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Anmut und Würde?

Komponenten der Schönheit

Bevor wir Schillers philosophische Schriften gründlich zu lesen anfangen, sollte uns klar sein, in welchem Maße unsere Klassiker vom Geist des Griechentums besessen waren. Was immer sie darunter verstanden, – keine Skepsis kann uns darüber hinweghelfen, dass wir allzu wenig darüber wissen und doch glauben, uns davon distanzieren zu können. Kein Wort mehr in dieser Richtung. Wollen wir etwa die Weisheit des Genderismus dagegensetzen, wenn uns jemand mit den Grazien kommt, oder sein Schönheitsideal aus den Proportionen der Venus ableiten will?  Halten wir doch erstmal inne, sobald wir wissen, dass uns einiges an notwendigem Wissen fehlt, wenn Friedrich Schiller also anhebt:

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, Dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttin von Cnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht. Juno, die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt (den man der Gattin Jupiters keineswegs abspricht), ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Was ist mit dem Gürtel? Wer genau ist die Göttin von Cnidus? Hier ist der erste Schritt zum Verständnis. Hätte jemand geahnt, dass die griechische Nackheit durchaus nicht so selbstverständlich war, wie seit den Jahren der Wiederentdeckung vorausgesetzt wurde? Wiedergeburt, Renaissance. Dass die Scham, zumindest die weibliche, ein Thema war? Nichts falscher als an die Kriterien einer FKK-„Kultur“ zu denken. (Siehe am Ende des Artikels zum David hier). Wohlgemerkt, bei Wikipedia heißt es:

Der Bildhauer habe dann zwei Versionen angefertigt: eine vollständig bekleidete und eine völlig nackte. Die schockierten Einwohner von Kos hätten die Nackte zurückgewiesen und die bekleidete Version gewählt.

Von der letzteren ist keine Kopie überliefert. Nimmt uns das wunder?

Der Gürtel! Verstehen Sie, was er bedeutet? Siehe dazu hier. (Nebenbei auch hier.) Was also ist der Unterschied zwischen Schönheit und „Anmuth“? Hat Anmut immer mit Bewegung zu tun? (Ist es unanständig, in diesem Zusammenhang an Sex appeal zu denken? Man schaue nur auf das Knäblein an der Seite der weiblichen Figur, eine Priapus-Gestalt, die jedoch – wie die ganze Skulptur – aus römischer Zeit stammt. Man mag sie nicht geil nennen.)

Weiter mit Schiller:

Die Schönheitsgöttin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne übergehen.

Die nämlichen Griechen empfahlen Demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein Neigung einflößen kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern als folgenden Sinn einschließen.

Bemerkenswert übrigens, dass Schiller auch von „Demjenigen“ spricht, und dass die Grazien auch dem Manne gewogen sein sollten, ja unentbehrlich sind, wenn er gefallen will.

Anmuth ist eine bewegliche Schönheit; eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz Besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig sei, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft aufdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deßwegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweitens etwas Zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bei dem Minderschönen und selbst bei dem Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minderschöne, auch das Nichtschöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön sein, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben; die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es gibt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Eine andere Zwischenfrage, die noch nicht im Text anklang: Was ist eigentlich Moral?

Wir verstehen darunter oft – sehr vereinfacht – ein menschenfreundliches Wertesystem, gern auch (einfach) ein christliches. Und wenn Nietzsche Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen“ bezeichnet, hat er sich offenbar dieses Vorurteils bedient. Obwohl gerade er wusste, was alles ins Gebiet der Moral fällt, eben auch die von ihm präferierte „Herrenmoral“. Im philosophischen Sinne halten wir uns an das Metzler-Lexikon: demnach bezeichnet Moral

den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. Moralen differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der Moral ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede Moral ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv.

Ich füge diese (unvollständige) Definition an dieser Stelle nur ein, um daran zu erinnern, dass man Schillers Begrifflichkeit nicht allzu intuitiv auffassen sollte, sie bezieht sich ja unmittelbar auf KANT; wobei aber nun die leichtere Lesbarkeit nicht ohne Tücken ist. Verstehen wir nicht zu schnell! Folgen wir Schiller in bedächtiger Leseweise. Ich wechsele auch regelmäßig zu anderen Schriftbildern (Dünndruckausgabe der 50er Jahre) oder in die Wiedergabe des Projekts Gutenberg . Und folge Schiller weiter in seiner Antwort auf die zuletzt gestellte Frage:

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazie nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttin von Cnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da, wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur: darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel zu entwickeln und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sei mir erlaubt, zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in so viel andern Fällen, wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahnet und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Bevor Schiller nun einen neuen Begriff einführt, den der architektonischen Schönheit – wohlgemerkt: des Menschen –

Mit diesem Namen will ich denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

möchte ich mich einschalten, um jenseits aller modernen Wokeness-Bedenken ein paar Beobachtungen zu verbalisieren, die sich aus alten Gewohnheiten heraus nicht eliminieren lassen. Man registriert andere Menschen nicht, ohne insgeheim ihr Aussehen zu bewerten (oder auch zu relativieren). In welche Runde man auch immer gelangt, – ob real oder als Fernsehzuschauer/in – man weiß, wer gut aussieht, oder bei wem man, sagen wir, von einer instinktiven Bewertung absieht, oder auch abstreitet, dass dies überhaupt eine Rolle spielt. Immer wieder kommt man aber zu der Erfahrung, dass jemand im Laufe eines Gespräches auf geheimnisvolle Weise sein/ihr Aussehen ändert. Klartext: wer hässlich wirkte, erscheint plötzlich ausdrucksvoll, um nicht zu sagen „schön“. Die Gesprächsbeiträge haben den naturgegebenen Ausdruck des Gesichtes überlagert. Ich kann natürlich grundsätzlich jede Äußerung über „gutes Aussehen“ oder gar „Schönheit“ unterlassen oder zurückweisen, was aber nicht garantiert, dass die Einschätzungen im Untergrund nicht um so heftiger ihr Unwesen treiben. Eine Frau, die noch keinen Ton gesagt hat, kann mir die Kehle zuschnüren. Angesichts eines (jungen) Mannes neutralisiert man sich gern mit Spott (und der Melodie: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön!“).

Ganz verpönt ist der Ausdruck von der „schönen Seele“ (anders noch als: „Gutmensch“), er wirkt ebenfalls sofort ironisch, und wenn er bei Schiller auftaucht, muss man ihn fortwährend „passend“ paraphrasieren.

Ich bin allerdings glücklich über Schillers Begriff von der architektonischen Schönheit des Menschen. Und würde ihn auch anstandslos auf das Tier übertragen, auf ein edles Pferd, natürlich auch auf einen Schmetterling, sogar auf eine Raupe oder eine Kröte; bei deren Charakterisierung wir vielleicht das Wort Anmut vermeiden würden, außer bei übertrieben poetisierender Tendenz. Bei Gelegenheit schaue ich nochmal in das Buch von Josef H. Reichholt (der wohl immer schon gut aussah).

  s.a. hier (u.a.Bredekamp)

Was ist es nun, das sich verändert, wenn ein Mensch nach einem Gespräch anders aussieht als vorher?

Wir folgen Schiller:

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt, diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues ( architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondernder auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur, welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück, welches das Bildungsgeschäft der Natur vor jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grunde liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke, noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues  [← Achtung: im Gutenberg-Text steht an dieser Stelle sinnloserweise das Wort „Balles“] durch den Begriff, der demselben zum Grunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isoliert doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein rein ästhetisches Urtheil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn, sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann nie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur in sofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses Letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, welches einen Widersprach einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höhern Bestimmung ist; denn wäre dieses, so würde die nämliche Bildung aufhören, schön zu sein, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte; so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt; man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in sofern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung, zugleich mit den Bedingungen zusammentrifft, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

(Fortsetzung folgt)

Wenn man vielleicht etwas schockiert wahrgenommen hat (siehe Wikipedia-Artikel oben), wie realistisch „man“ in der Antike die Weiblichkeit einer Statue zur Kenntnis nahm,

Der Überlieferung zufolge war die Figur derart lebensecht, dass sich ein junger Mann in der Cella des Tempels einschließen ließ und mit ihr zu verkehren versuchte. Ergebnis dieser Bemühungen sei ein unauslöschlicher Fleck auf der Rückseite eines Oberschenkels gewesen, der offenbar tatsächlich vorhanden war und den Anlass zu dieser Erzählung gegeben haben könnte.

wird man auch Schiller leichter zugestehen, dass er die antike Kunst nicht nur unter dem Aspekt der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gesehen hat, und dass in seiner Zeit ebenso wie 100 Jahre später fortwährend das Frauenbild moralistisch justiert oder entmythologisiert wurde. Daher habe ich an dieser Stelle für mich auch andere Lektüren interpoliert, in denen es um die Bedeutung der Renaissance für die deutsche Klassik geht  und zugleich um die Gender-Motivik der heutigen Forschung. Z.B. in dem lesenswerten Buch Interkulturellr Transfer und nationaler Eigensinn Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften / Herausgegeben von Rebekka Habermas und Rebekka v. Mallinckrodt. Darin besonders interessant der Beitrag von Michael Wenzel über „Das weibliche Bildnis der Italienischen Renaissance“. (Siehe auch hier.)

