenden Teilen des Buches diejenigen, die sich kritisch mit der digitalen Welt befassen, von deren Denken es ansonsten geprägt ist. Und so gefällt mir das Kapitel über Facebook.

Menschen haben Körper. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat die Technik uns von unseren Körpern entfernt. Wir haben unsere Fähigkeit verloren, darauf zu achten, was wir riechen und schmecken. Stattdessen sind wir von unseren Smartphones und Computern absorbiert. Das, was im Cyberspace passiert, interessiert uns mehr als das, was draußen auf der Straße geschieht. (…)

Wenn die Menschen dazu ermuntert werden, „Erfahrungen zu teilen“, heißt das nichts anderes, als dass sie das, was ihnen zustößt, mit den Augen anderer begreifen sollen. Wenn etwas Aufregendes passiert, besteht das Bauchgefühl von Facebook-Nutzern darin, das Smartphone aus der Tasche zu ziehen, ein Foto zu machen, es online zu stellen und auf die Likes zu warten. Währenddessen bemerken sie kaum, was sie selbst fühlen. Vielmehr wird das, was sie fühlen, zunehmend von den Online-Reaktionen bestimmt.

Menschen, die sich dem Körper, ihren Sinnen und ihrer physischen Umgebung entfremdet haben, fühlen sich leicht isoliert und desorientiert. Meinungsmacher schreiben solche Entfremdungsempfindungen oftmals dem Schwinden religiöser und nationaler Bindungen zu, aber wichtiger ist in diesem Fall wohl die Tatsache, dass die Menschen den Bezug zum eigenen Körper verloren haben. Über Jahrmillionen haben sie ohne Religionen und ohne Nationen gelebt – insofern können sie vermutlich auch im 21. Jahrhundert gut ohne sie existieren. Doch sie können nicht glücklich leben, wenn sie nicht mehr mit ihrem Körper verbunden sind. Wer sich in seinem Körper nicht mehr zu Hause fühlt, wird sich auch in der Welt nirgends zu Hause fühlen.

Quelle Yuval Noah Harari: a.a.O. Seite 131f

Alles was er schreibt, ist richtig gedacht, jedoch rein „positivistisch“, z.B. wie er die Religionen der Welt der Reihe nach destruiert. Alles überzeugend, und wer da denkt, der Abschluss mit Meditation (s.o.) könnte zumindest den Buddhismus als Lösung voraussetzen, hat sich geirrt. Ebenso – natürlich? – das Judentum, als äußerst partikulare Weltanschauung und eigentlich desolat als Grundlage des Christentums, dem es seinerseits nicht besser ergeht usw. usw., im Prinzip kennt man das alles aus den rationalistischen Deduktionen der Wissenschaft, etwa bei Richard Dawkins. Weshalb ich es ganz anders lese, beruht nicht auf einer latenten, mir nicht bewussten (schwächlichen) Rückwendung zur Mystik, sondern weil ich gleichzeitig Jaspers lese („Der philosophische Glaube“) und – durchaus nicht im Sinne einer Rückwendung – mit Enttäuschung zur Kenntnis nehmen musste, dass er doch von „Gott“ spricht, so dass man meinen könnte, jetzt komme der Krypto-Evangelist zum Vorschein. Es ist ganz anders. Es fehlen alle christlichen Insignien, wenn ich mich nicht irre*. Ich werde diese Gedankengänge keinesfalls verkürzt darstellen, als seien daraus neue Dogmen zu gewinnen. Nicht einmal behaupten, Gott sei mit dem identisch, was Jaspers sonst mit größter Vorsicht „das Umgreifende“ nennt, – jenseits der „Subjekt-Objekt-Spaltung“, die alle unsere Gedankengebäude als Irrglauben desavouiert. Auch in dem Moment, wo wir neue Namen dafür ersinnen. Und neue Erzählungen drumherum…

Doch, ich irre mich, und auch wieder nicht. Jaspers macht die Bibel und den Christusglauben ausgiebig zum Thema, und das ist lehrreich; aber er distanziert sich, etwa mit den folgenden Sätzen (a.a.O. Seite 81):

Wenn aber dann die Christusreligion bedeutet: das glaubende Erfassen des rettenden Christus außer mir durch Verwirklichung des Christusgeistes in mir, so bleibt zweierlei für unser Philosophieren unumgänglich: der Christus in mir ist nicht an jenen einmaligen Jesus-Christus ausschließend gebunden und der Jesus ist als Christus, als Gottmensch ein Mythus. Die Entmythisierung darf hier nicht willkürlich halt machen. Auch der tiefsinnigste Mythus bleibt Mythus und ist ein Spiel, und er wird eine objektive Garantie nur, sei es durch eine religiöse Wahrheit (die das Philosophieren nicht zu sehen vermag), sei es durch Täuschung.

Quelle Karl Jaspers: Der philosophische Glaube / Piper München Zürich 20012 (1974)

Am Ende finden wir bei beiden Autoren die Gewissheit, an einem Wendepunkt zu stehen, bei dem einen nach dem Krieg im Jahr 1948, bei dem anderen heute im Jahr 2018.

Bei dem einen –  Yuval Noah Harari –  lerne ich zu Beginn des letzten großen Kapitels das Wort Resilienz, was bedeutet: „psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“.

 2018

Bei dem anderen – Karl Jaspers – steht am Ende die Frage, wo „der feste religiöse Boden [ist], der bleibt“. Ich fürchte, solche Fragen stellen sich heute nicht mehr, aber bei Jaspers lohnt es sich immer, sorgfältig weiterzulesen…

 1948

Es könnte sein, dass die letzten Kapitel Hararis – 19) Bildung 20) Sinn 21) Meditation – gar nicht so weit entfernt sind von der letzten der sechs Vorlesungen von Karl Jaspers: „Die Philosophie der Zukunft“ (Seite 116):

Das ist die Erfahrung des nicht im Wahrheitsbesitz erstarrten Philosophen, wenn er alt wird. Es ist die Form des geistigen Jungseins im Schmerz des Abschieds.

Man kann das gleiche finden in den unglaublich ausgearbeiteten Werken des letzten Brahms. Ich höre keinen Anklang an das alte „Dies irae“. Versöhnung, vielleicht sogar Liebe.

