Archiv für den Monat: März 2015

Sturm!

Goldregen wird es hier nicht mehr geben

31. März 2015 Der schöne Baum wurde heute Mittag in meinem Garten niedergerafft. Vergleichsweise eine Kleinigkeit. Nach unserer anschließenden Autofahrt zu urteilen, Bonn hin und zurück, wird morgen ganz anderes in der Zeitung stehen…

Goldregen am Boden

Tatsächlich: Mehr aus Land, Region und Stadt

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Bach Sei Solo (JR Text II)

Jan Reichow: Struktur und Praxis / Beobachtungen an einem Adagio der Sonaten für Violine Solo von Johann Sebastian Bach (BWV 1001, g-moll) Fortsetzung

Im kürzlich angeschnittenen Kapitel sollte es um „Musikalische Rhetorik“ gehen, und es hatte folgendermaßen begonnen:

Seit man die barocken Ausführungen über „Musik als Klangrede“ nicht mehr blumig-metaphorisch versteht oder als frühe theoretische Hilflosigkeiten übergeht, sie vielmehr beim Worte nimmt, hat sogar Bach, der keines Fürsprechers bedurfte, in einer neuen / Weise zu reden begonnen. /

(Jetzt fortlaufend die folgenden Seiten anklicken!)

Bach JR 1992 11  Bach JR 1992 12 .

Bach JR 1992 13  Bach JR 1992 14 .

Bach JR 1992 15  Bach JR 1992 16 .

Bach JR 1992 17  Bach JR 1992 18 .

Bach JR 1992 19  Bach JR 1992 20.

Bach JR 1992 21  Bach JR 1992 22 .

Bach JR 1992 23  Bach JR 1992 24 .

Bach JR 1992 25  Bach JR 1992 Synopsis

Hier folgt die im Detail korrektere Vorlage dieser letzten Seite zur Struktur

Bach Struktur 1990

Bach Sei Solo (JR Text I)

Jan Reichow: Struktur und Praxis / Beobachtungen an einem Adagio der Sonaten für Violine Solo von Johann Sebastian Bach (BWV 1001, g-moll)

Diesen Beitrag habe ich 1991 geschrieben; er ist in der Festschrift für Josef Kuckertz „Von der Vielfalt musikalischer Kultur“ 1992 veröffentlicht worden, die seit langem vergriffen ist und nicht wieder aufgelegt wird. Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages (Ursula Müller-Speicher, Salzburg) mache ich hier den Beitrag wieder zugänglich, zumal die beachtenswerten Neuerscheinungen auf dem CD-Markt ein gesteigertes analytisches Interesse an der Musik erhoffen lassen. Gern würde ich vieles neu fassen und durchdenken, Druckfehler tilgen (beginnend mit einem falschen Ton im ersten Notenbeispiel links unten), fremde Gedanken, die mir attraktiv erscheinen, einbeziehen und diskutieren, zumal das schöne Gesamtkonzept von Christian Tetzlaff. Die Rückversicherung im Blog könnte ein erster Schritt sein, dem viele weitere folgen.

Bach JR 1992 1   Bach JR 1992 1b Bach JR 1992 1c   Bach JR 1992 2 .Bach JR 1992 3   Bach JR 1992 4 .Bach JR 1992 5  Bach JR 1992 6 .

Bach JR 1992 7    Bach JR 1992 8 .  Bach JR 1992 9 Bach JR 1992 10 .

Ende des ersten Teils / Der zweite Teil beginnt mit dem Abschnitt „Musikalische Rhetorik“ hier.

Bach Sei Solo

Gil Shaham mit Bachs Werken für Violine „solissimo“

Bach Gil Shaham

Bach Gil Shaham rück

„Ich bin mit den Sonaten und Partiten aufgewachsen, aber ich hatte immer Angst davor, sie öffentlich zu spielen. Vor ungefähr vier Jahren beschloss ich, mich ihnen erneut zu widmen. Mir wurde klar, wenn ich sie jetzt nicht spiele, werde ich sie nie mehr spielen, und ich werde sie nie besser spielen können als jetzt. Diese Musik ist einfach fantastisch. Wenn ich anfange mich damit zu beschäftigen, komme ich nicht mehr davon los. Ich habe das Gefühl, diese Musik transzendiert die Zeit, das ist der Grund, warum wir sie alle so sehr lieben. Und ich glaube, wir haben sehr viel von der historischen Aufführungspraxis gelernt – über den Stil und die Art, wie sie zu spielen ist. Ein großes Meisterwerk wie dieses kann man aus einer Vielzahl von Blickwinkeln betrachten. Ich habe eine Menge gelernt durch das Studium der Werke von Frescobaldi, Biber und Pachelbel, die mir geholfen haben, Bach zu verstehen. Ich habe versucht, diese Literatur mit einem Barockbogen zu spielen, ich wollte zumindest daraus lernen. Ich dachte zunächst daran, den Barockbogen auch im Konzert zu spielen. Schließlich habe ich mich dann doch für meinen Tourte-Bogen entschieden, über den ich eine größere Kontrolle habe.“

So stand es im Programmheft (Dorle Ellmers) der Kölner Philharmonie, als Gil Shaham dort am 17. März 2010 erstmals Sonaten und Partiten (in E, a und d) von Bach spielte.

