Was das Dritte Brandenburgische in meinem Leben bedeutete, habe ich einmal beschrieben, als ich mich in einem Vortrag an den Cembalisten Fritz Neumeyer erinnerte:
Für mich begann eine neue Dimension, als ich Albert Schweitzers Bach-Buch aus der Stadtbücherei entlieh, wodurch die Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach im Handumdrehen entthront war. Ich hörte vom Bach-Bogen, den ich glaubte eines Tages besitzen zu müssen, wenn ich die Solosonaten ordentlich spielen wollte. (Ein Mythos, den Schering und Schweitzer aufgebracht haben.) Und irgendwann hörte ich eine Aufnahme mit Emil Telmanyi, der einen sogenannten Bach-Bogen verwendete, und dachte: so möchte ich nie spielen. Dann begeisterte mich eine Aufnahme des dritten Brandenburgischen Konzertes, ganz besonders der Mittelsatz, da wusste ich noch nicht, dass es den gar nicht gibt: Bach hat ja zwischen die beiden schnellen Sätze nur eine Überleitung von zwei Akkorden geschrieben, die man – so glaubte man – zu einer kleinen Kadenz erweitern kann. Und hier hörte ich nun eine riesige Cembalo-Kadenz, hochromantisch, wie ich fand, gewaltigster Bach, dachte ich, – aber es war – Eduard Müller aus Basel (siehe hier). Jahrzehnte habe ich geglaubt, es müsse Fritz Neumeyer gewesen sein, aber aufgrund der modernen Internetrecherche kann ich mit Bestimmtheit sagen: es war die Archiv-Produktion Februar 1954, Schola Cantorum Basiliensis, Leitung August Wenzinger, und auf dem Cover stand sogar: Cembalo-Kadenz Eduard Müller, aber das besagte für mich nichts, – er war halt der Interpret. (Zu seinen Schülern gehörte übrigens Gustav Leonhardt.) Jedenfalls hörte ich zum erstenmal ein Cembalo, das mir gefiel. Vermutlich habe ich den Klang des Cembalos beim damaligen Stand unserer Wiedergabetechnik gar nicht recht beurteilen können, mir hat die ungewöhnliche Machart gefallen, der Ausbruch aus dem barocken Schema. Vielleicht das, was man später Agogik nannte. Ich habe die Aufnahme wieder aufgetrieben und werde dies Beispiel nachher noch anspielen. Wenn man rückblickend feststellen will, was eigentlich revolutionär war an der Aufführungspraxis alter Musik, wie sie seit den 30er Jahren umgesetzt wurde, war es vor allem der Klangkörper, nicht die Spielart, am auffälligsten bei den Cembali und später bei den Hammerflügeln. Das Verteufelte war: es gab ja dem Namen nach jede Menge Cembali, sogar in jedem Theater, aber nur solche der Firma Neupert, und die waren dem modernen Klavierbau angepasst. Und allgemein war man wohl der Ansicht, „der typische Cembaloklang offenbare sich vor allem in der klanglichen Differenzierung durch die verschiedenen Registrierungsmöglichkeiten“. (Gutknecht S.128). Was ein Irrtum war.
Die Partitur kannte ich noch nicht, ich begann ja erst zu sammeln, wie die folgende Titelseite zeigt; wiederum war es die Cembalo-Kadenz (des ersten Satzes) , die mich in ihrem schieren Ausmaß zum Staunen brachte, und sie stammte zweifellos von Bach selbst.
Ein weiteres Zeugnis stammt aus der Zeit um 1963, während des Schulmusikstudiums in Köln: die Frau meines Freundes Klaus Giersch hat mir ihre 1959 erworbene Partitur überlassen, damit ich die Redeteile darin kennzeichne: den Analysetext habe ich einer Vorlage entnommen, deren Quelle ich nicht mehr weiß. Hilfreich immer noch, frühzeitig bezog sich auch Goebel sich auf diese inzwischen recht bekannte barocke Formbildung bezieht, ich nahm sie ganz ernst seit Harnoncourts Buch „Musik als Klangrede“ (1983); prompt möchte ich meine Einzeichnungen zeitlich relativieren; ich fühlte mich erst auf sicherem Boden, seit ich von Jacobus Kloppers „Die Interpretation und Wiedergabe der Orgelwerke Bachs“ gelesen hatte (Frankfurt a.M.1966) . – [Am Anfang ist die Angabe: „1-8 Exordium“ verdeckt.] Es empfiehlt, die Noten mit den analytischen Bemerkungen zu der recht gemütlichen Youtube-Aufnahme mitzulesen, die um 1966 mit dem Collegium Aureum entstand, Leitung Franzjosef Maier (der mein Lehrer war, übrigens auch der von Reinhard Goebel, welcher zwei Jahrzehnte später für eine Präferenzaufnahme sorgte, die zumindest tempomäßig alles Vorherige in den Schatten stellte).
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2003 kam ein neuer Schub durch Peter Schleuning, der mir wichtig war durch die Monographie über die „Kunst der Fuge“ (1993). Jetzt wundert es mich, wie sein Buch über die „Brandenburgischen Konzerte“ von Unsicherheiten geprägt ist, speziell über die Semantik des Dritten. Keine 9 Musen treten auf, so bleibt manches an Bachs Schreibweise rätselhaft (3 fast identische Bass-Stimmen in der Partitur notengetreu ausgeschrieben – fürs Auge des „musischen“ Markgrafen). In der historischen Einordnung stimmt er bereits (nach Elmar Budde, Heinrich Besseler und Martin Geck !) mit Goebels Ansicht überein, dass es sich um so etwas wie einen Abgesang auf die italienische und deutsche Ensemblemusik des 17. Jahrhunderts handelt. Wobei Goebel noch weitere Namen in Betracht zieht und vor allem ein Werk, das Bach seit Jugendzeiten kennt: Canon & Gigue von Pachelbel.
P.Schleuning (2003) Goebel (2023)
Reinhard Goebels Buch wächst einem ans Herz, wo sich Gelehrsamkeit mit Begeisterung mischt. Selbst wenn man das Wort Noema noch nie gehört hat (siehe hier).
Die einzigartige Geschlossenheit des Concerto III, die sich dem Hörer insonderheit dann erschließt, wenn die Tempogleichheit [Anm.: Aus Vierteln werden punktierte Viertel. Der Schlag bleibt im Tempo gleich, die Bewegung innerhalb des Schlages ändert sich, wird schneller.] beider Sätze realisiert wird, ist letztlich die Folge der ständigen Rückbesinnung und Bezugnahme auf die überschaubare Menge der Einzelmotive des Exordiums und der Narratio und ihrer Verarbeitung in Noema, Kanon, sowie verschiedenen Arten von Divisio.
Dabei beziehen sich größere Formteile aufeinander, wie z.B. im ersten Satz das „nachgeholte“ Solo der driten Violine, welches Bach im vorderen Satzteil, wo es nach den Soli von erster Violin (Takt 47) und zweiter Violine (Takt 51) hätte erscheinen müssen/können/sollen, ausgespart hat, um uns Takte 67 augenzwinkernd mitzuteilen: „Nein. ich habe die dritte Violine nicht vergessen: Voilà!“
Einen ähnlichen Scherz hören wir im ersten Satz auch in der Confutatio Takt 78, deren aus den Hauptmotiven entwickelte Oberstimmen mit dem aus Takt 5 stammenden stufenweise gehenden Bass – eben dem Widerspruch zur ansonsten omnipräsenten Dreiklangsbrechung – unterlegt sind. Pflichtgemäß, aber in der sich anbahnenden Catastrophe kaum noch hörbar – hat man sie nicht längst vergessen? – meldet sich in Takt 86 die dritte Violine unisono mit dem Soggetto der Confutatio zu Wort, bevor ab der Mitte von Takt 87 dann die ereignisreichsten Takte des Satzes vom forte in dreimaligen Abstieg (absteigend und insofern decrescendierend) in ein piano begleitetes Solo der ersten Violin zu diffundieren beginnen.
[JR: Takt 78 siehe in der hier wiedergegebenen Partitur oben s. ab Seite 14 (Blatt 8)]
Bewundert man am ersten Satz die grandiose Erfindungsgabe und die diffizile Kleinarbeit in der Verteilung auf die drei Instrumentengruppen, so lebt der vergleichsweise ereignisarme Schluss-Satz von der generösen Zusammenfassung großer Ereignis-Felder im vor allem richtigen Tempo.
Quelle Reinhard Goebel: a.a.O. Seite 73 f , s.a. hier
Die Vorstellung vom richtigen Tempo, den beiden Akkorden statt des langsamen Satzes, von der präzisen Tempo-Relation zwischen den beiden schnellen Sätzen hatte Reinhard Goebel in seiner Aufnahme dieses Concertos für die Gesamt-CD der Brandenburgischen Konzerte 1986 in atemberaubender Weise realisiert. Und es lohnt sich auch, seine damalige Auffassung von Bach-Interpretation im Booklet nachzulesen:
Die Aufnahme von damals ist als CD dem Buch beigefügt (allerdings ohne die C-dur-Suite, bei der ich mitwirken durfte…), hier ist die alte Liste der Tracks und der Mitwirkenden:
und das CD-Cover:
Für mich gehört diese „alte“, nicht alternde Produktion ebenso wie das aktuelle Buch von Reinhard Goebel zu den Meilensteinen der Alte-Musik-Renaissance unserer Zeit. Dem unerhörten, ewig jungen Bach zweifellos angemessen.
Gleichwohl liebe ich das abschließende, irgendwie auch wieder historisch relativierende Resümee des Kapitels vom Brandenburgischen Konzert Nr. III:
Letztlich aber ist das Concerto III auch und vor allem ein Musée sentimental, Bachs später Gruß zurück ins 17. Jahrhundert und zusammen mit dem Concerto VI sein Abschied von den Klängen der Ensemblemusik seiner Kindheit und seiner Adoleszenz. Es ist der im 18. Jahrhundert nachgelieferte Zenit, das Summum opus aus der Kunst eines David Pohle, Johann Pezel, Johann Pachelbel, eines Dieterich Buxtehude und eines Heinrich Ignaz Franz Biber.
Man glaubt es nicht, wenn man das Herren-Ensemble in Perücken auf dem Gemälde betrachtet. Aber es hat keinerlei Beweiskraft. So ist der virulente Faktor Moderne nicht auszuschalten…
Man sollte aber diese CD besitzen, nicht nur um die hinreißende Musik zu hören, sondern auch um den klugen Text zu lesen. Reinhard Goebels besonderer Blick auf das herrliche Instrument fasziniert, – auch wenn man durch den medialen Abstand ohnehin immunisiert ist gegen eine Fetischisierung der bloßen Klang-Eigenschaften. Es ist die alte Geschichte: warum gerade dieses Instrument (und nicht etwa die Gambe), warum wird man des neutraleren Charakters nicht überdrüssig und verlangt nach anderen Mischungen?