Vorsicht, Bach!

Was mir neuerdings begegnet ist

Ein Freund, dessen Gespräch ich schätze und der sich, wie er meint, am ehesten für Jazz interessiert, überraschte mich eines Tages mit der Mitteilung, dass er sich das gesamte Kantatenwerk von Bach zugelegt habe. Mein Gott, dachte ich, dann ist er für diese Musik verloren. Unmöglich sich dafür zu begeistern, wenn man eine nach der anderen hört. Und mit wem denn? Bachkollegium Japan. Das macht die Sache nicht besser, ist aber teuer genug… Hätte er mich doch rechtzeitig gefragt, – ich hätte ihm drei Kantaten genannt und ermuntert, jede 30 Mal zu hören, das 3. bis 6. Mal bei gleichzeitiger Textlektüre, also: den Text aufmerksam mitzulesen (ohne ihn zu bewerten), vor dem 10. Mal vielleicht den entsprechenden Wikipedia-Artikel zu lesen. Es ist unnötig, fromme Gedanken im Herzen zu bewegen. Töne und Text sind genug. Nichts anderes dabei tun! Ich würde auch schon mal zwei Instrumentalwerke dazwischenschalten, z.B. die Brandenburgischen Konzerte Nr. 1, Nr. 3 oder Nr. 6. Das bringt genügend frischen Wind und neue Offenheit. Und man vergisst es nie. Es nistet sich für immer ein und tut segensreiche Wirkung. Im Regelfall. Ich kannte allerdings einen erfahrenen Tonmeister im WDR, der in einer Aufnahmepause sagte: „Es ist auch viel leeres Stroh in den Kantaten.“ Heute wüsste ich gern, um welche Kantaten es sich gehandelt haben könnte. Wahrscheinlich hatte der Mann zuviel Mahler-Sinfonien geschnitten.

Ich weiß, dass keine Kantate bei mir ohne Wirkung bleibt. Am ehesten hätte ich verzichtet auf eine weltliche Kantate wie „Was mir behagt, ist nur die muntere Jagd“ BWV 208. (Abgesehen von dem einem Satz „Schafe können sicher weiden“.) Und nun entdeckte ich, nach der Koopman-Aufnahme („Complete Cantatas“ 1996) die folgende viel ältere, die ich mir nur aus purer Neugier bestellt habe. Warum? Schauen Sie auf den Namen des Dirigenten. Mitwirkende u.a. Frans Brüggen, Gustav Leonhardt.)

 Aufnahme 1962 André Rieu sen. (1917-1992)

Inzwischen weiß ich: so kann die Kantate damals – am 23. Februar 1713 nach der Jagd – nicht angefangen haben, da muss ein ouvertürenhafter, starker Satz mit Jagd-Fanfaren vorangegangen sein, der verschwunden ist (worauf Christoph Wolff im Koopman-Booklet hinweist), man denke etwa an den ersten Satz des ersten Brandenburgischen Konzertes. Und bis zu welchem Grad ist dieses Gelegenheits-Werk überhaupt von der „Gelegenheit“ gezeichnet? John Elliott Gardiner schreibt:

Der Text für BWV 208 von Salomo Franck ist ausgesprochen banal. Die Figuren aus der griechischen Mythologie (neben Diana begegnen uns Pales, Endymion und Pan) sind höchst holzschnittartig gezeichnet, die „dramatische“ Handlung ist an Schlichtheit kaum zu überbieten. Diana preist die Jagd als Sport der Götter und Helden – zum Leidwesen von Endymion, der ihre Fixierung auf die Jagd ebenso missbilligt wie den Umgang, den sie pflegt. Nachdem sie ihm erklärt hat, dass das alles für einen guten Zweck sei – zur Feier des Geburtstags des „teure(n) Christian, der Wälder Pan -, willigt er ein, in ihren Lobpreis auf den Herzog einzustimmen. Danach folgen aber noch zehn weitere Nummern, allesamt im selben speichelleckerischen Duktus. Das Ganze ist nichts weiter als ein Vorwand, um die Tugend und die kluge Amtsführung Herzog Christians zu rühmen. Insofern dürfte die Kantate so manchem Höfling ein Kichern oder Augenrollen entlockt haben. Diese kriecherische Hommage an einen verantwortungsbewussten Herrscher stand im krassen Widerspruch zur tatsächlichen Misswirtschaft des Herzogs, deretwegen der Kurfürst sich wenige Jahre später gezwungen sah, eine kaiserliche Schuldentilgungskommission zu beantragen, die fortan die Finanzverwaltung übernahm. Herzog Christian musste sich in der Sache vor einem Reichsgericht verantworten. // Anmerkung: Michael Maul hat Quellen aufgetan, die zeigen, dass der Herzog weit über seine Verhältnisse lebte, die Finanzen seines Herzogtums nicht im Griff hatte und häufig betrunken war. Seine Handschrift war ungelenk und kaum leserlich. Wie aufmerksam er der Musik lauschte, ist einigermaßen fraglich (…) // Könnte es sein, dass Franck und Bach von den finanziellen Schwierigkeiten des Herzogs wussten? War die Kantate teilweise ironisch gemeint?

Quelle John Elliott Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg / Carl Hanser Verlag München 2016 (Zitat: Seite 249f)

*    *    *

Anfang der 60er Jahre belächelte man an der Hochschule die demonstrative Demut des Cellisten Gaspar Cassado, wenn er seine Zugabe ansagte: „Jetzt spiele ich heiliges Bach!“ Das wäre einem Geiger bei einem Partiten-Satz nicht in den Sinn gekommen, allenfalls bei der „Chaconne“ (Bach schreibt Ciaccona!). Aber gewiss schlug man prinzipiell einen allzu feierlichen Ton an. Und man bewunderte Kommilitonen, die alles auf einerlei Weise schön spielten, als gebe es keine Probleme auf der Welt. Nur die Violin-Pädagogin Maria Szabados kritisierte eine Wettbewerbsteilnehmerin, die keine Spur von Temperament zeigte (aber da ging es um Beethoven): „Ach wenn sie doch nur ein einziges Mal ‚kratzen‘ würde!“

 Aber Bach auf Viola: sanft & edel!