Statistischer Vergleich einiger Aufnahmen

Dauer einzelner Sätze: Gil Shaham (2015)

Bach Shaham Tempo

Dauer einzelner Sätze: Christian Tezlaff (1994)

Bach Tetzlaff I

Dauer einzelner Sätze: Rachel Podger ( 2002)

Bach Podger

Dauer einzelner Sätze: Isabelle Faust (2012)

Bach Faust I

Ciaccona 11:04 (Gil Shaham), 13:00 (Christian Tezlaff), 13:36 (Rachel Podger)

C-dur-Fuge 8:12 (Gil Shaham), 10:03 (Christian Tetzlaff), 8:32 (Rachel Podger)

Das Tempo bzw. die Dauer der Sätze sagt nichts über die Qualität der Interpretation.

Es gibt eine wunderbare Einführung von Christian Tetzlaff (mit Susanna Felix) in das biographische Umfeld der Sonaten & Partiten, insbesondere eine analytische Einordnung des großen Werkes in C-dur BWV 1005, anzuklicken beim BR hier. Nach der CD-Aufnahme, die 1994 Hänssler erschienen folgte erstaunlicherweise 2007 – ebenfalls bei Hänssler – eine Neuaufnahme, die ich bei Gelegenheit gern mit der von Gil Shaham vergleichen möchte. Dieser Geiger hat mich fasziniert, seit ich ihn live mit dem 1. Bartók-Konzert in der Kölner Philharmonie erlebt habe (1999). Aber niemals hätte ich eine solche Bach-Aufnahme von ihm erwartet. (Mehr darüber später in diesem Blog!)

Prüfungsfrage: Glauben Sie, was Christian Tetzlaff sagt: dass nämlich das scheinbar fehlerhafte Italienisch auf dem Titelblatt der Sechs Violin-Soli in Wahrheit (u.a.) bedeuten soll: „Du bist allein“? (Weil das Werk von Bach im Jahre 1720 unter dem Eindruck des plötzlichen Todes seiner Frau vollendet wurde…)

Bach Sei Solo Titel

Jetzt erst fällt es mir wie Schuppen von den Augen: diese Deutung des „Sei Solo“ geht offenbar auf einen Artikel von Helga Thoene zurück, dessen ernsthafte Kenntnisnahme ich verweigere, seit ich die ECM-CD „Morimur“ (2001) gehört habe; die Durchsetzung des Vortrags der Ciaccona mit gesungenen Choral-Zitaten gehört für mich – unabhängig  von einem Gränchen Wahrheitsgehalt – in den Bereich des esoterischen Edelkitsches. Das manische Auszählen der Buchstaben des Namens J.S.Bach in den Noten erscheint mir in hohem Maße unmusikalisch, zumal wenn man sich die Legitimation letztlich nur aus dem Kanon des Haussmann-Bach-Porträts holen kann, der einem singulären Zweck diente. Ich halte es auch nicht für ein Wunder, dass die melodischen Grundformeln zahlloser Choräle in irgendeiner Form aus jedem Barockwerk herauslesbar sind: gehorchen sie doch den gleichen Rahmenbedingungen der Tonleiter und ihrer Tetrachorde.

Das erwähnte Konzept von Christian Tetzlaff kann ich inzwischen wiedergeben, da die neuere Version seiner Bach-Soli (hänssler Classic 2006) bei mir eingetroffen sind; an den lesenswerten Booklettext von Detmar Huchting schließt sich das persönliche Statement des Künstlers an:

Mit der tiefsten Violinsaite (G) in g-Moll beginnend, über h-Moll, a-Moll, d-Moll, C-Dur ansteigend bis zur höchsten Saite (E) im strahlenden E-Dur beschreibt er einen Weg durchs Dunkel zum Licht – mit der tragischen Ciaccona und der folgenden großen C-Dur-Fuge als Höhe- und Wendepunkt. Zwischen diesen Sätzen steht das Adagio der C-Dur-Sonate in einer Art musikalischem Niemandsland – geschrieben im selben Takt und ruhigen Tempo wie die Ciaccona, beginnend im selben Register wie diese (im Manuskript lässt Bach zwischen d-Moll-Partita und C-Dur-Sonate nicht einmal eine Zeile frei…) moduliert er bereits im 5. Takt zurück nach d-Moll; die erste vollständige Kadenz bringt uns nach g-Moll! C-Dur erscheint im ganzen Satz kaum und noch bis zum Schluss scheint der Satz eher zu den vorhergehenden Mollwerken zu kippen – bis dann in den letzten eine wie eine Beschwörungsformel klingende Tonfolge die Fuge einleitet. Ein solcher Jubel wie in diesem Stück ist für Geige vorher noch nie komponiert worden!