Ich könnte ein Loblied singen auf den sehnsüchtigen Klang der Hörner, auf die melancholische Kantilene der Klarinette, auf die rührende Unschuld der Oboe, – aber etwas Schwärmerisches über den Geigenton??? Ich denke an Kolisch und sein spöttisches Wort über „die Religion der Streicher“, an das nervende Dauer-Vibrato , und an das mickrige Pizzicato und sonstwas, ich höre Leute verzückt vom Cello reden, vom Zauber der Bratsche, die sie dann auch lieber Viola nennen. Nein, ich übertreibe: aber wenn es um die Geige geht, rede ich von Musik: vom „Adagio molto e mesto“ aus Beethovens op. 59 Nr.1, vom Siciliano einer Bach-Solosonate, vom Anfang des Sibelius-Konzertes.
Ja, aber dann gibt es auch noch Janine Jansen mit den 12 Stradivaris. Da ändert man leichtfüßig die Meinung und achtet geduldig auf den Unterschied der Klangfarben und der Saitenübergänge.
Ach, ist es möglich, dass ich im Begriff bin, mich peinlich zu wiederholen? Dann will ich lieber nur nachlesen, welcher Meinung ich wirklich bin: hier.
Dann hätte ich aber auch noch ein anderes Beispiel, von dem ich weiß, dass mich beim Hören der reine Geigenklang begeistert hat. Es mag auch an der genial-idiomatischen Schreibweise des Geigers Eugène Ysaÿe legen, ebenso an der bestechenden Technik und Musikalität der beiden Interpretinnen, in meinem Fall kommt die Erinnerung an den Lehrer Wolfgang Marschner hinzu, dessen Unterricht ich 1961/62 genoss: seine suggestive Art, eine französische Spielweise als Ideal zu vermitteln: eine gewisse Glätte und Eleganz, die er unnachahmlich etwa an der „Havanaise“ von Saint-Saëns exemplifizierte, während er sie bei Bachs Solo-Partiten selbst völlig vermissen ließ. Und ich glaube ihm aufs Wort, wenn er von dieser Aufnahme meint:
Das Violinduo Penny-Starkloff setzt die Tradition und Verkörperung eines besonderen Klangbildes gepaarter Violinen nicht nur fort, sondern belebt es in exzellenter Weise. Dies war der Hauptanreiz für mich, für diese Kombination meine „Sinfonischen Variationen“ zu schreiben.
Bezaubernd „französisch“ sind seine Bagatellen für zwei Violinen, – aber natürlich ist es eher die fast 30minütige Sonate von Eugène Ysaÿe, an deren Klangbild ich mich nicht satthören kann. Es ist nämlich nicht nur das Klangbild – diese beiden (mir unbekannten) Geigerinnen spielen einfach unglaublich gut. Wenn ich die Aufnahme beim Blindhören einordnen müsste, würde ich sagen: Weltklasse! Marschner muss ein guter Lehrer gewesen sein!
Man merkt wohl, dass mein Lob der größeren Marschner-Komposition, die er „Sinfonische Variationen“ nennt, irgendwie nicht rüberkommen will.
Stimmt, ähnlich wie er es damals mit mir gehalten hat, als er merkte, dass ich „die Karten meines Lebens“ nicht vollständig auf das Geigenspiel setzen mochte, sondern dass mir nebenbei noch andere Ziele vorschwebten, etwa: mehr Bach und Alte Musik und schließlich auch arabische und indische Musik – dass ich z.B. ihm, dem Pädagogen Marschner, nicht nach Freiburg folgen wollte, als er dorthin berufen wurde. Seine etwas zurückhaltend verklausulierte Beurteilung sollte ja eigentlich nur dazu dienen, dass die Firma Oetker in Bielefeld mein Musikstudium weiterhin mit monatlich 230.- DM unterstützte. Während er mir abschließend nochmal seine Meinung „geigen“ wollte… Es reichte allerdings auch so:
Nicht immer verlaufen Geiger-Sympathien so früh im Sande, – kaum zu glauben, fast genau 60 Jahre später: die neueste CD von RG kommt wie eh und je auf dem geradesten Weg:
DANKE, so ist es uns recht, scherzando aus Solingen, Dein JR
Endlich besitze ich den Spitta, den Beginn der großen Bach-Forschung, zwei gewaltige Bände à 800 + 1000 Seiten. Und da ich gerade auf Heineken gekommen war, schaue ich, was es dort darüber zu lesen gibt. Zu Anfang des Kapitels CÖTHEN, Band I, Viertes Buch, Seite 613:
in Rom also traf Fürst Leopold auf den Komponisten Heinichen, der später in Dresden wirkte. Als stiller Konkurrent von Bach? Findet man etwas darüber in Wikipedia, hier? Immerhin… Aber wo habe ich kürzlich etwas über sein gelehrtes Hauptwerk gelesen, das Bach gut studiert haben soll?
„Musik & Ästhetik“ – Ich muss später darauf zurückkommen, aber es ist (für mich) sensationell, wie hier die Fäden zusammenlaufen. Genau dieses Werk von Heinichen besitze ich seit wenigen Tagen, ein Original, so wie es Bach vor Augen und in Händen gehabt haben könnte:
Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wo sind Reinhard Goebels CDs? Ich muss sie aufs neue hören, tolle Musik, und da gibt es einen Parallel-Satz (hier Tr.1) zu einem Satz der Brandenburgischen Konzerte, Thema Jagd. Ich muss vor allem die Booklet-Texte nachlesen. Wer sonst könnte mir den Komponisten und die Zeit so gegenwärtig machen wie RG?
Scheint die Zumutung zu groß, einen solchen Text wie den hier folgenden zu entziffern? Und wenn er von Bach wäre statt von Heinichen?
Anmerkung (a): Es sei mir erlaubt, hier eine Frage einzuwerfen, nämlich woher es komme, dass es zur Zeit in unserm Land so viele übermäßige Kontroversen, soviel Widerspruch, soviel Diskussion zwischen den alten und neuen Komponisten gibt? Antwort: die häufigste (um nicht zu sagen: einzige) Ursache ist, dass sich beide Teile um das Hauptprinzip, worauf alles in der Musik ankommt, nicht einigen können, – ob nämlich die Musik und ihre Regeln nach dem Gehör oder nach der sogenannten Vernunft eingerichtet sein sollten. Die Alten halten es mehr mit der Vernunft, die Neuen aber mit dem Gehör. Und weil also beide Parteien in den ersten Fundamenten nicht einig sind, kann es nicht ausbleiben, dass die aus zwei konträren Prinzipien gemachten Schlüsse und Konsequenzen ebensoviele untergeordnete Kontroversen und tausend genau entgegengesetzte Konsequenzen gebähren. Bekanntlich haben die Alten sich zwei Richter in der Musik gewählt: Ratio und Auditum (Verstand und Gehör). Die Wahl wäre richtig, weil sie beide unentbehrlich sind. Jedoch wegen des jeweiligen Anteils dieser beiden Kommandanten wollen die heutigen Zeiten mit den vergangenen nicht mehr übereinstimmen, und das Altertum wird hierin zweier Fehler beschuldigt.
Mein erster Versuch in O-Ton Heinichen… lesen Sie doch bitte selbst weiter. ⇑
Nietzsches Buchtitel wird vom Journalismus gern beschworen, wenn es darum geht, die präzise gedachten Wörter- und Satzfolgen mit einer gewissen Leichtigkeit zu versehen, was durchaus von Flapsigkeit zu unterscheiden ist. Andere bleiben einfach bei dem Grundsatz: seriöse Forschung muss auch in einem ruhigen Ton vorgetragen werden, der Vertrauen schafft und auch Zweifler zum Mitdenken ermuntert. Goebel gehört zu den letzteren, wenn auch von einem sanguinischen Temperament angetrieben. Es ist immer auch amüsant ihm zuzuhören.
Ganz anders sieht es aus, wenn der leichte, kommunikative Spiritus nicht durch fundiertes Wissen gesteuert wird. Das Buch von Klaus Eidam ist schon 20 Jahre alt, hat aber unnützerweise die Leistung echter Wissenschaftler – passend zur Coronazeit – fragwürdig gemacht. Es beginnt mit dem ehrenwerten Hermann Keller, – und man tut gut daran, jedes einzelne Faktum zu überprüfen, kaum jemand kommt ungeschoren davon. Hier können Sie üben: beginnen Sie vielleicht mit dem zuletzt genannten Thema B-A-C-H, transponieren Sie es „zwei Ganztöne nach oben“, dann haben Sie D-CIS-E-DIS.
Gesegneter Absch(l)uss ins All:
Joachim Ernst Berendt? Ein Dilettant auch er. Ich habe keine Lust mehr, mich mit seinen Gedanken zur Harmonie der Welt oder zur Musikästhetik von Kürbissen und Petunien auseinanderzusetzen. Mir genügt unsere verbale Begegnung vor rund 30 Jahren: hier (Gegen „Nada Brahma“).
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Zurück zum Thema B-A-C-H: Wie beginnt die cis-Moll-Fuge denn wirklich? CIS-HIS-E-DIS (-CIS). Vielleicht meinte der Besserwisser anderthalbTöne, so dass sie tatsächlich mit CIS bzw. DES begänne, – dann wäre es eben DES-C-ES-D bzw. CIS-HIS-DIS-CISIS. Und nun schauen Sie bei Keller nach (Seite 53), wie sorgfältig er mit dem Thema umgeht, das – nebenbei – wahrhaftig nicht aus 4, sondern aus 5 Tönen besteht. Die aber haben nichts mit B-A-C-H oder seiner Transposition zu tun. (A propos Keller: noch eine sehr nützliche Lektüre, obschon etwas alt…)
Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel 1965 / sen letztes großes Werk, sein erstes: Die musikalische Artikulation / insbesondere bei Bach / Stuttgart 1925
Des weiteren zur Lektüre empfohlen:
Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel 1998
Seit wann kennen wir uns? Ich habe das vor rund 15 Jahren schon einmal reflektiert, allerdings so, dass er sagte: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“. Es war ein Scherz, denn er wusste durchaus, wie ichs meine. Allerdings habe ich mich auch an ein Bilderbuch meiner Kindheit erinnert, das mich mit folgender Maxime erschreckte: Ruhe recht und schone niemand! Und heute erhielt ich die Mail eines Kommilitonen von einst, der in die gestrige Klassikforum-Sendung in WDR3 mit Reinhard Goebel hineingehört hat: „Er plauderte über Gott und Harnoncourt und auch die Welt, ließ aber an anderen kaum ein gutes Haar.“ Wie unterschiedlich doch die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Mir fiel auf, wie liebevoll Goebel immer wieder über seine Lehrer sprach (Franzjosef Maier, Igor Ozim oder Marie Leonhardt zum Beispiel) und wie hart zuweilen über sich selbst (über sein spätes Violin-Examen in Rostock, über die Takt-Schwerpunkte in seiner alten Aufnahme des Pachelbel-Kanons, die gleichwohl als kritisches Gegenstück zu der Version mit Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Orchester auf Anhieb begeistern konnte). Wie auch immer man seine Arbeit und seinen Lebensweg betrachtet: er ist ein Phänomen sondergleichen.
