Kein Pardon für geduldiges Papier

Wie Bach einmal zu sehr lachte und Mozart gar nichts gesagt hat

 Bach BWV 110

Ein Rezensent, der über das Bach-Fest Leipzig schreiben muss, das er als Wettbewerb missversteht, braucht einen Prügelknaben, schon um die Musterschüler besser ins Licht zu setzen. Und sich selbst natürlich. Sein Prügelknabe gehört allerdings zu den großartigsten Bach-Interpreten unserer Zeit, aber was heißt das schon, wenn man glaubt, zu den mächtigsten Schreiberlingen einer sehr sehr großen Zeitung zu gehören?

Es dürfte nur kein fachlicher Fehler passieren, sonst ist die Rolle als redlicher Rezensent, der sich lediglich um die branchenüblichen Übertreibungen bemüht, schnell ausgespielt. Er darf zum Beispiel Triolen nicht mit Sechzehntelbewegungen verwechseln, sonst vermuten die kundigsten Leser/innen, – sagen wir aus dem Umkreis des Münchener Bach-Chores -, dass er nicht einmal Noten lesen kann. Aber es ist leider nicht nur dies, sondern die offenkundig kompensatorische Angebersprache: er ist von manchen Darbietungen dermaßen angewidert, dass er auf der Unterlippe kaut und nach dem Notausgang schielt. Man kann also davon ausgehen, dass dort in Wahrheit brillant gesungen wurde, was dem ad hoc zugeschalteten bösen Blick aber nicht genügen kann: wenn im Eingangschor „Unser Mund sei voll Lachens“ – so wörtlich: – die Zwerchfälle der Sänger in munteren Sechzehntelbewegungen hüpfen und auf dem Vokal „a“ eine Maulsperre einsetzt, der Chor die Zähne bleckt und ins Publikum grinst. Dann sitzt man vor dieser Lachtherapiegruppe, kaut auf der Unterlippe etc etc … kurz: man leidet Qualen unter der singenden Soldateska da vorne…

 SZ 13. Juni 2018 Detail-Scan

Ja, hätte er doch vom Notausgang Gebrauch gemacht; eine solche Kritik kann man schreiben, ohne anwesend zu sein. Und für diese Wortfindungen bedarf es keiner konkreten Beobachtung, sondern nur der branchenüblichen Selbstverliebtheit. Noch zwei, drei Beispiele: „Koopman ist ein Energiebündel, das seinen Tatendrang letztlich vollständig in Klang-Zivilisation umsetzt.“ Meine Güte, war das Wort Klangkultur dem Kritiker schon zu gewöhnlich? Was zwinkert er uns zu? Er will damit sagen, dass er vielleicht noch etwas anderes meint als er sagen kann. Den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation hat man im Deutschen erfunden, um letztere zu kritisieren. Nichts Genaues weiß er nicht, aber ein bisschen Hintergründigkeit kann nicht schaden. „Die weltweit renommiertesten Bach-Dirigenten mit ihren Ensembles (…) sind geladen“, – nicht unbedingt zur höheren Ehre Bachs, in jedem Fall aber „auch in einen Wettstreit um die Gunst des Publikums, vielleicht auch um den Glauben an sich selbst als führende Bach-Apologeten.“ Wie bitte? Den Glauben an sich selbst? Und was sind sie? Was ist denn eine Apologie, was ein Apologet? Und wer steht unter Anklage? Vielleicht spricht der Kritiker unversehens von sich selbst. Da draußen aber herrscht blinde Magie: „Hier kommt der Dirigent ins Spiel, der in vielen Proben und schließlich in der Aufführung selbst jene Magie erzeugen muss, die aus einer anständigen Vorführung eines genialischen Werkes einen Geniestreich herbeizaubert.“

Anständigerweise hieße es: aus der anständigen Vorführung eines genialischen Werkes – worauf dann vielleicht ein anderes Wort für „Geniestreich“ folgen sollte, es sei denn, wir lesen immer noch Bücher wie „Magie des Taktstocks“, die ein kongenialer Worthülsenverbraucher mit der Münchner Muttermilch aufgesogen haben könnte.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 13.06.2018 Seite 10 Vom Größten nur das Beste Der neue Intendant des Leipziger Bachfestes überrascht mit einem glamourös besetzten Kantaten-Ring, der in 18 Stunden durch den Kosmos des Thomaskantors führt / Von Helmut Mauró /

Siehe auch HIER.

Da wir uns mal wieder mit sogenannten Kleinigkeiten aufhalten, bitte ich das wirklich unschätzbare, riesige Musiklexikon MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart, neue Ausgabe) aufzuschlagen, Personenteil Band 8 Gri-Hil, Artikel Heidegger, Autor. Emmerich Hörmann. Was fällt Ihnen auf? Die einzige wichtige Aussage, die der Philosoph zur Musik gemacht hat, geht von Mozart aus. Aber nicht von der Musik, sondern (vom Prestige des Namens… neinnein) von einem Brief, nein, von einem Satz des Briefes, einem Satzteil, einem Wort. Eines Briefes, der den Nachteil hat, dass er mit höchster Wahrscheinlichkeit Mozart nur untergeschoben wurde. Hier ein Detail des MGG-Artikels:

Zum „Überhören“ siehe auch über Furtwänglers „Fernhören“ hier.