Ich kann nicht erwarten (und halte es bei einer Musikkonserve auch nicht unbedingt für sinnvoll), dass Sie sich den Zyklus als Ganzes anhören können oder möchten, schlage als Anregung aber deshalb vor, das Essentielle dieser Reise zu erleben, indem man die d-Moll-Partita und die C-Dur-Sonate hintereinander hört oder bei Zeitknappheit die Ciaccona und die ersten beiden Sätze der C-Dur-Sonate.

 Ihr Christian Tetzlaff

 Christian-Tetzlaff-©-Giorgia-Bertazzi-1316_2

Foto: Georgia Bertazzi

Vertrauen

Vom Vertrauen ist nun oft die Rede: mal ist eine Art „Weltvertrauen“ gemeint (Natur!), mal das Vertrauen oder der Mangel an Vertrauen in die politischen Verhältnisse, in die Sicherheitslage, in Putin, fern- oder nahestehende Menschen (jeder könnte sich in einen Täter verwandeln!).

Zu den Eigenschaften des Menschen gehört, dass er ohne Vertrauen kaum lebensfähig wäre, und außerdem, dass er für alles eine Erklärung haben möchte, aber sofort. Man muss darauf vertrauen können, dass das Dach hält, unter dem man schläft und das ein anderer gezimmert hat; dass im Flugzeugbauch kein Schraubenschlüssel an einer Stelle vergessen wurde, wo er unterwegs auf gar keinen Fall hingehört. Vertrauen ist unverzichtbar, und man denkt auch nicht darüber nach: Es gehört ja so selbstverständlich dazu. Wer hätte bis Donnerstag dieser Woche erwogen, ob ein Germanwings-Pilot auf die Idee kommen könnte, 150 Menschen in eine Felswand zu jagen?

Niklas Luhmann, der große Soziologe, hat das Vertrauen als „wirksamere Form der Reduktion von Komplexität“ bezeichnet – unsoziologisch gesagt: Wer alles bedenkt, verwirft und wieder bedenkt, der würde zu nichts mehr kommen. Tausend Mal am Tag bleibt einem kaum etwas übrig, als sich auf andere zu verlassen. Seit Donnerstag übrigens auch auf einen Staatsanwalt aus Marseille – nicht auszumalen, falls sich doch noch ein ganz anderer Absturzgrund herausstellen würde.

Quelle Süddeutsche Zeitung am Wochenende 28./29. März 2015 Seite 4 Flugreisen Vertrauens-Bruch  Von Detlef Esslinger.

Leben ist immer Ausgeliefertsein. Es geht nicht ohne blindes Vertrauen. Jeden Tag ist das so. Auf der Landstraße vertrauen wir darauf, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos nicht schläfrig ist, dass er keine SMS schreibt und nicht plant, sich mittels einer Karambolage ums Leben zu bringen. Wir vertrauen dem Heizungsmonteur, dem Arzt, dem Piloten. Unser Leben liegt oft in den Händen von Menschen, die wir nicht kennen, von Fremden, die Wahnsinnige sein könnten. Wir halten das aus.

(…)

„Die Hölle, das sind die anderen“, hat Jean-Paul Sartre geschrieben. Manchmal sind sie die Hölle, manchmal das Paradies, und fast immer ist es schlicht in Ordnung, ihnen ausgeliefert zu sein. Es lässt sich ohnehin nicht vermeiden. Nach der Katastrophe kommt zuerst das Innehalten im Schock, dann die Trauer, und dann leben die nicht unmittelbar Betroffenen weiter wie bisher. Anders geht es nicht.

Quelle Der Spiegel Nr. 14 / 28.3.2015 Seite 14 Leitartikel Ohne festen Boden Das Flugzeugunglück beendet den Mythos von deutscher Sicherheit. Von Dirk Kurbjuweit

PS. (am Tag danach)

Die Sendung „Hart aber fair“ (Notfall Psyche – Gefahr auch für die Mitmenschen) am 30.03. begann und endete mit dem obigen Textzitat von Detlef Esslinger, siehe hier.

Das moralische Gesetz in uns … Kant!!!

Der Eintrag in Beethovens Konversationsheft vom Februar 1822 ist oben im Titel nicht ganz vollständig wiedergegeben. Er lautet:

‚Das moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns.‘ Kant!!!

Seit ich diesen Satz kennenlernte, störte mich – über viele Jahre hin – der erste Teil. Weil ich keine Ahnung hatte! Ich unterstellte Beethoven (und Kant) eine blinde Begeisterung für das bloß Edle, allzu Rechtschaffene, beschränkt Menschliche, verknüpft mit dem Unermesslichen. Jetzt freue ich mich, die Selbstauslegung Kants von einem Musiker übermittelt zu bekommen: Thrasybulos Georgiades.

Die Stelle, in der Kant lapidar die Welt des Dinglichen und die Welt des ‚Soll-Tun‘ gegenüberstellt, bezieht sich nicht auf den Kunstbereich, sie steht nicht in der Kritik der Urteilskraft, sondern bildet den Schluß der praktischen Vernunft.