Aus dem JR-Beitrag 2005 (vollständiger Text siehe hier):
Mehr über Reinhard Goebel hier (Wikipedia) und hier (Website) und eher privat:
Bücherwände allüberall!
Aber dort…
… stehen zwei Bände, die ich auch habe.
Immerhin!
Reinhard Goebel: Beethovens Welt (ohne Beethoven) siehe hier
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Daumen drauf: 19. Jahrhundert er ist ein Frauenversteher unentwegt „präsent“
Was mir aus den Gesprächen im Moment besonders festhaltenswert erscheint, also: über das hinaus, was RG schon in dem GersteinTelekolleg über die Brandenburgischen Konzerte ausgeführt hatte, seine Charakteristik der Concertos: I die Jagd HÖRNER, II der Ruhm TROMPETE, III die Musen: Instrumente in DREIERGRUPPEN, IV der Friedensfürst FLÖTEN, V der Kriegsherr 16tel-REPETITION, VI die schöne Aussicht aufs Jenseits GAMBEN: all das gilt nur für den jeweils ersten Satz.
Wer ist wer? Es gibt keine Langeweile. Der weite Himmel über Siegen!
Alle Fotos: E.Reichow
Und etwas Ähnliches in live und lebendig? Hier:
Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal bei der Erinnerung an die Phantasiewelt meiner frühen Kindheit auch an das VI. Brandenburgische Konzert von Bach denken würde:
JR 1945 (?) Waldemar Bonsels 1940 (Siehe Bio hier!!!)
Zunächst einmal ist es ein Lesefest, – wenn doch alle CD-Produzenten das wüssten, erst recht die anderen, die lediglich streamen: es kommt wirklich auf die verbale Vermittlung an. Musik ist nicht nur Klang, sondern auch Wissen! Oder haben Sie sich schon immer danach gesehnt, mal wieder Mozarts „Kleine Nachtmusik“ zu hören? Gehören Sie wirklich zu den stumpfen Genießern, die unbedingt vorgesetzt bekommen wollen, was sie schon immer gegessen haben. Und möglichst immer mit den ermunternden Worten. „Wohl bekomm’s!“, und dann haben sie plötzlich bemerkt, dass der Magen revoltiert, aber aus psychischen Gründen!? Wieso nicht??? Sonst berufen sie sich doch immer aufs Bauchgefühl! Aber wichtig wäre die Erfahrung: dieses gerade ist nicht soviel wert. Hören Sie mit denkenden Ohren, Ohren, deren Hörvermögen durchaus mit Lesestoff angereichert ist, Stoff, den Sie vergessen dürfen, ja, der seinen Dienst getan hat, wenn Sie wacheren Sinnes hören, was Sie seit Jahrzehnten zu kennen glaubten. Darum geht es, nur darum!
Was ich hier als Blogger tue – und Sie werden es mir danken, auch wenn Sie die CD bereits besitzen – ich versuche nur, das Lesenswerte zuerst mal recht sichtbar zu machen. Es ist zu klein und zu farblos gedruckt. Klicken Sie drauf, und dann nochmal mit dem Pluszeichen! Nichts soll den Lesefluss zu hemmen. Und auch die Kritikfähigkeit wird angeregt, warum nicht?
Wenn sich bei den letzten Worten Widerspruch regt, lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, ich denke an Konrad Burr zurück und meine, dass unsere Orgelwalzenfassung damals ernster klang, zumal er ja – und der Gedanke lag nah: warum nicht ich ebenso – real vom Tode bedroht war? Ich wollte wissen, was es mit dieser Trauer auf sich hatte und ruhte nicht, bis ich mehr wusste, und sei es noch so läppisch, – meinetwegen ist es nur ein Stilübung, „oh yes, we can“ – wenn sie so ans Herz greift, ist sie mir lieber als jeder authentische Jammer, siehe hier. Ich muss die Orgel im Sinn haben, und meinetwegen auch die kleinen Playmobil-Figuren, General Laudon und die Spieluhr, oder auch den letzten Countdown mit Clint Eastwood, wenn ich die Orchesterfassung höre. Und die Wirkung ist unberechenbar.
Wie? Sie hatten etwas anderes erwartet? Nie Gehörtes? Unerhörtes? Fangen Sie doch anders an, etwa inmitten der Kleinen Nachtmusik mit der Romance (Tr.9), so haben sie das Stück garantiert noch nie gehört. (Lesen Sie dazu Goebels Ausführungen: kein Tempowechsel für den Mittelteil!) Und dann gleich davor, das Menuett, das haben Sie wahrscheinlich noch nie gehört, weder so noch anders, und damit können Sie demnächst bei jeder Schulmusik-Party Aufsehen erregen. Es ist nicht mal von Mozart und hat dennoch einen plausiblen Platz in seinem berühmtesten Werk. (Quizfrage: Wieviel Sätze hat die „Kleine Nachtmusik“ zu haben? Vier? Vonwegen! Aber ein Menuett mehr oder weniger sagt etwas über den Divertimento-Charakter aus, über die Stringenz des Werkes im späteren Sinn. )
Es handelt sich also nicht darum, die Kritikfähigkeit auszuschalten. Zum Beispiel, dass man auch nicht sklavisch darauf besteht, alte Spieltechniken zu imitieren, nur weil sie damals en vogue waren. Vielleicht gibt es auch solche, die sich abnutzen und anders pointiert werden dürften? Für mich ist es ganz ungewohnt, den letzten Satz der Kleinen Nachtmusik nicht presto zu erleben, sondern allegro (wie es drübersteht), und z.B. die Viertelnoten nach dem Auftakt (und auch sonst) nicht kurz und knackig, sondern weich artikuliert zu hören. Und angenommen, ein Menuett-Tempo ändert sich im Laufe eines Komponistenlebens, – wäre ich verpflichtet zu untersuchen, in welchem Jahrzehnt ein Quartettsatz entstand und danach das Tempo des Menuetts zu wählen? Wir dürften den damaligen Wandel zur Kenntnis nehmen, ohne verpflichtet zu sein, uns ihm quasi synchron anzuverwandeln. Uns geht die Geschichte an, aber es ist nicht die unsere.
À propos: das neue Heft ist da
Und sehen Sie auch Details daraus:
Weiteres zu Clement/Goebel auch hier. Zu Sciarrino/Nono/Heidelberg hier. Zu Damir Imamovic hier .
Und was das mit Peter Schleuning und Bach zu tun hat
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Man höre diesen Satz aus dem Brandenburgischen Konzert Nr. 1 hier . Das Bild habe ich aus freien Stücken hinzugefügt (Vom teutschen Jäger 1749). Heutzutage ist es schwer zu verstehen, weshalb die Identifikation mit dem Opfer, das dem Lamm oder dem leidenden Jesus zum Verwechseln nahekommt, nicht unmittelbar zu dessen imaginärer Verschonung führt. Oder genügt es, sich die Auflösung des Dilemmas zu denken?? Es gibt keine Bösen wie in der Passion. Stattdessen gehen WIR „mitleidlos“ weiter mit der Vorstellungswelt JAGD, und das heißt: Höfischer Festtag, Freude, Genuss, Triumph. Man kann nur folgern, dass in jener Welt der hier abgebildete Tod (der Jammer, der Schmerz des ANDEREN) zur Vollkommenheit der „Party“ gehört. Zur Machtvollkommenheit des Fürsten. (Ein Zyniker sagte: „Es genügt nicht reich zu sein, – die andern müssen auch arm sein!“) August der Starke schoss vom Fenster aus einen Dachdecker vom Dach, um seiner Geliebten ein lustiges Spektakel zu bieten.
Peter Schleuning hat als Musiker vielleicht erstmals den Gehalt dieses Bachschen Satzes innerhalb der großen Jagdmusik problematisiert bzw. historisch „eingebettet“. Ich versuche, das auf meine Weise nachzuvollziehen.
Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bach Die Brandenburgischen Konzerte / Bärenreiter Kassel Basel etc. 2003 (Seite 44f)
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Zur Psychologie des Jagens (Eine Frau über den Moment des Todesschusses)
Plötzlich sehe ich eine erneute Bewegung. Ein Hirsch zieht diesmal auf selber Höhe, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick durch mein Glas, und mir ist sofort klar: Er ist es! Um nicht auch diese Gelegenheit ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen, nehme ich diesmal meine Waffe auf und erkenne durchs Zielfernrohr, dass die Körpermasse eindeutig nach vorne verlagert ist und somit alle Kriterien auf einen wirklich reifen Hirsch schließen lassen. Als der Hirsch kurz verhofft, lasse ich die .30-06-Evolution fliegen und bin erstaunt, wie ruhig dieser Vorgang verläuft. Weniger beruhigend ist, dass der Hirsch nicht zeichnet und im leichten Troll davonzieht. Erlöst bin ich dann doch, als ich den Hirsch nach einer kurzen Flucht von etwa 50 Metern zusammenbrechen sehe.
Es begann mit dem Öffnen des Wildgeheges. Etwa 800 Hirsche, Rehe und Wildschweine rannten nun ahnungslos unter den Bögen hindurch und stürzten eine steile Böschung hinab in den durch eine Hecke verdeckten See.
„Das Gewild kame durch die bey obbemeldten Castellen besonders zubereitete Schwibbögen und verschiedene wohlausgezierte Öffnungen haufenweise heraus, und wurde daselbst von einer Höhe zu 14 Schuh in das Wasser herab gesprengt, und alsbald unter währendem Schwimmen, aus dem Schirm heraus von anwesenden Hohen Herrschaften und anderen Hohen Personen geschossen.
Die Hohe Jagd-Gesellschaft fande hiebey das gewünschteste Vergnügen.Sie ergötzen Sich bald an den artigen Erfindungen und Einrichtungen dieses Jagens: bald über das herunterburzeln des Gewilds von dem darzu gemachten Absprung: bald über das ängstlich – und doch vergebliche Fliehen desselben. Die Zuschauer aber, deren von nahen und fernen Orten viele tausend gezehlet werden konnten, bemerkten solche Seltenheiten, die sie in beständiger Verwunderung unterhielten.“
Bis zum Abend erlegte die Festgesellschaft etwa 400 Tiere. Das überlebende Wild wurde wieder in die Freiheit entlassen. Den krönenden Abschluss bildete ein großartiges Festbankett im Schloß zu Ludwigsburg.
Uns ist heute gänzlich unverständlich, daß das massenhafte Abschlachten von Tieren als Vergnügen empfunden wurde. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Menschen des Barockzeitalters ein anderes Verhältnis zur Jagd hatten. Die Jagd war kein Sport im heutigen Sinn, sondern eine wichtige Lustbarkeit des Hofes. Absolute Herrschaft wurde öffentlich demonstriert. Vorgeführt werden sollte das Beherrschen der Natur, die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, der Wildreichtum des Landes und das alleinige Besitzrecht an den wilden Tieren.