  Wallstein Verlag ISBN 3-89244-731-4

  Flora, Frühling, Braut, Schauspielerin, Kurtisane?

Emil Staiger und die Lyrik

Über allen Gipfeln

Wieder einmal kehre ich in die 60er Jahre zurück, um die Zeitspanne, die mich von meinen Anfängen trennt, zu ermessen. Damals gab es kein Wikipedia, kein Internet, das fällt bei jedem Thema, das ich neu angehe, als erstes ins Gewicht. Wie schwierig war es damals, einen Überblick zu gewinnen, auch: sich von bestimmten Ansätzen zu lösen. Wenn man einmal drei Bände von Emil Staiger erworben und studiert hatte – und zwar mit Begeisterung -, glaubte man, mit diesen Themen fürs Leben vorgesorgt zu haben. Und nach 50 Jahren erinnert man sich vor allem daran, dass der Mann plötzlich nicht mehr zitierbar war, – war nicht der neue Geist der 68er schuld daran? Aber das dauerte ja noch 7 Jahre … heute weiß man über den Zeitrahmen in 1 Minute mehr als damals in Wochen.

Danach erst kam Wolfgang Kayser „dran“, der schon 1960 gestorben war, dessen Standardwerk aber erst in dem Augenblick kontaminiert erschien, als ruchbar wurde, was heute in Wikipedia hier als erstes auffällt. Rudolf Walter Leonhardt schrieb in der ZEIT zum 29. Januar 1961 einen ergriffenen Nachruf, – ebenfalls ahnungslos? Andererseits: ich sollte „Das sprachliche Kunstwerk“ unbedingt aufs neue konsultieren. Es ist kein ideologisches Werk. Unverzichtbar seine „Geschichte des deutschen Verses“, darin insbesondere die Neunte Vorlesung über Brentano und über „Des Knaben Wunderhorn“, eine neue Welt des Rhythmischen und des Klanglichen tut sich auf. (Staiger und der Bezug auf die Musik ab Seite 124 ff !)

Besitz JR 6.XII.61

Wikipedia zu Emil Staiger hier

Züricher Literaturstreit hier

Tondokument Staigers Rede „Literatur und Öffentlichkeit“ hier

Nachruf 30.04.87

Kaum ein anderer Literat hat so einsichtig über Musik gesprochen, wenn er über Lyrik nachdachte, wie Emil Staiger. Vielleicht niemand sonst bis zu Thrasybulos Georgiades, dessen grundlegendes Buch über“ Schubert / Musik und Lyrik“ 1967 (2.Auflage 1979) erschien. Also nach Staigers „Grundbegriffen der Poetik“ 1959 (Atlantis Verlag), und daraus jetzt die folgenden beiden Seiten, dann der Anfang der Übersicht des Georgiades-Werkes:

Emil Staiger

Georgiades Inhalt (Über allen Gipfeln)

Wandrers Nachtlied u.a. – der Text im Umfeld der ersten Gesamtausgabe 1827

Eine Gedicht-Interpretation (zu Wandrers Nachtlied 1 und 2) Auszug

Autor: Reinhard Lindenhahn

Quelle Arbeitsheft zur Literaturgeschichte WEIMARER KLASSIK von Reinhard Lindenhahn / Cornelsen Verlag Berlin 1996 (siehe hier)

Übrigens: ich habe vor wenigen Jahren (2016) schon einmal zum „Nachtlied“ recherchiert, an Ort und Stelle: hier , ohne mich an Emil Staiger zu erinnern. Nicht zu vergessen auch dieser Link zu Wikipedia: hier.

Der folgende Textausschnitt soll (mich) daran erinnern, von der oben erwähnten Arbeit über „Die Geschichte des deutschen Verses“ überzugehen zu dem interessanten Verhältnis zwischen Dichtung und Musik, und zwar anhand der Schubertschen Vertonung des Goethe-Gedichtes (und auch im Vergleich zu anderen Vertonungen), so wie es Georgiades in seinem großangelegten Buch über Musik und Lyrik (SCHUBERT) unternimmt.

Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1979

Diese präzise Sensibilität der Liedbetrachtung ist ohne Vergleich; sagen Sie nur vorweg, in welchem Vers Goethes die entscheidende „Brechung“ stattfindet (s.o. Seite 109 „Ein gleiches„), und lesen Sie die Begründung des Autors…

Dietrich Fischer-Dieskau 1969, – in studentischen Zeiten war er jahrelang das Nonplusultra des Liedgesangs; irgendwann aber begann man zu diskutieren, ob er nicht zu einer gewissen Manieriertheit des Vortrags neigte. So vollkommen seine Technik, witterte man doch die Absicht, die verstimmt. Wie hier zu Anfang in den Worten „überrallen“ Gipfeln, oder im leicht übertrieben inbrünstigen, zweiten „warte nur“. Es gibt nichts Empfindlicheres als solche Musik, solche Verse, und es trifft am Ende selbst den, der eine solche Differenzierung überhaupt erst in die Liederabende eingebracht hat.

SUFI RUMI

Noch eine Übung zur Toleranz?

„Stirb, stirb und fürchte nicht den Tod …“

Wer war Rumi? Siehe Wikipedia hier – Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī

Ein iranischer Journalist, der in Kalifornien lebt, begibt sich auf Spurensuche nach Konya

https://www.noaharjomand.com/about hier

die CD mit Ghalia Benali & Constantinople

das Rumi-Gedicht Tr. 4

Der Liebesbegriff in der islamischen Mystik: https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/1562159/full.pdf HIER ganzer Text / hier biographische Info

ZITAT aus dieser Arbeit von Barbara Lorenz (Graz, 2016) S.53

Das dem Propheten zugeschriebene Postulat des Sterbens, bevor man stirbt findet bereits in der Lebensgeschichte von Hallaj, der Rumi in mehrerlei Hinsicht beeinflusste, einen deutlichen Niederschlag. Rumi wählt mitunter durchaus ungewöhnliche Bilder für
diesen Prozess, so etwa das Kochen von Kichererbsen, das Bild des
„Gegessenwerdens“, aber auch das Opfer Abrahams. Es ist dieses notwendige
Nicht-Sein, um zu werden und zu sein. Grundlage der Suche aller Meister nach dem
Zerbrochen-werden und Nicht-sein. Ein ghazel aus dem Diwan bringt es zum
Ausdruck:
Stirb, stirb, bis diese Liebe tot ist! Wenn du in Liebe gestorben bist, wirst
du die unvergängliche Liebe gewinnen. Stirb, stirb und fürchte nicht den Tod! Denn
du wirst die Himmel gewinnen, wenn du dich über dieses irdische Sein erhebst.

Stirb, stirb und trenne dich von deinem niedrigen Selbst! Denn dieses niedrige
Selbst ist eine Fessel, und du gleichst einem Gefangenen! Stirb, stirb und komm
heraus aus dieser Wolke (deiner Ichhaftigkeit). Kommst du aus dieser Wolke heraus,
bist du der leuchtende volle Mond. Sei still, sei still, da Schweigen mit dem Tod
verwandt ist! (Aber) die Stimme deines Schweigens ist voller Leben!

Auf der vorhergehenden Seite 52 zitiert Barbara Lorenz ein berühmtes Rumi-Gedicht, das auch  in einem schönen Wikipedia-Artikel behandelt wird (Rezeption persischer Literatur im deutschsprachigen Raum – betrifft an dieser Stelle besonders Friedrich Rückert): nachzulesen hier.

Siehe, ich starb als Stein und ging als Pflanze auf / Starb als Pflanze und nahm drauf als Tier den Lauf. / Starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht’ ich dann, / Da durch Sterben ich nie minder werden kann! / Wieder, wann ich werd’ als Mensch gestorben sein, / Wird ein Engelsfittich mir erworben sein, / Und als Engel muss ich sein geopfert auch, / Werden, was ich nicht begreif’: ein Gotteshauch!

Zugleich muss ich gestehen, dass es mir mit Rückert immer etwas zwiespältig erging: seine Verse hatten für mich immer etwas Kunstgewerbliches, Holpriges, Gezwungenes, geliebt habe ich sie immer nur dank der Musik, mit der sie sich verwandelten, von Schubert, Schumann bis Gustav Mahler.

