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Künstliche Intelligenz – nur keine Panik!

Mehr Komik! Ein paar ungelöste Fragen

Es liegt was in der Luft, KI – und mit Vorliebe wird in der Kunst herumgestochert, als sei es die letzte Bastion der Menschlichkeit, deren Verschwinden nun bald zu beklagen sein wird. Dabei gab es doch schon die künstlich erschaffene Zehnte von Beethoven in Bonn, ein Desaster erster Güte, das nur nicht heilsam wirkte, weil es doch genug Offizielle gab, die bestätigten, dass es irgendwie nach Beethoven klang; was ja kein Wunder ist, wenn man ausreichend „echten“ Stoff reingemischt hat. Kein Wort darüber. Es wird auch nicht richtiger, wenn es vom Philosophen Precht stammt, der sich wohl in KI auskennt, aber nicht in MUSIK.

Ich weiß nicht, ob der verdienstvolle Journalist Ulrich Schnabel nun die passenden Akzente setzt, wenn es um KI in Literatur, Prosa oder Lyrik geht.

DIE ZEIT 15. Dezember 2022

Ich erlaube mir aber, einen Abschnitt daraus zu zitieren, in dem es u.a. um Gedichte von Rilke oder Celan geht, vielmehr um deren Surrogat aus dem Ideen-Räderwerk der Künstlichen Intelligenz.

Lassen Sie es auf sich wirken!

Welcher Lyrikkenner würde denn im Traum glauben, dass eine so schwache Metapher („Berge wie Riesen“) von Rilke stammen könnte, der auch noch „die Kraft der Erde“ unter seinen Füßen fühlt. Gewiss, wer den Namen Celan und das Wort schwarz hört, denkt im gleichen Moment an die „schwarze Milch“ der Todesfuge, aber schon dieses Titelwort könnte die KI nur von Celan selbst abgeluchst haben und dürfte es übrigens kein zweites Mal verwenden. (Um nochmal auf Beethoven zurückzukommen: es ist völlig unrealistisch, dass er ein neues Opus aus Elementen vorheriger Werke zusammenbaut. Sein Geist war unberechenbar, von Werk zu Werk ebenso wie innerhalb eines Werkes.)

Wer sind denn die Versuchspersonen, die nur noch raten können, ob es sich um ein Original oder ein Maschinen-Gedicht handelt? Raten statt urteilen??? Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Poet, wenn er sein Handwerk versteht, schreibt wie ein Roboter, aber unwahrscheinlich, dass diesem eine Strophe gelänge, die mit einer von Rilke austauschbar wäre.

Und etwas weiter im Text findet man die Sätze:

Eine weitere Kritik an den Sprachprogrammen lautet, dass sie häufig vorhersehbare, formelhafte Texte hervorbringen; zu echter Fantasie oder literarisch wertvollen Beiträgen sei der Algorithmus hingegen nicht in der Lage. Das stimmt. Die Sache ist nur die: Dasselbe gilt für uns Menschen. Auch der Großteil jener Texte, die wir tagtäglich produzieren, ist formelhaft und folgt vorhersehbaren Mustern – das gilt für die Hausaufgaben wir für Behördentexte, für Sprachnachrichten wie Politikerreden. Das eröffnet den Sprachprogrammen einen enormen Anwendungsbereich.

Aber wer will sich im Ernst darüber wundern, dass wir uns im täglichen Leben unzähliger Formeln und Redensarten bedienen?  Es ist schlicht unnötig, sich permanent origineller oder preziöser Ausdrucksweisen zu bedienen. Daraus wird sich kein entspanntes (und inspiriertes) Gespräch entwickeln, wie es „normale“ Menschen lieben, die z.B. nicht miteinander im Wettkampf stehen, sondern – sich unterhalten.

Auch das Philosophie Magazin vom 14. Dezember 2022 beschäftigt sich mit diesem Thema und sieht gerade in dieser Normalität ein Problem:

ChatGPT – wenn Algorithmen fabulieren

Ein neues Sprachprogramm der Firma Openai sorgt im Netz seit einigen Wochen für Aufsehen. Der Grund ist, dass es eine Fähigkeit beherrscht, die bislang Menschen vorbehalten war: Das Erzählen von Geschichten.