Quelle Herma Klar: Das große fürstliche Hirschwasserjagen im Leonberger Forst 1748 / Höfische Jagd und bäuerliche Not https://zeitreise-bb.de/jagd-4/ hier
Macht und Triumph
Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Verlag Frankfurt am Main 1980,1982
Warum den Stier töten: aus Stolz?
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Suzuki: ZEN und der Moment des Satori, – Spiritualisierung des Stiertötens?
Quelle Daisetz Teitaro Suzuki: Zen und die Kultur Japans / Rowohlt Hamburg 1958
(Fortsetzung folgt)
Ich versuche, diese Notizen und Kopien vorzulegen, ehe Reinhard Goebel den zweiten Teil seines Online-Kollegs zu den Brandenburgischen Konzerten über die Bühne bringt. (7.4.21 ab 18.00 Uhr), um danach eventuell zu ergänzen, was in meinen – eher soziopsychologischen – Zusammenhang passt. Soweit ich mich erinnere, kam zum Adagio in diesem Sinn eine Bemerkung über „Hofkritik“ an der Jagd, „inhuman“, „unchristlich“. Mehr über Violino piccolo. (JR Idee: Kannte Bach Vivaldis „Jahreszeiten“, ist darin nicht auch die Solo-Violine das Abbild des fliehenden Wildes? die schöne, jedenfalls pittoreske Hatz in den Tod…)
⇐ letzte Zeilen!
Languida di fuggir mà oppressa muore
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Die schlimmsten Beispiele dafür, dass „Jagen“ (Abschießen) den Menschen (Männern?) Spaß macht, zitiere ich nicht. Sie stehen in dem Buch SOLDATEN von Sönke Neitzel und Harald Welzer (S. Fischer Frankfurt am Main 2011).
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Reinhard Goebel live
Eine spannende Dreistundenstrecke – vorausgesetzt, man kannte die Werke schon recht gut.
Die Notenbeispiele waren nur Sekunden sichtbar, ich saß als Jäger am Anschlag per Screenshot, um sie zur Strecke zu bringen. Die Biber-Fundstücke fand ich sensationell. Im ersten Beispiel (bei dem es Goebel um das Verhältnis Konsonanz und Dissonanz ging) hätte ich noch einen anderen Hinweis hilfreich gefunden: diese Sekundwechsel bedeuten „Hundebellen“. Ich erinnere mich nicht, was mit dem letzten Beispiel (aus BK 1 Adagio) demonstriert wurde. Der Bassgang?
Die zweite Goebel-Online-Session vom 7.4.21 ist auf Youtube abrufbar: (das zuletzt gegebene Goebel-Beispiel + Erläuterung siehe im folgenden bei 49:48, jetzt alles o.k.!) RG plädiert dafür, den Satz als „Hofkritik“ (1721) zu verstehen. Schon damals war das Meinungsspektrum über die Jagd gespalten. Unmöglich auch, diesen (in der Intonation) unerhört schwierigen Satz als Einleitung zu einer Kantate wie „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“ (1713) auch nur zu denken.
Bach Brdg. Conc. Widmung unterschrieben 24. März 1721 Kapellmeister in Köthen, der Hof dort kalvinistisch, B. hatte keine Sakralmusik zu schreiben, Konzerte etwa eins pro Woche, donnerstags morgens, keine Kantaten außer weltliche für Veranstaltungen des Hofes. Geburtstagskantaten, Hochzeitskantaten, nicht oft, vielleicht 1 pro Jahr z. Namenstag des Fürsten, was bedeutet: Bach hatte viel Zeit. Anders als vorher in Weimar, wo er Organist und Konzertmeister war und als Komponist 1 mal pro Monat eine weltliche Kantate abzuliefern hatte. Er konnte tun, was ihn wirklich interessierte, so war Köthen die Zeit der großen Zyklen, das Wohltemperierte Klavier, die Sonatas für Violine Solo, die Sonaten für Violine und Cembalo, und die Brandenburgischen. Diese sind das einzige, was von seiner Hofmusik in Köthen übriggeblieben ist, weil nämlich – ähnlich wie in Weimar – alles verloren ging, als nämlich die Bibliothek abgebrannt ist mit sämtlichen dort verwahrten Musikbeständen. Die Brandenburgischen entgingen diesem Schicksal, weil sie im Jahr 1721 an den Berliner Hof gekommen waren. Die Person, bei der sie sich befanden, war der jüngste Sohn der Großen Kurfürsten, der jüngste Bruder des preußischen Königs, Friedrich I., hier ist sein Bild.
Das ist Christian von Brandenburg auf dem großen offiziellen Gemälde, sehen Sie diese spezielle Dekoration vorne, da ist keine Violine, kein Cembalo, keine Gambe oder sowas, da sind die Instrumente, die man im Krieg braucht!
EINFÜGUNG aus Goebels schriftlichen Unterlagen:
Bachs Vorrede
Ihrer Königlichen Hoheit Christian Ludwig Markgraf von Brandenburg etc etc
Hoher Herr
Wie ich vor einigen Jahren das Glück hatte, mich auf Befehl vor Ihrer Königlichen Hoheit hören lassen zu dürfen und ich seinerzeit bemerkte, daß Sie ein gewisses Vergnügen an jenen kleinen Fähigkeiten fand, die der Himmel mir für die Musik gegeben hatte, und mich bei der Verabschiedungen mit dem Auftrag beehrten, Euch einige Stücke meiner Komposition zu übersenden, so nehme ich hier die Freiheit, meine unterthänigsten Pflichten gegenüber Eurer Hoheit mit diesen vielstimmig eingerichteten Konzerten hier zu erfüllen.
Unterthänigst bitte ich, deren Unvollkommenheit nicht nach mit den Maßstäben Eures feinen und verletzlichen, jedermann bekannten Geschmacks für die Musik beurteilen zu wollen, sondern den tiefen Respekt und ergebensten Gehorsam, den ich damit zu bezeugen versuche.
Des weiteren bitte ich darum, Hoher Herr, mir Ihr Wohlwollen auch weiterhin zu erhalten und überzeugt davon zu sein, daß mir nichts mehr am Herzen liegt, als bei Euch würdigeren Gelegenheiten zu Diensten herangezogen zu werden, ich, der mit unvergleichlichem Eifer Eurer Königlichen Hoheit unterthänigster und gehorsamster Diener Jean Sebastien Bach. Cöthen. d. 24 Mar 1721
7:32 Johann Sebastian traf diesen Mann, Christian Ludwig von Brandenburg, als er nach einem neuen Cembalo für den Köthener Hof schaute, wie der Cembalobauer Mietke sagte: wenn jemand in die Räume von Chr.Ludw. v.Brdbg. käme, da gibt es eins von meinen doppelmanualigen Cembali, es gab davon nicht so viele, und hier gab es zwei, drei, vielleicht 4 davon, – und das wäre die Gelegenheit gewesen, wo sie sich getroffen haben könnten. Christian Ludwig könnte Bach dort spielen gehört und den Wunsch geäußert habe, Musik von ihm zu bekommen. Und das ist es, was Bach dann tat. Er sandte 6 Brandenburgische Konzerte an Christian Ludwig von Brandenburg. Aber das Geschenk ist zu groß, als dass es einfach so ein Geschenk sein könnte, da muss ein bestimmter Grund bestanden haben, dass der Hof von Köthen sagte, o.k. Bach, du hast 2 oder 3 Wochen, um das anzufertigen, wir brauchen das als diplomatisches Geschenk. Wir wissen nicht, was dahintersteckte! Das ist zu groß für eine Person, die Nr. 10 oder 15 ist im Rang einer möglichen Thronfolge des Königs. Da muss ein anderer Grund vorgelegen haben. Aber es gibt in den Papieren der Höfe keinerlei Anhaltspunkte. Überlegung: was könnte ein Grund sein für ein so überdimensionales Geschenk?
Beispiel Beethoven, er widmete Einzelwerke, Erzherzog Rudolph u.a. , an Schuppanzigh, Rohde, Klavierspieler, „female piano player“!
a lots of female dedications
… aber das ist 100 Jahre später (Beethoven). Wir befinden uns hier ja am höchsten Punkt des Hoch-Barocks (1720), und es neigte sich im Lauf des Jahrhunderts zum galanten Stil.
13:45 Ein Blick auf andere Zyklen von J.S.Bach: die Solo Sonatas haben diese Art von Reihenfolge: Sonata – Partita – Sonata – Partita – Sonata – Partita / die Mischung von Stilen ist wichtig in diesem Fall, das Wohltemperierte Klavier hat die Folge c d e f g a h … das ist die Ordnung der Skala, die Sonatas für Violine und Cembalo sind in h-moll, A-dur, E-dur, also 2, 3, 4 sind Kreuztonarten, c-moll, f-moll 3 u 4 b, sind b-Tonarten, und dann kommt G-dur – ein sehr schwieriges Stück. Und jetzt: die Brandenburgischen haben die Tonarten F-dur, F-dur, G-dur, G-dur, dann kommt aber D-dur, dann B-dur, was besagt: dahinter steckt kein Prinzip. Wenn die beiden letzten in D-dur wären, ja…
Jedes dieser Stücke im Italienischen Stil (ob das italienisch ist, da sprechen wir später drüber) hat als Basis drei Sätze. Und jedes dieser 6 Stücke hat eine unterschiedliche Kombination von Instrumenten. Und das sagt uns: Vorsicht! Dahinter steckt etwas! Alle anderen Sammlungen des 18. Jahrhunderts haben Vorgaben in der gleichen Art, Vivaldi op. 3, das sehr wichtig war, alle Vivaldi-Concertos sind für 1 Soloinstrument und Streicher, und niemals für 2 Holzblasinstrumente oder 3 Hörner, nein, vielmehr vereinfacht, uniformer, d.h. wir müssen nachdenken, was der Grund für diese Pluralität in Instrumentation ist. Früher: mein Kontakt mit den Brdbg. begann vor 50 Jahren, ich spielte Nr. 4, aber nicht auf der Geige (lacht!) sondern auf der Blockflöte! Aber 20 Jahre später sagte mein Produzent: mach doch die Brdg., und ich: gib mir mir 5 Jahre Zeit und in der Zeit tauchte ich ein die Geschichte der Fürstenhäuser (court history). In den letzten Tagen wurde mir klar, vor der Produktion in 1985, – ich sage zu meinen Studenten, wenn du je eine wichtige Arbeit vorhast, bitte: die Notenausgabe mag so gut wie nur möglich sein, aber geh zurück aufs Original. Du musst das Original sehen!!! Die physischen Dinge. Hier das Faksimile. Begegnung in der Staatsbibliothek, Frage nach den Brdbg. 19:22 …weiße Handschuh usw.- es ist ein Stapel Papier wie dies, wir denken ein Buch mit Gold, nein, Titelseite mit Widmung: „a fake print title page“. Kein Geld, es drucken zu lassen. Oder es war zu wenig Zeit. Man blättert um, und da kommt Bachs Dedication, und dann kommt das Material. Und was sehen Sie? Nein, das Dritte: wovon ich rede. Hier: es geht wie ein Film! (Zeigt und singt)
In einer modernen Partitur sehen sie alles gleichzeitig und sehen nicht das Original. Ich rede nicht von den Solosonaten, denn die Leute denken, es ist besser, sie sind damit dichter an J.S.Bach, und dann benutzen sie das Faksimilie! (lacht), aber du kannst nicht das Faksimile benutzen um Fingersätze und Striche einzuzeichnen! Aber nun die Brdbg.! hier die Nummer IV, das ist das erste Solo. Und du siehst die Events der Partitur viel besser!