Und wenn ich in die Titelei dieses Artikels noch einmal die „Toleranz“ eingefügt habe, hat dies den Grund, dass ich den Essay von Rüdiger Bubner nicht aus den Augen verlieren will, – ein Wunder der Logik, der klaren Gedankenentwicklung. Zugleich Markzeichen einer Spaltung, die mir Anfang der 60er Jahre immer bewusster wurde: seit einer ersten Nietzsche-Begegnung 1955 neigte ich dazu, mich seiner apollininisch-dionysischen Polarität zu bedienen. Sie erschien mir in unterschiedlichsten Verkleidungen, sagen wir: in den Gestalten von Hamsun versus Adorno, oder Hermann Hesse vs. Gottfried Benn. In Robert Musils Hinweis auf eine „taghelle Mystik“ schienen sie mir vereinigt. (Sehr merkwürdig auch die Zerebralität Anton Weberns und seine theosophischen Träume.) Aber wer spricht noch von Vereinigung? Dialektik ist Alles.

Und all dies spielt eine Rolle beim Hören dieser Rumi-CD und beim Lesen des begleitenden Textes, den kreisenden Assoziationen, der Erinnerung ans Auswendiglernen des genialen Goethe-Gedichtes, das ich mit Tinte an die Fensterscheibe meines Zimmers am Paderborner Weg geschrieben hatte (mit Blick auf die in der Tiefe liegende Stadt – Bielefeld): „Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet, das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet.“ Und heute nun dies:

Lese ich hier von Rumi, dem „Meister der Meister“, und der Frau, die seine Geliebte und Muse wird? Und die Illustration zeigt offenbar einen männlichen Derwisch, ebenfalls der weitere Text, nebst Hinweis, dass die anderen Schüler des Meisters eifersüchtig wurden? Kein ganz zufälliger Lapsus. Es ist ein großes Thema, dieser Austausch der Geschlechter in der orientalischen Lyrik.

Aber im Fall des Schams-e Tabrizi gibt es leicht Aufkärung: z.B. hier .

Der Fehler stört: er beruht auf einer Gedankenlosigkeit der Übersetzung, – offenbar aus der französischen Fassung, wo es sich allerdings um die männliche Form handelt, abgesehen von dem Wort „muse“, dort steht nämlich: „et celui qui devient son bien aimé et muse“ – auf deutsch also eine klärende bzw. verschlimmbessernde Version, – wozu, um Gottes Willen, denn das??? Ich will es gerne so verstehen:

Doch ob Rumi und Schams einzig in ihrer Liebe zu Gott vereint waren oder ob ihr Miteinander auch erotische Elemente barg, kam nie ans Tageslicht. Und da Rumi ein respektabler, wenn nicht gar hochverehrter Bürger der Stadt war, sorgte das Verhältnis der beiden Gottessucher zwar immer wieder für Gerede, wurde aber hinter vorgehaltener Hand diskutiert.

So im DLF Skript 7.10.2015 siehe hier , eine gut zu lesende Einführung. Die Stadt, von der hier die Rede ist, heißt Konya.

Meine Erinnerung an die alten Mauern Baktriens (Fotos JR 1974 bei Balkh/Nordafghanistan)

 

  

Habe ich es gewusst, als ich die Bilder machte? Hier in Balch/Baktra wurde Rumi am 30. September 1207 geboren. Die Familie verließ die Region vor Dschingis Khans Mongolensturm 2019 und kam (über Mekka) „nach Anatolien (Rūm, daher der Beiname Rūmī), das damals von den Rum-Seldschuken beherrscht wurde“ (Wikipedia).

Und noch etwas ist unvergessen: dass die Sängerin Ghalia Benali mir schon 2010 Respekt eingeflößt hat, als sie sich an das Erbe der großen Ägypterin Oum Kalthoum heranwagte. „Al Atlal“!!! (Siehe auch im Blog hier!) Jetzt hat sie gemeinsam mit Kiya Tabassian ein großes Thema erschlossen, das nahtlos zu ihrer herrlichen Stimme und diesem hochmusikalischen Ensemble passt.

A wie Adorno

Eine Rückkehr

Adorno (Theodor Wiesengrund-Adorno) hat mich begleitet seit 1960, genauer: seit 1959 – mit „Dissonanzen“, das Buch gehörte meinem Bruder, es muss es in der Mainzer Musikwissenschaft bzw. Schulmusik Pflichtlektüre gewesen sein. Fast gleichzeitig entlieh ich – noch zuhaus – aus der Bielefelder Stadtbücherei die „Philosophie der Neuen Musik“ und ließ mich davon nicht entmutigen. Ein eigenes Exemplar las ich in Berlin, mit Rot- und Blaustift versehen, endlos Zeile für Zeile, im Café Kranzler, immer wieder mit lichten Augenblicken, aufflammender Begeisterung. Ich ließ mich durch seine Position gegen Strawinsky nicht beirren. Danach kam jedes Jahr mindestens ein weiteres Buch dran. Auch Rundfunkvorträge, von denen ich glaubte, dass sie im Äther verlorengehen könnten, verschriftlichte ich nach den Tonbandaufnahmen in stundenlangen Sitzungen (in Köln-Niehl und in Gummersbach, wo ich unterrichtete und manchmal übernachtete). Ich habe die Anfänge schon einmal rekapituliert. HIER. Auch in Visp (Visperterminen), wo er gestorben ist, habe ich seiner gedacht, auf langen Wanderungen. Mein Zimmer in der Solinger Wohnung Querstraße war mit einem langen Zitat aus dem „Getreuen Korrepetitor“ tapeziert, das ich täglich betrachtete. Was mich nicht schreckte: wie er Bach gegen seine Liebhaber zu verteidigen suchte, wie er mit dem Jazz verfuhr, mich störten eher seine Imitatoren. Ich polemisierte gegen Clytus Gottwald, dessen Verdikt über Historische Aufführungspraxis mich ärgerte, da wollte ich seine Neue Musik auch nicht hören. Manfred Gräter, den ich als späteren Kollegen im WDR nie kennenlernte, aber sein frühes Buch hat mich durchaus beschäftigt, zu Zeiten wo mir Hindemith noch das Maß der Moderne bedeutete.

Um so willkommener der neue Anstoß.

https://lenitiv.notion.site/Adorno-Audiothek-2f95092d2b2645d7a1d82b11df50bce0

Zur Adorno-Audiothek Hier !!!!

Ein Beispiel:

Adorno über Popmusik

Die ästhetischen Grausamkeiten der Beatles

hier

Die Situation der Klassik im Entertainment

Inas Nacht

Wenn ich bedenke, dass die Bach-Sonaten und -Partiten mit Leonidas Kavakos (wie so vieles anderes) bei Sony Entertainment herausgekommen sind, überlege ich, womit die „große Klassik“ eine solche Rubrizierung verdient hat. Ich weiß: Hofmusik, Tanzboden und was man da alles beschwören kann. Geschenkt.

Ich habe etwas übertrieben: das Label heißt Sony Classical, immerhin, und ist nur unter dem großen Dach von Sony Music Entertainment im weiten Sinne beheimatet, wie das Leben insgesamt ja nichts anderes ist als Unterhaltung, sagen wir,  im allerweitesten Sinne.

Wenn ich mich nun selbst selbst tief in der Nacht entertaine und das Fernsehen eingeschaltet habe, lande ich nicht ungern bei Inas Nacht und bin bereit, sowohl Ina Müller als auch Peter Heinrich Brix zur Kultur zu zählen, hoch oder tief, ich weiß es nicht. Speziell musikalisch sind sie durchaus, und besonders der Gast ist dazu noch für diese Sendung ein Idealfall an Witz und Verschmitztheit. Ich lache mindestens ebensoviel wie der mitwirkende Shantychor, der die entsprechenden Gags mit der Unisono-Strophe „What shall we do“ bedenkt, die wie der Tusch in der Büttenrede fungiert. Dankbar für diese Lach-Anlässe notiere ich quasi als Volkes Stimme, was die beiden Protagonisten einander und mir über Klassik mitteilen.

Inas Nacht mit Peter Heinrich Brix und Anja Kohl NDR 19.02.22, 00:30 Uhr, HIER ab 15:09

Müller: Lieber zum Heavy Metal oder zum Open-Air-Festival gehen?

Brix: Da geh ich mal zum Heavy Metal. Weil, ich muss zugeben, die Hochkultur ist für mich auch in weiten Teilen … nicht erschlossen. (Lachen im Hintergrund) Bildungsmangel! (Nee nee!) Aber manch einer, der (Händeklatschbewegung) da sitzt (klatscht + vielsagendes Lächeln).

Müller: … das ist einfach nicht Bildungsmangel, sondern es ist, finde ich, einfach Geschmacksache. Ich saß neulich in einem Liederzyklus-Abend und dachte, ich glaube der Liederzyklus wird mich nicht schaffen! (Lachen) also – das ist dann die Elbphilharmonie, die kennt man dann irgendwann und steht da einer mit dem Flügel und singt Musik, die du nicht kennst … Frühlingszyklen, ich weiß nicht was, alles hört sich „geht-so“ an, und es dauert zwei Stunden…

Jaja, ich sach ja,

… das kannst du heute nicht mehr machen!

