Archiv für den Monat: Juli 2019

Bayreuther Dilemma

Nur ganz kurz

Nach einer lang nachwirkenden, frühen Begeisterung für Wagner (50er/60er Jahre, beginnend mit Vorspiel und  Einzelszenen Lohengrin, Tannhäuser nach Klavierauszug, dann Ring und vor allem Tristan, auch Parsifal), blieb später immer noch der musikalische Sog, der einsetzte, sobald auch nur ein Fetzen Nibelungen-Sound aus dem Lautsprecher tönte: Heute drängen sich starke Antipathien hinein, live auch – dank der Text-Anzeigetafeln – der störende Eindruck, wie schlecht er dichtete…

Niemals hätte ich eine Tannhäuser-Aufführung in Bayreuth besucht. Die ersichtlich gewordenen Taten der Musik (?) haben keine rechte Anziehungskraft mehr. Meine Schuld, zweifellos, denn sie klingen nicht anders als früher. Die Rezension in der Süddeutschen habe ich sorgfältig gelesen, das Foto fesselte mich. Aber ist nicht sowieso klar, dass es wieder auf einen Lobpreis fürs Regietheater hinausläuft? Ich wäre vielleicht auch begeistert, wenn es sich um ausgedehnte Filmsequenzen (ohne Wagners Musik, oder mit ihr als konterkarierendem Soundtrack) gehandelt hätte… Aber was mich auf die Palme bringt, ist der winzige, dann doch musikbezogene Schlussteil der Kritik, der mit ein paar Sätzen eigentlich nur den Dirigenten erledigen soll, und dies gleichsam von allerhöchster Warte. Mein Gott, das große Leidenschaftsdrama und der hölzerne, analytische Klang, – wo soll das denn gewesen sein?!

 einen hölzernen Klang?

Quelle: Süddeutsche Zeitung 27./28. Juli 2019 Seite 17 Song Contest Ein Kampf zwischen Hoch- und Subkultur: Zur Bayreuth-Premiere wird Wagners „Tannhäuser“ mit höchster Lust ins Heute gespielt.

Nie und nimmer hat da jemand mit wachem Ohr auf den realen Orchesterklang reagiert. Möglicherweise hatte er schlimme Gerüchte im Hinterkopf, die er nicht benennen mochte, und begnügte sich damit, eine rein musikalische Begründung zu konstruieren.

Ich hatte die Kritik schon gestern früh gelesen und spät nachts nur noch die letzte Stunde der Bayreuther Aufführung erwischt. Was ich hörte, war doch ziemlich schöne Musik, das Zerreißen der Tannhäuser-Partitur fand ich übertrieben, die Ausdruckweise „mit höchster Lust“ hätte ich allerdings eher einem Tristan vorbehalten. Aber war das denn ansonsten wirklich ins HEUTE gespielt? Klar, alle reden vom Wetter und von einer Temperatur bis 50 Grad im Festspielhaus-Auditorium. Ich ahnte schon, dass ich kein Wort der vernichtenden Minimusikkritik nachvollziehen können würde. „Nächstes Jahr soll Gergiev angeblich nicht mehr dabei sein.“ … angeblich … soll … können… würde…  Er muss außerhalb der Bayreuther Szene etwas verbrochen haben. (Vielleicht sogar Schlimmeres als Wagner?) Wer die Wahrheit wissen will, muss danach in einer anderen Zeitung suchen.

Das habe ich heute morgen am Computer erledigt. Und mein Wissensdurst ist gestillt. Diesen Namen merk ich mir, nicht den anderen. Dank an die ZEIT. HIER lesen Sie, was wirklich los war…

Nachlese 1. August 2019

Der Musik wegen in die Oper?

 Hölzernes auch hier…

Quelle Süddeutsche Zeitung 1. August 2019 Seite 9 Statt Seelenschau nur Fernsehrealismus In Salzburg inszeniert Simon Stone Luigi Cherubinis Oper „Médée“ am Kern der Tragödie vorbei

Leiden für die Oper?

Zitat aus DIE ZEIT:

(…) starre ich auf die Wetter-App in meinem Handy. Bayreuth, 33 Grad im Schatten und 45 Grad in der Sonne, die Festspiele finden trotzdem statt. Auf meinem kurzen Fußmarsch zum Grünen Hügel versuche ich, die Wärmestrahlung von 1974 Wagnerianern auszurechen, so viele Besucher fasst der Zuschauerraum. Oben angekommen, habe ich das Gefühl, mir haute jemand mit einem Hammer auf den Kopf. (…)

Es wird gelacht an diesem Abend in der Bayreuther Gluthitze, auch unter Niveau, etwa wenn zu Tannhäusers gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufen Ende des zweiten Akts (drei hohe As hintereinander!) die Festspielleiterin persönlich im Bild erscheint und 110 wählt. (…)

(…) Beim Duschen entdecke ich zwei blaue Flecken auf meiner Wirbelsäule. Die habe ich immer, wenn ich in Bayreuth war, das Gestühl ist für weniger Beleibte einfach zu hart. Und die Leihkissen wärmen.

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 So viel draußen war nie Die Oper mischt sich ein in die Klimawandelwelt: Eine Sommerfestspielreise nach Bayreuth zu Wagners „Tannhäuser“, nach München zu Händels „Agrippina“ und nach Salzburg zu Mozarts „Idomeneo“ und zu Cherubinis „Médée“ / Von Christine Lemke-Matwey

Noch ein Zitat aus demselben Text (Schluss):

Dass diese Passagen ohne Gesang und Musik, also ohne „Oper“, bewegender sind als der ganze Cherubini mit seiner strengen, etwas hölzernen Dramatik, zielt sicher mehr auf Öffnung und Erklärung als auf eine Kritik am Stück.

Der Grat ist hier definitiv schmaler als bei Mozart oder Wagner. Und sie steht ja auch immer mit auf dem Spiel, die Frage, wie lange wir von den Ressourcen unserer alten Partituren noch werden zehren können, ohne Raubbau zu treiben.

Der Sommer 2019 hat darauf nachhaltige Antworten gegeben.

ENDE 

Doch noch eine Fortsetzung… nagelneue Argumente… à propos Salzburger „Idomeneo“. Da schreibt Egbert Tholl u.a.:

Darf man das, in die Werkgestalt eingreifen, Arien, deren Inhalt man nicht erträgt, durch andere ersetzen, die meisten der ohnehin enervierend trögen [???] Secco-Rezitative streichen? Die Salzburger Festspiele sind ein Branchentreffen in vielerlei Hinsicht, so lernt man hier Kollegen kennen, bewundernswürdige Koryphäen der musikalischen Analyse beispielsweise, die die derzeitigen Aufführungen von „Idomeneo“ als persönlichen Anschlag auf ihre Ehre und ihr Seelenheil betrachten. Hört man dem Publikum zu, so ist dieses in Teilen eher davon genervt, auf einem 400-Euro-Sitzplatz in der Felsenreitschule mit Klimawandel und Umweltzerstörung konfrontiert zu werden und sich nicht einfach genüsslich zurücklehnen zu dürfen.

Darf man also machen, was Sellars und Currentzis taten? Man darf, ja man muss sogar. Man muss hier gar nicht noch einmal die Diskussion führen, dass Oper als Kunstform nur überlebt, nur ein neues, jüngeres Publikum anzieht, wenn diese Kunstform in irgendeinem Bezug zur Gegenwart steht – deshalb ist die Inszenierung als mahnende Installation zur Umweltzerstörung wichtig

Quelle Süddeutsche Zeitung 10./11. August Seite 15 Momente für die Zukunft Salzburger Festspiele Von Egbert Tholl

Wo aber bleibt nur das neue junge Publikum mit den 450-Euro-Sitzplatz-Karten? Es hat keine Zeit!

 12. August 2019

17.08.2019 Noch einmal: das Ende – das Ende…

ZITAT

Es gibt wenige Dirigenten, die sich derart in ein Werk hineingraben

Valery Gergiev gehört einerseits zu jenen viel beschäftigten Dirigenten, die gefühltermaßen an drei Orten gleichzeitig präsent sind; es gab Jahre, da flog er nachts von Salzburg zum Weiße-Nächte-Festival nach Petersburg und am nächsten Tag wieder zurück zu Proben im Festspielhaus. Andererseits gibt es wenige Dirigenten, die sich derart in ein Werk hineingraben und dabei die ausführenden Musiker ebenso genau studieren wie die Partitur. Da wird die Probenarbeit zu einer echten Entwicklungsphase, die in der Aufführung ihren Höhepunkt findet. Menschlich stressfrei, warmherzig, fachlich hoch konzentriert.

Gergiev genügen dann kleinste Signale in die Instrumentengruppen, um das gewünschte Klangergebnis zu erzielen. Das war an diesem Abend wirklich herausragend. Die Wiener Philharmoniker schienen sich mit dem Dirigenten und dem Werk geradezu verschworen zu haben, leuchteten in jeden versteckten Klangwinkel, spielten ihre ganze Souveränität und Opernerfahrung aus. Und das, obgleich sie keineswegs im Vordergrund standen und auch nie versuchten, sich dorthin zu spielen, sondern weitestgehend den Sängerdarstellern dienten, dazwischen ebenso dezent wie intensiv Stimmungen zauberten. Keine Tonangeberei. Kein vorlautes Blech. Keine gewitternden Streicher. Stattdessen Klanghochkultur und Klangverständnis, Musikdrama und eine differenzierte Basis für den Gesang.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17.08.2019 Maria hilft Verdis Politoper „Simon Boccanegra“, dirigiert von Valery Gergiev bei den Salzburger Festspielen, ist musikalisch ein Ereignis / Von Helmut Mauró

Warum Wirtschaftswachstum?