Hier dämmert es einem – allein durch die andere Formulierung und Akzentuierung -, dass Kant tatsächlich zwei extreme Phänomene zusammenspannt. Er hat es selbst aufs Genaueste dargestellt, und Georgiades zitiert diesen „Beschluß“ der ganzen Trilogie der „Kritiken“, – und wir sehen mit Erstaunen: die Reihenfolge ändert sich (zuerst kommt der bestirnte Himmel, das große Außen, dann das unendliche Innen, dessen Strukturen er erforscht hat, die reine, die kritische und die praktische Vernunft) und statt „uns“ steht im Original das – in diesem Fall – bescheidenere „mir“:

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt:

Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beides darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer unserem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.

Das erste fängt von dem Platz an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer.

Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich, nicht wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne.

Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen.

Das zweite dagegen erhebt meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche [welches?] nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.

Quelle Immanuel Kant „Kritik der praktischen Vernunft“, zitiert nach Thrasybulos Georgiades: „Nennen und Erklingen“ Sammlung Vandenhoeck Göttingen 1983 (Seite 289 f Anmerkung 535).

Die Unterteilung durch Absätze stammt von mir, aus dem Original nachgetragen habe ich die kursive Schrift bei bestimmten Worten: z.B.  tierischen GeschöpfsIntelligenz, die von mir in eckigen Klammern eingefügte Frage  [welches?] kann nach dem Blick ins Original gestrichen werden, das Wort bezieht sich also auf „Bestimmung“, – was allerdings von uns selbst klar begründbar sein sollte. Ebenso wie Satz für Satz dieser ganze „Beschluß“ – der übrigens samt wichtigem Nachfolgetext hier mit einem Klick aufzufinden ist. Woraus am Ende sonnenklar hervorgeht, dass mit dem „moralischen Gesetz in mir“ nichts anderes als die Ausübung der Philosophie gemeint ist.

Kein Wort über die zuversichtliche Grundhaltung einer vergangenen Zeit, die man „Idealismus“ nannte, weil sie sich auf Ideen bezog; nicht etwa, weil sie die Materie leugnete. JR.

Nachtrag 29. März 2015

Rechtzeitig kommt die Erinnerung an Rüdiger Safranskis Buch über „Das Böse oder das Drama der Freiheit“. Da kommt er gegen Ende auf das große Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755. Nach wie vor sehr lesenswert: Die gleiche Situation, die seit Menschengedenken immer wiederkehrt (nur mit dem Unterschied, dass man heute über jede einzelne auf jedem Punkt des Globus bis ins Detail unterrichtet wird), und die Menschen wissen keinen anderen Rat, als Kerzen anzuzünden und Schildchen aufzustellen mit der Aufschrift WARUM? Und nach wie vor geht es im Grunde um die Frage der Theodizee.

Damals wie heute kann man nur antworten:

Die Natur ist keine Quelle der Moral, und um die anderen Moralquellen, die im Menschen selbst entspringen, steht es auch nicht gut. (Seite 311)

Nach Voltaires „Candide oder der Optimismus“ hatte Kant 1791 seine Schrift  veröffentlicht: ÜBER DAS MISSLINGEN ALLER PHILOSOPHISCHEN VERSUCHE DER THEODIZEE.

Kants Hauptwerke – die großen KRITIKEN – waren zu diesem Zeitpunkt schon erschienen. Und es war klar, wie Kant bei diesem Theodizee-Tribunal eigentlich plädieren müßte: nämlich auf Nichtbefassung. Die menschliche Vernunft ist – das war ja ein Ergebnis der KRITIK DER REINEN VERNUNFT – damit überfordert, sich den Kopf des ‚Welturhebers‘ zu zerbrechen, so wie es Leibniz getan hatte. (S. 311 f)

Und Safranskis Buch über DAS BÖSE endet mit dem seltsamen Hinweis auf Kants „Pflicht zur Zuversicht“, an den ich mich erinnerte, als ich den Schlusssatz oben  schrieb (über die zuversichtliche Grundhaltung einer vergangenen Zeit, die man „Idealismus“ nannte):

In prekären Situationen, sagt Kant einmal, gibt es eine Art Pflicht zur Zuversicht. Sie ist der kleine Lichtkegel inmitten der Dunkelheit, aus der man kommt und in die man geht. Eingedenk des Bösen, das man tut und das einem angetan werden kann, kann man immerhin versuchen, so zu handeln, als ob ein Gott oder unsere eigene Natur es gut mit uns gemeint hätten.

Er ist ein Minimum von Ermutigung, – aber besser als nichts.

Quelle Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfort am Main 4. Auflage 2001 (Carl Hanser 1997)

Und da wir hier beim „Lichtkegel“ der Zuversicht geendet sind, könnten wir gleich in Safranskis späterer Schrift weiterlesen, wo allerdings von einem anderen Licht die Rede ist:

Das Licht am Ende des geschichtlichen Tunnels hat sich als Irrlicht erwiesen Der real existierende Sozialismus war nicht die große Befreiung, sondern ein graues und grausames Völkergefängnis, terrorisiert oder bevormundet von einer ideologischen Elite. (…) Das Vertrauen in die angeblich objektive Dynamik einer Fortschritts-Geschichte ist bitter enttäuscht worden. Soviel zum Vertrauen in die Logik des Außen. 