Ja, aber es gibt auch Leute, die das — die damit durchaus was anfangen können, die da mehr drüber wissen, die das noch erreicht, wie soll ich das erzählen, äh, ich glaub, dass — du hast keinen Zugang!

Kuckst du dir denn mal so ne Mozart-Oper an (er hebt das frischgefüllte  Bierglas) in der Hamburger —

Nee! (beide prosten sich zu)

Lachen, Einwurf Shantychor „What shall we do with the drunken sailor“, bis etwa 16:32

Was mag es gewesen sein, was Ina Müller in die Elbphilharmonie getrieben hat? Vielleicht die Veranstaltung zum Internationalen Welt-Mädchen-Tag hier ? Oder gab es „Die schöne Müllerin“? Da könnte sie geschmackvollerweise eine Karte geschenkt bekommen haben.

Bei der Imagination der Szene in der Elbphilharmonie jedenfalls, ob großer oder kleiner Saal oder irgendwo noch viel kleiner, fiel mir ein Satz aus Thomas Manns Novelle „Tristan“ ein. Da wird in einer Gesellschaft Musik am Klavier dargeboten, Nocturnes von Chopin, es ist die klassische Salon-Situation, und dann endlich: Tristan, vermutlich Vorspiel und Liebestod.

Unterdessen hatte bei Rätin Spatz die Langeweile jenen Grad erreicht, wo sie des Menschen Antlitz entstellt, ihm die Augen aus dem Kopfe treibt und ihm einen leichenhaften und furchteinflößenden Ausdruck verleiht. Außerdem wirkte diese Art von Musik auf ihre Magennerven, sie versetzte diesen dyspeptischen Organismus in Angstzustände und machte, daß die Rätin einen Krampfanfall befürchtete.

Nein, der Liebestod erfolgt erst viel viel später, Hörnerklang, offenbar der ganze zweite Akt bis zu Brangänes Habet-Acht-Gesang. Ach Ina, wer das kennte! Es ist Geschmackssache, aber wer will schon so lange bei der Rätin Spatz sitzen…

Es hilft nichts, ich muss mehr von der Geschichte preisgeben, die ich mir damals, am 22. November 1963 für die Ewigkeit vorgemerkt habe, wohl auf einer Bahnreise, denn ich habe, vielleicht für den Fall, dass ich den voluminösen Band irgendwo liegen lasse, vorn die vollständige (studentische) Heimadresse eingetragen: 5 Köln-Niehl / Feldgärtenstrt. 154 bei Heinen.

Quelle Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 1963

Der folgende Link nur für den Fall, dass ich vergesse, wie die Klassik heute als Erfolgsunternehmen zugerichtet wird:

BERLIN Opus Klassik: Hier https://www.zdf.de/kultur/opus-klassik/opus-klassik-2022-100.html hier

Ex improviso: Kleist, Beethoven und Anton Kuh

Wie improvisiert kann die freie Rede sein?

In der klassischen Redekunst geht es offenbar um den freien Vortrag eines – in der Gedankenführung – detailliert vorbereiteten Textes (Quintilian). Das berühmte Beispiel des imaginierten Gebäudes, das man gemächlich durchschreiten kann, nachdem man in jedem Raum gedanklich bestimmte Themen bildhaft deponiert hat: man ruft sie der Reihe nach ab. Es ist eine effektive Gedächtnishilfe.

Cicero gegen Catilina (Wiki hier)

Der scheinbar neue Gedanke, den Kleist einem Freund per Brief entwickelt, wird bei Wikipedia folgendermaßen wiedergegeben, nämlich:

Probleme, denen er durch Meditation nicht beikommen kann, zu lösen, indem er mit anderen darüber spricht. Dabei ist nicht wichtig, dass dem Gegenüber die Materie bekannt ist, sondern der ausschlaggebende Punkt ist das eigene Reden über den Sachverhalt. Mit dieser Methode könne man sich selbst am besten belehren: „Die Idee kommt beim Sprechen“. Kleist selbst habe diese Idee gehabt, als er beim Brüten über eine algebraische Aufgabe nicht weiter kam, aber im Gespräch mit seiner Schwester darüber eine Lösung fand. Die bereits vorhandene „dunkle Vorstellung“ wird durch das Gespräch präzisiert, da man sich durch das Reden zwingt, dem Anfang auch ein Ende hinzuzufügen (also die Gedanken zu strukturieren). Zwar kann man einen Sachverhalt auch sich selbst vortragen, doch ist das Gegenüber insofern wichtig, als es dazu zwingt, strukturiert zu reden. Zudem kann es förderlich sein, wenn der Gesprächspartner zu erkennen gibt, dass er einen „halb ausgedrückten Gedanken schon […] begriffen“ habe – Kleist geht es also nicht um die Mäeutik im Sinne Sokrates’.

Sehr einleuchtend. So ähnlich hatte ich es auch in Erinnerung, als ich dem Essay jetzt in einem Reclambändchen wiederbegegnete und den Vorgang falsch gedeutet fand: als handle es sich um eine Art Improvisation. Schon der Ansatz schien mir verfehlt, da es doch insgesamt um die Praxis des Gespräches gehen soll. Jeder weiß, dass zumindest ein gutes Gespräch unter Freunden nicht nach einem geschriebenen Leitfaden abläuft, es sei denn, das Gespräch findet vor Publikum statt und soll dicht an der vorgegebenen (!) Thematik bleiben. Aber auch ohne einen solchen Leitfaden wird man nicht von „Improvisation“ sprechen, wenn etwa Freunde einander erzählen, was ihnen so einfällt – in Rede und Gegenrede. Sprechend und zuhörend. Es ist dabei ganz selbstverständlich, dass sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, einander zuhören, emotionale Interjektionen einfügen („Ach!“ und „Oh!“), sich sogar ins Wort fallen („eh ichs vergesse“), unterbrechen, das Thema wechseln, assoziieren, ausschweifen, lachend zur Rückkehr mahnen („komm bitte zur Sache!“): es handelt sich keineswegs um eine Reihe von (Solo-) Improvisationen, sondern eben um ein normales Gespräch, und das sollte kein Theater sein, natürlich auch keine Talkshow. Erst wenn einer sich produziert, sich vorführt, in den Vordergrund drängt, könnte man von einer (unerbetenen) Improvisation reden. Aber weshalb diese Unschärfe der Begriffe, wenn am Text ausdrücklich ein Philosoph beteiligt ist? Er sollte dafür sorgen, dass der Begriff „Begriff“ nicht nach Belieben seinen Bedeutungsumfang verändert. Selbstverständich gibt es verschiedene Typen und „Stilhöhen“ des Gesprächs, das Telefonat, das Dienstgespräch, die Diskussion, das Steitgespräch usw. (siehe Wikipedia hier). – Kurz: das Wort Improvisation, das letztlich sein Prestige aus der Musik erhalten hat, ist in seiner Allgemeinheit relativ ungeeignet, menschliches Normalverhalten zu nobilitieren. Und bei Kleist handelt es sich offensichtlich um eine „Idee“, die jederzeit auftreten kann, auch beim Spazierengehen im Wald; sie kann beim Zwiegespräch vielleicht eher stimuliert werden und besonders willkommen sein. Der wesentliche Vorgang besteht aber darin, dass man durch das Gegenüber veranlasst wird, „die Gedanken zu strukturieren“, ein Kontinuum zu schaffen, in dem gewiss auch ein punktueller Einfall inszeniert werden kann oder beiläufig eingeflochten wird, was gerade den Charme ausmacht. Aber nicht der Geistesblitz, sondern das weiter“plätschernde“ Gespräch ist atmosphärisch die Hauptsache, was nicht despektierlich gemeint ist: Es ist nicht konfus, sondern hat – bei aller Leichtfüßigkeit – Hand und Fuß.

Fachgespräch: Seymour Bernstein – Ben Laude Fachgespräch: Rubinstein – Neuhaus

Fotos: Screenshot JR Youtube Bernstein/Laude „Chopin & Pedagogy“ / Astrid Schmidt-Neuhaus: Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, edition gerig Köln 1967 (Seite 6c)

Der Hauptfaktor, der das vielbeschworene „Köln Concert“ zu einem Paradigma gemacht hat, ist nicht dieses oder jenes Thema oder Motiv, sondern die Tatsache, dass ein sinnvolles großes Kontinuum geschaffen wurde, wie es im Jazz bis dahin vielleicht noch nicht existierte. Es war ja auch kein Gespräch, sondern allenfalls eine freie Rede am Klavier.