Ende der Fahnenstange

  Es geht doch wieder?

Zufällig fragt man gerade danach nicht, mehr nach dem Wachstum der Temperatur.

Was also soll das mit dem Wirtschaftswachstum? Ich habe keine Ahnung warum, aber ich will wissen, warum wir daran nicht rühren sollen. Es ist doch das Lebensprinzip, sagen alle. Ich müsste also zunächst erklären, warum ich so schwarz sehe. Für mich selbst vielleicht nicht, – das wäre albern -, aber für meine Enkel. Andererseits weiß ich, dass mir niemand zuhört, wenn ausgerechnet ich die Kassandra spielte. Mein Wissen beziehe ich ja von anderen und vermag es auch nur mit Hilfe anderer zu überprüfen. Kurz und gut, ich beschränke mich auf Hinweise und lasse Menschen reden, denen ich vertraue. Nehmen Sie es hin. Und einer heißt eben Niko Paech. Mich interessiert, warum er ganz anderer Ansicht ist als die erfolgreichsten Ökonomen unserer Zeit. Heute Morgen wurde mir das Interview zugespielt, und es hat mich beeindruckt. Schauen Sie HIER .
Soll ich Zeit investieren, darüber nachzudenken? Oder reicht’s schon?! Es geht aber um viel mehr als meine Zeit heute, siehe oben: es geht um die ganze Lebenszeit meiner Enkel.

Also erkundige ich mich, ob der fremde Onkel eine vertrauenswürdige Biographie vorweisen kann. Wikipedia würdigt ihn mit überraschender Ausführlichkeit: HIER.

Und jetzt hätte ich es gern live von ihm selbst erklärt. Das folgende Video gefällt mir, weil der Vortrag durch zahlreiche Schautafeln ergänzt wird. Man braucht allerdings 50 Minuten dafür. Aber was ist das schon angesichts der nächsten 50 Jahre unsrer Enkel!?

Zugleich muss ich auf einen Zeitungsartikel eingehen, den ich inhaltlich letztlich so erschütternd fand, dass der Strohhalm einer „Postwachstumsökonomie“ sich gerade noch im rechten Moment bot. Wobei der Artikel aber auch so gut gemacht ist, dass ich mir vornahm, die narrative Technik, die mich sonst oft stört, geduldig zu betrachten; diesen journalistischen Eifer, die Trägheit des Lesers zu überlisten, – als dürfe sie einfach vorausgesetzt werden. Man glaubt, man habe sich über die Herrschaft von Menschen über Menschen schon oft genug aufgeregt, die Älteren unter uns haben zumindest dies in der 68er-Zeit gelernt. Ganz zu schweigen von der Geschichte Sklaverei, die einer ganz und gar vorrevolutionären Epoche anzugehören scheint. Trotzdem ist es gut, von einer tüchtigen Frau zu hören, die 2 Jahre jünger war als Mozart, sie lebte nicht weit von Birmingham, malte zeitlebens Bilder von Raupen und Schmetterlingen, trank täglich ihren Tee mit Zucker und wurde 71 Jahre alt. Ihr Name war Katherine Plymley, und das Schönste: es gab sie wirklich, man kann es mit ihrem Wikipedia-Artikel beweisen (hier), auch ihre Bilder findet man leicht im Netz. Natürlich wird keine Idylle daraus. Das entscheidende Signal ist das harmlose Wörtchen Zucker:

Es gab im 18. Jahrhundert noch keine Cola und keine Schokoriegel, trotzdem verzehrten die Engländer damals im Schnitt bereits fast zehn Kilo Zucker im Jahr, das Geld dafür verdienten sie zum Beispiel mit der Menschenjagd. Die Engländer waren die größten Sklavenhändler der Welt. In den Schaufenstern der Schiffsausrüster in Liverpool lagen Fußeisen, Daumenschrauben und spezielle Zangen, um Sklaven, die sich durch Nahrungsverweigerung das Leben nehmen wollten, den Mund aufzusperren.

Die Schockwirkung dieser Zeilen liegt auf der Hand, es ging um den Zuckeranbau auf Kuba, in großem Stil war das offenbar nur mit Sklavenarbeit durchzuziehen; man liest mit großer Wachsamkeit weiter, Gottseidank, unsere Heldin in spe war auf der Seite des Guten:

Katherine Plymley hörte auf, Zucker in ihren Tee zu rühren. Sie saß nicht im Parlament. Sie führte kein Sklavenschiff. Sie durfte nicht einmal wählen.

Undsoweiter, der Erfolg war bald abzusehen:

Katherine Plymley war nicht allein. Mehr und mehr Engländer fingen an, den Zucker aus der Karibik zu boykottieren. Tausende Menschen ohne Macht und Einfluss, die kein Gebäck mehr aßen und ihren Tee ungesüßt tranken.

Der Zuckerabsatz brach ein. Und was niemand erwartet hatte, geschah: Der Sklavenhandel kam tatsächlich zum Erliegen.

Ist das eine gute Geschichte? Man traut der Sache natürlich nicht. Die kurzgefasste Geschichte der Sklaverei sollte man wenigstens einmal überfliegen, es ist nicht zu fassen: HIER.

Und nun kommt die Volte des Journalisten, unglaublich, aber auch unglaublich wirkungsvoll. ZITAT:

Es gibt Zahlen aus der Gegenwart, die in einem interessanten Gegensatz stehen zu dieser Geschichte aus der Vergangenheit.

71 Prozent aller Deutschen halten die Sklaverei für das größte Problem der modernen Welt.

55 Prozent finden es in Ordnung, wenn Schulkinder den Unterricht schwänzen, um gegen die Sklaverei zu protestieren.

20 Prozent der Wähler haben bei der Europawahl für die Grünen gestimmt, eine Partei, die ihr Hauptziel in der Bekämpfung der Sklaverei sieht.

Aber fast 100 Prozent essen weiterhin Zucker. Das gilt auch für mich. Ich bin Teil eines Volkes von Scheinheiligen.

Ja, eine herrliche Wendung zum eigenen Ich und zum eigenen Volk… Finden Sie nicht? Lassen Sie diese Provokation auf sich wirken. Aber machen Sie mich ja nicht zum Schuldigen, ich bin nicht der Autor des Artikels, ich lobe ihn nur. Und er ist ein preisgekrönter Journalist. Da muss man auf alles gefasst sein. Er fährt fort:

Natürlich beziehen sich die genannten Zahlen nicht auf die Sklaverei, sondern auf die Erderwärmung. Das große Thema der Gegenwart ist nicht die Versklavung der Menschen, sondern die Zerstörung der Natur. Aber ich glaube, dass es da eine Parallele gibt. In beiden Fällen geht es darum, die Dinge billiger zu machen.

Ich vergaß, die Geschichte von der Sklaverei wirklich prägnant abzuschließen. Also die Geschichte der modernen Sklaverei in Zahlen, hier als Zitat aus dem oben angegebenen Wikipedia-Artikel:

 Von der Entdeckung Amerikas 1492 bis ins Jahr 1870 wurden mehr als 11 Millionen afrikanischer Sklaven nach Amerika verkauft. Die meisten davon (4,1 Mio.) gelangten über den transatlantischen Dreieckshandel in die britischen, französischen, holländischen und dänischen Kolonien in der Karibik. Fast ähnlich viele Afrikaner (4 Mio.) wurden von portugiesischen Händlern nach Brasilien gebracht. 2,5 Mio. wurden in die spanischen Kolonien in Südamerika verkauft. Die kleinste Gruppe bilden die ca. 500.000 afrikanischen Sklaven, die in die dreizehn britischen Kolonien auf dem nordamerikanischen Festland und in die 1776 gegründeten Vereinigten Staaten gelangten.

Aus dem Werk MUNTU von Janheinz Jahn („Umrisse der neoafrikanischen Kultur“ Verlag Diederichs Düsseldorf 1958) habe ich eine eindrucksvolle „Migrations“-Karte in Erinnerung:

Fortsetzung der Geschichte, – also: die Zahlen vorhin bezogen sich nicht auf die Sklaverei. Es ging darum, die Dinge billiger zu machen.

Zucker zum Beispiel war in Europa jahrhundertelang eine teure Rarität, verzehrt von Kaisern und Königen, bis Christoph Kolumbus im Jahr 1493, ein Jahr nach seiner ersten Fahrt, zum zweiten Mal die Neue Welt erreichte. Diesmal hatte er Zuckerrohr dabei, das damals auf kleinen Feldern auf den Kanaren wuchs. Innerhalb weniger Jahre entstanden in der Karibik große Plantagen. Was fehlte, waren Arbeiter.

1503 überquerte das erste Sklavenschiff den Atlantik. Es gibt Historiker, die in der Zuckerproduktion einen der Anfänge der Industrialisierung sehen: (….)

Zu Lebzeiten von Katherine Plymley ist Zucker das, was heute Erdöl ist: die meistgehandelte Ware der Welt. Er wird so billig, dass selbst Tagelöhner und Hilfsarbeiter ihren Getreidebrei süßen.

Den wahren Preis bezahlen die Sklaven.

Heute ist die Sklaverei abgeschafft. Stattdessen gibt es Überstundenzuschläge, bezahlten Urlaub und Kündigungsschutz. Das gilt vor allem für die Industrieländer, aber nicht nur. Auch in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern steigen die Löhne von Jahr zu Jahr. Noch immer gibt es Zwangsarbeit auf der Welt, noch immer schuften Arbeiter mancherorts für ein paar Münzen am Tag. Die Ausbeutung des Menschen ist noch existent, aber sie hat stark abgenommen.