Und was das Innen betrifft – die Vorstellungen Rousseaus also, wonach das wahre Selbst zum Muster der Vergesellschaftung werden sollte -, so hat sich gezeigt, daß dieses Konzept zur Verfeindung mit der Pluralität, mit den vielen Freiheiten, führt. Die Lichtung des einen wird zur Verfinsterung für die anderen. Soviel zum Vertrauen in die Logik des Innen.

Es kommt wohl doch darauf an, daß man eine Lichtung findet, weder ganz innen, wie bei Rousseau, noch ganz außen, wie bei Marx.

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Fischer Taschenbuch Verlag 2. Auflage März 2006 (Hanser 2003) Zitat Seite 106 f.

Über den Begriff der „Lichtung“ müsste man an Ort und Stelle nachlesen, ebenso über den Stellenwert der Kunst (womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären: Beethoven nach Georgiades) – und schließlich das Umfeld der folgenden Sätze:

Nicht nur der Körper, auch unser Geist braucht einen Immunschutz; man darf nicht alles in sich hineinlassen, sondern nur soviel, wie man sich anverwandeln kann. Die Logik der kommunikativ vernetzten Welt aber ist gegen den kulturellen Immunschutz gerichtet. In der Informationsflut ist man verloren ohne ein wirkungsvolles Filtersystem. (…) Wer sich dem Kommunikationszwang nicht beugt, müßte sich von dem Ehrgeiz befreien, immer auf der Höhe der Zeit und an der Spitze der Bewegung zu sein. Nicht ans Netz gehen zu müssen, ist fast schon ein Privileg, ebenso wie in die Nähe sehen zu können, statt Fernsehen. Wir müssen wieder, sagt Nietzsche, gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. (a.a.O. S. 111 f)

Quelle wie vorher

Noch etwas zur „Abwehr des gestirnten Himmels“ findet sich bei Hans Blumenberg:

Alle Formationen des Deutschen Idealismus bis zum Neukantianismus interpretiert Blumenberg als hochmütige Abwehr des gestirnten Himmels der physikalischen Kosmologie: Entweder finde das physische Weltall mit seinen Milliarden Sternen in diesen Philosophien überhaupt keine Beachtung, weil die Gegenstände unserer näheren Umgebung als die Prototypen des Wirklichen gälten, oder aber das Ganze der Wirklichkeit werde rückgebunden an ein weltkonstituierendes Subjekt, das nicht mehr innerhalb des Ganzen stehe, sondern vielmehr dem Ganzen gegenüberstehe. Selbst wo sich der Deutsche Idealismus, wie etwa bei Schelling, dem physischen Weltall öffne, halte er es offenbar für unerträglich, „den Menschen nicht in der Mitte einer konzentrisch auf ihn gerichteten Realität zu sehen“ (GKW, 98). So sei Schelling stets um den Nachweis bemüht gewesen, daß der Mensch das Ziel der Weltentwicklung und in diesem Sinne alles des Menschen wegen entstanden sei. Dabei sei der Weg der Naturentwicklung vom Weiten ins Enge und vom Häufigsten zum Seltensten verlaufen. Solcher Naturdeutung zufolge macht die Übergröße der Welt nicht so sehr die Nichtigkeit des Menschen sichtbar, als daß sie vielmehr umgekehrt dessen Einzigartigkeit hervorhebt (…). Denn ist menschliches Leben auch nicht die herrschende Regel im All, das aus einem Feld unbeseelter, zielloser Kräfte besteht, so ist es doch die Ausnahme, deren Einzigkeit um so mehr hervorleuchtet, je breiter der Hintergrund ist, von dem es sich abhebt. Allerdings wird hierbei vorausgesetzt, daß das Seltene bereits das Kostbare ist. (…)

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung Junius Verlag Hamburg 2004 (Seite 85) Kapitel „Der Weltraum – ein Alptraum“.

Musikalische Zeichen und Wunder

Was macht unscheinbare Motive eigentlich bedeutend? Man wird sagen: die Wiederkehr ist es! Aber wieso denn? Die Wiederkehr könnte doch gerade den Überdruss hervorrufen, den ein steter Wechsel vermeiden würde. Jeder, der schon mal in einen Konzertführer geschaut hat, um sich über einen unbekanntes Werk zu informieren und ein paar nichtssagende Themenzitate sieht, wird sich gefragt habe: das soll ein Thema sein? ich kanns mir nicht mal merken, wie soll ichs wiedererkennen?  Ein Text von Georg Knepler lässt aufleuchten, dass es sich nicht um irgendeine Kleinigkeit handelt, sondern um eine grundsätzliche Frage.