Musikbeispiel s. CD unten
22:32 Über die Widmung: the humbleness, the slobbiness and the cheapness… (Unterwürfigkeit, Süßlichkeit?, Geringwürdigkeit), eine Menge Worte, unglaubliche Mixtur.. eines Komponisten, der ein Mensch ist (lacht) nein, ich erkläre Ihnen lieber, was dies ist: „rastral“. (Eine Art „Harke“ siehe hier). Ein Schreibgerät, das Notenlinien produziert. Wir sehen aber: Bachs „Rastral“ hatte einen Fehler. Betr. also die 5 Notenlinien: 4 Zinken waren gleich, aber die Nummer 5 war etwas zu weit weg. Die Person, die das Rastrum benutz hat, muss es repariert haben, denn bei Brdbg. VI ist es o.k.! Aber auf Seite 54 ist es wieder dran. Was ist passiert? 24:15 Jemand machte das für ihn, und er konnte die Musik hineinschreiben. Er hat sie nicht komponiert im Moment, er nahm die Werke von woanders her. Woher? Vielleicht in Köthen verbrannt. Jedenfalls nahm er etwas Fertiges. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass auf manchen Seiten die „Komposition“ unsicher ist, Fehler, die er sofort korrigiert, 2 oder 3 Fehler hat er nicht korrigiert, aber man sieht: an einigen Stellen hat er bei der Niederschrift der Stücke, die er von woanders her nimmt, vielleicht auch aus seinem Kopf, stockt, er fährt fort, aufs neue komponierend! Was bedeutet: während er die fertigen Sachen kopierte, – änderte er sie! Und das bedeutet für uns, fragen zu müssen: was ist der Grund dafür??? Warum setzt er einen Satz oder zwei ein, und nimmt das später wieder heraus? Warum setzt er ein Instrument zusätzlich ein, – ohne es aber ordentlich zu gebrauchen??? Was ist der Grund, dass der meiste Platz in den Noten extrem sorgfältig ausgenutzt, ohne jeglichen Verlust an Papier, und warum richtet er dann in Concerto VI 6 Systeme für 4 Instrumente ein. Da fehlt etwas. Kurz: warum sind die Konzerte so verschieden (nicht z.B. 6 Violinkonzerte) und warum so kompliziert in der Version, die wir hier haben? Dafür muss es einen bildlichen/symbolischen (JR?) „pictorial“ Grund geben. Es muss da etwas geben, was er uns „erzählen“ will. Resümierend: was ist wohl gegenüber früheren Versionen ANDERS? (Ich habe es alles auf dem Papier, Sie können es später sehen.)
EINFÜGUNG aus Goebels schriftlichen Unterlagen:
Ikonologisches Programm – zu erschließen über das Instrumentarium und damit verbundene Text-Vertonungen.
1. Zwei Hörner, Violino piccolo
2. Tromba
3. drei Violinen, drei Violen, drei Violoncelli
4: 3/8-Takt – also ungewöhnlich – zwei Blockflöten (Schafe können sicher weiden…)
5. Traverse : Weigel-Stich ( siehe „Materiale“) – Der Held aus Juda – Lärmen und Feinde
6. Violen als Instrumente des Todes – (Actus Tragicus, Du aber Daniel gehe hin….)
Was kommt Neues? Der Satz Nr.3 in Concerto I. Der Satz in 6/8. Aber im Satz davor (RG bedeutungsvolle Pause) die Transposition zwischen Oboe und Violine solo ist verändert (vertauscht), es ist nicht mehr ein Violinsolo, es ist ein Violino piccolo, 2 Töne höher und 1 Oktave höher spielend gegenüber der Oboe, zwischen den Sätzen, und Satz Nr.2 ist komplett neu. Und das ist der Solosatz für die Piccolo-Violine. Der Satz hat bereits vorher existiert in F-dur, aber die Piccolo-Violine spielt D-dur. Später – in den 30er, 40ern, benutzt Bach diesen Satz aufs neue, jetzt in D-dur, aber statt der regulären Oboe benutzt er nun Oboen d’amore …Oboe da caccia … Oboe d’amore, denke ich, 2 Töne tiefer. Also er setzt die Violine piccolo ein, – um etwas zu zeigen. Er setzt es ein, wir wissen: Nr.I bestand aus einem Allegro, einem Adagion und einem Menuett. So und nun kommt dieser dritte Satz hinein. Das war ein Kantatensatz gewesen für Soprano und Orchester, und nun gibt er das Solo dem kleinsten Instrument der Violinfamilie. Es ist unglaublich laut (?) und klein und es ist das Soloinstrument. Wie konnten wir entdecken, dass es vorher eine Arie war? Es wurde eine Arie: später. (Singt:) „Auf, schmetternde Töne der muntren Trompete dadadi dadada“, es ist ein Chor und eine Arie, und als Arie hat es eine Art nervenden („boring“) Anfang, dreimal dieselbe Musik, nach 3 Mal dieselbe Musik kommt eine Entwicklung – das ist die Gefahr der Brdbg. wenn wir nicht wissen, was das bedeutet.
In dem Moment wo er dies schreibt, fügt er in das Menuett eine Polacca… nein, die Polonaise, Pardon. Er will uns was erzählen. Er macht aus der Drei-Satz-Struktur eine 5-Satz-Struktur. 35:00
EINFÜGUNG aus Goebels schriftlichen Unterlagen:
Nebenfassung /Früh und Spät-Versionen
Concerto 1 : Frühfassung Sinfonia 1046 a, fehlt: dritter Satz ( SoloSatz für Violine piccolo) dieser verwendet in BWV 207 und 207a 17 1q726/1735 als Chorsatz : im Menuet-Rondo fehlt die Polacca.
1. Satz als Kantaten-Sinfonia BWV „Falsche Welt, dir trau ich nicht“. Leipzig 1726
Concerto 2: Abschrift von Penzel 1755- exakte Kopie der Widmungsfassung : mit der Aufschrift „Tromba overro Corno da Caccia“.
Aber er schreibt in dieser Polonaise 1 Ton, den die Violine piccolo nicht spielen kann, denn er ist zu tief. Da steht: V.p. „TACET“. Warum hat er da nichts komponiert? Warum??? Was will er uns erzählen mit der Polacca?
Die nächste Sache, Brdbg. Nr.II. Dasselbe Problem wie in Nr. I. Wenn man alle Systeme darin durchzählt, dann haben wir die Trompete, die Flöte, die Oboe und die Violine, 1.Violine, 2.Violine, Alto und den Basso Continuo. Aber all das, 1. u 2. Violine u Alto, das sind spätere Zusätze. Weil: Basso continuo, 3 Personen im Bassbereich, unter all den Diskant-Instrumenten, unter den 7 Soprano-Parts, das ist zu wenig, das ist ein Fehler. Er macht mehr daraus, er macht es größer, um mehr Eindruck zu machen. Zum zweiten Concerto er „popt it up“, und er zerstört darüber die Relation zwischen den Instruments. Es muss ursprünglich – und das ist alles über das instrumentale Material – ein Concerto da camera gewesen sein für Trompete, Blockflöte, Oboe und Violine. Dies sind 8 – die erste Violine, die zweite Violine, die Viola ripieno, das sind spätere Zusätze, Kreationen, und wie wir wissen, auf der Bühne ist dieses Stück extrem schwierig, diese Highway Solos (singt Trompete) and Cembalo, Cello u Violone, und 7 Oberstimmen, das ist nicht gut. [NB.JR Goebel hat die Konzerte zweimal in seinem Leben aufgenommen und veröffentlicht: Maßstab setzend!]
Dieselben Zusätze zu Brdbg.II. Ich zeige Ihnen das Faksimile:
Schauen Sie vor allem auf das unterste System, auf den Bass! Ich blättere um. Die moderne Partitur hat das übersetzt in …. (zeigt Concerto III)
da haben sie die drei Instrumente zusammengebunden, das Cello, den Violone und das Cembalo. Bach schrieb 5 Parts, 5mal dasselbe! die moderne Partitur sagt: „honey, let’s forget that!“ (lacht) es ist leichter zu (Pinselbewegungen) leichter, alle in 1 System zu tun. So we have 3 Violin, 3 Violas, 3 Cellos, und Basso continuo. Und ich habe einmal ausgezählt die Stellen (quarters), wo die 3 Cellos individuelle Noten spielen, und das sind insgesamt 10 Stellen (quarters). Zweieinhalb Takte im ganzen Brdbg. Konzert! hat also geteilte Celli, und ansonsten ist alles unisono. Offensichtlich erfand Bach das Cello Nr. 2 und Nr. 3 beim Prozess des Kopierens, und dann kann man imaginieren, dass da ein „Papa!.. “ and „Shut up!“ (Abwehrgeste) da war immer die Gefahr – er hatte schon 5 Kinder! und die Mutter war tot – er war immer in Gefahr, gestört zu werden, er machte einen Fehler in Takt 10 und in Takt 17, er vertauschte die Celli, er wechselte im ganzen Concerto an keiner anderen Stelle die Plätze, er wechselte zufällig zwischen den 3 Cellos, so Cello 1 wurde Cello 3, Cello 2 wurde Nr. 1 und Cello 3 wurde Nr.2 – das ist WINZIG WINZIG WINZIG WINZIG ! Aber es ist ein Fehler! — Glücklicherweise haben wir diese Nebenfassung, die Kantatensinfonie 174, und schauen wir, was er dort tat. Ich zeige es Ihnen später in den Noten. Es ist so leicht 3 Cellos aus einem zu entwickeln…
Sie sehen …. er ist … ein klein bisschen …. unsicher. „Merde!“ ein Fehler! und man sieht, was das originale Setting für dies Concerto war: das Stück war für 3 Violinen, 3 Violas und Basso continuo. So, the Cellos waren nur da für das Programm, für das pictorial programme, er brauchte dreimal 3 Instrumente, 3 – 3 – 3 , fürs Design oder soetwas.
45:26 Zu Brdbg. Nr IV Wir kommen zu Stücken, die sehr jung sind, im Vergleich zu Nr.I, es kann ein frühes sein, etwa von 1713, es ist sicher nicht die Sinfonia der Jagdkantate, weil der Umfang der Hörner sehr verschieden ist, die Hörner können weder tiefe Töne spielen noch sehr hohe. Leute, die hohe Töne spielen könne, können keine tiefen et viceversa. Man sieht es an der Jagdkantate, das müssen andere Spieler gewesen sein. Und es muss ein anderes Orchester gewesen sein.