Was zugenommen hat, ist die Ausbeutung der Erde. So wie damals die Sklaven als billige Arbeitskräfte dienten, dienen heute die Erde und ihre Atmosphäre als billige Rohstoffquelle, als Mülldeponie, als Auffanglager für Treibhausgase.

Seit den Lebzeiten von Katherine Plymley ist die globale Durchschnittstemperatur um ein Grad gestiegen.

Jetzt sind wir bald am Ziel, nicht wahr? Wir brauchen nur noch die Schuldigen. Der Autor weiß es, und lässt uns nicht im Stich. er sagt uns, was mit den Bäumen los ist, beschreibt uns die neuesten Bilder des Klimawandels, dessen Beschleunigung durch das Auftauen der Permafrostböden. Und bricht ab:

Aber genug davon. das alles wurde tausendfach beschrieben, tausendfach erklärt, jetzt soll es um die Schuldigen gehen, die Täter. Die britische Umweltorganisation Carbon Disclosure Project (CDP) hat einen Report veröffentlicht, der ihre Namen nennt. Saudi Aramco aus Saudi-Arabien ist dabei, Gazprom aus Russland, BP aus Grossbritannien, RWE aus Deutschland. Es sind die Konzerne, die das Öl, das Gas und die Kohle dieser Welt aus der Erde holen. Rund um den Globus gibt es Millionen von Unternehmen, aber nur 100 von ihnen sind nach Kalkulation von CDP für 70 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Der Report ist eine beeindruckende Rechenarbeit. Und ein Dokument der Irreführung.

Wieder so eine journalistische Volte! Sollen wir ärgerlich werden? Wir brauchten doch ein glaubwürdiges Ziel unserer Wut, und zwar auf der Basis eines echten Beweisganges! Was soll das jetzt!? Moment, es geht noch ein paar Zeilen weiter, dann können wir eine Pause einlegen…

Denn so wie es damals im 18. Jahrhundert nicht die Sklavenhändler waren, die all den Zucker aßen, so verbrennt heute nicht Saudi-Aramco all das Benzin. Gazprom heizt nicht die Häuser. RWE verbraucht nicht den Strom. Wir tun das. Ich.

Es gibt noch andere Weltprobleme, aber der Klimawandel ist das einzige, für das nahezu jeder Weltbürger mitverantwortlich ist. Ich auch.

Wenn jeder Einzelne von uns sich so verhielte wie Katherine Plymley, brauchte es keine Klimakonferenzen mehr, keine Klimaabkommen, keine Klimaschutz-Gesetze, keine Demonstrationen. Wir müssten nur aufhören, Zucker zu essen.

Der Klimawandel mag ein politisches Problem sein, aber er ist vor allem auch ein privates. Das ist der Grund, weshalb ich in diesem Text von mir selbst schreibe.

Reden wir also über mich.

Ja, genau, wir müssen den Autor haftbar machen, vielmehr: namhaft. Ignorieren wir, dass er hintergründig uns alle in Haft nehmen will, lassen Sie es ihn persönlich ausbaden. Es muss doch einen solchen Artikel online zu lesen geben, und zwar unerbittlich, ohne Sprünge, irgendwo wird sich zeigen, dass er übers Ziel hinausschießt. Der Mann heißt Wolfgang Uchatius und sagt: „Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr / Warum es in Ordnung ist, in den Urlaub zu fliegen, Fleisch zu essen – und trotzdem für mehr Klimaschutz einzutreten.“ DIE ZEIT 11. Juli 2019 Dossier Seite 13.
Nehmen Sie doch hier diese Titel-Zeile und geben Sie sie bei Google ein. Oder gehen Sie gleich zu den Leser-Reaktionen, da rühren sich auch nicht nur Dummköpfe, nämlich Hier.

Leider kann ich, was die Lektüre des originalen Papiers angeht, nicht verschweigen, dass hier auf der zweiten Seite (Seite 14) die Gefahr wächst, dass ich aussteige; es wird mir zu „anekdotisch“, besonders wenn der Autor von sich selbst als Thema zu der Lichtgestalt Leonardo DiCaprio übergeht. Dabei ist ja alles richtig und treffend gesagt, aber es ermüdet und weckt niedere Instinkte (Prominentenneid), – zu unrecht, aber es ist so! Bis man urplötzlich wieder ganz anwesend ist, auch wenn man bemerkt, dass man auf ein uraltes, aber offenbar unlösbares Problem gestoßen wird: die Tragik der Allmende. Nehmen Sie sich Zeit dafür! Sie ahnen, dass die Kuhweide – so überschaubar sie für die frühe Agrargesellschaft war – sich inzwischen in ein gigantisches Bild verwandelt hat, das auf den amerikanischen Philosophen und Ökologen Garret Hardin zurückgeht. Er verglich „die zertrampelten Weiden der Vergangenheit unter anderem mit dem überfischten Meer. Er schrieb, der freie, uneingeschränkte Zugang zum Allgemeingut führe zum Ruin aller“. Jedoch:

Von der mit Treibhausgasen angereicherten Atmosphäre schrieb er nichts. Ende der Sechzigerjahre dachten viele noch, die Erdatmosphäre lasse sich nicht von Menschenhand beeinflussen.

In Wahrheit ist sie die größte denkbare Kuhweide.

Hätte man damals, als auf der Wiese noch Gras wuchs, die Bauern gefragt, welches Problem ihnen am meisten Sorge bereite, hätten sie vermutlich geantwortet: die Überweidung. So wie die Menschen in Deutschland heute sagen: der Klimawandel. Danach hätten sie wieder ihre Kühe auf die Weide getrieben.

In der Debatte um den Klimawandel heißt es oft, die Menschen seien eben nicht zum Verzicht bereit. Ich glaube, das stimmt nicht. Hätte die Kuhweide im England des frühen 19. Jahrhunderts einem einzigen Bauern gehört, hätte er mit Sicherheit darauf verzichtet, zu viele Kühe grasen zu lassen. Das Problem sind die anderen.

Soweit wiederum Wolfgang Uchatius, und ich sehe den ganzen Leserkreis wie mich selbst in ein fast fieberhaftes Nachdenken verfallen, wie man das Problem lösen kann. Es muss doch gehen. Aber man ist schnell bei den politischen Radikalmaßnahmen, denn: wir haben keine Zeit mehr für einen demokratischen Wandel des Verhaltens (der „anderen“). Der Klimawandel ist schneller!

Jetzt kommt bei Uchatius wieder der anekdotische Teil (Helmgebrauch beim Eishockey). Ich springe einige Blöcke weiter:

Immer wenn im Zusammenhang mit der Klimapolitik jemand vorschlägt, etwas zu verbieten oder zu verteuern, heißt es, dies sei ein Angriff auf die Freiheit. Ich glaube, das stimmt, es geht tatsächlich um die Freiheit. Karl Marx hat dazu eine Geschichte geschrieben, sie ist ganz kurz: „Nach England kommt ein Yankee, wird durch den Friedensrichter gehindert, seinen Sklaven auszupeitschen, und ruft entrüstet: Do you call this a land of liberty, where a man can’t larrup his nigger?“ („Nennen Sie das ein freies Land, in dem ein Mann seinen Neger nicht durchprügeln kann?“)

Die Befreiung der Sklaven verringerte die Freiheit ihrer Herren. Genau wie später die Arbeits- und Sozialgesetze die Freiheit der Unternehmer verringerten. Durch den Kündigungschutz sind sie nicht mehr frei, ihre Arbeiter und Angestellten grundlos zu entlassen. (…)

All diese Gesetze, diese Verbote und Verteuerungen haben die Freiheit des Menschen, andere Menschen auszubeuten, eingegrenzt. Nun geht es darum, die Ausbeutung der Erde zu reduzieren. Auch das wird kaum möglich sein, ohne die Freiheit des Menschen ein wenig zu mindern. Der Klimawandel mag auch ein privates Problem sein, aber er ist vor allem ein politisches. Auch die Natur braucht Sozialgesetze.

Ich rate, auch den Schluss des großen Artikels nachzulesen, obwohl er mich ein bisschen enttäuscht. Es geht um die Freitagsdemonstrationen der Kinder, was sie bewegt haben und was sich in Zukunft bewegen könnte. Aber liege ich falsch, wenn ich mich an dieser Stelle nicht auf die Kinder („die Kraft der Schwachen“) verlassen möchte, sondern gerade für sie alles von der Politik erwarte? Und zwar Handlungsstärke in allen wesentlichen Fragen. Kein Warten auf Freiwilligkeit von seiten der Verursacher.

Quelle DIE ZEIT 11. Juli 2019 Dossier Der Mythos vom Verzicht ab Seite 13 Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr Warum es in Ordnung ist, Auto zu fahren, in den Urlaub zu fliegen, Fleisch zu essen – und trotzdem für mehr Klimaschutz einzutreten. Von Wolfgang Uchatius.

P.S. Übrigens wurde die „Tragik der Allmende“ schon von Rolf Dobelli in seinem Bestseller „Die Kunst des klaren Denkens“ (München 2011) einleuchtend beschrieben, auch was die Freiwilligkeit der Gegenmaßnahmen betrifft. Er schließt mit den Worten:

Natürlich: Es gibt Leute, die sehr darauf bedacht sind, den Effekt ihres Handelns auf die Menschheit und das Ökosystem zu berücksichtigen. Doch jede Politik, die auf solche Eigenverantwortung setzt, ist blauäugig. Wir dürfen nicht mit der sittlichen Vernunft des Menschen rechnen. Wie sagt Upton Sinclairso schön: „Es ist schwierig, jemanden etwas verstehen zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“

Kurzum, es gibt nur die beiden besagten Lösungen: Privatisierung oder Management. Was unmöglich zu privatisieren ist – die Ozonschicht, die Meere, die Satellitenumlaufbahnen -, das muss man managen. (Seite 79)

„Management“, so hatte er vorher erläutert, „kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Staat Regeln aufstellt: Vielleicht wird eine Nutzungsgebühr eingeführt, vielleicht gibt es zeitliche Beschränkungen, vielleicht wird nach Augenfarbe (der Bauern oder der Kühe) entschieden, wer den Vorzug erhält.“

Das ist nicht nur ein Scherz: es muss eben von außen geregelt werden  – und nicht nach der Einschätzung der Einzelnen.