Georg Knepler über das „Different-Machen“

Ich bediene mich eines Begriffs, den Harry Goldschmidt formuliert hat. Jeder musikalische Vorgang, er kann  noch so unscheinbar, so indifferent sein und in Musik tausende Male auftreten, kann durch bestimmte musikalische oder auch nicht-musikalische Verfahrensweisen herausgehoben, markiert, als bedeutungsvoll kenntlich gemacht – eben „different“ gemacht werden. Es kann sich um eine kurze melodische Floskel handeln oder um komplexere Gebilde. Und die zur Verfügung stehenden Verfahrensweisen reichen von der oftmaligen Wiederholung des Gebildes, unverändert oder variiert, bis zu seiner Verknüpfung mit Worten und Bildern oder Theaterereignissen und so fort. Der Sinn des Unternehmens kann darin bestehen, dem different gemachten Gebilde eine Funktion im Aufbau der musikalischen zu geben, es also als syntaktische Einheit zu behandeln, es kann ihm aber, darüber hinaus, semantische Funktion gegeben werden.

Nun unterscheiden sich musikalische Zeichen in vielfacher Weise von sprachlichen, mit denen sie dennoch – schon durch Verwendung des akustischen Kanals – verwandt sind. Musikalische Zeichen sind nicht annähernd in so selbstverständlich scheinender Weise (innerhalb einer Sprachgemeinschaft) allgemeinverständlich, wie es sprachliche sind. Dafür verfügen musikalische Gebilde, ob sie nun Zeichencharakter tragen oder unterhalb der Zeichenebene sich bewegen, über einen weit größeren Anteil an biologische vorgegebenen, also über Sprachgemeinschaften hinausreichenden Wirkungsweisen. Andere Unterschiede zwischen den beiden Zeichensystemen werden uns noch beschäftigen. Aber was in unserem Zusammenhang am meisten interessieren muß, ist die Tatsache, daß musikalische Zeichen nur in relativ wenigen Fällen den Grad von Konstanz, von lange andauernder Gültigkeit, erreichen, der eine der Grundlagen von Sprachgemeinschaften ist. Die meisten musikalischen Zeichen wenn der unpoetische Vergleich gestatte ist, immer wieder frisch angerichtet werden wie die Speisen in der Küche, wenn sie verdaulich respektive verständlich sein sollen. Und dabei spielt jener Prozeß des Different-Machens, um den es hier geht (…), eine entscheidende Rolle.

Quelle Georg Knepler: Wolfgang Amadé Mozart / Annäherungen / Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt 1993 (Henschel 1991) ISBN 3-596-11593-0 (Seite 33 f)

(Fortsetzung folgt)

Man sollte sich weitergehend mit dem Thema befassen. Hat Leonhard Bernstein nicht einmal eine Vortragsreihe darüber gehalten (auf der Grundlage der Forschungen von Noam Chomsky)?

Oder anhand dieses Buches: Die Semantik der musiko-literarischen Gattungen, Methodik und Analyse, herausgegeben von Walter Bernhart Tübingen 1994

Hier folgt ein Lückenbüßer:

Sparrenburg 150311

Motive, die für mich bedeutungsauslösend sind: nicht unbedingt die Sparrenburg dort oben über Bielefeld. Sondern das gelbe Sandsteingebäude vorne links, meine alte Schule, das Rats-Gymnasium. Über einer Tür waren in den Stein die Worte gehauen: DEO ET LITERIS. Wir wussten, dass es in korrektem Latein „LITTERIS“ heißen müsste. Und so sagte Mitschüler Eberhard Rudorf, von einem Lehrer bedeutungsschwer gefragt, was diese Worte uns sagen wollten, mit einem leicht ironischen Lächeln: „Gott und den Litern“, wohlwissend, dass der für seine Strenge bekannte Studienrat Röttger über die „Buchstaben“ zu den „Wissenschaften“ vorstoßen wollte. Lieblingsredensart (gern verwendet, wenn er einem eine besser als sonst geratene Arbeit zurückgab): „Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“

What about India’s Daughter?

Es ist bekannt, dass die indische Öffentlichkeit und die Weltöffentlichkeit gehindert wird, diesen Film zu sehen. Es geht aber darum, weiterhin zur Kenntnis zu nehmen, was der Fall ist, – und wie die Kontrahenten argumentieren.

Ich möchte mich zumindest daran erinnern und auf dem Laufenden halten, was in dieser Hinsicht geschieht (zu NDTV siehe hier):

Siehe auch hier:

http://www.independent.co.uk/news/world/asia/indias-daughter-how-india-tried-to-suppress-the-bbc-delhi-gangrape-documentary-10088890.html

Lesenswert auch der folgende Beitrag, – schon wegen der zahlreichen Meinungsäußerungen:

http://urbanasian.com/whats-happenin/2015/03/bbc-releases-indias-daughter-on-youtube/

Nachtrag 29. Mai 2015

Man lese zu diesem Thema (und der aktuellen gesellschaftlichen Situation in Indien) das Gespräch, das die Autorin Clair Lüdenbach für www.faust-kultur.de mit dem Schriftsteller RANA DASGUPTA geführt hat: HIER.