Und das nicht nur / zur Weihnachtszeit. Wer wird da meckern?

Wunderbar, gewiss! Ich meckere nicht, ich habe nur Schwierigkeiten, das zu verstehen: soviel Sanftheit, soviel Edelmut. Kennt man nicht die frühen Orgelwerke des störrischen Genies, die Toccaten, den emotionalen Ambitus des Wohltemperierten Claviers, dessen Titel nur physikalische, keineswegs physiologische Kompromisse meint? Diese Suiten sind sicherlich nicht zum Auftritt eines höfischen Balletts geschrieben, aber es sind doch Tänze, die von der Akzentuierung leben, – genau wie die Rhetorik, die man in allen Takten aufzuspüren, nicht zu cachieren hat. Das mystische Halbdunkel, das auch im CD-Cover beschworen wird, untergräbt in der Musik auf Dauer jeden besonders farbigen Ausdruck, nach dem sie verlangt, nein, schreit. Vielleicht soll das Leggiero, der weiche Springbogen im G-dur-Praeludium, die Befreiung vom erdenschweren Celloklang signalisieren. Hat die Bratsche das denn nötig? Man muss diese Werke einmal in der Geigenbearbeitung gespielt haben, um der Bratsche dankbar zu sein, dass sie anderes hergibt als den Klang des Mädchennamens Viola. Es ist keine Blume, kein Mädchen, kein Engel oder Himmelsbote, sondern eine ganze Welt, dargestellt mit allen rhetorischen Mitteln. Die Artikulation ist im folgenden Beispiel angedeutet, alle Sechzehntel ohne Bindung sind mittelkurz, in Vierergruppen gedacht, die Dynamik ist fortwährend in Bewegung. Also in Takt 1 wird trotz des roten Pfeils und des crescendos auf den letzten 4 Noten der letzte Ton nicht zum ersten Ton des Taktes 2 hinübergezogen, sondern leicht abphrasiert. Es ist nur eine Andeutung dessen, was geschehen sollte.

Übrigens finde ich es ganz überflüssig, im Fall der Solissimo-Werke Bachs eigene Notentextvarianten zu erfinden. Es klingt nach Nonchalance und hält keiner Überprüfung statt, außer im Fall von Kadenzen (tr). Bach hat die „eigentlichen Noten“ ausgeschrieben. An dieser Stelle muss man keine eigene Originalität beweisen, Händel und Corelli laden dazu ein…

Das gilt ganz besonders, wenn man offenbart, dass man keine rechten Gründe hat:

„Mein Verständnis für Bach ändert sich täglich, auf der emotionalen wie auf der strukturellen Ebene. Insofern ist jede Aufnahme eher wie ein eingefangener Moment – bei ihm ganz besonders. Die Verzierungen zum Beispiel, die ich in den Suiten spiele, sind aus dem Moment heraus geboren und zugleich sehr intim, also eigentlich nicht dafür gemacht, festgehalten zu werden.“ (siehe hier)

Es sind aber doch immer dieselben, ein Praller mit der unteren Nebennote, und die gelegentliche Ausfüllung von Terzsprüngen mit der Durchgangsnote. Einfach überflüssig, da ist nichts Intimes.

Ich habe vergessen zu sagen, dass Kim Kashkashian eine hervorragende Viola-Spielerin ist. Sie kann alles spielen, z.B. Schumann. Aber „ihren“ Bach braucht die Welt nicht. Da sollte man sich weiterhin an die Cellisten halten, auch wenn sie hörbar größere Mühe aufwenden…

*    *    *    *

 Website hier

Ein wirkliches Novum in der Interpretationsgeschichte der Bach-Violinpartiten! Selbst das nicht gerade lesefreundliche Cover reizt mich, und der Text der Interpretin ist Satz für Satz aufschlussreich und lädt ein, sich auf dieses Abenteuer des Hörens einzulassen. Was nicht bedeutet, dass man vom ersten bis zum letzten Ton „glücklich“ ist. Darum geht es überhaupt nicht, weder im Leben noch in der Musik.

Als erstes sagt man vielleicht: das ist zu langsam für eine Allemande. Und auch für eine Französische Ouverture? Es nimmt ja kein Ende. Zweifellos hört man punktueller als sonst, was der Wirkung Bachs keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Und die Verzierungen bei der Wiederholung? Sinnvoll und schön.

Auch das Double der Allemanda erscheint sehr langsam, obwohl das durchstrichene C gegenüber der Taktbezeichnung des ersten Satzes – wie auch die „laufenden“ Sechzehntel – auf ein schnelleres Tempo deuten. (In der Corrente schreibt Bach über das Double speziell „Presto“. Im letzten Tanzsatz gilt „Tempo di Borea“ ebenso für das Double.) Nun könnte man sagen, dass im Blick auf den „Clash der Jahrhunderte“, den Annette Bik mit der Einfügung zeitgenössischer Kompositionen nach jedem Double beabsichtigt, auch eine Modifizierung der Bachschen Tempi zum Gestaltungsprozess des Ganzen gehören kann. Zumal die Doubles der Komponistinnen und Komponisten jeweils strukturell auf das vorangehende Bachsche Double bezogen sind. Lesenswert in diesem Zusammenhang der Booklet-Beitrag von Armin Turnher: „Bach, das ist die Erfahrung der Unendlichkeit für Sterbliche“.

Es ist eine analytische Spielweise, die jegliches Streben sterblicher Geiger unterläuft, ein Kontinuum des Zeitablaufs zu schaffen: wenn das Notenbild aus einer endlosen Kette von Achtelnoten oder von Sechzehntelnoten besteht.

Ich möchte das kreative Ziel eines Kontinuums, das nach einem Ziel sucht (darauf zutreibt), nicht entwertet sehen; denn auch darin ist man der Hauptaufgabe nicht überhoben, ein Kontinuum von Binnen-Phrasierungen zu schaffen. Andererseits ist man, sobald diese Lösungen verinnerlicht sind, offen für die scheinbar über-phrasierte und mit kleinen Atempausen übersäte Interpretation. Denn genau diese Reflexion geht in den zeitgenössischen Double-Doubles weiter, genannt „Allemande multipliée“, „Incanto VII“, „En tournant“, Bourée bourée“ aus der Feder von Eva Reiter, Simone Movio, Andreas Lindenbaum und Bernhard Gander.