*    *    *

Ich verabschiede mich von dem beeindruckenden Artikel über die Stärke der Schwachen, die für Wolfgang Uchatius am Ende ausschlaggebend erscheint: sie müssen nur die Straßen bevölkern und zeigen wo es langgeht. („Sie haben dafür gesorgt, dass plötzlich fast alle Parteien über neue, echte Klimagesetze reden.“)

Das Reden hilft nur bedingt, man sieht es am Pariser Abkommen. Ein Hoffnungsschimmer zeigt sich erst, so scheint mir, wenn die Politik sich auf das Wortungetüm Postwirtschaftswachstum eingelassen hat. Und damit bin ich wieder am Anfang dieses Artikels.

Auf der Suche nach arabischen Quellen

Das rettende Archiv

Eine Meldung in der NMZ (Neue Musikzeitung) brachte mich darauf, den Hintergrund eines arabischen Musikers zu eruieren, der in Lissabon mit einem Preis ausgezeichnet worden ist:

Jeder Kandidat und jede Kandidatin hat jeweils 25 bis maximal 30 Minuten Zeit, sich zu präsentieren. Das sind sieben Stunden Musik an einem Tag. Das Rennen macht am Ende ein Außenseiter: Der 1983 geborene Ägypter Mustafa Said, ein blinder Künstler, der zugleich Oud-Spieler, Sänger, Musikwissenschaftler und Komponist ist.

Mustafa Saids vielfältige Karriere ist nicht ungewöhnlich in diesem Wettbewerb, die meisten der Teilnehmer sind auch Forscher, Musikwissenschaftler und Komponisten. Die Wahl der Jury ist dennoch nicht ganz unumstritten, da Mustafa Said sehr eigenwillig musiziert und ihm einige in der Konkurrenz in Sachen Virtuosität überlegen schienen. Technische Fähigkeiten stehen beim Aga Khan Music Award aber erklärtermaßen nicht im Vordergrund.

Quelle: NMZ Newsletter 23. 7. 2019 Gipfeltreffen der muslimischen MusikkulturIn Lissabon wurden zum ersten Mals die Aga Khan Music Awards vergeben / Autorin: Regine Müller / online hier

Wer also ist Moustafa Said?

Der beigegebene Text („Maqam World“ ist eine Webadresse, siehe hier) :

Maqam World says Maqam Bayati „starts with a Bayati tetrachord on the first note, and a Nahawand tetrachord on the 4th note (the dominant). The secondary ajnas are the Ajam trichord on the 3rd note, and another Ajam trichord on the 6th note. These are often used in modulation.“ Pretty technical, but the best way to learn to hear this Arabic „scale“ is to listen to a master improvise upon it. That is what Mustafa does in this video. It’s a real joy to watch and hear him as he works his artistry.

Bei Rodolphe d’Erlanger (La Musique Arabe V, Paris 1949, Seite 232 f) sieht die allgemeine Form des Maqams folgendermaßen aus:

Gut ist der Hinweis, dass die Darstellung des Maqams nicht unbedingt mit dem Grundton beginnt (d), sondern mit der Quarte (g), die echte Kadenz zum Grundton spielt Mustafa Said erst bei 1:27. Ob die zweite Tongruppe, die behandelt wird, „Tchahargah“ heißt (d’Erlanger) oder „Nahawand“ (Maqam World), hängt davon ab, ob man die Terz (f) oder die Quart (g) als Basis betrachtet. Das könnten wir Mustafa Said ablauschen…

Man findet auf Youtube noch eine Reihe schöner Aufnahmen mit Mustafa Said, rein musikalisch bezaubernd, aber visuell – als Film – meist unzulänglich. Einer der nächsten Schritte ergibt einen Blick auf das riesige Arbeitsfeld des Musikers und seiner Mitarbeiter; es ist geeignet, auch fremde Besucher für Stunden und Tage zu fesseln:

Was ist AMAR?

AMAR is a Lebanese foundation committed to the preservation and dissemination of traditional Arab music. AMAR owns 7,000 records, principally from the “Nahda” era (1903 – 1930s), as well as around 6,000 hours of recordings on reel. To safeguard this rare collection, AMAR has acquired a state-of-the-art studio specifically dedicated to the digitization and conservation of this music. In early 2010, AMAR built a multi-purpose hall that hosts up to eighty people.

The launch of AMAR took place on August 17th – 19th, 2009 at its premises in the Qurnet el-Hamra Village, Metn District, Lebanon. Two days of workshops addressed the foundation’s objectives, strategies and technical workflows. Workshops’ participants included musicologists and ethnomusicologists from Canada (University of Alberta), France (Universities Paris IV & X), USA (Harvard University), Lebanon (Antonine University and the Holy Spirit University of Kaslik), Tunisia and Egypt; all of whom form the foundation’s Consulting and Planning Board.

AMAR’s Objectives

  1. Conservation of recorded and printed Arab musical tradition by utilizing state-of-the-art technologies;
  2.  Support of academic research and scientific documentation;
  3. Integration of these musical traditions and their practices in educational programs;
  4. Seeking multi-media dissemination and promotion of public awareness of the Arab music tradition.

(Fortsetzung folgt bzw. sie ist Ihnen ab sofort leicht gemacht, falls Sie es sich selbst erarbeiten wollen: beginnen Sie HIER.)

Ich werde dort fortfahren, wo ich mich zuletzt wohlgefühlt habe. Zurückversetzt in die Jahre nach 1967, als ich an meiner Dissertation schrieb und mir libanesisch-syrische Volksmusik-Formen wie Qaside, ‚Ataba oder Abou-z-zouluf anhand alter Schallplatten erarbeitete. Ich gehe also auf die folgende Seite: hier. Man sieht dort in etwa das gleiche Bild wie unten, aber anklickbar. Der grüne Balken bezeichnet den Vortrag, den man hören kann, allerdings in arabischer Sprache. Der gedruckte Text jedoch präsentiert die englische Version, darin sind die Musikbeispiele mit einer Note gekennzeichnet. Ich gebe nach den folgenden Textzitaten jeweils die genaue Zeit an, bei der man auf dem grünen Balken das Musikbeispiel abrufen kann. In diesem Fall haben wir 5 Musikbeispiele, in fabelhafter Ausführlichkeit! (Wenn alles gut gegangen ist, haben Sie den Link jetzt im externen Fenster.)

1: Furthermore some of the Syriac folk melodies chanted in church can be used to dance dabkaif accompanied by a percussion instrument. This will surely not happen because they are religious: I am not referring to the lyrics, but to the melody that is very close to the folkloric heritage melodies … MUSIK bei 10:49

2: The Lebanese Heritage Musical Forms can be separated into two main categories: those who reached us from the East, and those existing in the mountain. The heritage reached the coastal areas through the migration from the plain and the mountain. ‘Atābā (folk monadic song in colloquial Arabic), dabka or dal‘ōna only reached Beirut lately with the migration to the coast … MUSIK bei 11:58

3: Here is how the Lebanese Bekaa Bedouins we talked about sing it, accompanied by the rabāba (spike fiddle whose front is covered with sheepskin) … MUSIK bei 17:57

4: There are other styles that are also sung to the maqām bayyātī or rather the jins (set of notes forming the basic pattern in Arab music) bayyātī as there is no maqām because the scale is short … MUSIK bei 18:49

5: Here is a sample of the origin of the ‘atāba performed by the Ṭayy tribe so that our listeners can have an idea of how the ‘atāba was sung originally … MUSIK bei 25:58

(Fortsetzung folgt)

MBIRA

Eine Welt für sich? Ganz gewiss: eine Welt.

Pioniergeist in Sachen Weltmusik – Vlotho 1979:

WDR-Hörer wussten es, seit Kevin Volans die ersten Sendungen für die Abteilung Volksmusik produziert hatte: z. B. am 11. April und am 6. Juni 1978 über Zulu Gitarren Musik. (Ich war seit 1976 als Leiter der Abteilung fest angestellt und hatte freie Hand, solche Themen ins rechte Licht zu setzen. Man verstehe das nicht als Eigenlob: es gab den Mitarbeiter Werner Fuhr und über Jahrzehnte eine günstige Hierarchie, ich denke an Namen wie Alfred Krings – s.a. hier -, Novottny, Jenke, mit Dankbarkeit!) Um den 20. April 1984 (Ostern) fand die große Produktion im Kleinen Sendesaal statt: mit Kevin Volans, Deborah James, Robert Hill (!), und Robin Schulkowsky. Dank der tollen Musikbeispiele und des Textes von Deborah James (und Kevin Volans) konnten wir danach eine Sendung produzieren, die mir für immer „in den Knochen“ saß. Eine entscheidende Rolle spielte auch das wunderbare Buch von Paul F. Berliner: „The Soul of Mbira / Music and Traditions of the Shona People of Zimbabwe“. Die Sendung in WDR 3 am 24. Oktober 1984 (21.00 bis 22.30 Uhr) stand folgendermaßen im Programm: „Die Seele der Mbira. Ein Weg ins Innere afrikanischer Musik mit Deborah James (Johannesburg), am Mikrofon: Jan Reichow.“ Mein Interesse für Afrika hat aber nicht erst im WDR Köln begonnen, sondern – in Berlin, und zwar schlagartig mit dem Buch „Muntu. Umrisse der neoafrikanischen Kultur“ Verlag Diederichs Düsseldorf 1958; ich hatte es mir am 1. November 1960 gekauft, während ich parallel zu dieser Lektüre einen Yoga-Kurs bei Swami Dev Murti absolvierte und hauptamtlich Schulmusik studierte (in Berlin damals mit dem Nebenfach Tanz & Rhythmik bei Taubert !) …