Berühmt wurde das Paradigma vom Streichquartett als  Gespräch unter vernünftigen Leuten (Goethe). Sie reden nicht durcheinander, sondern in wechselnden Rollen, wobei das Zuhören eben auch tönt. Selbst das Durcheinanderreden könnte eine dramatisierende musikalische Funktion haben. Andererseits gibt es auch die Erfahrung, dass dem einzelnen Spaziergänger gar keine vernünftige Gedankenfolge durch den Kopf geht, sondern ein kopfloses Gewirr wiederkehrender Bilder und Phrasen, ein obstinates Mühlrad. Und erst das Gegenüber schafft den grundierenden Ernst, der verhindert, dass man nur herumalbert, eine Improvisation könnte von A bis Z aus Spiel bestehen, und das Publikum hätte seinen Spaß. Aber im Gespräch zu zweit muss man sich – bei aller Unterhaltung – gegenseitig ernst nehmen.

Man lese nach dieser improvisierten Vorbereitung die Zusammenfassung des Kleistschen Gedankengangs in Wikipedia HIER . Danach die folgenden, von mir etwas ratlos mit dem Stift durchpflügten Buchseiten:

 

Den Originaltext von Kleist findet man im „Projekt Gutenberg“ , nämlich  hier

Tatsächlich steht nirgendwo ein Wort oder ein Vorgang, aus dem sinngleich ein „Improvisieren“  oder „aus dem Stegreif reden“ abzuleiten wäre – vielleicht am ehesten der Ratschlag, einfach mal „draufloszureden“. Man könnte auch sagen: den erstbesten Einfall, der sich aus der unvorhergesehenen Situation ergibt, beim Schopf zu fassen. Wenn man Glück hat, kann man daraus etwas machen. Der quasi öffentliche Druck, der zur sofortigen Reaktion zwingt, sorgt für ein Gewicht in der Aussage. Jeder weiß, dass es danebengehen kann, man kann ins Stottern kommen, sich verhaspeln und blamieren. Man erinnert sich aber nur, wenn es gelingt. Anders als geplant, aber man muss ja mit den Folgen leben. Unter Umständen kann man den vielleicht in der Not gewählten unverschämten (?) Ausdruck nachträglich überzeugend als bewusst und gezielt gewählt interpretieren.

Wenn man sich einmal geärgert hat, wie bei einem einsamen Spaziergang die Gedanken sich im Kreise drehen, „als gehe ein Mühlrad im Kopf herum“, und man sehnt sich danach, mit einer anderen Person ein Gespräch zu führen, das aus Reden und Reagieren besteht: man hält sich schon aus Respekt an einen Gesprächsfaden. Dann versteht man auch, weshalb die indischen Weisheitslehren uns raten, Konzentration zu üben, indem wir die Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache, ein Ding, ein Wort richten und nichts anderes hereinlassen. Das berühmte „OM“ zum Beispiel. Oder einen Krug, eine Blume, eine Ganesha-Figur. Das wäre in Ordnung, zumal ich vielleicht nicht zum Beten aufgelegt bin: Konzentration hat Wert.

Zu den Menschen aber, von denen ich am wenigsten einen persönlichen Rat annehmen würde, so sehr ich sie aus anderen Gründen schätze, gehören Rousseau und Kleist. (Der eine hat den schärfsten Denker der Geschichte zutiefst beeindruckt, ich meine Kant, den der andere so gründlich missverstand, dass er – wie behauptet wurde – nur noch im Freitod eine Lösung sah.)

Jedenfalls war es nicht Kleist, der sich durch die Klarheit des philosophischen Gedankens profilierte, wie etwa Schiller. Sondern durch geschriebene Texte. Und dieser eine Text über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist kein Teil einer kontinuierlichen lebenslangen philosophischen Arbeit, ebensowenig wie der Text über das Marionettentheater. Es sind halt gute Einfälle, Gesprächsthemen. . .  Ein Lieblingsthema war für Kleist auch das rechte Deklamieren seiner Texte, er war selten zufrieden und

„fand es unverzeihlich, daß man so wenig tue und jeder, der die Buchstaben kenne, sich einbilde, auch lesen zu können, da es doch ebenso viel Kunst erfordere, ein Gedicht zu lesen, als zu singen, und erhegte daher den Gedanken, ob man nicht, wie bei der Musik, durch Zeichen auch einem Gedichte den Vortrag andeuten könne. Er machte sogar selbst den Versuch, schrieb einzelne Strophen eines Gedichtes auf, unter welche er die Zeichen setzte, die das Heben, Tragen, Sinkenlasse der Stimme usw. andeuteten, und ließ es von den Damen lesen.“

Vonwegen: Improvisation! Der Vortrag war auch sein eigenes Problem, des öfteren ist sogar von Stottern die Rede…

Gern las er seine Werke den Freunden vor, und Frau [Hedwig] von Olfers, die Tochter Staegemanns, erinnert sich noch, »Penthesilea« und den »Prinzen von Homburg« von ihm gehört zu haben: er begann meist zaghaft, fast stotternd, und erst allmählich ward sein Vortrag freier und feuriger.

Quelle Dichter lesen / Von Gellert bis Liliencron / Marbach am Neckar 1984 / ISBN 3-7681-9978-9 / Seite 144 u. 147

Was las ich doch da oben noch? Kleist und die französische Salonkultur? Das ist wohl nur so improvisiert, belegt ist dagegen etwa folgendes:

Aus Paris schreibt Kleist am 28./29. Juli 1801, überfordert und enttäuscht von der riesigen, unpersönlichen Stadt, den so genannten Bekenntnisbrief an Adolphine von Werdeck, eine Freundin der Familie. Er ist entsetzt über die empfundene Kälte in den Beziehungen der Menschen und beklagt die Jagd nach Genuss und Vergnügen. Die Pariser Großstadtwelt mit ihren hohen Häusern, stinkenden Straßen und verschmutzen Gassen ekelt ihn an. Die Einwohner erscheinen ihm als ein Haufen von lauten, hastenden und rücksichtslosen Individuen. Die Entfremdung droht in eine persönliche Krise zu münden. Nur an der ausgestellten Kunst und dem Marmor des Louvre kann er sich „erwärmen“.

Quelle Anke Klare: Kleist in Paris  hier

Über die Salonkultur in Berlin gibt es eine fabelhafte Dissertation, aus der man schon in der Internet-Vorschau soviel Wissenswertes entnehmen kann, dass man äußerst vorsichtig wird mit abwertenden oder verkürzenden Urteilen: siehe Petra Wilhelmy Der Berliner Salon im 19. Jahhundert: 1780 -1914 hier.

Bevor wir den Blick auf die Musik richten, noch einmal der Kleist-Text: hier Max-Planck-Gesellschaft hier

Manche Deutungen des Textes beziehen ihre Faszination aus den vagen Vorstellungen, die man beim Musikhören gesammelt hat: da blieb es nie bei einer 5-Sekunden-Formel, sondern man erlebte etwas durch deren Fortspinnung, Wiederkehr, erneute Fortspinnung, veränderte Wiederkehr usw., diese Dauer ist wesentlich, und die unleugbare Wirkung von Bagatellen hängt damit zusammen, dass ihnen eine übertriebene „Sprengkraft“ zugeschrieben wird. Niemals würde man nach einem Konzert von 10 Minuten zufrieden nach Hause gehen, mit der Versicherung, dass der Komponist oder der Improvisator bekannt dafür sei, dass er mit einem Tonhauch die Welt aus den Angeln zu heben vermag. Trotz Schönbergs Vorrede zu Anton Webern. Wer improvisieren kann, muss es durch eine gewisse Dauer der Vorführung beweisen, nicht gleich sein Pulver verschießen. Es hat seinen guten Grund gehabt, dass Bach – ein Wundermann der Improvisation – sich weigerte, ein kompliziertes Thema aus dem Stegreif  für den preußischen König in eine 6-stimmige Fuge umzusetzen. Das Ansinnen war peinlich dilettantisch.

Man kann davon ausgehen, dass Beethoven große sonatenhafte Sätze bei guter Laune auch öffentlich improvisiert hat. Es gibt Beispiele, die er Fantasie genannt hat, er hat bekanntlich auch schriftlich ausgearbeitete Sätze „quasi una fantasia“ überschrieben. Dilettantisch war die Annahme, dass eine solche Improvisation für immer verloren war. Beethoven war ja nicht in Trance, er wusste, was er tat und konnte es zweimal nacheinander, in quasi identischer Form. Es wird auch einiges Formelwesen darin gewesen sein, geübte Techniken, samt Überschreitung jedes formelhaften Wesens. Man hat über dieses Vermögen nachgedacht, z.B. Paul Bekker (1911) und August Halm (1927), die hier beide zitiert seien. Und dem ist nichts hinzuzufügen.