Ausgehend von der Frage:

Die Vergewaltigungen in Delhi und anderswo in Indien kommen nun in die Medien und die Täter vor Gericht. Das ist eine neue Entwicklung. Man kritisiert auch die Verteidiger der Vergewaltiger, die sich auf die Seite der Täter stellen. Und man diskutiert über moralische Werte. Das ist doch eine Errungenschaft, da bisher alles unter den Tisch gekehrt wurde. Gibt es da Hoffnung?

Dissonanzen

Der im vorigen Beitrag so leichthin erwähnte Zusammenhang (Pergolesis? Bachs? Corellis?) mit Palestrina, dessen Wirkungszeit ja noch ganz dem 16. Jahrhundert angehörte, sollte plausibler gemacht werden. Es geht um die frühe Behandlung der Vorhalte (die Dissonanz wird vorgehalten, bevor die erwartete konsonante Auflösung erfolgt; im Notenbild die 7, der Septimzusammenklang, eintretend als übergehaltener Ton):

Vorhalt Dissonanz

Knud Jeppesen schreibt dazu in seinem Standardwerk zum Kontrapunkt (s.u. Quelle), wenn es um die 4. Art des zweistimmigen Satzes geht:

Sie benutzt die Dissonanz um ihrer selbst willen! Man verlang hier ausdrücklich Dissonanz und eben Dissonanz zu hören – wohl, um sich über die ästhetisch wertvolle Kontrastwirkung zwischen Konsonanz und Dissonanz freuen zu können -, in der 2. und 3. Art wurden Dissonanzen nur eben toleriert. In der 4. Art wünscht man zwar die Dissonanz so placiert, daß sie deutlich hervortritt, doch hütet man sich hier wie überall vor brutalen oder zudringlichen Wirkungen. Man verlangt infolgedessen eine „Vorbereitung“ der Dissonanz, die darin besteht, daß der dissonante Ton von dem vorhergehenden unbetonten Taktteil, wo er als Konsonanz auftrat, herübergebunden ist. Dadurch, daß man den dissonierenden Ton unmittelbar vor dem Einsetzen der harten Wirkung in konsonantem Verhältnis zum Cantus firmus antrifft, wird der Dissonanz gleichsam der Stachel weggenommen; auch die stufenweise Auflösung nach unten – wohl eine der besänftigendsten musikalischen Wirkungen – trägt das ihre zum Dämpfen und Schlichten bei.

Ein schönes Beispiel folgt wenig später und erinnert bereits an den „Pergolesi-Duktus“ (zu den alten Schlüsseln: der C.f. beginnt mit dem Ton d‘, der Kontrapunkt der Oberstimme mit a‘) :

Vorhalt Dissonanzen

Quelle Knud Jeppesen: KONTRAPUNKT Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie VEB Breitkopf & Härtel Leipzig 1956 (Seite 105 und 107)

A.a.O. Seite 152 Übungsbeispiel dreistimmig

Vorhalt Diss 3stimmg orig

Dasselbe Beispiel in Violinschlüssel übertragen:

Vorhalt Diss 3stimmg viol

Bach und Palestrina als Antipoden des Kontrapunktes

ZITAT (Jeppesen):

Bach und Palestrinas Ausgangspunkte sind Antipoden. Palestrina geht von den Linien aus und gelangt auf diesem Wege zu den Akkorden, während Bachs Musik aus einem ideellen harmonischen Hintergrund hervorwächst und auf diesem die Stimmen in oft atemberaubend dreister Selbständigkeit entwickelt. Zwar sollte man sich wohl vor Parallelismen zwischen der Musik und anderen Kunstarten hüten, da sie in Wesen und Material zumeist so verschieden sind, daß ein jeder Vergleich von vornherein zwecklos scheinen müßte; aber ich finde doch eine Parallele zwischen der Bach- und Palestrina-Polyphonie in ihren gegenseitigen Beziehungen und (auf kunsthistorischem Gebiet) dem Verhältnis zwischen den sichtbaren Ausdrucksformen der Renaissance und des Barocks so auffällig, daß sie mir erwähnenswert scheint: Wie man es nämlich im 16. Jahrhundert mit einer Mehrstimmigkeit zu tun hat, die von den einzelnen Linien ausgehend, kraft deren künstlerisch beherrschtem Verhältnis zueinander, zur Einheit wird, so kann man auf dem Gebiet der bildenden Künste ein ähnliches Verhältnis beobachten, über das Heinrich Wölfflin in seinem Werk „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ im Hinblick auf die Renaissancekunst schreibt:

„In dem System einer klassischen Fügung behaupten die einzelnen Teile, so fest sie dem Ganzen eingebunden sind, doch immer noch ein Selbständiges. Es ist nicht die herrenlose Selbständigkeit der primitiven Kunst: das Einzelne ist bedingt vom Ganzen, und doch hat es nicht aufgehört, ein Eigenes zu sein“. [Wölfflin 4. Aufl., S. 16 (1920)]