 Tr.10 siehe hier ganz unten

Über Jahre hinweg blieb dieses Thema bei uns virulent, auch durch Wolfgang Hamm, der Radiosendungen, eigene Aufnahmen und hier z.B. den Text zur World Network CD beisteuerte. Wie froh bin ich, dass die Mbira mich jetzt aufs neue erreicht, dank eines sehr aktiven Kenners, Stefan Franke, der dieser Musik ein neues Forum im Haus der Kulturen der Welt in Berlin eröffnete. Ich möchte in aller Kürze die letzten Stationen belegen:

Was macht das Haus der Kulturen der Welt in Berlin? hier

Die Ankündigung der Veranstaltung am 24. März 2019: hier

Ein Mitschnitt der Konzerteinführung mit Stefan Franke hier

Der Eröffnungs-Song im Konzert hier

Eine Mbira-Plattform, die Stefan Franke ins Leben gerufen hat:

https://sympathetic-resonances.org/ hier

In den Umkreis der Mbira-Musik-Forschung gehört unbedingt Klaus Peter Brenner, der sich auch mit den Musikbogen-Traditionen in Afrika beschäftigt hat. Hier folgen ein paar Informationen zu seiner Arbeit:

https://www.uni-goettingen.de/de/aor-dr-klaus-peter-brenner/71298.html hier

https://www.uni-goettingen.de/en/71298.html hier

Folgendes Video im externen Fenster: hier

Folgendes Video im externen Fenster: hier

Aus der Anleitung von Andrew Tracey: HOW TO PLAY THE MBIRA (DZA VADZIMU) International Library of African Music / Transvaal South Africa 1970

Hier folgt eine interessante Bemerkung von Stefan Franke über die Cembalo-Version des Mbira-Stücks, die von Kevin Volans stammt. (Nebenbei: Sie ist auf geheimnisvolle Weise von der Network-CD – s.o. Tr. 10 – nach Youtube „gewandert“.)

Seine Nyamaropa-Bearbeitung finde ich jedenfalls wunderbar, ebenso wie die Tatsache, dass er das Tuning der Instrumente ins Augenmerk rückt – Tunings sind mir ein besonderes und m. E. unterschätztes Anliegen.

Auch wenn das Ergebnis für mich klanglich/spektral in diesem Fall nicht wirklich aufgeht: Die Cembalo-Saite ist sehr obertonreich; eine Mbira-Lamelle hat nur einen nennenswerten, dominanten Oberton ca. 2 bis 2,5 Oktaven höher, und dieser hat, wie ich argumentieren würde, eine definierte Rolle/Funktion in der Musik: Entweder fügt er eine atonale Schicht oberhalb der tonalen Musik hinzu, wie bei der Mbira dzavadzimu mit gestimmten Grundtönen, oder die atonale Schicht entsteht im Bass, wie bei der Matepe, bei der in den unteren Registern die dominanten Obertöne gestimmt werden statt der leiseren, sehr tiefen Grundtöne.

(Aus einer Mail vom 12.7.2019)

Es ist eine unerhörte Schulung des musikalischen Gleichgewichtssinnes, man darf nur nicht nach zwei Minuten Zuhören erlahmen: man konzentriere sich still auf die Hosho-Rassel, wenn alles im Fluss ist. Man sitzt wie in einem Boot, dessen Ruder man beobachtet. Ich finde, dass es einem nach 10 Minuten deutlich besser geht (falls man dessen bedurfte). (JR)

Rhythmus üben?

Ausgerechnet bei Schumann

Wieso „ausgerechnet“, – gerade bei ihm! Die Schwerpunktverschiebung im dritten Satz seines Klavierkonzertes kennt wohl jeder musikalische Mensch, aber wer hat sie im Blut? Bitte die Melodie singen und die Taktanfänge klopfen. Und zwar ohne Noten, denn die Melodie ist wirklich leicht zu behalten. Hier – schauen Sie auf die Uhr, nach genau 60 sec. kommt’s, unmittelbar nach dem Klaviersolo!

Was man in meinem Notenbild sieht, wäre ein 6/4 Takt, vielleicht besser als 3/2 aufzufassen, das wäre jedenfalls ganz „natürlich“. In Wahrheit hat Schumann seine eigene Melodie offenbar absichtlich missverstanden. Sonst wären Sie eben nicht aus dem Takt geraten…

Anders gesagt: wir hatten bis hier einen schnellen 3/4 gezählt, 2 Takte davon (zusammengedacht) ergäben auch einen 6/4, allerdings eben als „2 mal 3“ aufgefasst; man kommt nicht auf die Idee, plötzlich „3 mal 2“ zu denken, und hört bei (weiterhin) „2 mal 3“ die Viertelanschläge plötzlich auf „falschen“ oder leeren Taktteilen.

Er muss es gewollt haben, er hat eine Irritation eingebaut, jedenfalls für uns Zuhörer, die das Werk nicht am Klavier studiert haben: es ist ein Vexierspiel, nein, es gleicht im Visuellen einer Kippfigur. Schlagen Sie ruhig noch einmal den Takt ab Anfang – einfach „ganze Takte“ – das sind hier die Betonungen, die sich „natürlicherweise“ anbieten, etwa im Sekundenabstand, und beobachten Sie, was nach ziemlich genau einer Minute mit Ihnen passiert.

 Schumann original

Sobald man es weiß, ist es leicht, und bleibt reizvoll, Brahms hat diesen Wechsel oft genutzt, allerdings nicht mit den irritierenden Pausen. Siehe Intermezzo C-dur op. 119, Nr 3. Hier eine Studie erstaunlicher Dissensen, die aber eher das Tempo betreffen. Und hier die rhythmische Verwandlung des Themas visuell:

 am Anfang

 in der Mitte

 am Ende

Ich will aber letztlich auf etwas anderes hinaus, jedenfalls auf eine nützliche rhythmische Übung, vielleicht eher für Streicher. Oder Leute, die ein sensibles Thema singen können und dazu auf den Tisch hauen wollen. Auch wenn das barbarisch ist. Das Thema beginnt im folgenden Beispiel genau bei 1:34, Sie können es also ruhig schon üben!)

Das bloße Thema sieht also folgendermaßen aus:

Auch hier hört man die Melodie anders als er dasteht, nämlich so, als fiele die Eins des Dreier-Taktes jeweils auf die Note mit Punkt. Aber das ist nur ein Teil-Problem, denn es sind die nachschlagenden Achtel der begleitenden Instrumente, die den Schwerpunkt der Melodie auf andere Weise in Frage stellen. Jedenfalls aus Sicht der armen Spieler.

Die Melodie liegt in Zeile 1 beim Cello, die drei anderen schlagen in Achteln nach. In Zeile 2 übernimmt Violino 1, die anderen drei schlagen nach. Ab Zeile 3 und 4 spielt Violine 1 die Wiederholung der Zeilen 1 und 2, das Cello spielt einen Kontrapunkt dazu in gleichmäßigen Vierteln, Violine 2 gebundene Achtelketten, die Viola durchgehend Synkopen zu den Viertelnoten, führt also die Kette der nachschlagenden Achtel auf seine Weise allein fort. Die Chromatik am Ende der Zeile 4 führt aus dieser Periodik hinaus in eine Ritardando-Passage.

Es geht jetzt darum, dieses Thema auswendig zu können, es singen zu können, um sich dabei auf die in Achteln nachschlagende Begleitung zu konzentrieren. Der rechteckige Schlüssel vorn bedeutet: auf dem Tisch, rechts (oben) die Melodiehand zum Mitsingen, links (unten) die Nachschlaghand… Zeile 1, Zeile 2 … Sie dürfen nach einer Weile des Übens auch auf die Noten oben in der 4-zeiligen Version schauen. Aber bleiben Sie locker… Es ist nur ein Spiel…

Schumann – Ende. Von hier kann man leicht nach Afrika kommen, wenn Sie wollen. Es ist gesund. Ich behaupte, in den Hirnkammern bewegt sich was, die Moleküle reiben sich freundlich aneinander. Oder so ähnlich.

Mein Lieblingsrhythmus („Omele“) wird in dem schönen Lehrbuch von Volker Schütz folgendermaßen dargestellt:

Quelle Volker Schütz: Musik in Schwarzafrika / Arbeitsbuch für den Musikunterricht in den Sekundarstufen / Institut für Didaktik populärer Musik / Oldershausen bzw. später: 21436 Marschacht 1992 / Seite 56

Ich selbst bevorzuge die integrierte Schreibweise beider Hände und beobachte einmal die gleichmäßig schlagende linke, ein andermal die rechte mit ihrer afrikanischen „Urformel“:

Schumann op. 41,2 am Dienstag 23. Juli 2019 Köln-Refrath

Es geht weiter mit den rhythmischen Finessen, die so leicht aussehen und im Flug vorübergehen:

 Scherzo ⇒Trio Geige II

Auf Youtube hier, dann gleich auf 13:00 gehen, der abgebildete Übergang vom Scherzo zum Trio erfolgt nach 14:08 (genau bei 14:20).

(Frühere Stationen Okt. 2015 mit demselben Streichquartett op.41,2 hier, hier und hier.)