Beethoven als Improvisator:

       

Quelle Paul Bekker: Beethoven / Verlag Schuster & Loeffler Berlin 1911

Quelle August Halm: Beethoven / Berlin 1927 / Reprint: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1976

Die folgende Karikatur hat Überleitungsfunktion und soll nicht etwa Beethoven in Frage stellen:

  mehr über Cham hier

Wer war eigentlich Anton Kuh? Ich habe von ihm zum ersten Mal durch den Kollegen Rainer Peters erfahren, der über den ganzen Wiener Umkreis der frühen Moderne schier alles wusste. Aber damals war es noch nicht so, dass man nach Hause kam und alles am PC recherchieren konnte, was einen neugierig gemacht hatte. So wusste ich über Jahrzehnte über diesen großen Improvisator eigentlich nur, dass seine Kunst irgendwas mit Karl Kraus zu tun hatte, dessen Buch über „Die Sprache“ ich seit August 1966 besaß und im Gespräch mit meinem kleinen Sohn nicht aus den Händen legte.

(Foto)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Kuh hier

Ich erwähnte schon die „Bagatellen“ in der Musik, man könnte sie vielleicht in die Nähe der Aphorismen bringen, über deren Sammlung Anton Kuh 1922 anmerkte:

Die vorliegenden Aphorismen haben den Vorzug, keine zu sein. Da sie sich gegen die Sprache als Formschutz der Lüge und Kristallschliff der Eitelkeit richten, ist die Ungeschliffenheit ihre halbe Parole. Man betrachte sie im übrigen als Anfangs-, End- oder Mittelsätze von Essays, die der geneigte Leser nach Intelligenz und Neigung hiemit zu schreiben aufgefordert wird. Entstammen sie doch entgegen dem Brauch weder der Aufpeitschung des Gehirns zum Zweck ihrer Abfassung, noch intensiver Schreibtischfeilung, sondern der jahrelangen, konsequenten Faulheit ihres Autors, Bücher zu schreiben.

Quelle Anton Kuh: Von Goethe abwärts. Essays in Aussprüchen, Leipzig-Wien-Zürich, E.P.Tal & Co. 1922 / online siehe hier

Gegen Ende der Sammlung steht ein Ausspruch, der besonders gut zum Verfahren des Autors Anton Kuh selbst passt:

Die Wenigsten wissen, daß auch das Nichtschreiben die Frucht langer und mühseliger Arbeit ist.

Die Stegreif-Rede vom 25. Oktober 1925 „Der Affe Zarathustras“  hier einfacher (als pdf): hier

Vielleicht fragen Sie am Ende: was ist denn das für eine Rede, ist sie wirklich von Nietzsche? Oder ist es eine Parodie? Erfunden von Anton Kuh, Nietzsche in den Mund gelegt? Seite 49, da beginnt es mit den Worten:

Friedrich Nietzsche nämlich hat einst in einer Nacht eine
Vision
gehabt: Kraus ist ihm erschienen. Nicht bloß als Person.
Kraus mit seinem „Fackel“-Deutsch, wie er leibt, ohne zu
leben!
Und nun hören Sie zu und versuchen Sie, nicht davon
erschüttert zu sein, was Nietzsche, Krausens Nietzsche-Angriff
ahnend, über Kraus und Wien schrieb. Die große Stadt, die
hier vorkommt, ist Wien. Wer Kraus ist, werden Sie erraten.
Jetzt geben Sie genau acht (liest):

(liest) steht da… er hat sich Geschriebenes mitgebracht. Und er liest es vor:

Man kennt es heute nicht mehr. Die Ausgabe von 1930. Meine Mutter (*1913) hat es wohl als Schülerin erstanden, sie schenkte es mir, und dann hat es sich jemand angeeignet, mit dem ich noch nicht gerechnet hatte.

Vorschau & Rückblick leben

Zufall nach 65 Jahren

Variationen über alte oder neue Themen (s.a. hier oder hier)

Franz Kafka: Die Verwandlung / Text: hier Wikipedia: hier

Damals in der ersten Fischer-Buch Serie 1956

 

Alle in dieser Serie umkreisten Titel stehen heute noch in meiner Nähe (im Regal hinter mir). Mein Arbeitsplatz im Jahre 2000 (87. Geburtstag meiner Mutter, deren Urenkelin sich schreibend und malend dem 2. Geburtstag näherte).

Und wo ist der Zusammenhang, historisch oder privat, mythologisch, ökonomisch, individuell? Anfang und Ende, ich zitiere Bruno Latour, der übrigens Emanuele Coccia zitiert:

und ich zitiere online weiter, bevor ich mit Begeisterung analog weiterlese:

Paradoxerweise … bewirkte ausgerechnet die Episode der Pandemie, dass der Geist der Eingeschlossenen befreit und ihnen einen Augenblick lang erlaubt wurde, der langen Haft im »stählernen Gehäuse« der »ökonomischen Gesetze« zu entrinnen, in dem sie geschmachtet hatten. Wenn man sich je von schlechter Emanzipation emanzipiert hat, dann in diesem Fall.

Von Michel Callon habe ich gelernt, dass der Glaube an die Selbstverständlichkeit des ökonomischen Beziehungsmodus sich nur ausbreiten kann, wenn Lebensformen in eine Welt übertragen werden, in der sie nicht zu Hause waren. Dabei ist wieder einmal der Unterschied zwischen dem Leben »im Präsenzmodus« und dem Zugang »online« im Spiel. Das Seltsame an der Ökonomie ist nämlich, dass sie sich zwar mit den gewöhnlichsten, wichtigsten, unseren täglichen Sorgen aufs Engste verbundenen Dingen abgibt, diese aber hartnäckig so behandelt, als seien sie denkbar weit entfernt und spielten sich ohne uns ab, so, als würden sie vom Sirius aus und völlig interesselos erfasst – manchmal benutzt man dafür das Adjektiv »wissenschaftlich«.

Quelle Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown / edition suhrkamp SV Berlin 2021/ ISBN 978-3-518-12771-1

Lesehinweis: Die einzelnen Kapitel im Zusammenhang mit ihren Quellen-Explikationen betrachten: so zu Kapitel 1 Seite 174, zu Kapitel 2 Seite 175 usw.

Dort (S.174) auch der Link zur Oper von Michaël Lévinas (Ausschnitt) hier

Betr.: Netzwerkdenken aktuell hier und hier

Siehe auch (S.198) den Link zur Verzögerung des Earth Overshoot Day im Frühjahr 2020 hier !

Siehe auch Akteur-Netzwerk-Theorie hier. / Dank an JMR 6.12.21 (bzw. 12.12.21)

Besuch in Siegen

Was macht eigentlich Reinhard Goebel?

Seit wann kennen wir uns? Ich habe das vor rund 15 Jahren schon einmal reflektiert, allerdings so, dass er sagte: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“. Es war ein Scherz, denn er wusste durchaus, wie ichs meine. Allerdings habe ich mich auch an ein Bilderbuch meiner Kindheit erinnert, das mich mit folgender Maxime erschreckte: Ruhe recht und schone niemand! Und heute erhielt ich die Mail eines Kommilitonen von einst, der in die gestrige Klassikforum-Sendung in WDR3 mit Reinhard Goebel hineingehört hat: „Er plauderte über Gott und Harnoncourt und auch die Welt, ließ aber an anderen kaum ein gutes Haar.“ Wie unterschiedlich doch die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Mir fiel auf, wie liebevoll Goebel immer wieder über seine Lehrer sprach (Franzjosef Maier, Igor Ozim oder Marie Leonhardt zum Beispiel) und wie hart zuweilen über sich selbst (über sein spätes Violin-Examen in Rostock, über die Takt-Schwerpunkte in seiner alten Aufnahme des Pachelbel-Kanons, die gleichwohl als kritisches Gegenstück zu der Version mit Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Orchester auf Anhieb begeistern konnte). Wie auch immer man seine Arbeit und seinen Lebensweg betrachtet: er ist ein Phänomen sondergleichen.

Aus dem JR-Beitrag 2005 (vollständiger Text siehe hier):

Mehr über Reinhard Goebel hier (Wikipedia) und hier (Website) und eher privat:

Bücherwände allüberall!

Aber dort…

…  stehen zwei Bände, die ich auch habe.

Immerhin!

 

Reinhard Goebel: Beethovens Welt (ohne Beethoven) siehe hier

 

 

.    .    .    .    .

Daumen drauf: 19. Jahrhundert er ist ein Frauenversteher unentwegt „präsent“

Was mir aus den Gesprächen im Moment besonders festhaltenswert erscheint, also: über das hinaus, was RG schon in dem GersteinTelekolleg über die Brandenburgischen Konzerte ausgeführt hatte, seine Charakteristik der Concertos: I die Jagd HÖRNER, II der Ruhm TROMPETE, III die Musen: Instrumente in DREIERGRUPPEN, IV der Friedensfürst FLÖTEN, V der Kriegsherr 16tel-REPETITION, VI die schöne Aussicht aufs Jenseits GAMBEN: all das gilt nur für den jeweils ersten Satz.