(Fortsetzung folgt)

Ein Tor zur arabischen Welt

Marokko aus der Vogelperspektive

Wikipedia Artikel HIER

 Nachspann-Screenshots JR Namen zur Musik im Nachspann

Bericht zum Start des Films in „Libération“ 21. Juni 2017  hier

Ein Film von Yann Arthus-Bertrand (2017), über ihn Wikipedia (deutsch) hier

Musik: Armand Amar
Sprecher: Ali Baddou

Erste Station: Meknes hier

 ab 17:20 Atlas – Sahara

Zweite Station (18:00): Asilah hier

Dritte Station (21:20): Rabat hier

Vierte Station (24:50) bzw. (27:26): Casablanca hier (Fischer ab 30:00)

 ab 34:38 Essaouira – Laâyoune

Fünfte Station (35:10): Essaouira

Sechste Station (42:10): Laâyoune

Siebte Station (45:20): Dakhla hier

Achte Station (46:40): Amtoudi hier

Neunte Station (53:20): Marrakesch hier

Zehnte Station (1:01:10): Telouet hier

Elfte Station (1:11:50): Chefchaouen hier

Zwölfte Station (1:13:25): Tanger hier

Ende: 1:18:48

*    *    *

Für mich ist dies die Erinnerung an die erste Begegnung mit der arabischen Welt im April 1967. Die Wende meines Lebens, vorher zuhaus und dann mit dieser Reise. Es war die laue Luft am Flughafen Rabat, aus der Empfangshalle hinaustretend sah ich die unter Orangenbäumen hingelagerten Gestalten, in antiken Gewändern, als hätten sie seit Jahrhunderten auf uns gewartet. Später auf einem Markt, der singende Rubabspieler, das Gastmahl in der Altstadt von Meknes, Couscous mit gebratenen Tauben, die einzelnen Bissen mit den Händen zu formen, von riesigen silbernen Tellern. Wasserpfeife. Als „Nachtisch“ kleine Brötchen, angeblich mit eingebackenem Haschisch, ohne jede Wirkung. Das kommt erst nach einigen Malen, hieß es. Nur Erich Lehninger, der gern übertrieb, sagte: Ich fühle mich phantastisch! Arabisch-andalusische Musik wurde mir erst Jahre später ein Begriff. Die Nouba Ed-Dhil in Tunis. Ein Narkotikum lag in der Luft, in der Geräuschkulisse, dem Klang der arabischen Sprache und der arabischen Musik.

 Der Anfang der Reise (bis 24.4.67)

Ich hatte keine Ahnung, dass mein Leben jetzt eine andere Richtung nahm.

 Kairo 10.4.67

 Kabul / Istalif 24.4.67

Die Flüchtlinge und wir

Einige Papiere zur Meinungsbildung

Die folgende Erklärung habe ich nicht selbst verfasst, sie ist aber auch nicht vollständig zitiert. Ich habe sie gekürzt und will die Verantwortung nicht abschieben: So entspricht der Text insgesamt genau meiner Meinung. Die Quellenangabe folgt unten.

ZITAT

Äußerst besorgt beobachten wir die gegenwärtigen Entwicklungen in der Antwort Europas auf die neu ankommenden Flüchtlinge. Gestützt auf […] Reflexion und unter Berücksichtigung der vor fast 20 Jahren auf dem EU-Gipfeltreffen in Tampere 1999 geäußerten Schlussfolgerungen, erklären wir:

  • Es ist unannehmbar, dass die Politik der „Migrationssteuerung“ zu Situationen führt, in denen hohe Verluste von Menschenleben auf dem Weg nach Europa normal geworden sind und in denen Ausbeutung und Gewalt alltäglich sind. Wir brauchen sinnvolle sichere Wege (wie Wiederansiedlung, aus humanitären Gründen erteilte Visa, realistische Arbeitsmigrationspolitik) sowie Suche und Rettung auf dem Weg nach Europa.
  • Wir bekräftigen die Aussagen des Tampere-Gipfels, insbesondere die „unbedingte Achtung des Rechts auf Asyl“ und „die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention“ als Leitlinien für die heutige Asylpolitik. Dies würde den effektiven Zugang zu einem Verfahren für Asylsuchende umfassen, ungeachtet wie oder durch welche Orte sie nach Europa gekommen sind.
  • Der Schutz in der Herkunftsregion und die Verbesserung der Bedingungen in den Herkunftsländern bleiben wichtig, damit die Menschen nicht zur Flucht gezwungen werden. Doch solange es Gründe für eine Migration gibt, sollte Europa, als eine der reichsten und am weitesten entwickelten Regionen der Welt, seine Verpflichtungen in Bezug auf Gastfreundschaft und Schutz wahrnehmen, anstatt Drittländer unter Druck zu setzen, die Migration nach Europa zu stoppen.
  • Bei der Steuerung der Migration und insbesondere bei der Aufnahme der Flüchtlinge sollte Solidarität ein ausschlaggebender Aspekt sein. Solidarität bedeutet, dass die stärkeren Schultern mehr Verantwortung tragen als die schwächeren, aber auch, dass alle ihr Möglichstes beitragen.
  • Wir distanzieren uns vom Begriff, dass die Aufnahme von neu ankommenden Asylsuchenden zu Lasten derjenigen stattfindet, die bereits in Europa leben. Die Politik sollte sich mit den besonderen Bedürfnissen von neu ankommenden Menschen in Europa befassen und sie ermutigen, ihr Potenzial auszuschöpfen, um einen Beitrag zu leisten. Gleichzeitig müssen aber auch die Traditionen und Bedürfnisse der Einwohnerinnen und Einwohner anerkannt werden.
  • Diskussionen über Migration und Flüchtlinge sollten sich durch Würde, Respekt und, wenn möglich, durch Mitgefühl auszeichnen. Die Verbreitung von unrichtigen, undurchsichtigen und trennenden Erklärungen macht die Herausforderung des Zusammenlebens nur noch schwieriger.
  • Wo Menschen aus unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergründen zusammenleben, entstehen unausweichlich Konflikte, insbesondere unter sich rasch verändernden Bedingungen. Gemeinsam in Vielfalt leben kann sowohl bereichernd als auch herausfordernd sein. Wir fordern einen Geist der Toleranz und des guten Willens und eine Verpflichtung zu einem konstruktiven Engagement.