Und nun heißt es:

Sogar die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die man lange als rein menschliche annahm, scheint die KI zu beherrschen. Einer jener Denker, der das Erzählen von Geschichten zum Vorrecht des Menschen erklärten, war Henri Bergson. In seinem 1932 erschienenen Werk Die beiden Quellen der Moral und der Religion erklärt der Philosoph, dass die Fähigkeit zu „fabulieren“ notwendigerweise mit der menschlichen Intelligenz verbunden und unerlässlich ist, um uns gesund und guten Mutes zu halten. Sie erfüllt in der Tat eine lebenswichtige Funktion, indem sie uns als potentes Werkzeug im Kampf gegen eine Niedergeschlagenheit zur Verfügung steht, die uns in unterschiedlicher Ausprägung jedoch schlussendlich alle betreffen wird.

(…)

Daran darf zum jetzigen Zeitpunkt mit Fug und Recht gezweifelt werden. Bergson erinnert uns nämlich auch daran, dass es nur möglich ist, den Nebenwirkungen unserer Vernunftbegabung mit Geschichten entgegenzuwirken, wenn die Geschichten von sich aus „vital“ sind. Also eine Kraft besitzen, die jenen Texten abgeht, die lediglich aus einer Vielzahl neu arrangierter, jedoch bekannter literarischer Gemeinplätze bestehen. (…)

Im Gegensatz dazu zeichnet sich das menschliche Fabulieren durch das Charakteristikum aus, mit Erwartungen zu brechen, im ersten Moment verwirrende Geschichten zu konstruieren, die sich schließlich doch zu einem Ganzen zusammenfügen.

Richtig! Niemand zweifelt aber auch, dass nette Kindergeschichten, wie ich sie einst für meine Enkelin erfand, ebenso von einem Computer stammen könnten. Die Kleine gab mir sogar zwischendurch Anweisung, wie es weitergehen sollte. Auf keinen Fall sollte der Hauptfigur etwas zustoßen. Niemals hätte sie protestiert, wenn der Inhalt allzu schematisch aufgebaut war. Die Geschichten sollten ja gewissermaßen einem heimlichen Muster folgen. Es war nicht schlimm, wenn es ausging wie am Abend zuvor. Andererseits gab es genügend Erfahrungen, dass ein Film oder eine geschriebene Geschichte, anders verläuft, als vom Kind gewünscht, ja, sogar mit Tränen endet. Lebenserfahrung, die auch dazu verleiten kann, endlich selbst den Weltlauf mitlenken zu wollen. Und wissen, was ein Scheitern bedeutet.

Heute würde Henri Bergson sich wahrscheinlich angesichts der Leistungen der KI etwas anders fassen. Aber im Prinzip lohnt es sich, vom „vitalen“ Kern auszugehen, der die Geschichte trägt. Und normalerweise beeinflusst kein Rezipient den Verlauf, die live erzählende Person allerdings ist ein Seismograph, der durchaus die Kräfte spürt, die wachgerufen werden.

*    *    *

Eine andere Idee, der nachzugehen wäre, hat mit dem Witz zu tun, bzw. unserer Fähigkeit, einen Witz zu verstehen oder gar wirkungsvoll (auf die Pointe hin) zu konstruieren. Das oft geradezu explosive Lachen über einen Witz wird ja in einem winzigen Moment ausgelöst, der einem Kurzschluss gleicht oder vielmehr dem Gegenteil: ein Kontakt schließt sich, ein Zusammenhang blitzt auf, ein Netz ist geschaltet. Auf einfachste Weise, wenn es sich um einen Wortwitz handelt, ein absichtlich herbeigeführtes Missverständnis, um eine Doppeldeutigkeit, die sich auflöst, und zwar durch die aktive Rück- oder Umdeutung. Es handelt sich nicht einfach um 2 Wörter, sondern um Bedeutungszusammenhänge, die aufgerufen werden. Eine allzulange Leitung vernichtet den Witz, nötige Erklärungen müssten „undercover“ vorausgeschickt werden. Denn der Funken der Pointe muss unmittelbar zünden. Ein Spiel mit dem Fassungsvermögen und dem aktiven Erlebnishorizont der beteiligten Menschen.