In der Bildkunst des Barocks, z.B. Rembrandt und Rubens ist die Einheit nicht mehr Ergebnis; man geht von Einheit aus und gelangt zur Vielheit. Der Komposition der Malereien liegen gewisse breite Prinzipien des Aufbaus, z.B. der Fall des Lichtes und dergleichen, zugrunde; aus diesem Ganzen wachsen dann die spannunggebenden Einzelheiten hervor. Auch nicht einen Augenblick weiß man sich bedroht, das Gefühl von Einheit durch allzu viele, einander fremd und kalt gegenüberstehende Einzelheiten zu verlieren, wie man es z.B. in der Malkunst des frühen Mittelalters und in der Motettenkunst der „Ars antiqua“ befürchten konnte. Die Einheit hat hier Präexistenz, sie bildet Ausgangspunkt und Grundlage des Ganzen. Nochmals möchte ich Wölfflin anführen:

„Was der Barock als Neues bringt, ist nicht das Einheitliche überhaupt, sondern jener Grundbegriff von absoluter Einheit, wo der Teil als selbständiger Wert mehr oder weniger untergegangen ist im Ganzen. Es fügen sich nicht mehr schöne Einzelteile zu einer Harmonie zusammen, in der sie selbständig weiteratmen, sondern die Teile haben sich einem herrschenden Gesamtmotiv unterworfen, und nur das Zusammenwirken mit dem Ganzen gibt ihnen Sinn und Schönheit“. [Wölfflin 4. Aufl., S. 198 (1920)]

Aufs musikalische Gebiet übertragen, ließe sich dieses Zitat auf Bachs Kunst anwenden. Wie z.B. das Licht in Rembrandts „Nachtwache“, so durchzieht bei Bach ein breiter konstitutiver Streifen akkordmäßig modulatorischer Bewegungsimpulse das Musikbild, ein Lichtstreif, der zwar unter dem polyphonen Gesichtspunkt wie durch Prismen zu einem flimmernden, funkelnden Spiel zerstiebt, dessen Mannigfaltigkeit schließlich aber doch bis zu einem gewissen Grad auf Illusion beruht. Hiermit sei natürlich nichts über die polyphonen Werte Bachs gesagt, ebensowenig wie über Palestrinas; sie sind in beiden Fällen unermeßlich. Vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet muß aber zweifellos die Kunst, die die wenigsten Rücksichten auf Akkorde nimmt, den besten Ausgangspunkt bilden, wo es sich um Aneignung der Technik bestimmter Stimmführung handelt.

Quelle Knud Jeppesen (s.o.) Vorwort Seite IX f.

Ins Herz getroffen

Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi

Eine neue Aufnahme, die man nicht vergessen wird. Gestern auf arte und dort auch nachzuhören:

http://concert.arte.tv/de/pergolesis-stabat-mater-mit-philippe-jaroussky-und-emoke-barath

(Juli 2017 Dieser Link bei ARTE ist deaktiviert, siehe stattdessen bei youtube, wie folgt:)
Ausführende:
Philippe Jaroussky, Countertenor
Emöke Barath, Sopran
Ensemble Orfeo 55,
Nathalie Stutzmann, Leitung
Schlosskapelle Chapelle de la Trinité von Fontainebleau Château Fontainebleau
Hier stimmt alles: die Musik, die Kameraführung, die Menschen, die Stimmen, das Ensemble, die Leitung, der Ort, das Licht, die Düsternis.
(Ich würde sofort auf 2:17, den Anfang des Werkes, springen und erst später irgendwann die vorangestellten Statements von Jaroussky anhören und vor allem die Aussenansicht des Schlosses einprägen.)
***
Bei aller Ergriffenheit, die sich schon während der ersten Takte des Werkes einstellt, sollte man sich drüber klar sein, dass ein Teil der Pergolesi-Wirkung auf einem Topos beruht.
Ich denke z.B. sofort an Bach, Wohltemperiertes Clavier Bd. I, Praeludium h-moll. Hat er Pergolesis „Stabat Mater“ (1736) gekannt? Jawohl, jeder kannte es nach Pergolesis frühem Tod. Bach hat es sogar bearbeitet: Motette Tilge, Höchster, meine Sünden (BWV 1083), geschrieben etwa 1745. Das Praeludium aber bestand schon seit spätestens 1722:
Bach h-moll
Und nun muss man sich nur an Monteverdis „Duo Seraphim“ in der Marienvesper (1610) erinnern, um zu wissen: der Topos der Vorhalt-Fortschreitung (hier noch ohne „walking bass“) ist aber mindestens 100 Jahre älter. Er ist – italienisch. Wahrscheinlich kam er aus der Kontrapunktschule Palestrinas und wurde dann auch in der Instrumentalmusik zu einem Modell, das sich in den Werken von Arcangelo Corelli (seit 1700, 1708 Begegnung mit G.F.Händel) über ganz Europa verbreitete. (Vgl. auch Händel Concerto grosso op. 6 Nr. 4 3. Satz 1739).
Pergolesi (Anfang „Stabat Mater“):
Pergolesi Stabat Anfang