Rhythmus üben? Ja, mit Händen und Füßen im Gehirn.

Herr und Knecht

Ein paar Links zu Hegels Gedankengang

Ich beginne mit dem Versuch, das bloße Thema zu  erfassen. (Nehmen wir an, ich habe noch nie etwas davon gehört, abgesehen von der Erfahrung mit alltäglichen Herrschaftsformen:  Jemand darf mir etwas sagen, ein „Chef“ etwa, bzw. irgendwo hätte auch ich „etwas zu sagen“… ein guter Anfang wäre es, einen Hund zu besitzen.)

Hegel betrachtet die Dialektik von Herr und Knecht als Quelle des Selbstbewusstseins, der Identität. Die Elemente des Selbstbewusstseins werden als „Für-sich-sein“ (Herr) und „Für-andere-sein“ (Knecht) erschlossen. Der Herr bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Tatsache anerkannt zu werden; dafür, dass er sein Leben riskiert hat. Er arbeitet nicht. Der Knecht jedoch arbeitet für den Herrn. Er bezieht sein Selbstbewusstsein im Laufe der Zeit nicht mehr nur aus der Tatsache, für jemand anderen zu sein und zu arbeiten, sondern durch seine Arbeit gelangt er zur Herrschaft über die Natur.

https://de.wikipedia.org/wiki/Herrschaft_und_Knechtschaft HIER

In diesem Wikipedia-Artikel erfährt man, wo Hegels Gedankengang ansetzt: er hat ihn nicht aus der Luft gegriffen oder aus luftigen Einfällen zusammenphantasiert: er ging von konkreten Geschichten aus, genauer gesagt: von einem französischen Buch, das in den 1790er Jahren herauskam; der Autor war Denis Diderot. Friedrich Schiller hat vorweg ein einzelnes Kapitel übersetzt und daraus eine eigenständige Geschichte geformt, die 1785 erschien. Eine etwas komplizierte Konstruktion, – vor allem wenn man in erster Linie darauf wartet, erfassen zu können, wie sie nun mit Hegel zusammenhängen soll.

https://de.wikipedia.org/wiki/Merkw%C3%BCrdiges_Beispiel_einer_weiblichen_Rache HIER

Der nächste Schritt wäre die Lektüre des Schillerschen Originals, das über den Link am Ende des Wikipedia-Artikels erreichbar ist bzw. hier. Aber letztlich kann man sich diesen Zwischenschritt zu Schiller sparen, der jedoch vorweg zur Publicity des noch nicht veröffentlichten Diderot-Werks erheblich beitrug.

Der folgende Weg führt zu Diderots Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“, der in einer interessanten Ringvorlesung behandelt wurde, als Punkt 7 findet man die Überschrift „Herr und Knecht“:

Hegel entfaltete (…) die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Rückbezug auf Diderots Roman und stellte die Überlegenheit des Knechts über den Herrn heraus.

https://web.archive.org/web/20131104215749/http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/romane_antike_19jh/Diderot_Jacques.pdf HIER

*    *    *

Der Wikipedia-Artikel zur „Phänomenologie des Geistes“ zeigt, welch zentrale Stellung das Problem von Herr und Knecht in Hegels Buch einnimmt: HIER.

Und nun zu Hegels Originaltext: ab HIER  plus Kapitel 22…

Oder in meinem verstaubten Exemplar:

 1921

Und? Wie war’s?

*    *    *

Ich bin stark abgelenkt durch die Frage, ob nicht heute jeder Esel ein Arbeiter sein will. Im Urlaub trägt er sein ganzes Freizeitgerümpel mit sich, – ist denn Surfen und das ganze Selbstoptimierungsprogramm bloße Zerstreuung? Herrentätigkeit? Selbstausbeutung? Gilt als Arbeit vielleicht nur alles, was unfreiwillig getan wird; was man tun muss, um den Lebensunterhalt zu sichern? Nur die körperliche Arbeit? Hat ein adeliger Herr in feudalen Zeiten nicht immerhin Büroarbeit erledigt? Mich beschäftigt auch ein Artikel, in dem es um Sklavenarbeit ging (Zuckerherstellung auf Cuba). Als sie abgeschafft war, war man imstande, mithilfe zwischengeschalteter Maschinen die Natur direkt auszubeuten. Da wird allerdings eine absolute Grenze sichtbar; sie ist längst überschritten.

Aber im Grund geht man bereits fehl, wenn man das Verständnis des Hegel-Textes auf zwischenmenschliche Verhältnisse einengt, die Entwicklung dieses Gedankens gehört zum Kapitel „Selbstbewusstsein“ und bezieht sich gleichermaßen auf die reflexive Situation im Kopf jedes Individuums. Man könnte ansetzen bei dem Wort „Begierde“.

Nach Hegel, – so in einem anderen Werk -,

ist die Begierde diejenige Form, in welcher das Selbstbewußtsein auf der ersten Stufe seiner Entwicklung erscheint. Die Begierde hat hier, im zweiten Hauptteil der Lehre vom subjektiven Geiste, noch keine weitere Bestimmung als die des Triebes, insofern derselbe, ohne durch das Denken bestimmt zu sein, auf ein äußerliches Objekt gerichtet ist, in welchem er sich zu befriedigen sucht.
Daß aber der so bestimmte Trieb im Selbstbewußtsein existiert, davon liegt die Notwendigkeit darin, daß das Selbstbewußtsein (…)  zugleich seine ihm zunächst vorangegangene Stufe, nämlich Bewußtsein ist und von diesem inneren Widerspruche weiß. Wo ein mit sich Identisches einen Widerspruch in sich trägt und von dem Gefühl seiner an sich seienden Identität mit sich selber ebenso wie von dem entgegengesetzten Gefühl seines inneren Widerspruchs erfüllt ist, da tritt notwendig der Trieb hervor, diesen Widerspruch aufzuheben.
Das Nichtlebendige hat keinen Trieb, weil es den Widerspruch nicht zu ertragen vermag, sondern zugrunde geht, wenn das Andere seiner selbst in es eindringt. Das Beseelte hingegen und der Geist haben notwendig Trieb, da weder die Seele noch der Geist sein kann, ohne den Widerspruch in sich zu haben und ihn entweder zu fühlen oder von ihm zu wissen.

Quelle Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss (1817) / Zitiert nach dem Text hier. Volltext HIER.

Man kann nicht erwarten, nach diesen kurzen Hinweisen einen Text wie den eben zitierten wirklich zu verstehen, aber man ist immerhin  geschützt vor allzu schnellen Festlegungen…

*    *    *

Ich habe mich nach diesen Texten erstmal – wie schon mehrfach in den vergangenen 20 Jahren – in die Einleitung des Herausgebers Georg Lasson begeben und fand das so instruktiv wie früher (als ich trotzdem letztlich darin steckengeblieben bin). Im Vorwort zur ersten Auflage habe ich mir folgende Zeile unterstrichen:

Dem Riesengeist Hegels sich nicht gewachsen zu fühlen, ist gewiß keine falsche Bescheidenheit.

Die vorliegende zweite Auflage der „Phänomenologie des Geistes“ ist die, die auch Adorno in seinen Vorlesungen benutzt hat. Hier sind die Seiten, die ich fürs erste hilfreich fand und mir abrufbereit halten möchte:

Vom Imperiengeschäft

… nicht nur zu anheimelnden Kulissen

Editorial von Cecilia Aguirre (Folker Juli 2019)

Sommerzeit ist Lektürezeit. Gerade amüsiere ich mich mit dem durchgeknallten A&R-Manager Steven Stelfox aus John Nivens Roman Kill ’em All. Die bissige Satire ist nichts für zarte Gemüter und leuchtet das Musikbusiness mit all seinen Schattenseiten grell aus: Koks, Geldgier, Geil- und Dumpfheit. Parallel blättere ich in Nivens Erstlingswerk Music from Big Pink. Der Autor verlegt die Szenerie nach Woodstock, wo sich diverse Musiker um den in der Nähe lebenden Bob Dylan gruppieren. Es entsteht The Band! Stilistisch ist Nivens Debüt unbeholfener, aber es steckt voller Musikzitate aus den Endsechzigern und eignet sich wunderbar zum akustischen Rekapitulieren: Levon Helms handfestes Folkwerk Dirt Farmer (2007) oder Bob Dylans sprödes Album John Wesley Harding (1967) mit Textzeilen wie „I pity the poor immigrant who wishes he would’ve stayed home“.
„Jeder zieht jeden über den Tisch“, kommentiert John Niven in seiner Nachschau lapidar die Musikindustrie, und Berthold Seliger belegt dies in seinem aktuellen Buch Vom Imperiumgeschäft: Konzerte – Festivals – Streaming – Soziales. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören (Edition Tiamat, 2019). Schon Das Geschäft mit der Musik – ein Insiderbericht (Edition Tiamat, 2013) las sich wie ein Krimi, trotz der nüchternen Akkumulation von endlosen Zahlen und Fakten. Seliger schließt an, und weiter geht’s mit den Machenschaften der drei Großkonzerne, die das weltweite Live-Geschäft krakenförmig einkreisen: AEG, CTS Eventim und Live Nation. Das Imperium schlägt zu und verschlingt seine Kinder. Dabei verweist Seliger – wie Niven in seinen Romanen – auf die Parallelen zwischen der Musikindustrie und dem Drogenhandel: Bei beiden heiligt der Zweck die Mittel. Die sind auch illegal recht. Wie anheimelnd wirken da unsere Folker-Kulissen, zum Beispiel in Bremen, bei einer Irish Session (S. 56-58). Da blinkt die Gemütlichkeit durch die Butzenscheiben eines Gasthauses, während virtuos beschwingte Fiddletunes erklingen. Der Multiinstrumentalist Albin Brun begibt sich mit seinem Schwyzerörgeli ins schnuckelige Altdorf (Kanton Uri, Schweiz) zum diesjährigen Alpentöne-Festival (S. 38-40). Und die vier Jungs von Bukahara haben sowieso nur den Weltfrieden im Sinn (S. 26-29). Was sonst?
Entspannte Lektüre

Cecilia Aguirre

(Foto: Luisa Aguirre) Weiter zur Zeitschrift Folker hier.