 Heinrich Neuhaus

Mir ist der Mozart-Brief damals, als ich von dem Buch des Pianisten und Pädagogen Heinrich Neuhaus so begeistert war (Februar 1981), vielleicht nicht ganz unbekannt gewesen, aber als er mir dann im „Hölderlin“ von Bertaux wiederbegegnet ist, hatte ich wohl noch keine grundsätzlichen Zweifel an der Authentizität, jedenfalls sehe ich im Neuhaus-Text keine Spur eines Fragezeichens. Heute würde ich sagen: der mystizistische Inhalt widerspricht dem pragmatischen Charakter Mozarts derart grundsätzlich, – das ist eine glatte Fälschung, und zwar aus einer Zeit, in der sich romantische Strömungen mit theologischen Erinnerungen an die Gnosis verbanden. Mit Mozarts Zauberflöte und den Ideen der Freimaurerei hatte es wohl kaum zu tun. In den 90er Jahren lernte ich den amerikanischen Musikphilosophen Peter Kivy kennen, nicht ohne seinen Ideen kritisch zu begegnen, aber in diesem Punkt hatte er zweifellos recht. In seinem Buch „The Fine Art of Repetition. Essays in the Philosophy of Music“ (Cambridge University Press 1993) studierte ich mit Vergnügen den Text „Mozart and monotheism: An essay in spurious aesthetics“:

 Peter Kivy (1993)

In einer späteren Fußnote weist Kivy darauf hin, dass schon 1858 Otto Jahn in seiner großen Mozart-Biographie darauf hingewiesen habe, dass der besagte Mozart-Brief unmöglich echt sein könne. Und über J.F.Rochlitz, der den Brief 1815 veröffentlicht hat, habe der Musikwissenschaftler Maynard Solomon jüngst festgestellt: „There is an extensive pattern of fabrication in Rochlitz’s contributions to the Mozart literature that would lead a prudent observer to reject the whole.“ Ich werde den Bericht von Otto Jahn in einem späteren Blog-Artikel vollständig wiedergeben, da er offenbar nicht so bekannt geworden ist wie der vielzitierte, dem Komponisten schlicht untergeschobene Brief. Und es ist kein Zufall, dass im Heideggerschen Umfeld niemand auf die Idee gekommen ist, ihn in Frage zu stellen; er ist so nützlich für eine mystizistische Weltanschauung, und sei es durch den Gebrauch des einen Wortes „Überhören“: ein Zustand, in dem es ihm (Mozart) scheine, er höre die ganze Sinfonie vom Anfang bis zum Ende auf einmal, gleichzeitig, in einem Augenblick! (Sie liegt vor ihm wie ein Apfel auf einer Handfläche.) So formulierte es Heinrich Neuhaus, und er ist überzeugt, „daß ihr eine Wahrheit zugrundeliegt, die Mozartsche Wahrheit, die dem Mozartbild, das sich auf Grund seines Schaffens und seines Lebens bei uns gebildet hat, nicht widerspricht, sondern es bestätigt und in höchstem Grade mit ihm übereinstimmt. Für jeden, der sich ein wenig in der Psychologie des Schaffens auskennt, ist das, wovon Mozart hier spricht, ein Beispiel der höchsten Fähigkeit des menschlichen Geistes, der Fähigkeit, von der in Worten zu sprechen unmöglich ist. Man kann sich nur mit gesenktem Haupt von ihr bezaubern lassen und sie anbeten.“ (Heinrich Neuhaus a.a. O. Seite 40)

Ich glaube, die Sätze haben mich einmal sehr beeindruckt, und das Neuhaus-Buch ist immer noch eine große Inspiration für mich. Aber von diesen Ideen, über die sich Zelter und Goethe positiv äußerten,  muss man sich – Mozart zuliebe – ganz einfach verabschieden, nach dem Motto: auch große Geister irren! Die Wahrheit jedenfalls ist, dass Mozart nichts dergleichen gesagt oder in Worten niedergeschrieben hat. Und gerade durch das Anbeten kommt man in diesem Fall zu falschen Folgerungen, die – wenn wir Kivy glauben können –  vom Gottesbild jener Zeit 1:1 auf den Künstlergott übertragen wurden.

Quelle Peter Kivy: The Fine Art of Repetition. Essays in the Philosophy of Music / Cambridge University Press 1993 / darin Chapter X (Seite 189-199) „Mozart and monotheism: An essay in spurious aesthetics“.