Wir verpflichten uns dazu, uns noch entschiedener zu äußern und uns einzusetzen, für unsere Vision einer inklusiven und partizipatorischen Gesellschaft – für neu ankommende Personen und für alle Einwohnerinnen und Einwohner.

Quelle* Weihnachtsbotschaft der Organisation Ernster Humanisten OEH / Auf deren Website ist der Text ohne Kürzungen nachzulesen. Oder auch HIER.

Dank für den Hinweis und die Kürzungsidee an JMR.

*    *    *

(ZUSATZ JR:)

*Die obige Quellenangabe ist die einzige im ganzen Blog, die ich gefälscht habe, – um beim Aufruf des Links eine Überraschung zu provozieren: Dass es ausgerechnet diese Organisation ist, die endlich eine Entwicklung aufgreift oder sogar vorantreibt, die eigentlich ihrem Wesen entspricht! Während (ich hoffe und glaube: nicht – weil) die Mitgliederzahlen seit Jahren dramatisch schwinden, begegnet sie der Welt mit praktischen Impulsen, die auf der einzigen moralisch vertretbaren Seite beruhen und von einzelnen immer schon ohne opportunistische Rücksichten vertreten wurden. Geschickterweise gehen sie nicht einfach direkt von diesen Impulsen aus in die Realität, sondern auf dem Umweg über die greifbaren politischen Ansätze.

(Sicherheitshalber noch dies: Es gibt keine Organisation Ernster Humanisten OEH!)

Da zu Anfang des Textes  auf das EU-Gipfeltreffen in Tampere 1999 hingewiesen wurde, füge ich als Ergänzung die einschlägigen Passagen aus der Tagung TAMPERE EUROPÄISCHER RAT 15. UND 16. OKTOBER 1999 bei, die unter dem Titel SCHLUSSFOLGERUNGEN DES VORSITZES zu finden sind, und zwar: HIER.

A. EINE GEMEINSAME ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK DER EU

10. Die gesonderten, aber eng miteinander verbundenen Bereiche Asyl und Migration machen die Entwicklung einer gemeinsamen Politik der EU erforderlich, die folgende Elemente einbezieht.

I. Partnerschaft mit Herkunftsländern

11. Die Europäische Union benötigt ein umfassendes Migrationskonzept, in dem die Fragen behandelt werden, die sich in bezug auf Politik, Menschenrechte und Entwicklung in den Herkunfts- und Transitländern und -regionen stellen. Zu den Erfordernissen gehören die Bekämpfung der Armut, die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Beschäftigungsmöglichkeiten, die Verhütung von Konflikten und die Festigung demokratischer Staaten sowie die Sicherstellung der Achtung der Menschenrechte, insbesondere der Rechte der Minderheiten, Frauen und Kinder. Zu diesem Zweck werden die Union wie auch die Mitgliedstaaten ersucht, im Rahmen der Befugnisse, die ihnen die Verträge verleihen, zu einer größeren Kohärenz der Innen- und Außenpolitik der Union beizutragen. Ein partnerschaftliches Verhältnis zu den betroffenen Drittstaaten wird für den Erfolg einer solchen Politik ebenfalls von entscheidender Bedeutung sein, damit eine gemeinsame Entwicklung gefördert werden kann.

12. In diesem Zusammenhang begrüßt der Europäische Rat den Bericht der vom Rat eingesetzten Hochrangigen Gruppe „Asyl und Migration“ und stimmt der Verlängerung des Mandats dieser Gruppe und der Ausarbeitung weiterer Aktionspläne zu. Er erachtet die ersten Aktionspläne, die von dieser Gruppe ausgearbeitet und vom Rat gebilligt wurden, als einen nützlichen Beitrag und ersucht den Rat und die Kommission, dem Europäischen Rat im Dezember 2000 über die Umsetzung dieser Pläne zu berichten.

II. Ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem

13. Der Europäische Rat bekräftigt die Bedeutung, die die Union und die Mitgliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl beimessen. Er ist übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, wodurch sichergestellt wird, daß niemend dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, d.h. der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt.

14. Auf kurze Sicht sollte dieses System folgendes implizieren: eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staates, gemeinsame Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren, gemeinsame Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft. Hinzukommen sollten ferner Vorschriften über die Formen des subsidiären Schutzes, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen. Der Rat wird dringend ersucht, auf Vorschlag der Kommission und nach Maßgabe der im Vertrag von Amsterdam und im Wiener Aktionsplan gesetzten Fristen zu diesem Zweck die notwendigen Beschlüsse zu fassen. Der Europäische Rat unterstreicht, wie wichtig es ist, das UNHCR und andere internationale Organisationen zu konsultieren.

15. Auf längere Sicht sollten die Regeln der Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Asylverfahren und einen unionsweit geltenden einheitlichen Status für diejenigen, denen Asyl gewährt wird, führen. Die Kommission wird ersucht, binnen eines Jahres eine diesbezügliche Mitteilung auszuarbeiten.

16. Der Europäische Rat fordert den Rat dringend auf, sich verstärkt darum zu bemühen, in der Frage des vorübergehenden Schutzes für Vertriebene auf der Grundlage der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten Einvernehmen zu erzielen. Der Europäische Rat ist der Ansicht, daß geprüft werden sollte, ob nicht bei einem massiven Zustrom von Flüchtlingen zwecks vorübergehender Schutzgewährung irgendeine Form von Finanzreserve bereitgestellt werden könnte. Die Kommission wird ersucht, die entsprechenden Möglichkeiten zu sondieren.

17. Der Europäische Rat fordert den Rat dringend auf, seine Arbeiten über das System zur Identifizierung von Asylbewerbern (Eurodac) unverzüglich zu Ende zu führen.

III. Gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen

18. Die Europäische Union muß eine gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen sicherstellen, die sich im Hoheitsgebiet ihrer Mitgliedstaaten rechtmäßig aufhalten. Eine energischere Integrationspolitik sollte darauf ausgerichtet sein, ihnen vergleichbare Rechte und Pflichten wie EU-Bürgern zuzuerkennen. Zu den Zielen sollte auch die Förderung der Nichtdiskriminierung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben und die Entwicklung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gehören.

19. Ausgehend von der Mitteilung der Kommission über einen Aktionsplan gegen Rassismus fordert der Europäische Rat, daß die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verstärkt wird. Die Mitgliedstaaten werden auf die besten Praktiken und Erfahrungen zurückgreifen. Die Zusammenarbeit mit der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und dem Europarat wird weiter verstärkt. Darüber hinaus wird die Kommission ersucht, so bald wie möglich Vorschläge zur Durchführung des Artikels 13 des EG-Vertrags betreffend die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorzulegen. Für die Bekämpfung von Diskriminierungen im allgemeineren Sinne werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, einzelstaatliche Programme auszuarbeiten.

20. Der Europäische Rat erkennt an, daß eine Annäherung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Bedingungen für die Aufnahme und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen auf der Grundlage einer gemeinsamen Bewertung der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen innerhalb der Union sowie der Lage in den Herkunftsländern erforderlich ist. Er bittet daher den Rat um rasche Beschlüsse anhand von Vorschlägen der Kommission. Diese Beschlüsse sollten nicht nur der Aufnahmekapazität jedes Mitgliedstaats, sondern auch seiner historischen und kulturellen Bande mit den Herkunftsländern Rechnung tragen.

21. Die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen sollte der Rechtsstellung der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden. Einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, sollte in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden, die sich so nahe wie möglich an diejenigen der EU-Bürger anlehnen; z.B. das Recht auf Wohnsitznahme, das Recht auf Bildung und das Recht auf Ausübung einer nichtselbständigen oder selbständigen Arbeit sowie der Grundsatz der Nichtdiskriminierung gegenüber den Bürgern des Wohnsitzstaates. Der Europäische Rat billigt das Ziel, daß Drittstaatsangehörigen, die auf Dauer rechtmäßig ansässig sind, die Möglichkeit geboten wird, die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats zu erwerben, in dem sie ansässig sind.

IV. Steuerung der Migrationsströme

22. Der Europäische Rat weist darauf hin, daß die Migrationsströme in sämtlichen Phasen effizienter gesteuert werden müssen. Er fordert die Durchführung – in enger Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern – von Informationskampagnen über die tatsächlichen Möglichkeiten der legalen Einwanderung sowie die Prävention aller Arten des Schlepperunwesens. Außerdem sollte eine gemeinsame aktive Politik im Bereich Visa und gefälschte Dokumente weiter entwickelt werden, einschließlich einer engeren Zusammenarbeit zwischen den EU-Konsulaten in Drittländern sowie bei Bedarf der Einrichtung von gemeinsamen EU-Visumstellen.

23. Der Europäische Rat ist entschlossen, die illegale Einwanderung an ihrer Wurzel zu bekämpfen, insbesondere durch Maßnahmen gegen diejenigen, die Zuwanderer einschleusen oder wirtschaftlich ausbeuten. Er drängt auf die Annahme von Rechtsvorschriften, die strenge Sanktionen zur Ahndung dieses schweren Verbrechens vorsehen. Der Rat wird ersucht, auf Vorschlag der Kommission bis Ende 2000 entsprechende Rechtsvorschriften zu verabschieden. Die Mitgliedstaaten sollten zusammen mit Europol ihre Bemühungen auf die Aufdeckung und Zerschlagung der beteiligten kriminellen Netze ausrichten. Die Rechte der Opfer derartiger Aktivitäten müssen gewahrt bleiben, wobei insbesondere die Probleme von Frauen und Kindern zu berücksichtigen sind.

[ Die hier weggelassenen Punkte 24. – 27. sind im originalen Text nachzulesen.]

Quelle: Hier (Text Europäischer Rat Tampere 1999)

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Ein paar private Wünsche (JR):

In begrüßenswerten Aktionen zur Überwindung der Missverständnisse zwischen alteingesessenen Bürgern unseres Landes und zugewanderten Menschen werden immer wieder die drei Religionsgemeinschaften der Christen,  Juden und Muslime genannt, als sei damit ein Ganzes erfasst, die Andeutung eines möglichen gemeinsamen Daches. Ich sehe darin ein stark exkludierendes Moment, nicht so sehr, weil Hindus und Buddhisten u.a. fehlen, sondern auch eine zahlenmäßig sehr bedeutsame Gruppe deutscher (und zugewanderter) Bürger, die sich nicht als Christen sehen und die sich keineswegs korrekt angesprochen fühlen, wenn etwa zu einer Musik „für Gläubige und Andersgläubige“ eingeladen wird. Auch wenn sie nicht an den Gott der drei genannten Religionen glauben, muss man damit rechen, dass sie nicht als „Andersgläubige“ und noch weniger als „Ungläubige“ bezeichnet werden wollen. Abgesehen davon, dass dies von echten „Gläubigen“ als erlaubte Diskriminierung der Anderen verstanden werden kann. Diese selbst verstehen sich vielleicht in erster Linie als Humanisten, Philosophen, Wissenschaftler, Agnostiker, Mystiker, – sie sollten es nicht einmal formulieren müssen. Menschen, die die sogenannten „letzten Fragen“ einfach offen lassen wollen, ohne deswegen mit irgendeinem Etikett einverstanden zu sein.

Es geht auch nicht um Mehrheiten oder Minderheiten, aber auch die könnte man emotionslos zur Kenntnis nehmen: über die Gültigkeit von Musikrichtungen wird ja ebenfalls nicht abgestimmt.

Es gibt etwa 4 Millionen Muslime in Deutschland (etwa 5 Prozent), 100.000 Hindus (0,1 Prozent), aber rund 25 Millionen Bundesbürger sind konfessionslos.

Verbindlich ist in jedem Fall das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.

Anlass zur Sorge? Ratespiel: Welche Religionen oder Weltanschauungen stecken hinter den Farben? (Auflösung folgt.)