In dem Exemplar der ZEIT (15.Dezember) mit dem Schnabel-Artikel gibt es tatsächlich auf Seite 57 ein kleine Kolumne von Lars Weisbrod, wie hilflos das ChatGPT mit Humor umgeht, bei der Erfindung von Witzen etwa.

Anregend auf jeden Fall: hier. Man kann aber auch mal bei heise online vorbeischauen und den Schlussabsatz zum Ausgangspunkt nehmen:

ChatGPT stellt auch keine Nachfragen, wie der Nutzer etwas gemeint haben könnte – selbst wenn mehr Informationen seitens des Nutzers die Antwort stark verbessern würden. Die KI plappert einfach drauf los und versucht die aus Sicht der Maschine bestmögliche Antwort zu geben.

Schließlich hat der aktuelle Prototyp nur Daten bis 2021. Aktuelle Fragen kann er damit nicht beantworten.

(Ende der vorläufigen Recherche)

P.S. Einer Anregung folge ich jedenfalls: ich untersuche, inwiefern ich bei Henri Bergson fündig werde, was das Wesen des Witzes ausmacht.

Siehe auch hier im Blog u.a. : http://s128739886.online.de/lachen-worueber / http://s128739886.online.de/nicht-lachen-wollen / http://s128739886.online.de/lachen-mit-schopenhauer / http://s128739886.online.de/wieso-und-worueber-lachte-immanuel-kant / http://s128739886.online.de/comedians /

Zudem sollte ich im Fall der Lyrik überprüfen, warum die Interpretation aus kundiger Hand wesentlich ist. Allein wenn es um einen Satz geht wie diesen:  „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ Mörike. (Scheint es so oder scheint letztlich doch die Lampe?) Und dann, wenn man das ganze Gedicht liest: wie harmlos dürfte es denn aufgefasst werden?

Sollen wir uns aus dem gleichen Stoff von ChatGPT etwa ein tiefsinnigeres Gedicht verfertigen lassen?

Wenn man sich Sorge macht, dass die KI eines Tages das Leben (des Geistes) vollständig simulieren kann, aber wohl kaum die lebendige Situation, in der ein Mensch oder die Gruppe explosionsartig – ohne Sinn und Verstand – in Lachen ausbricht: so kann man bei Bergson anknüpfen dort, wo er darstellt, dass die  Komik immer aus der Erfahrung einer Mechanisierung resultiert. Woraus man folgern könnte, dass die KI (als eine Form der Mechanisierung) gerade auf diesem Auge blind ist.

Ich zitiere im folgenden ohne weitere Erläuterung einfach das, was mir genügend Anregung zu bieten scheint. Ohne damit eine ausreichende Zusammenfassung der Gedankengänge Bergsons geliefert zu haben.

Bergson Seite 36f

Und nun zur Gesellschaft. Da wir in ihr und durch sie leben, können wir sie nicht anders denn als lebendes Wesen behandeln. Komisch ist folglich ein Bild, wenn es uns an eine verkleidete Gesellschaft, eine soziale Maskerade denken läßt. Ein solches Bild entsteht, sobald wir an der bewegten Oberfläche der Gesellschaft etwas Lebloses, Fixfertiges, Fabriziertes bemerken. Wieder diese Steifheit, die so gar nicht zu der dem Leben innewohnenden geschmeidigen Grazie paßt. Im formellen Teil des Gesellschaftslebens muß demnach eine latente Komik stecken, die nur auf eine Gelegenheit zum Ausdruck wartet. Man kann sagen, das Zeremoniell sei für das soziale Gefüge, was das Kleid für den individuellen Körper: Es wirkt feierlich, solange es sich mit dem ernsthaften Zweck, dem es nach überliefertem Brauch zu dienen hat, zu identifizieren scheint; es verliert seine Feierlichkeit in dem Augenblick, da unsere Phantasie es von diesem Zweck trennt. Damit eine Zeremonie komisch werde, muß sich also unsere Aufmerksamkeit nur auf das richten, was zeremoniell an ihr ist. Wir sollen nicht an ihre Materie, wie die Philosophen sagen, sondern nur an ihre Form denken. (…)