Wer ist wer? Es gibt keine Langeweile. Der weite Himmel über Siegen!

Alle Fotos: E.Reichow

Und etwas Ähnliches in live und lebendig? Hier:

Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal bei der Erinnerung an die Phantasiewelt meiner frühen Kindheit auch an das VI. Brandenburgische Konzert von Bach denken würde:

JR 1945 (?) Waldemar Bonsels 1940 (Siehe Bio hier!!!)

Mozart aus Aix-en-Provence

Ernsthafte Einladung zu Figaros Hochzeit

Im Geist folgendes: der Spazierweg nach dem großen Regen hier und vorher „Voi che sapete“ in „Mozart“ hier. Vielleicht auch das „Experiment mit Cosí“ hier. Schon wieder Mozart?

Warum also? Diese Behandlung, oder dieses Sammelbecken der musikalischen Ideen, wurde vorbereitet aus dem Alltag heraus; ich betone die Ernsthaftigkeit, weil es eine Komödie ist, zu der man sich heutzutage aufraffen muss. Die Handlung scheint uns unterhalten und lustig stimmen zu wollen, widerstrebt also eigentlich einer Versenkung, zu der die Schönheit der Musik zwingend hinführt. Es ist eine Freude zuzusehen, und es ist ein Ärgernis, nicht recht zu verstehen, was da gespielt wird. Wie seltsam ausgeklügelt. Man muss sich so intensiv vorbereiten, als gehe es um die Kunst der Fuge, es geht aber um ein Gesellschaftsspiel, dessen Regeln uns nicht einleuchten, wir sind gezwungen, uns historisch und handlungstechnisch bis ins Detail zu informieren und halten die Ränke und Verwicklungen insgeheim für albern. So geht oder ging es mir jedenfalls, und ich überwinde den inneren Schweinehund nur, weil die ganze Aufführung so liebevoll inszeniert und musiziert ist, dass man gern bei jedem Detail verweilt.

Liebevoll? Ich kann es mir leisten, kindlich vorzugehen, weil ich mit niemandem in Konkurrenz stehe. Auch eine professionelle Kritik, die auf ganz anderen Erfahrungen (und Verpflichtungen!) beruht, muss ich mir nicht zu eigen machen. Ich kann sie ohne Widerspruch zur Kenntnis nehmen. (Siehe unten nach der Ablaufliste).

Ah, mir ist zum Glück das Buch von Laurenz Lütteken eingefallen, das zu einer meiner regelmäßig wiederkehrenden Wellen der Mozart-Begeisterung gehört. (Siehe einst hier: Das Neue Jahr mit Mozart, 2017). Und jetzt Medias in res:

Quelle Laurenz Lütteken: MOZART Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung / C.H.Beck München 2017

ZITAT Seite 178f (rote Lesehilfen JR)

Die Repräsentation menschlicher Verhältnisse auf dem Theater bedurfte allerdings, dies die entscheidende Weiterung bei Mozart [gegenüber Beaumarchais], der Musik, weil man nur ihr, so der zentrale musikästhetische Paradigmenwechsel um 1780, zutraute, das Ungenaue, Unscharfe, Changierende dieser Verhältnisse für den Zuhörer, wenigstens im Augenblick des Erklingens, glaubhaft darzustellen. Genau dies führt aber zu einer Verdichtung, die weit über das Drama hinausreicht.

Ein wesentlicher Charakterzug des Figaro von Mozart und Da Ponte liegt in der bedingungslosen Zuspitzung der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und handlungt, weil die Repräsentation auf der Bühne keinerlei Lücken mehr kennt, dargestellte Zeit und Darstellungszeit vollständig deckungsgleich werden und ihre Dehnung im Sinne einer Seelenschilderung einzig der Musik verdanken. Dabei wird die Tradition der Opera buffa zwar heraufbeschworen, jedoch in einer seltsamen Distanz. Das wirkungsästhetische Potential der Buffa wird in dem Maße geltend gemacht, indem ihre Mechanismen in Frage gestellt werden. Das Irritierende dieses Neuansatzes wurde durchaus wahrgenommen, war der Figaro [auch] nicht ein Werk des sofortigen, sondern des langsamen, wachsenden Erfolgs, der erst in der besonders ungebundenen, für solche Konzepte empfänglichen Prager Gesellschaft geradezu esxplosionsartig hervortrat.

Ich werde noch mehr zitieren, ich erlaube mir das, denn ich werde nie aufhören, für dieses Buch die Werbetrommel zu rühren (siehe obigen Link zum Jahr 2017). Heute allein wieder die Tatsache nachlesen und einschätzen zu können, dass Haydn nachweislich von Mozarts Musik – vom Figaro – geträumt hat, und zwar in der Nacht zum 9. Februar 1790. Doch davon später.

https://www.arte.tv/de/videos/104589-000-A/festival-in-aix-en-provence-die-hochzeit-des-figaro/

HIER Trailer 3′ abrufbar bis Juli 2022

HIER ab 2:50 (Ouv.beginn) Aufnahme bis 8. Juli 22 abrufbar!

With : Gyula Orendt, Jacquelyn Wagner, Julie Fuchs, Andrè Schuen, Lea Desandre, Emiliano Gonzalez Toro, Monica Bacelli, Maurizio Muraro, Elisabeth Boudreault, Leonardo Galeazzi

Director : Lotte de Beer  / Music director : Thomas Hengelbrock

Orchestra : Balthasar Neumann Ensemble / Choir : Chœur du Cnrr de Marseille

Presenter : Saskia de Ville

 Thomas Hengelbrock Wikipedia hier

Figaro-Dirigier-Partitur meines Vaters ca. 1920

Zur französischen Quelle hier „Le mariage de Figaro“ (Beaumarchais)

Wikipedia Le nozze di Figaro Inhalt

Material (gute Inhaltsangabe u.a.) für die Schule https://oper-frankfurt.de/media/pdf/Figaro_Lehrermappe.pdf

Über die sog. Fandango-Szene am Ende des dritten Aktes: engl.Text hier (The Fandango Scene in Mozart’s Le nozze di Figaro / Author: Dorothea Link / Source: Journal of the Royal Musical Association, Vol. 133, No. 1 (2008), pp. 69-92 // s.a. Glucks Fandango.

Hier das Video der Aufführung in Aix, abrufbar bis 8. Januar 2022 (Achtung, seit heute – 20.7.21 doch nicht mehr abrufbar – schade! – habe gestern noch damit arbeiten können, zum Glück für mich privat ist der TV-Mitschnitt ab 3.Akt noch da, bedauerlich trotzdem)

ERSTER AKT ab 2:50 (Ouv.beginn) 7:05 / 9:40 / 10:26 / 13:22 / 15:45 / 18:20 Szene 3 – 4 Dr.Bartolo / 19:35 „La vendetta“ / 22:50 / 23:50 Nr.5 Duettino Marcellina/Susanna: „Via resti servita, Madama brillante“/  25:52 Cherubino 28:03 Nr. 6. Arie Cherubinos: „Non so più cosa son, cosa faccio“ / 31:23 / 35:05 Nr. 7. Terzett Graf/Basilio/Susanna: „Cosa sento! Tosto andate“ / 39:42 / 40:55 Nr. 8. [und Nr. 9.] Chor: „Giovani liete, fiori spargete“ / 42:00 / 43:44 Chor / 44:36 / 45:55 Nr. 10. Arie Figaros: „Non più andrai, farfallone amoroso“ / 49:48 ENDE ERSTER AKT

ZWEITER AKT  50:10 Szene 1–3 Nr. 11. Cavatine der Gräfin: „Porgi, amor, qualche ristoro“ / 53:24 / 57:53 Figaro ab / Cherubino 59:16 Nr. 12. Arietta Cherubinos: „Voi che sapete che cosa è amor“ / 1:01:52 / 1:03:19 Nr. 13. Arie Susannas: „Venite… inginocchiatevi“ / 1:06:20 Szene 4–9 / 1:10:50 Nr. 14. Terzett Graf/Gräfin/Susanna: „Susanna, or via, sortite“ / 1:14:46 / 1:16:12 Nr. 15. Duettino Susanna/Cherubino: „Aprite, presto, aprite!“ / 1:19:40 Nr. 16. Finale: „Esci, ormai, garzon malnato!“ / 1:27:38 / Szene 10–12 / 1:39:44 Applaus ENDE ZWEITER AKT Pause Gespräche mit den Protagonistinnen