 Hier (der erwähnte Titel)

Zum SPIEGEL-Gespräch mit John Niven hier.

Zu Berthold Seligers Buch „Vom Imperiengeschäft“ hier.

Nachtrag 27. Juli 2019 Ein Interview mit Berthold Seliger über sein Buch auf Telepolis – Statt „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ nun „Private Equity & Hedgefonds & Brands’n’Sponsoring“ HIER

Qui saura, Ruanda?

Ein Tag wie jeder andere

Fängt an mit Zeitunglesen, und wenn das Tageblatt durch ist, dann liegt da immer noch die ZEIT seit letzter Woche, vieles ungelesen, vorgemerkt der Artikel „Wenn künstliche Intelligenz Musik macht“, Obertitel irgendwas mit Sinatra. Aber dann bleibe ich hier hängen, wegen Ruanda, höre jedoch nach ein paar Minuten auf, weil ich es nicht so extrem narrativ haben möchte und begebe mich in mein Arbeitszimmer bzw. das obere, wo der Computer steht (nicht in das untere, wo die Bratsche liegt und … die Tür in den Garten hinausführt). Aber was mir nachgeht, ist der Liedtitel, der mir nicht ganz unbekannt war. Soll ich mir das „in echt“ anhören? HIER. Gut, sogar zweimal, ich versuche den Text zu verstehen, der Leo-Sprachdienst liefert das ganze Lied auf einen Schlag, und zwar akzeptabel. Und der Ohrwurm für den Rest des Tages hat sich schon eingehakt. Wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen, wer wird es wissen? Wer wird mich dazu bringen, es zu vergessen? Sag es mir. Mein einziger Grund zu leben. Versuch es mir zu sagen. Wer wird es wissen, wer wird es wissen, ja, wer wird es wissen? Es-dur für 2 oder 3 Strophen, Rückung: F-dur, Rückung: Fis-dur, Rückung: A-dur – und dies bleibt bis Ende (mit Blende).

Dann Ruanda, Wikipedia, ein langer Artikel, ich denke an die Trommler von Burundi, soll ich mich damit noch einmal befassen? aber zunächst mal weiter: zum Kern der Sache, wie kam es zu dem Völkermord? Ein gigantischer Artikel – was für ein Inhalt, und nicht zu begreifen! Oder doch, wenigstens in den Einzelschritten? HIER.

Am Ende lese ich auch:

Der Roman Hundert Tage des Dramatikers Lukas Bärfuss befasst sich mit den Ereignissen aus der Sicht eines Schweizer Entwicklungshelfers (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) in Ruanda und der Rolle der Entwicklungshilfe; diese habe über Jahrzehnte das Regime Habyarimanas ungeachtet der Korruption und der menschenrechtlichen Defizite unterstützt und damit den Völkermord mitermöglicht.

Gestern hörte ich, dass Lukas Bärfuss den Büchner-Preis erhält. Ich kannte nicht einmal den Namen.

Die Schriftstellerin Nora Bossong erinnert sich bei dem Schlager Qui saura an einen anderen französischen Satz, der ihr immer wieder in den Sinn kommt: Dans ces pays-là, un génocide n’est pas très important. ZITAT:

Der Satz über den Genozid stammt vom damaligen Präsidenten François Mitterrand, und das Chanson wurde von Mike Brant gesungen. Dass Moshe Brand der eigentliche Name des Sängers ist und er zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde als Sohn einer Auschwitz-Überlebenden, lese ich am nächsten Vormittag, meinen Laptop auf den Knien, über mir läuft der Fernseher. Ruanda sei eine Familie, erklärt Präsident Paul Kagame vor den Kameras im Kongresszentrum, dessen Kuppel ich in der Ferne durch mein Fenster sehen kann. Aus dem Nachbarzimmer dringt lautes Stöhnen, Sex gegen die staatlich verordnete Pflicht des Erinnerns, ein schmaler Riss in der Trauerflagge, die über dem ganzen Land hängt. „Existieren in einem Zustand anhaltenden Gedenkens“, so nennt Kagame es in seiner Rede, und er spricht von der jungen Generation, die den Völkermord nicht mehr selber erlebt hat, von den fast 60 Prozent der Ruander, die erst nach den 100 Tagen auf die Welt kamen, in denen sich das Land in eine menschengemachte Hölle verwandelte. Die Einigkeit über alle Gräben hinweg, über das Schweigen der einen und die Verzweiflung der anderen hinweg, das ist es, was in diesen Tagen wie ein Mantra wiederholt und beschworen wird, als Grundlage dafür der Generationenwechsel nach einem Vierteljahrhundert, aber was sind schon zweieinhalb Jahrzehnte. Etwas mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Befreiung von Auschwitz, im Jahre 1972, wurde Brants Chanson zu einem großen Erfolg. Drei Jahre später sprang der Sänger aus dem sechsten Stock eines Pariser Hauses und nahm sich so das Leben.

Quelle DIE ZEIT 4. Juli 2019 Seite 39 Was sind schon 25 Jahre? Im Juli 1994 endete der Völkermord in Ruanda. Wie schaffen es Opfer und Täter, heute miteinander zu leben? Eine Reise durch ein Land, das geradezu unheimlich gut funktioniert. Von Nora Bossong.

Harald Schmidt ohne Schnitt

Warum vermisst man ihn?

Man könnte sagen: er ist entspannter (oder umgekehrt: steht mehr unter Strom) denn je, hier hat er Heimvorteil, der Vfb ist ihm egal, Nürtingen ist nicht weit, nur was Hegel angeht, hat er nicht richtig aufgepasst: der Satz über die Heimat stammt von Herder („Heimat ist das, wo man sich nicht erklären muss“), aber das weiß ich auch nur aus den (lesenswerten) angehängten Fan-Stimmen. Ich erwähne sie, weil sie den Interviewer nicht aufs Korn nehmen, sondern Geschmack zeigen und ihn auch sehr nett zitieren: „Niemand darf wegen seines schlechten Geschmacks bevorzugt werden.“

1:31 Was bedeutet denn Heimat für Sie? Hegel, Hansi Hinterseer („Heimat ist, wo dich der Nachbar grüßt.“) 2:20 Nürtingen („da kommen ja die Storys her.“) Autokennzeichen NT, LEO, Backnang BK, („niemand darf wegen seines schlechten Geschmacks…“) 4:04 ab September „Echt Schmidt“ im Schauspielhaus, 5:24 Werbung in Late-Night? 5:56 „Gibts etwas aus der Zeit, was Sie vermissen?“ Warm  up! „Mein Gast steht im Mittelpunkt?“ Ja, wo sinmer denn!? Wolln Sie mich fragen, wer mein Lieblingsgast war? 7:11 Vfb Stuttgart. Manuel Andrack, Helmut Zerlett. Kein privater Kontakt: „Es muss alles in der Show kanalisiert werden.“ 9:35 Satz vollenden… 12:00 Polizei. Karneval. 14:30 Anbiederung über Youtube. 14:40 Rezo: „Unfassbar schlecht von der Performance (her)“. Autoindustrie. Über Fernsehen. Durchschnittsalter der Zuschauer. 19:10 Böhmermanns Film mit Sahra Wagenknecht für H.Schm.-Show. „Ich wusste, dass er es als Moderator nie schaffen wird, aber als Krawallschachtel…“ 19:50 Nur ins ZDF nach Mitternacht? Late Night Deutschland oder USA 21:00 nur New York und Los Angeles. Funktioniert nur täglich! „Late Night in D ist tot!“ Sätze, die so’n Format killen. 23:00 Erfolgreichste Quote, die wir jemals hatten. Porsche mit Zerlett. Kreuzfahrtdirektor. „Wenn das E-Auto kommt, ist Schluss mit billigen Kleinwagen.“ 24:54 Parteienveränderung. „Die Grünen sind die neue CDU.“ Kerzenschein? Briefe? Vfb warum? „Game of Thrones hab ich noch komplett vor mir, da weiß ich, muss ich durchkucken. Im Winter mal nachts wird das durchgezogen.“ 30:46 Liebster Gast? Bowie, Iggy Pop, Anne-Sophie Mutter (s.u.) und 31:04 Helmut Berger! 32:25 Angela Merkel-Fan. Wäre vor der Kamera völlig uninteressant. „Ja zu deutschem Wasser.“ 37:30 Schauspielhaus. 39:37 „Der dümmste Satz! Morbus Plasberg (…) Ich freu mich auf Sie!“ 40:55 Fragen aus dem Off: Berge oder Meer? 41:30 „Only jellyfishes this year!“ (Quallen). „Die Leute haben gar nichts zu tun mit dem Klima, weil sie erstmal kucken, wie sie überleben.“ ACHTUNG beim Zuhören!! ab 42:00 Schreckensschrei! 43:20 Nochmals Rezo (= „armseliger Performer“). „Was da inhaltlich neu gewesen sein soll, erschließt sich mir nicht.“ „Nix, was man nicht in der Stuttgarter Zeitung hat lesen können.“ (Auffällig tendenziös in diesem einen Fall. Warum kommt er auf Rezo zurück, um nochmal dasselbe zu sagen?)