Auch hier steigert sich die Komik, je mehr sie sich ihrer Quelle nähert. Wir müssen von der abgeleiteten zur ursprünglichen Vorstellung, von der Maskerade zum Mechanismus zurückkehren. Ein solches Bild vermittelt uns schon allein die abgezirkelte Form jedes Zeremoniells. Vom Augenblick an, da wir den ernsten Sinn einer Feierlichkeit oder Zeremonie vergessen, haben wir den Eindruck, die Teilnehmer bewegen sich wie Marionetten. Ihre Beweglichkeit ist auf die Unbeweglichkeit einer Formel abgestimmt. Es ist Automatismus. Vollkommen aber ist der Automatismus eines Beamten, der wie eine Maschine funktioniert, oder die Seelenlosigkeit eines Verwaltungsreglements. das mit unerbittlichems Zwang angewendet wird und das sich für ein Naturgesetz hält. Vor einigen Jahren ging ein großer Postdampfer bei Dieppe unter. Einige Passagiere retteten sich mit letzter Not in ein Boot. Die Zollbeamten, die ihnen mutig zu Hilfe geeilt waren, fragten sie als erstes, ob sie nichts zu verzollen hätten… Ähnlich, wenn auch subtiler, wirkt auf mich der Satz eines Abgeordneten, der nach einem in der Eisenbahn begangenen Verbrechen beim Minister interpellierte: «Nachdem der Mörder sein Opfer umgebracht hatte, muß er entgegen den geltenden Vorschriften rückwärts vom Zug abgesprungen sein.»

Seite 38

(Molière) Soweit hier übrigens die komische Phantasie zu gehen scheint, die Wirklichkeit bringt es zuweilen fertig, sie zu übertreffen. Einem zeitgenössischen, äußerst streitbaren  Philosophen wurde vorgehalten, seine makellos gezogenen Schlüsse hätten die Erfahrung gegen sich, worauf er die Diskussion kurzerhand mit dem Satz beendete: «Die Erfahrung hat unrecht.» Die Idee, daß man das Leben durch Vorschriften regeln könne, ist weiter verbreitet, als man denkt. Sie ist in ihrer Art natürlich, wiewohl wir sie zuvor künstlich zerlegt und wieder zusammengesetzt haben. Sie liefert uns gewissermaßen die Quintessenz der Pedanterie, und diese ist im Grunde nichts anderes als Kunst, die klüger sein will als die Natur.

So verfeinert sich der gleiche Effekt immer mehr – vom Eindruck einer künstlichen Mechanisierung des menschlichen Körpers bis zur Vorstellung von einer Verdrängung des Natürlichen durch das Künstliche. (…)

Seite 39

Quelle Henri Bergson: Das Lachen / Ein Essay über die Bedeutung des Komischen / Im Verlag der Arche in Zürich 1972 / Aus dem Französischen übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter

*    *    *

Nachtrag

Sehr empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang der aktuelle Blogbeitrag von Arno Lücker: HIER. Und auch da kommt das Lachen nicht zu kurz. Zitat:

Seit wenigen Wochen haben viele Menschen Spaß an „ChatGPT“. Ein Chat-Roboter, der scheinbar auf alles eine Antwort hat – und mehr noch: selbst Gedichte, kleine Geschichten, Geburtstagsreden, Rätsel und so weiter verfassen kann. Damit lässt sich durchaus mal zwei Stunden Spaß haben (verbringt aber dadurch weitere zwei Stunden seines Tages vor einem Bildschirm). Dabei funktioniert das Ganze nicht nur auf Englisch, sondern auch beispielsweise (allerdings wesentlich fehleranfälliger) auf Deutsch. Man gibt einfach eine „Arbeitsanweisung“ in ein Eingabefeld – und relativ schnell erscheint ein Text; grafisch wie „getippt“ gestaltet, vermutlich, damit dieses Spielzeug ganz typisch den Anschein von (genial schneller) Menschlichkeit vermittelt.

Ein Kurz-Gedicht oder zwei

Es gehört zu Peter von Matts Entdeckungen

Gestern liebt‘ ich,

Heute leid‘ ich:

Dennoch denk‘ ich

Heut und morgen

Gern an gestern.