Nr. III kann ein altes Stück gewesen sein, Nr. VI ebenfalls, Nr. IV und Nr.V sind die jüngsten Stücke. Warum Nr.IV ? Weil der formale Entwirf (design) so unglaublich reich ist, so unglaublich neu und atemberaubend, er konnte das nur schreiben mit der Erfahrung dieses Konzertes oder jenes Konzertes. Die Frage ist schon im ersten Satz (Nr.IV) : haben wir ein Ritornell oder haben wir was anderes? Ist es eine Form, die der Funktion folgt? Und: das Erstaunliche an Nr.IV ist: Die große Form des ersten Satzes entspricht der des letzten Satzes. Dazwischen steht ein sehr simpler Satz, könnte aus einer Oper von Lully stammen. Das Erstaunliche: der erste Satz könnte ein Vierviertel-Satz sein, aber er beginnt mit 3/8, – was soll uns das sagen? Es tendiert zum Galanten Stil, und es hat diese unglaubliche Solovioline, unglaublich schnell, später in Takt 186 – eine probatio artificialis
siehe vorher CD-Beispiel ab 2:35
Und die nächste probatio artificialis in Takt 215. Was sagt die Solovioline? „ich bin nur 1 Person, aber ich kann spielen wie 2 Flöten (CD-Bsp. ab 3:00 Doppelgriffe!). Und ich brauche keine Pause. Wenn du vorher wahrgenommen hast, wie die Flöten nach Atem schnappen!“ Und noch eine probatio: die des Komponisten (singt: Takte 197 ff Begleitstimmen Violini + Flöten): „ich kann Kanon!“ also ein Kanon im Abstand einer Achtelnote. Das ist Kunst. Ars combinatoria.
CD ab 2:45
53:00 Die Kunst ist unglaublich, wundervoller Eindruck beim Zuhörer – anders als bei Brdbg. I, was ein schlechtes Stück ist (lacht) -, dies unglaubliche Wohlgefühl beim Hören des Nr. IV, das Gefühl, dass eine Bewegung (nicht „Satz“ JR) aus der anderen kommt. – Wir haben andere Stücke z.B. das erste Cembalokonzert, BWV 1052, und andere Stücke, die Pasticcios sind, wo die Teile nicht zusammengehören. Man fühlt es ist zu lang, sie korrespondieren nicht miteinander ODER Brdbg. Nr. I …. es ist schwierig, die Violino piccolo hat keinerlei Rechtfertigung im ersten Satz. Und die Oboe, die im zweiten Satz kommt, hat keine Rechtfertigung im dritten Satz. [er spricht nicht vom Adagio!?] Dies ist der Fall in Brdbg. NR.V, es ist nicht der Fall in Brdbg. Nr. IV. Die Flöten haben ihre Soli und reflektieren einander, im letzten Satz auch diese korrespondierenden Kräfte usw. geben uns ein glückliches Gefühl.
In Nr. II hat das Tutti keine Rechtfertigung dazusein. In III die 2 Cellos da, naja, lasst uns die streichen…. Und Nr. V, schauen Sie im Faksimile ganz unten, der Cembalo-Part
hat zwei größere Systeme im Vergleich zu den anderen Instrumenten und der Part ist beziffert, er hat Zahlen, klar gesagt: dies ist das einzige Stück, wo es gespielt werden muss. In den andern Concerten ist der Part genau so schwer, aber es gibt keine Zahlen! Wenn es derselbe Continuo-Spieler ist wie in den Conc. I – IV, dann braucht er auch hier keine Ziffern!
Pars pro toto: welch eine wundervolle Idee, unter dem 1978 zweifellos recht großmundigen Titel meiner ersten „französischen“ Aufnahme für die Archiv-Produktion – Le Parnasse Français – heute die Sammlung sämtlicher französischen Musiken, die ich in den folgenden 25 Jahren dann für das Label machte, zusammenzufassen.
In der Tat ist das, was Musica Antiqua Köln und ich innerhalb eines Vierteljahrhunderts für die Archiv-Produktion aufnahmen, so etwas wie die die Blütenlese der französischen Instrumentalmusik unter dem Sonnenkönig und seinem Nachfolger Louis XV. Und sehr schwer nur, ja kaum noch kann man sich heute vorstellen, mit welchem Befremden das Publikum der 1970er Jahre dieses Idiom selbst in Frankreich zur Kenntnis nahm, wurde doch Barockmusik grundsätzlich mit maschinell ratternden Abläufen „à l’italien“ gleichgesetzt.
Nun also ein verstörend neuer Ton von Diskretion & Leichtigkeit & gespreizter Verfeinerung, eigentlich unbarocker Zurückhaltung und gezügelter Affekte. Selten wird diese Musik so elementar traurig oder auch so mitreißend jubelnd, wie die von Bach, Telemann und Heinichen, immer bleibt sie dem Theater, dem Rollenspiel und verklausulierter Gestik verpflichtet – evoziert augenblicklich bei aller Bewunderung immer auch freundliche Distanz. Weder reißt sie uns in die Tiefen tränenüberströmten Leidens hinab, noch katapultiert sie uns auf direktem Weg in den Himmel…
Schwer vorstellbar im digitalen Zeitalter ist auch, unter welchen Bedingungen man vor dieser Zeitenwende unveröffentliche Musik aufarbeitete! Filme und Fotos von Musikalien herzustellen, dauerte Wochen, manchmal Monate, – und so fuhr ich anfangs mit dem Nachtzug nach Paris und deckte mich im Lesesaal der Bibliothèque Nationale in der Rue de Richelieu mit billigen, schnell verblassenden Fotokopien der Stimmbücher ein, die gleichwohl noch in moderne Partitur übertragen werden mussten: eine extrem zeitaufwendige, aber ebenso befriedigende und vor allem beruhigende Arbeit, die mich mein gesamtes Musica-Antiqua-Leben hindurch an den Schreibtisch fesselte.
Damals, als sich die Laden-Regale der Musikalien-Handlungen in aller Welt noch nicht unter der Last hunderter überflüssiger Faksimiles bogen, als die bizarrsten Repertoire-Wünsche und sämtliche Autographe Bachs noch nicht nur einen mouse-click und ein download entfernt waren, entwickelten wir in unserem Ensemble zu jeder Komposition eine persönliche Beziehung – und wir waren enorm stolz auf unser wirklich einzigartiges Repertoire, welches Bewunderung, Neid, manchmal aber auch – besonders bei jenen hardlinern, die nach wie vor glaubten, Musik sei „die deutscheste der Künste“ – Unverständnis und Häme hervorrief.
Für meine Kollegen und mich vergrößerte sich mit jeder neuen Komposition französischer Provenienz sowohl die Liebe zu unseren lateinischen Nachbarn und ihrer wunderbaren Kultur – gleichzeitig änderte sich auch der Blickwinkel auf den heute so grotesk überbewerteten Kultur-Transfer zwischen Frankreich und Deutschland: veritable Frankreich-Begeisterung gab es zwischen 1680 und 1690. Um 1700 waren die Wellen der Begeisterung längst abgeebbt und all die Neuigkeiten, die die französische Staatsmusik den verarmten Nachbarn vermittelt hatte, bereits derartig inkorporiert und amalgamiert, daß man nur noch von einem „vermischten Geschmack“ sprechen kann.
Le Parnasse Français – ein kaum über das Stadium der Kopfgeburt hinausgekommener Plan eines Denkmals für Louis le Grand, zu ihm als Apollo seines Zeitalters aufblickend u.a. die Dichter Moliere, Corneille, Quinault , Racine und als einziger Komponist Jean Baptiste Lully – wurde im Laufe des langen Lebens seines Schöpfers Titon du Tillet (1677 – 1762) fortwährend in Buchform weiter entwickelt ( „Suite du Parnasse Français“ 1727/32/43 und 1755 ) und personell bereichert: trat Lully noch in Person auf, so wurden die Nachkömmlinge nur noch in Form von Porträt-Medaillons an den Felsen Parnass gehängt und das Projekt entzog sich durch Übervölkerung und zu erwartender Kosten-Explosion einer finalen Realisierung.
Es versteht sich, daß in den exklusiven Zirkel zu Füßen des großen Königs nur Schüler und Epigonen des bereits 1687 verstorbenen Lully aufgenommen wurden – immerhin mit Elisabeth Jaquet de la Guerre auch ein Frau !! – und alle diejenigen lange, bzw. für immer ausgeschlossen blieben, die sich irgendwelcher Italianismen verdächtig oder sogar schuldig gemacht hatten. Überhaupt fand man erst nach dem Tode Aufnahme in den Parnass – wobei für Voltaire dieses eherne Gesetz selbstverständlich gebrochen wurde.
All denjenigen Komponisten, die die Stagnation des französischen Musikgeschmacks beklagt und die Öffnung hin zum italienischen Idiom gefordert oder gar praktiziert und somit für Wandlung und Fortschritt gesorgt hatten – wie den Musikern des „Style Palais Royal“ Forqueray, Blavet, Leclair und Couperin – blieb der Parnass ebenso verschlossen wie dem im Dresdener Orchester spielenden Pierre Gabriel Buffardin. Der vermeintlichen Preisgabe veritabler französischer Werte folgte die Damnatio Memoriae als gerechte Strafe.
Unser „Parnass Français“ aus deutschem Blickwinkel ist also im Wesentlichen von Dissidenten bevölkert – Komponisten, die man noch nicht einmal aus Gnade in die zweite Reihe stellte, wie den in Rom ausgebildeten, in Paris zeitlebens marginalisierten Charpentier. Erstaunlich aber ist, daß der „Paix du Parnasse“ – ein auf enormer Stilhöhe gewähltes Kompositions-Emblem des François Couperin „le Grand“ – nur zwischen den Lateinern Lully und Corelli besiegelt wurde und die Leistungen deutscher Komponisten überhaupt nicht zur Sprache kamen. Unüberbrückbar tief waren die jahrhundertelang ausgehobenen Gräben zwischen den Franzosen und den Deutschen, die sich dennoch beide auf Charlemagne, Karl den Großen als Reichsgründer beriefen: Telemanns Gastspiel 1737/38 in Paris und Voltaires Aufenthalt in Potsdam 1750/53 blieben rühmliche Ausnahmen in einem ansonsten immer frostigen Klima zwischen den beiden Völkern.
Ohne sentimentale Übertreibung darf ich sagen, daß es meine Nachkriegs-Erziehung war, die diese anhaltende tiefe Liebe zur französischen Kultur auslöste – durchaus mitvollzogen von meinen internationalen Kollegen im Ensemble Musica Antiqua Köln. Uns alle hat die lange Beschäftigung mit der französischen Musik vor allem im ersten Jahrzehnt unserer Bühne-Präsenz ungeheuer bereichert, unsere Telemann-Interpretation bestimmt, sowie Ohren und Herz für das geöffnet, was man im 18. Jahrhundert hierzulande „vermischten Geschmack“ zu nennen pflegte.