*    *    *

Das Rezo-Video hier. (Bis heute 15.507.276 Aufrufe!)

Harald Schmidt 2009 u.a. mit Anne-Sophie Mutter hier (ab 29:39) (übers Üben, nicht jeden Tag! sonderbar, was sie über Mendelssohn sagt: „unterschätzt, weil er im Zweiten Weltkrieg…? …getaufter Jude, der Bach wiederentdeckte…“ waas? will sie nicht Hitlerzeit sagen? Antisemitismus? War es nur der böse Krieg?)

Böhmermanns Beitrag mit Sahra Wagenknecht hier. Nicht zu fassen… Zum Ausgleich die ebenso hastige wie ausführliche Abfrage bei Schmidt: hier, ab 7:25 über Marx: „interessante, hilfreiche Analysemittel“, und: „so wollen wir ihn garantiert nicht wieder umsetzen“. Für alle Fälle gebe ich zu, dass ich gerade ihr Buch über Hegel (missverstanden vom frühen Marx) durcharbeite: ich hatte schon vorher großen Respekt!)

Gut (und richtig), was Harald Schmidt über Jan Böhmermann sagt. Eine „Krawallschachtel“. Ja, und ich füge hinzu: vor allem – dieser ist im Vergleich zu H.S. zu wenig witzig. Ähnlich wie mein Opa, der – wenn er gut aufgelegt war – eher höhnisch wurde und selbst alte Freunde in die Pfanne haute.

Und jetzt folgt Werbung! (Bei mir gratis!) In diesem Sinne:

„Ich freu mich auf Sie!“

*    *    *

Eine kritische Stellungnahme zu diesem Blog-Beitrag kam per Mail von einer Bekannten, Prof. Große-Söhnermann: 

Habe gerade Deine Verarbeitung des Schmidt-Interviews gelesen - das ich
als Württembergerin ja auch amüsant und lehrreich fand. Im Falle der
Bemerkungen über Böhmermann gehst Du aber glaube ich in die Falle des
Outsider-/Insider-Vexierspiels. M.E. ist völlig klar, dass Kollegen in
diesem Metier übereinander - geschweige denn über die Inhalte der
Profession selbst - nichts auch nur annähernd Ernsthaftes öffentlich
verbreiten. Will sagen: die Aussagekraft von "Krawallschachtel"
erschöpft sich völlig in der bizarren, unzeitgemäßen Wortwahl. (Wenn Du
Dich an die Episode mit Oliver Pocher als Sidekick oder wie das heißt
erinnerst, das war ja auch ein ständiges latentes Machtspiel, das seinen
Reiz für die Zuschauer aus sich als solchem bezog und nicht aus dem
tatsächlichen Niveauunterschied - der wäre viel schneller uninteressant
geworden.) Die Äußerungen über Böhmermann - ebenso wie, deutlich
desinteressierter, über Joko & Klaas & Co., sind einfach diskursives
Säbelrasseln, denn was er über die Qualitäten und Ansprüche von
Late-Night-Shows denkt, er (Schmidt), es ist auf der Ebene der
Medienöffentlichkeitsrivalität völlig unerheblich. Er würde sich nicht
die Blöße geben, es "im Ernst" nötig zu haben, einem Kollegen ans Bein
zu pinkeln.

Mit den - ja eigenartigerweise oder bezeichnenderweise? wiederholten -
Bemerkungen über Rezo verhält es sich auch, glaube ich (!), nicht
einfach faktisch im Sinne einer Aussage von A über B. Schmidt weiß doch,
während er es ausspricht, dass sein Urteil ebensowenig wie das von AKK
oder den anderen verschreckten Berufspolitikern die Wirkungsebene überhaupt
berührt, auf der sich "Rezo" als Phänomen abspielt.

Auch das ist Säbelrasseln, aber auf verlorenem Posten; es ist allenfalls
Teil von Schmidts Medieninstinkt zur Sympathiengewinnung durch
("bessere") Formulierung dessen, was jeden nicht
aufmerksamkeitsdefizitären Rezo-Zuschauer auch nervt. Was aber noch
lange nicht heißt, dass Schmidt hier außergewöhnliche Urteilskraft
hätte. Er hat ein Podium, aber (wie ja auch Deine Klickzahl belegt)
ein vergleichsweise kleines.

Die Stärken des Schmidt-Interviews liegen ja, da waren wir uns sowieso
einig, in anderen Punkten. (Ich wollte nur nochmal auf die
Nicht-Aussagekraft der Bemerkungen zu Böhmermann hinweisen, da sie mir
in Deiner Zusammenfassung wie echte Aussagen vorkamen.)

Danke! Zur Klickzahl: Rezo am 8. Juli 15.507.276 Aufrufe, heute (am 21. Juli) 15.605.869. Schmidt heute 183.144 Aufrufe. Dieser Blogbeitrag bis heute: 32, ein anderer („Wozu Musikwissenschaft?“ seit 3. Juli) 56. Das muss den Urheber nicht irritieren: es gibt halt Themen, Inhalte und Tonfälle, die man selbst guten Freunden im Alltagsgespräch nicht zumuten würde. Gründliche (monologische) Erklärungen mögen willkommen sein, wenn die anderen sie lesen können (nicht anhören müssen).  Eine bloße Unterhaltung jedoch sollte eigentlich immer – unterhaltend bleiben. Für beide Seiten!

Im Radio, auf Youtube (und bei Bloglesern) darf man auf Seiten der Rezipienten sowieso Freiwilligkeit voraussetzen. Und die bloße Anzahl der Klicks sagt nichts über Verweildauer und Gründlichkeit des Besuchs…

Nach Harald Schmidts Solo-Auftritt in Stuttgart

ZITAT

(…) Der Abend dient einerseits der Bewältigung (oder Feier) von peinlicher persönlicher Vergangenheit und andererseits der Bewältigung tagespolitischer Zumutungen.

In den stehengebliebenen Bierzeltkulissen der Italienischen Nacht geht Schmidt umher, als sei er ein Dozent, der uns anhand der Ruinen deutscher Geschichte sein Weltbild erläutert. Er assoziiert nicht frei, erweckt aber immer wieder auf geniale Weise den Eindruck, dies sei seine Arbeitsmethode. In Wahrheit, so sagt er selbst, gebe es keine Schlagfertigkeit, sondern nur gute Vorbereitung. Hier gilt ein Satz von Rudi Carrell, den Schmidt voller Ehrfurcht zitiert: „Damit du was ausm Ellenbogen schütteln kannst, musst du vorher was reingetan haben.“ Bisweilen wirkt er wie eine Figur von Thomas Bernhard, die im letzten Monolog angekommen ist: einer, der unsere Gegenwart als etwas tief Vergangenes betrachtet und sie, aus einem idealen Jenseits heraus, mit dem Spott dessen übergießt, der halbwegs heil hinübergekommen ist. Was den Figuren in Bieitos Inszenierung der Italienischen Nacht noch bevorsteht, ist hier schon, wie alles andere, was damals folgte, verschmerzt und verarbeitet: zum Pointenmaterial eines Bildungsmelancholikers, der der Nachwelt zugehört und uns in ihr begrüßt, als wäre er ihr Honorarkonsul.

Quelle DIE ZEIT 2. Oktober 2019 Seite 59 Der magische Ellenbogen Vorwelt trifft Nachwelt: Harald Schmidt macht am Stuttgarter Schauspielhaus Comedy in den Kulissen eines Horváth-Stücks / Von Peter Kümmel

Liberalismus!?

Ein Taschenspielertrick

„Befreiung“ war ein Zauberwort, seit ich zu denken gelernt habe. Oder glaubte, es zu lernen. Und immer gab es in diesem Prozess warnende Widerworte. Oft genug erschienen sie unberechtigt, zumindest verunsichernd, noch öfter lernte man sie durchschauen als Angst vor jeglicher Veränderung. (Der private Bereich wurde politisiert, zugleich auch verdrängt, und selbst heute lasse ich diesen Part gern außer Betracht, bzw. im rein Privaten.) Ich zitiere nur, was mich heute morgen unverhofft mit Freude erfüllt hat (wo eigentlich nichts zu freuen ist):

(…) für große Teile dieser Parteien verkörpert der Liberalismus das Übel dieser Welt, vor dem es das eigene Land zu schützen gilt. Sie alle arbeiten daran, Grenzen zu verschieben, moralische wie politische.

Den Liberalismus, den sie bekämpfen wollen, zeichnen sie natürlich nicht so, wie ein genuiner Liberalismus in seinem Kern ist: mit einem starken Rechtsstaat, mit robusten Institutionen und mit Werten, zu denen die Freiheit ebenso gehört wie die Verantwortung. Stattdessen skizzieren sie den Liberalismus als groteske Karikatur, ganz im Putinschen Sinne. In diesem Liberalismus klauen Migranten und vergewaltigen, folgenlos natürlich, in diesem Liberalismus werden Kinder mit Vorstellungen von sexueller Vielfalt indoktriniert, in diesem Liberalismus werden Familie und traditionelle Werte bedroht, in diesem Liberalismus wird die Freiheit gefährdet – eine Freiheit, die ihre Verfechter gern über das Recht auf Kerosin, Diesel, Fleisch und sexistische Witze definieren.

Diese Karikatur an die Wand zu pinseln und vor ihr zu warnen ist ein alter Taschenspielertrick. Derzeit hat er Konjunktur.

Quelle DIE ZEIT 4. Juli 2019 Seite 1 Putins Brüder Russlands Präsident erklärt den Liberalismus für überholt. Aber die Gefährder der Freiheit sitzen auch im Westen / Von Alice Bota [online nachzulesen hier] Siehe auch in  Financial Times hier.