DRITTER AKT 1:45:00 / 1:49:50 Nr. 17. Duettino Graf/Susanna: „Crudel! Perché finora farmi languir così?“ 1:52:36 /  1:55:20  Nr. 18. Arie des Grafen: „Vedrò, mentr’io sospiro“ 1:58:37 / 2:01:45 Nr. 19. Sextett: „Riconosci in questo amplesso“ /  2:06:40         Nr. 20. Rezitativ und Arie der Gräfin: „E Susanna non vien!“ / 2:10:55 „Dove sono i bei momenti“  2:15:57 / 2:17:20 Nr. 21. Duettino Gräfin/Susanna: „Che soave zeffiretto“/ 2:20:15 / 2:20:40 Nr. 22. Chor: „Ricevete, o padroncina“ / 2:21:52 / !!! 2:25:40 Nr. 23. Finale: „Ecco la marcia, andiamo“ 2:27:38 / Fandango 2:28:49 bis 2:30:20 / 2:30:34 Chor: „Amanti costanti, seguaci d’onor“ 2:31:42 ENDE DRITTER AKT

 

(oben) Finale Dritter Akt unmittelbar weiter in:

 

VIERTER AKT 2:32:05 Nr. 24. Cavatine Barbarinas: „L’ho perduta… me meschina“ 2:33:42 / 2:36:25 Nr. 25. Arie Marcellinas: „Il capro e la capretta“ 2:40:07 / 2:41:44 Nr. 26. Arie Basilios: „In quegli anni in cui val poco“ 2:45:26 / 2:45:40 Nr. 27. Rezitativ und Arie Figaros: „Tutto è disposto“ – 2:47:00 „Aprite un po’ quegli occhi“ 2:49:42 / 2:50:58 Nr. 28. Rezitativ und Arie Susannas: „Giunse alfin il momento“ – 2:52:25 „Deh vieni non tardar, oh gioia bella“ 2:55:48 / 2:56:38 Nr. 29. Finale: „Pian pianin le andrò più presso“ 3:13:38 Musik-Ende // 3:19:04 ENDE

Scan JR Schluss-Tableau

Kritik an dieser Aufführung: nmz (Joachim Lange) 3.7.2021 hier

…oder man lese im vorhergehenden Kapitel „Inszenierungen“ über die Definition eines neuen Genres, insbesondere anhand der großen Marschszene im „Figaro“, dem Finale des ersten Aktes (Noten s.o.):

…das folgende Stück KV 19d wird erwähnt auf Seite 202

Es geht in diesem Kapitel letztlich um ein anderes ›Verstehen‹, eine ›Analyse‹, die keine ›Zergliederung‹ mehr ist:

Übrigens: alle Vorbehalte gegenüber dieser Oper (und auch andere betreffend) sind bekannt. Ich selbst bin ja kein notorischer Operngänger, sondern im Innersten: Instrumentalist. Was ich gegen Opern habe? Das Publikum. Und die Fachkritiker. (So mache ich mir keine Freunde, ich weiß, daher meine Anstrengungen, mich selbst zu bekehren, mit Mozart müsste es gehen. Früher war es – im Ernst – Wagner. Inbegriff einer psychologisch spannenden Oper: Tristan. Einer dramatisch zwingenden  Oper: Tosca.) Im Figaro müssen wir uns das – in der damaligen Zeit – politisch Brisante mühsam rekonstruieren oder „übersetzen“. Und das unleugbar Erotische in unsere krasseren Verhältnisse transponieren: was sich eine moderne Regie nicht zweimal sagen lässt, wobei es eben auch „kaputt gehen“ kann. Vielleicht ist deshalb der Cherubino in seiner Unschuld so schwer zu interpretieren – in einer Zeit, wo das Pornografische grenzenlos alles Nackte dominiert. Weshalb es gern ins Lächerliche gezogen wird, zumal wenn hier z.B. die blonde Dame ins Bild gerückt wird, die mich irgendwie an Gottschalk erinnert.

Und so sitzt man doch nicht als Mädchen da, wie Barbarina auf dem Kubus!? Während zugleich die weiße Dame mit ihrem heraushängenden Stoffglied als Nahaufnahme sehr zu denken gibt usw. – die NMZ-Kritik fokussiert thematisch ähnlich.

Meine Mozart-Opern-Aufmerksamkeit wurde neu geprägt durch die HM-Produktion von 2003, die nicht auf der Opernbühne entstand, sondern als Hörfassung in der Stolberger Straße Köln – d.h. im WDR-Tonstudio – unter René Jacobs. Das umfangreiche Booklet enthält eine Fundgrube von Einsichten, das Titelbild allerdings evoziert eindeutig die galante Epoche der Andeutungen, abgesehen vielleicht vom Stier ganz oben. Oder ist es eine Kuh?

Ich folge jetzt dem Booklettext so, dass sich thematische Klärungen ergeben, wie wir sie oben kurz angesprochen haben. Zuerst die letzte Seite des historischen Textes von Andreas Friesenhagen, dann (rückwärts) René Jacobs. Eine Lektüre, die man gar nicht genau genug nehmen kann. Er weiß natürlich, woher der Fandango stammt und was es mit den Folkloreanteilen auf sich hat (Bordun) und wie schnell die Tempi aufzufassen sind. Wunderbar wie er hervorhebt, dass bei der Arietta „Vou che sapete“ die Zeit stillsteht, auch, dass das Pizzicato gegen Ende bei Susanna bedeutet, wie die Zeit (nicht) vergeht. Und vieles andere.

Text: Andreas Friesenhagen

Text: René Jacobs   Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Anfang des Textes

Der Effekt des Zeitunglesens

Über Komik

Mich interessiert, wie Witz funktioniert, – nicht weil ich unbedingt witzig sein will, sondern weil ich wissen will, warum ich wann lache (oder auch jemand anders). Die Unwillkürlichkeit, das ist es. Es kann ja kein Zufall sein, dass ich selbst überrascht bin, was alles zutage tritt, sobald ich oben in das Suchfenster die Worte Humor oder Lachen eingebe. Dabei weiß ich doch, wie anstrengend Leute sind, die ständig witzig sein wollen. (Das Wort wollen zeigt, woher der Überdruss kommt.)

So las ich auch am 29. Juni die Süddeutsche, darin insbesondere ein Interview mit Otto Waalkes anlässlich seines neuen Films „Catweazle“, amüsiert (gerührt) natürlich, mich erinnernd („Großhirn an Faust: Ballen!“). Und dann dies:

Quelle Süddeutsche Zeitung 29. Juni 2021 Seite 11 „Ich bin konfliktunfähig“ Otto Waalkes erzählt, warum gute Komödien wie Pornos funktionieren, zitiert aus der Bibel und verteidigt seine alten Filme gegen den Vorwurf, sie seien rassistisch. (Interview: David Steinitz) / hier online (mit veränderten Titelzeilen und Bezahlschranke)

Das Feuilleton lag noch zur Erinnerung im Regal, als heute der Briefträger klingelte und mich von der Tageszeitung aufschauen ließ. Das Päckchen war nicht besonders groß, passte jedoch nicht in den Briefkastenschlitz, vor allem war es enorm schwer. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Hier sieht es wie das normale Titelbild eines Buches aus, aber sein spezifisches Gewicht übertrifft das jenes Bandes, den ich immer zum Beschweren von widerspenstigen Taschenbüchern auf den Scanner lege: „Sound des Jahrhunderts – Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute“ (Gerhard Paul/Ralph Schock).

Mit dem Foto beweise ich meinen Besitz des Buches, das Otto noch nicht besitzt und das er sich auch nur von einem Freund entleihen will. Ich will an dieser Stelle lediglich notieren, was es mir für die Erkundung des Phänomens Witz gebracht hat. Vielleicht. Irgendwann. Oder auch nicht.

Bisher habe ich es unwillkürlich beim Film „Manche mögen’s heiß“ aufgeschlagen, aber als ich den im Kino gesehen habe, befand ich mich in einer umwälzenden Lebenslage, in der mir absolut nicht zum Lachen zumute war. Es muss im Herbst 1965 gewesen sein. Heute sehe ich das anders.

(Vorläufiges Ende)

P.S. Was mich irritiert: ich habe dies womöglich geschrieben, um mich abzulenken, es sind ja zur Zeit eher bedrohliche Verhältnisse und Todesfälle, die einem zusetzen. Und trotzdem noch mehr das Dauerthema:  was bedeutet Musik? Die Frage meines Lebens. Wobei es nichts bringt, 100 Seiten vollzuschreiben. Sondern: die Antwort plausibel zu exemplifizieren, z.B. an der Fuge, die ich übe. Gis-moll, BWV 863. (Oder anhand des kürzlich gelesenen Essays von Alessandro Bertinetto, siehe – folgt- hier). Das Fugenthema:

Da ist dieses Kreisen um sich selbst (wie im Präludium), der Widerspruch im Tritonussprung und der lapidare Abschluss mit den Doppeltönen. Wieviel Worte müsste man verlieren, um zu beschreiben, was damit avisiert wird. Ein Mühlstein, der sich im Kopfe dreht? Was bedeutet das alles, wenn man am Ende ankommt? Irreführend: ich denke unwillkürlich an Schuberts „Der Wanderer an den Mond“ (hier). Bloß nicht lachen!