Nach 15 Jahren Abstinenz – nach 1985 befassten wir uns fast ausschließlich mit dem Erbe deutscher Musik – dann im Jahr 2000 den Soundtrack für Gérard Corbiaus Film „Le Roi danse“ beisteuern zu dürfen, war weitaus mehr als nur ein Engagement unter vielen, es war mehr als nur die Rückkehr zu den Wurzeln, mehr als nur ein déjà-vue: ich fühlte mich veritablement in den „Parnasse Français“ erhoben – und es war eine fabelhafte Zusammenarbeit, an die ich immer mit größter Freude zurückdenken werde.
Somit erneut enthousiasmiert für die französische Kunst widmeten wir uns dem instrumentalen Schaffen Marc Antoine Charpentiers, dessen Todestag sich 2004 zum 300. Male jährte. Diese Aufnahme war der Schwanengesang des Ensembles: ich verabschiedete mich vom Parnass herab und erklomm stattdessen die Treppenstufen zur „Salle des Suisses“ im Palais des Tuileries. Aus meinem alten Leben nahm ich die Liebe zur französischen Kunst in mein neues Leben mit – und habe im Repertoire des „Concert Spirituel“ einen neuen Forschungs-Mittelpunkt gefunden.
Heutige Mail von Reinhard Goebel zur ziemlich frühen Aufführungspraxis
In „Studien für Tonkünstler und Musikfreunde, Berlin 1792 “ drucken die Herausgeber Kuntze/Reichardt vier „Briefe aus London“ ab, in denen u.a. von den Concerti Grossi G.F.Händels die Rede ist:
“…Indess setzt diese Art von Instrumentalmusik eine eigene sehr große Schwierigkeit in der Ausführung voraus, die unsere itzigen Instrumentalisten sehr zu vernachlässigen anfangen und die Grundlage zu allem Übrigen seyn sollte. Vollkommene Intonation und großer Ton. Nur dadurch, daß der Ton jedesmahl seine vollkommene Reinigkeit und Kraft hat, wirkt Musik ganz bestimmt und ohnfehlbar auf alle Nerven. Und ein Stück von der Klarheit in der Melodie und dem Reichthum und Fülle an Harmonie, wie die Händel’schen Concerto’s, mit vollkommener Intonation und kräftigem Ton von allen Instrumenten vorgetragen, müßten eine weit stärkere und allgemeinere Wirkung auf den Zuhörer thun, als die größten Schwierigkeiten und Mannigfaltigkeiten in Melodie und Figuren je thun können……“
(RG: „Intonation“ heißt in diesem Fall – wie bei der Zurichtung der Kiele am Cembalo – „Attacke der Töne“, ARTIKULATION)
Auch in der „Beschreibung einer Reise 1781“ von Friedrich Nicolai werden Händels Werke erwähnt : es heißt in Band 4 « Wien » auf S. 533/34:
„ Ich habe verschiedene von Händels vortefflichsten Werken, zum Theil schlecht, zum Theil nur mittelmäßig gut aufführen hören. Ich kann gewiß behaupten, daß ich sie sicherlich nicht in der Manier gehört habe, wie sie Händel gedacht hat. Denn da schon bey Händels Lebzeiten ein Mann wie Corelli Händels nachdrückliche Manier im Vortrage nicht ganz fassen konnte; so ist leicht zu erachten, daß bey dem jetzigen Vortrage mit leichtem Bogen und übereilten Zeitmaaßen Händels pathetische Manier wohl selten erreicht wird. Ich befürchte, es wird mit der musikalischen Aufführung immer so bleiben. Nach kurzer Zeit ändert sich unmerklicher Weise die Art des Vortrags, die mittlere Bestimmung des Zeitmaaßes, und andere Dinge mehr. Ein musikalisches Werk wird also immer, je älter es wird, desto mehr an seinem eigenthümlichen Ausdrucke verlieren….“
* * *
JR Erinnerung an eine ebenfalls frühe Phase der alten Aufführungspraxis (1975)
. . . . . . alle Mitwirkenden (auch ich) Ort, Datum, Technik Sätze und Solisten
Reinhard Goebel hat eine Lücke in der Musikgeschichte geschlossen. Wieder einmal. Natürlich wusste man das schon – sagen wir mal – seit 1973 (Gründung Musica Antiqua Köln), seit 1983 (Telemann Wassermusik Hamburger Ebb & Flut), seit 1992 (Johann David Heinichen Dresden Concerti) undsoweiter, aber man hätte es noch viel öfter sagen können. Hören Sie doch in den ersten Titel Heinichen bei jpc hinein: wenn Sie zusammenzucken, sind Sie würdig, auch zwei Fragmente des Booklettextes zu lesen:
So lebendig kann Musikgeschichte sein! Und nehmen wir nun den oben angesprochenen Geiger Franz Clement: Was wusste ich seit dem 3. Oktober 1983 (Anschaffung „Das Buch der Violine“ von Walter Kolneder) über ihn? Alles, was bei Kolneder ab Seite 198 steht. Und immer wieder habe ich, leicht belustigt oder gespielt entsetzt, aus dem dort wiedergegebenen Programmzettel von 1806 zitiert (bitte genau entziffern!): Die Uraufführung des Beethovenschen Violinkonzertes „Zum Vortheil des Franz Klement“…
Stattdessen werde ich in den nächsten 20 Jahren auf diese neue CD verweisen: Lest und hört!
Schon als Wunderkind muß Franz Clement (1782 – 1842) über Charisma, engelsgleichen Charme und vor allem circensische Künste auf der Violine verfügt haben, denn die Herzen der Melomanen flogen ihm nur so zu. Dies belegt sein noch heute erhaltenes Stammbuch bestens: der Graf Seeau hatte dem gerade einmal 8-Jährigen das 400 Seiten starke in Leder gebundene Buch zu Beginn seiner ersten großen Europa-Reise am 31. August 1789 in München geschenkt und sich mit einem gesiegelten Empfehlungsschreiben als Erster auch darin verewigt. Ihm folgten über die frühen Reise-Jahre Clements hinweg – neben vor Entzücken dichtenden Gräfinnen, malenden und zeichnenden Bürgerinnen sowie Honoratioren der besuchten Städte – alle internationalen Großen und Größen der Musik: Haydn, Salomon, Viotti, Nancy Storace, Rauzzini, Bridgetower, Fodor, Neefe, Cramer, Jarnowicz und später in Wien dann der Baron van Swieten, Constanze Mozart, Salieri, Albrechtsberger, Wranitzky, Kozeluch und natürlich auch Beethoven.
Das Wiener Publikum stand immer, wenn Franz Clement gespielt hatte, auf den Stühlen – er war ja einer der Ihren, kein Zugereister, und hatte sich als Begleiter bei Haydns erster England-Reise internationale Approbation und Reputation erspielen können, war anlässlich der böhmischen Krönung von Franz II 1792 in Prag vor dem Kaiser aufgetreten und forthin – wie dem Veranstaltungskalender der Kaiserin Marie Thérèse zu entnehmen ist – regelmäßiger Gast bei deren launigen Hof-Konzerten.
Ersten Violinunterricht hatte dem fünfjährigen Franz sein Vater, ein Lakai in der Kapelle des Grafen Harsch, erteilt und mit acht Jahren debutierte das Wunderkind im Saale des Trattnerhofs – in dem Mozart 1784 seine 21 Akademien gegeben hatte – mit einem Violinkonzert von (vermutlich Johann) Stamitz.
Nach der Rückkehr von der mehrjährigen Reise wurde es erst einmal stiller um das Wunderkind, dem das „Jahrbuch der Tonkunst 1796 “ noch eine schwärmerische Eloge widmete und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass „wenn er sich einmal zu einem stattlichen Kompositeur wird gebildet haben….unsere Musik mit scherzhaften und witzigen Stücken, im Haydnischen Geschmacke ansehnlich bereichern wird“.
Ob dieser Wunsch als versteckter Hinweis darauf zu lesen ist, daß Clement bei Haydn Komposition studiert habe, muss wohl verneint werden: Haydn war ein tyrannischer Lehrer und insistierte darauf, dass die Schüler nicht nur in seine viel zu großen Fußstapfen traten, sondern sich in ihren Publikationen „élève du célèbre Haydn“ nannten – was Beethoven zumindest rundweg mit der Bemerkung ablehnte, er habe sowieso NICHTS bei ihm gelernt.
Franz Clement war vermutlich kompositorischer Autodidakt. Ein frühes Klavierquartett und ein Streichtrio könnten- wie auch der Wunderkind-Zirkus um ihn herum – auf Mozart-Identifikation hindeuten, die aber – anders als bei Anderen – offenbar schnell verblich, jedenfalls keinerlei Spuren hinterließ. Er verfügte über ein derartig phänomenales Musikgehirn, dass er den ganzen „Fidelio“ auswendig spielen und „aus dem Kopf“ einen von Haydn approbierten Klavier-Auszug der Schöpfung niederschreiben konnte. Im übrigen hatte niemand seit Jean-Marie Leclair derartig kunstvolle Synonyme für geigerische Alltagsfiguren und kein Geiger auch eine so reichhaltige Palette an spätest-barocker Cantabile-Ornamentik entwickelt, mit denen er die hinreißenden Oden seiner Mittelsätze garnierte.
1802 wurde Clement als Konzertmeister und Violin-Dirigent an das „Theater an der Wien“ berufen und machte das Ensembles des Hauses aufgrund seiner fachlichen Kompetenzen innerhalb kürzester Zeit zum Spitzen-Ensemble der Donau-Metropole. Beethoven, noch traumatisiert vom Misserfolg der Première seiner Sinfonie Nr. 1 im Burgtheater anno 1800 mit dem dort angesiedelten Ensemble, versicherte sich für die erste öffentliche Darbietung seiner Sinfonia Eroica im Theater an der Wien im April 1805 der Mitwirkung Franz Clements und seines Orchesters, verstärkt durch jene Musiker aus dem Lobkowitz-Ensemble, die das Werk durch lange Proben und einige Privat-Aufführungen bereits bestens kannten. Clement selbst ließ sich mit seinem ersten Violinkonzert D-Dur hören, einem Werk, das keinerlei Anklänge an Mozart oder Haydn aufwies, sondern die Mitte des neuen Wiener Stils repräsentierte.