Die Auflösung (im Uhrzeigersinn): 26: Evangelische Kirche, 28: Katholische Kirche, 37: Konfessionsfreie / ohne Religionszugehörigkeit, 2: Orthodoxe Kirche, 1: Sonstige Religionszugehörige, 5: Konfessionsgebundene Muslime, 1: Sonstige christliche Gemeinschaften.

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70 Jahre Menschenrechte – Info hier

Ich bin glücklich, dass ich fürs Wochenende noch die Süddeutsche gekauft habe, schon wegen des Leitartikels von Heribert Prantl. Titel: Exodus

Zitat (Text Prantl)

Der sogenannte Rechtspopulismus, eine verharmlosende und daher falsche Bezeichnung für eine gefährliche Sache, ist eine Entbürgungs- und Entrechtungsbewegung. Die Welt erlebt einen Exodus der Menschlichkeit.

Am global greifbarsten ist das bei den Problemen der Migration. Die maßlose Kritik am Migrationspakt, der nun zum Jubiläum der Menschenrechte in Marrakesch unterschrieben werden soll, zeigt das deutlich. Der Pakt sagt im Kern, dass Menschen auch dann Menschen sind und bleiben, wenn sie Flüchtlinge, Migranten, Aus- und Einwanderer sind. Er besagt, dass es gut wäre, die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern so zu verbessern, dass Menschen nicht mehr fliehen müssen. Und er besagt, dass die Völkergemeinschaft es den Umherirrenden schuldig ist, sie nicht als Feinde zu behandeln. Es zeugt von der Krise der Menschenrechte, dass die Völkergemeinschaft sich, anders als vor 70 Jahren, darauf nicht mehr einstimmig einigen kann – weil sie sich immer weniger als Gemeinschaft versteht.

Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen wieder eine Heimat zu geben. Man wird es daran messen, wie es mit den Menschenrechten umgegangen ist.

JR: Glücklicherweise kann man den vollständigen Kommentar online aufrufen: HIER !

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ZITAT

[Es geht darumzu erkennen,] dass die europäische Debatte um Zuwanderung alles andere als eine eindeutige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse ist. Es wäre falsch, alle Zuwanderungsgegner pauschal als „Nazis“ zu verunglimpfen, so wie es falsch wäre, allen Zuwanderungsbefürwortern vorzuwerfen, sie würden „kulturellen Selbstmord“ begehen. Deshalb sollte die Zuwanderungsdebatte nicht als kompromissloser Kampf um irgendeinen nicht verhandelbaren moralischen Imperativ geführt werden. Es handelt sich vielmehr um eine Diskussion zwischen zwei legitimen politischen Positionen, die durch gängige demokratische Verfahren entschieden werden sollte.

Gegenwärtig ist alles andere als klar, ob Europa einen Mittelweg findet, der es in die Lage versetzen würde, seine Tore für Fremde offenzuhalten, ohne durch Menschen destabilisiert zu werden, die seine Werte nicht teilen. Wenn es Europa gelingt, einen solchen Weg zu finden, ließe sich seine Formel vielleicht auch auf globaler Ebene anwenden. Wenn das europäische Projekt aber scheitert, wäre das ein Hinweis darauf, dass der Glaube an die liberalen Werte der Freiheit und der Toleranz nicht ausreicht, um die kulturellen Konflikte auf dieser Welt zu lösen und die Menschheit angesichts von Atomkrieg, ökologischem Kollaps und technologischer Disruption zu einen. Wenn sich Griechen und Deutsche nicht auf eine gemeinsame Bestimmung verständigen können und wenn 500 Millionen wohlhabende Europäer nicht ein paar Millionen arme Flüchtlinge aufnehmen können, welche Chancen haben die Menschen dann, die weitaus tieferen Konflikte zu überwinden, die unsere globale Zivilisation plagen?

Quelle Youval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert / Verlag C.H.Beck München 2018 (Zitat Seite 211f)

Bildung oder Ausbildung?

Warum denn „oder“? Vielleicht einfach nur „Kompetenz“?

Ich komme darauf, nachdem ich mit viel Zustimmung das Buch von Peter Bieri gelesen hatte, wie üblich mit dem Buntstift, um beim erneuten Blättern die „eigenen“ Ansatzpunkte wiederzufinden. Am Ende schaute ich die Außenseite des Buches schärfer an und konnte mich nicht erinnern, den unterm Titel abgedruckten Satz irgendwo gesehen zu haben.

Ich kenne einiges von ihm, seit ich den Film „Nachtzug nach Lissabon“ gesehen habe und dann erfuhr, dass der Autor des gleichnamigen Buches – Pascal Mercier – niemand anders als Peter Bieri ist. Manches was ich im ZEIT-Archiv von ihm fand, erschien mir auch so wiederlesenswert, dass ich es auf der Bildleiste des Monitors verlinkt habe. (Z.B. „Fühlen, um zu erkennen“ hier.) Aber dieser eine Satz zur Kultur der Stille hat mich unangenehm berührt. Im Text habe ich dann allerdings einen Satz versehentlich mit Fragezeichen gekennzeichnet, der zwar daran erinnerte: hier ging es jedoch nur um hypothetische Bewertungen eigenen Erlebens, nicht um die Andeutung einer persönlichen Präferenz.

Natürlich habe ich nichts gegen die Stille eines Klostergartens, aber ich will kein Lobredner der Stille sein, ohne zugleich anzumerken, dass ich andererseits auch das Getümmel auf belebten Plätzen einer Großstadt genießen kann. Und so bin ich zugleich sehr interessiert an der Rolle, die die Anderen in diesem Buch spielen. Und Bieri spricht eindrucksvoll von dem komplexen Gewebe bedeutungsvoller, sinnstiftender Aktivitäten, das wir Kultur nennen:

Menschen schaffen sich ein solches Gewebe, um sich ihre Beziehung zur Natur, zu den anderen Menschen und zu sich selbst zurechtzulegen. Diese Orientierung betrifft sowohl unsere Gedanken als auch unsere Gefühle, und sie dient uns als Leitfaden des Wollens und Handelns. Das kulturelle Gewebe, in dem Menschen leben, ist weder einheitlich noch unveränderlich. Es kann von Gemeinschaft zu Gemeinschaft sehr unterschiedlich gewoben sein, und es verändert sich über die Zeit. Die kulturelle Identität eines Menschen ist sein Ort in einem solchen Gewebe zu einer bestimmten Zeit.

Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. Es ist dieser Prozeß der Aneignung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.

Quelle Peter Bieri: Wie wollen wir leben? Residenz Verlag St.Pölten / Salzburg 2011 (S.61f)

Im Anhang mit Literaturhinweisen verweist der Autor auf seinen Essay Wie wäre es gebildet zu sein? In: H.-U. Lessing/V.Steenblock (Hg.), „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht“ etc. und sagt: „Ich zeige dort, daß Bildung etwas ganz anderes ist als Ausbildung.

Das verstehe ich, aber es fordert einen leisen Widerspruch heraus, der sich vielleicht während der Lektüre dieses Buches unterschwellig verschärft hat. Erkennbar (oder von mir heimlich unterstellt) die Neigung zur Isolierung des Eigenen (einer Beschränkung auf den engeren Umkreis, in den alles Äußere einbezogen werden soll, nobilitierbar durch einen berühmten Ausspruch von Alexander Humboldt). Die Gefahr habe ich frühzeitig an mir selbst beobachtet: ich glaube, seit meiner Kindheit. Aber das ist Gottseidank heute nicht mein Thema. Ich beobachte Andere. Noch einmal Peter Bieri in einem weiteren Abschnitt aus seinem Buch:

Und nach dem hier entwickelten Verständnis von Bildung genügt es nicht einmal, daß ich mit den Texten, den Bildern und der Musik ganz für mich allein lebe, so daß sich der Verdacht des Demonstrativen oder Angeberischen erübrigt. Die Topoi einer Kultur tragen erst dann zu echter Bildung bei, wenn sie in der Aneignung all der Dinge, von denen ich früher gesprochen habe, eine bestimmende Rolle spielen. Erst wenn meine eigene Sprache durch das Lesen von Literatur reicher, differenzierter und selbständiger wird, ist etwas im Sinne der Bildung mit mir geschehen. Erst wenn meine Beschäftigung mit Traktaten über Vernunft sich in der Organisation des eigenen Denkens und Tuns niederschlägt, war die Lektüre wirklich eine Bildungserfahrung. [a.a.O. Seite 82]

Ich bemerke, wie ein kleines rotes Warnlicht still zu leuchten beginnt, sobald ich in dem ersten Satz über die Wortkombination ganz für mich allein hinausgekommen bin und mich auf das Wort eigen kapriziere. Habe ich nicht Anfang der 60er Jahre mal gedacht, die ideale Situation, ein Solissimo-Werk von Bach  zu spielen, sei : in einer nicht zu großen Kirche, in höchster Konzentration und ohne Publikum? (Aber durchaus nicht „Soli Deo Gloria“,  jedenfalls bin ich mir dessen nicht ganz sicher: mein Gott war damals Mallarmé. Mein Sinn für barocke Rhetorik schwebte im luftleeren Raum.) 

Heute unterschreibe ich die Einsichten, die bei Karl Jaspers zu finden sind:

Die Vernunft wird zum grenzenlosen Kommunikationswillen.

Durch die sichere Geltung eines Gemeinsamen, das in jeden Alltag drang, war bis nah an die Gegenwart ein Zusammenhalt unter den Menschen, der die Kommunikation selten zu einem Problem werden ließ. Man konnte zufrieden sein mit dem Wort: wir können miteinander beten, nicht miteinander reden. Heute, wo wir nicht mehr einmal miteinander beten können, wird erst zu vollem Bewußtsein gebracht, daß das Menschsein an die Rückhaltlosigkeit der Kommunikation zwischen Menschen gebunden ist.

Quelle Karl Jaspers: Der philosophische Glaube / Piper München Zürich 1948, 1974 / Zitat Seite 133

Man sieht, dass es nicht unbedingt eine Frage des Jahrgangs oder des Glücks oder Unglücks der späten Geburt ist.

Die Anregung aber, das Problem der Differenz zwischen Bildung und Ausbildung etwas anders zu sehen als Peter Bieri, kommt aus einer anderen Ecke; dort wird das Wort Kompetenz bevorzugt, das auch von durchaus gebildeten Menschen respektiert wird.

Wer von der eigenen Kompetenz sprich, zeigt auf die Probleme, die er oder sie bearbeitet – nicht auf ein Wissen über die kulturelle Vergangenheit oder ein Potential, das sich möglicherweise in der Zukunft entfalten lässt. Die Rechtfertigung für das eigene Lernen ergibt sich aus dem vorliegenden Problem. Das heißt nicht, dass dieses Lernen nicht die Kulturgeschichte betrifft oder eine Bedeutung für die Zukunft hat – es kann aber darüber nicht legitimiert werden.

Aus diesem Gedankengang lässt sich eine fundamentale Kritik an Bieris Ansatz ableiten. Bieri spricht von einem Gebildeten, der liest, sich aufklärt, sich kennen lernt und so verhindert, dass er Opfer wird. Er wird aber nicht als Mitglied einer Gemeinschaft gedacht, nicht als Teilnehmerin in einem Gespräch, in dem Kritik und Differenzen gelebt werden.

Quelle Philippe Wampfler: „Wie wäre es, kompetent zu sein? – Peter Bieri revisited.“ Abzurufen im Blog des Schweizer Autors: Schule Social Medium und zwar HIER .

Das in diesem Artikel ehemals verlinkte pdf der von Peter Bieri vor rund 12 Jahren gehaltenen Festrede ist leider nicht mehr abzurufen. Aber die Argumentation lässt sich trotzdem nachvollziehen. Näheres über die von Philippe Wampfler genannten Gewährsleute Franz E. Weinert hier , Erpenbeck und Sauter hier , Christoph Schmitt hier , Hermann Giesecke hier .

(Inzwischen haben wir den 6. Dezember 2018, 16:18 Uhr. Ein Tag wie jeder andere.)

 Mittags in WipperaueBlick nach Nesselrath