Die Eroica hingegen, die so barsch jegliche Erwartenshaltung an eine Sinfonie gestraft hatte und das Maß an zu verkraftenden Neuigkeiten bei weitem überspannt hatte, fiel durch – „Auch fehlte sehr viel, dass die Sinfonie allgemein gefallen hätte. Die Ouverture und mehrere Stücke aus Cherubini’s Anakreon wurden sehr gut aufgenommen“ – Clements Spiel hingegen wurde in blumigen Worten beschrieben:
„…Es ist nicht das markige, kühne, kräftige Spiel, das ergreifende, eindringende Adagio, die Gewalt des Bogens und Tones, welche die Rodesche und Viottis Schule charakterisirt: aber eine unbeschreibliche Zierlichkeit, Nettigkeit und Eleganz; eine äusserst liebliche Zartheit und Reinheit des Spiels, die Klement unstreitig unter die vollendetsten Violinspieler stellt. Dabey hat er eine ganz eigene Leichtigkeit, welche mit den unglaublichsten Schwierigkeiten nur spielt, und eine Sicherheit, die ihn auch bei den gewagtesten und kühnsten Passagen nicht einen Augenblick verlässt.“ (AMZ 1805, Sp. 500/ 501).
Diese technische Souveränität konnte Clement fast zwei Jahre später dann erneut unter Beweis stellen: er hatte Beethoven für seine Akademie am 23. Dezember 1806 um ein Violinkonzert gebeten. „Concerto per clemenza per Clement“ hatte dieser scherzando auf die Kompositions-Partitur des Opus 61 geschrieben, das Werk aber in einem Zustand abgeliefert, der dem Solisten der Uraufführung reichlich Eigenarbeit abverlangte, in dem aus den vielfachen Ossia-Versionen und Überschreibungen erst einmal ein logischer und kohärenter Text für die Solostimme gewonnen werden musste. Dies war ganz sicher Clements Aufgabe und Arbeit, hatte Beethoven doch – wie sein Vorbild C. P. E. Bach übrigens auch – keinerlei Kenntnis von idiomatischen Violinfigurationen. Er spielte im Bonner Hoforchester Viola, weil es zur Violine einfach nicht reichte – oder war er – wie eben C. P. E. Bach bereits – krasser Linkshänder? Seine Handschrift ließe es fast vermuten.
Immerhin hatte Beethoven sein Konzert für Franz Clement, den „Liebling der Musen“ und seine luzid-apollinische Violinbehandlung geschrieben, seine behände Leichtigkeit bis ans Ende des Griffbretts und seinen malenden, niemals hämmernden Bogen geschrieben – und doch machte die Wiener Theaterzeitung Kleinholz aus dem Werk und trat noch schnippisch nach: „die übrigen Stücke wurden größtentheils mit entschiedenem Wohlgefallen aufgenommen“. Die AMZ räusperte sich spröde: „Den Verehrern der Beethovenschen Muse dürfte die Nachricht interessant seyn, dass dieser Komponist ein Violinkonzert – soviel ich weiss, das erste – komponirt hat…“
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, daß der unberechenbare Beethoven tobte – und mit dem auch in der Première der erfolglosen „Leonore“ als konzertmeisterndes Zugpferd engagierten Clement nun final brach. Abgesehen davon, dass in Pierre Rode ein neuer Stern am internationalen Geigenhimmel aufgetaucht war (den man aber erst 1812 in Wien zur nicht allerhöchsten Zufriedenheit hören konnte) waren in Schuppanzigh und Mayseder Konkurrenten erwachsen, denen Beethoven offenbar mehr vertraute und die – sicher weitaus weniger genial und original – dankbar für den Umgang mit dem Genius waren.
Dass Beethoven aber den rasch erfolgten Druck des Opus 61, auf dem zwar „Beethoven“ drauf stand, in dem aber mindestens ebenso viel Clement drin war, eben nicht „par Clemenza“ Franz Clement, sondern seinem gerade mal kurzzeitig wieder aktuellen Jugendfreund Stefan von Breuning widmete, das war eben typisch für Beethovens Umgang mit den Zeitgenossen !
Clement hat dieser Fauxpas – letztlich eine finale damnatio memoriae, steht doch über allen modernen Druckausgaben eben nicht „par Clemenza pour Clement“, sondern „Stefan Breuning gewidmet“ – nicht sonderlich gestört: er spielte das Stück 1815 in Dresden und erneut 1833 in Wien. 1844 dann legte sich der erst 12-jährige Joseph Joachim das Werk aufs Pult – von Franz Clement sprach man damals nicht mehr: er war 1842 gestorben.
Die Ähnlichkeiten zwischen Clements Violinkonzert Nr. 1 und Beethovens Opus 61 sind keinesfalls zufälliger Natur, – sie zu nennen wäre aber unverzeihliches crimen laesae majestatis – sondern direkte Bezugnahme, augenzwinkerndes Zuspielen von Bällen und kreative Reaktionen aufeinander, die sich dann in Clements wenig später entstandenem Violinkonzert Nr. 2 d-moll/D-dur in umgekehrter Richtung wiederholen: hier nun sind die Bezüge auf Beethovens Violinkonzert nicht zu überhören. Überhaupt sind Imitation, Assimilation und Transformation, „Ausleihen, aber mit Zinsen zurückerstatten“ ohnehin aus der Kunst des Komponierens in historischer Zeit nicht wegzudenken: sie sind die Basis allen Tuns. Leider nur bescheinigt man bisweilen – dies ein angewandter Anachronimus, schiere Unkenntnis auch – den Eltern gewisse Ähnlichkeiten mit ihren Kindern.
Zugegebenermaßen sind die Abhängigkeiten von Clement 2 zu Beethoven weitaus stärker als die von Beethoven zu Clement 1. Aber auch andere Konkordanzen treten in diesem zweiten, im Tonfall doch schon deutlich romantischer, zerrissener und leidenschaftlicher angelegten Konzert mit nahezu experimentellem Tonartenplan auf, bemerkenswert viele nämlich zu Antonin Reichas „Sinfonia Concertante“, komponiert für die im Lobkowitz-Orchester spielenden Cellisten Anton und Nikolaus (Vater & Sohn) Kraft.
Was es damit „auf sich hat“, wird man erst klären können, wenn das Konzert- und Musikleben Wiens der Beethoven-Zeit nicht nur punktuell archivalisch, sondern vor allem auch übergreifend akustisch aufgearbeitet ist, wenn all diejenigen, die sich in Franz Clements Stammbuch eintrugen, aus ihren lexikographischen Gräbern befreit wieder mit ihren Kompositionen Gehör finden können. Ich bin sicher, dass dies der Größe Beethovens keinen Abbruch tun wird – im Gegenteil: wir werden ihn wie Bach, umgeben von Telemann & Heinichen, Zelenka & Pisendel, Fasch & Hasse, erst dann richtig verstehen.
Der Anfang ist gemacht – Fortsetzung folgt.
RG – im August 2019
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Übrigens: eine Produktion des WDR / Solistin ist Mirijam Contzen, Violine; das WDR Sinfonieorchester spielt unter der Leitung von Reinhard Goebel, das Violinkonzert Nr. 2 ist eine Live-Einspielung vom 12. Oktober 2018, das Violinkonzert Nr. 1 eine Produktion 17. bis 21. Juni 2019. CD bei www.sonyclassical abzurufen (auch Anspielmöglichkeit) bei jpc hier.
Eine Youtube-Aufnahme des langsamen Satzes aus dem Violinkonzert Nr. 2 ist hier (extern) abzurufen. Und hier direkt:
Eine Überraschung erlebt man (vielleicht), wenn man den langsamen Satz des anderen, ersten Violinkonzertes hört: eine seltsame Wahlverwandtschaft mit dem Andante des Violinkonzerts von Mendelssohn, zunächst die Tatsache der Einleitung, dann der Beginn des Themas auf der Terz, wenig später der prägende Septimsprung vom Leiteton aufwärts, abwärts gehend in den Halbschluss Grundton-Leiteton. Variierte Wiederkehr bei 5:13. Möglicherweise kannte M. das Clement-Konzert durch Ferdinand David? Einzigartig schön (und romantisch!) der Mollteil ab 6:07, balladenhaft, mit den typisch „Beethovenschen“ begleitenden Figuren der Solovioline. Insgesamt bemerkenswert: Clement gebraucht mehr Nebendreiklänge, auch mehr Zwischenmodulationen als Beethoven, der die tonale Basis breit ausbaut.
Clement Violinkonzert I Adagio
Und etwas zur Interpretation?
Eins zuerst: Mirijam Contzen ist eine Geigerin, deren Ton ich vielleicht von allen anderen (ob weiblich oder männlich) am ehesten unterscheiden kann: wenn ich nach Adjektiven suchte, würde ich mit aller Vorsicht nennen: fein, delikat, betörend, dezent, vornehm, kostbar, „unschuldig“, mit einem (zuweilen „nachgelieferten“) engen Vibrato, – man entdeckt es nur, wenn man danach sucht. Eine wunderbare, federleichte Musikalität. Menschen, die zu depressiven Stimmungen neigen, könnten durch das Erlebnis dieses Spiel geheilt werden… Ich könnte mir vorstellen, dass die bezaubernde Wirkung des Geigers Franz Clement einen ähnlichen Hintergrund hatte. Gefahrenpunkt: man kann süchtig werden.
Ich habe mir soeben sein Rondeau Brillant bestellt (Edition Offenburg, hrg. von Reinhard Goebel). Vielleicht komme ich seinem Geheimnis violintechnisch auf die Spur.
Das WDR-Sinfonie-Orchester habe ich oft erlebt, unter verschiedenen Dirigenten (Wakasugi, Vonk, Bertini, Bychkov, Saraste), nie im Leben hätte jetzt ich beim bloßen CD-Hören auf diesen Klangkörper getippt. Auch hier ein paar Adjektive: astrein, durchsichtig, filigran, suggestiv, – ohne unterscheiden zu können, ob es am Orchestersatz dieses Komponisten (etwa im Kontrast zu Beethoven) liegt oder am Dirigenten, von dem man weiß, dass er aus der (verjüngten) Alten Musik kommt. Und nicht vom späten Neunzehnten Jahrhundert rückwärts.
Nachtrag I (JR)
Die folgenden Seiten aus dem alten MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart Band 13 Bärenreiter Kassel etc. 1966) würde ich gern noch an dieser Stelle bewahren, sie sind dort im Artikel Violinmusik von Boris Schwarz zu finden:
Nachtrag II (JR)
Inzwischen (29.1.2020) habe ich ich mein „Clement-Studium“ noch etwas weitergetrieben und mir das von Reinhard Goebel herausgegebene „Rondeau Brillant“ zugelegt. Ich werde es ein bisschen (!) üben. Interessant ist auch der Verlag, sofern man Altes, Entlegenes, Unbekanntes aus den altbekannten Epochen sucht. Mehr darüber hier.
Am 29.1.2010 20:45 Uhr. Ja, ich habe das Rondeau „ein bisschen geübt“ bzw. durchgespielt, Takt für Takt, brillant will es nicht werden – sagen wir: es eignet sich nicht für mein Repertoire, und ich nehme alle Schuld auf mich. Eine andere kleine Sensation hat mich erreicht, ein Variationenwerk über Beethovens Thema der Chorfantasie op. 80, und ähnlich wie im Fall des Diabelliwalzers: aus der Feder verschiedener Komponisten oder gar: der führenden Geiger Wiens. Ich warte mit Spannung.