*     *     *

Es passt zum Cherubinischen Wandersmann, denkt man, aber weit gefehlt… (siehe – zur Einstimmung – im Blog hier)

Eine Reihe von Fundstücken hätte ich noch anzufügen, sobald genug Zeit ist.

Hier folgt ein weiteres Gedicht, ein altes Distichon, das mir neu war, doch inhaltlich so vertraut wie die Odyssee meiner 50er Jahre, als sei ich selbst der, der hier nach Hause kommen sollte:

Odysseus

Alle Gewässer durchkreuzt‘, die Heimat zu finden, Odysseus;

Durch der Scylla Gebell, durch der Charybde Gefahr,

Durch die Schrecken des feindlichen Meers, durch die Schrecken des Landes,

 

Selber in Aides‘ Reich führt ihn die irrende Fahrt.

Endlich trägt das Geschick ihn schlafend an Ithakas Küste,

Er erwacht und erkennt jammernd das Vaterland nicht.

 

*     *     *

Als Mahnung an Zweifler und Kritiker sei gesagt: ohne Peter von Matt hätte ich keinen Zugang zu diesen Gedichten gefunden, oder sie gar für hilfreich in einer problematischen Lebenssituation erkundet. Ich überrede niemanden, habe genügend mit mir selbst zu tun*. Zu erwähnen wäre vielleicht doch, dass das zweite Gedicht von Schiller ist, das erste von Lessing.

*Weshalb ich jetzt dringend die Schillerschen Briefe zur ästhetischen Erziehung rekapitulieren muss (auch sie habe ich in der Schulzeit kennengelernt, aber – wie sich zeigt – nicht im geringsten verstanden, – bis auf ein winziges Detail).

*     *     *

Nach Haus zurückgekehrt, sehe ich in der alten zweibändigen Dünndruck-Ausgabe „Schillers Werke“ doch die Spuren einer Arbeit, die mir erzählen, dass ich es wohl ernster gemeint habe, als kürzlich erinnert, und das beflügelt mich seltsamerweise heute, nach etwa 66 Jahren, Schillers „ästhetische Briefe“ nach dem „Gutenberg“-Text per Handy intensiver durchzugehen,kurz: ich kam zu dem Vorsatz: es muss sein. Der Zeitsprung selbst könnte zum Thema werden, – die Gründe folgen vielleicht später.

schwache Unterstreichungen, inliegend ein Zettel, der damals den Gedankengang gliedern sollte.

Und die Rückseite des Zettels mit dem Ende der Bemühungen von 1956/57, daneben die neuen Notizen, die mich vor wenigen Tagen – bei der Lektüre des Buches „Wörterleuchten“ (Peter von Matt) – zu dem Zeitsprung veranlasste, wobei ich andere Assoziationen nicht fallen lassen wollte, wie die des Briefwechsels Emil Staiger / Martin Heidegger über Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“, das Peter von Matt gar nicht behandelt (die Frage, ob „scheint“ dem lateinischen „lucet“ oder „videtur“ entspricht). Das Thema Schönheit und das Thema Zeit, – das darf ich nicht wieder verlieren.

dies nur als Gedächtnisstütze, für andere Leser nicht unbedingt nutzbringend … aber vielleicht anregend als Weg privater Resilienz, die zu nichts Greifbarem führt, abgesehen von dem Versuch, einen Zeitsprung von 66 Jahren so wichtig zu nehmen, als ließe er sich zu einem „Madeleine“-Erlebnis stilisieren. usw. usw. klar, am Ende bleibt mehr, als je gedacht. Und das wird an Schiller liegen. Ich erinnerte mich aber auch an Humboldts Ausspruch über seine Weltaneignung und daran, dass dagegen ich wohl alle paar Monate dasselbe entdecke und es als Neuigkeit feiere. Warum auch nicht!? Irgendwie zyklisch. Wie zum Beispiel schon hier.

Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation / Studien zur deutschen Literaturgeschichte / Atlantis Verlag Zürich 1955 (1961)

Erst durch diese Behandlung wurde mir damals schlagartig deutlich, dass viel mehr in diesem Gedicht steckte, als man als Schüler glauben mochte. Es klang gar zu brav. (Was soll mir die Lampe???) Und ähnlich ging es mir mit dem kleinen Gedicht von Schiller, das den Spielenden Knaben zum Thema hatte, eine typische Mutter-Kind-Idylle, angelehnt an irgendwelche pietistischen Bilder zur Kindheit Jesu, endend mit vagen Spruchweisheiten. Es erinnerte mich an die letzten Jahre meines Vaters, als er plötzlich begann, die Pflicht zu verherrlichen, aber ohne Begeisterung. Und ohne Kant.

Weit gefehlt. Hier ist ein Schüssel zur methodischen Philosophie, zur dritten der großen Kant-Kritiken, und dies ernstzunehmen, verdanke ich Peter von Matt. Andererseits ist es viel zu kurz abgetan, wenn man wirklich den Spuren in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nachgeht. Dieses Gedicht sei

ein schroffer Gegenzug zu der Erlösungsvision, die sich mit dem Begriff des Spiels in den Briefen (…) verbindet. Dort wird der spielende Mensch zur Chiffre einer weltgeschichtlichen Hoffnung. Das Spiel, schon das des Kindes, beweist die Fähhigkeit zu freiem Handeln. Es ist die Schwelle zu jeder Gestalt von Freiheit, das Versprechen einer möglichen Versöhnung aller Gegensätze. Im Spiel wird das Zerrissene wieder ganz, und diese Ganzheit enthält den Keim einer besseren, einer wahrhaft schönen Zukunft. Die geglückte Welt, die die Jakobiner, ein Jahr zuvor blutig erzwingen wollten, durch Terror, will Schiller friedlich in die Wirklichkeit locken, durch die Spiele der Kunst. So sagen es die Briefe. Das Gesicht sagt etwas anderes. Die zehn Verse sind ohne Hoffnung.

Man wird verlockt, es sich mit den Briefen zu leicht zu machen, auch wenn davor ausdrücklich gewarnt wird. Der Hinweis auf die Französische Revolution ist sicher wichtig und lässt uns einsehen, weshalb eine Ästhetik nicht ohne Blick auf den Staat zu denken ist, in dem sie sich realisiert. Und wenn in dem Gedicht nur von „dem fröhlichen Trieb“ die Rede ist, ahnen wir nicht, wie differenziert Schiller über die beiden „Triebe“ spricht (in denen keine Vorwegnahme der Freudschen Theorie vermutet werden sollte): der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Man könnte im Vierzehnten oder Fünfzehnten Briefe ansetzen, um erst später ganz am Anfang beginnen. Und beherzigen, was er im Achten Brief mit der Erinnerung an den Wahlspruch SAPERE AUDE meint, den schon Kant als Feldzeichen hochhielt. Gefährlich ist es vor allem, am Ende den „Begriff der Pflicht im deutschen Denken und Gehorchen“ hervorzuheben, um ihn dann im Gedicht ganz anders zu sehen, dieses nämlich „wie ein aufständisches Manifest“ zu lesen.

Schiller:

Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materielle Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes also, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Damit kann man schon eine Weile leben und denken, ehe man mit Schiller fortfährt:

(Fortsetzung folgt) !!!

Alte Gedichte, wiedererweckt

Verstehen Sie das?

Der Scheidende

Erstorben ist in meiner Brust

Jedwede weltlich eitle Lust,

Schier ist mir auch erstorben drin

Der Haß des Schlechten, sogar der Sinn

Für eigne wie für fremde Not –

Und in mir lebt nur noch der Tod!

Der Vorhang fällt, das Stück ist aus,

Und gähnend wandelt jetzt nach Haus

Mein liebes deutsches Publikum,

Die guten Leutchen sind nicht dumm,

Das speist jetzt ganz vergnügt zu Nacht,

Und trinkt sein Schöppchen, singt und lacht –

Er hatte recht, der edle Heros,

Der weiland sprach im Buch Homeros‘:

Der kleinste lebendige Philister

Zu Stukkert am Neckar, viel glücklicher ist er

Als ich, der Pelide, der tote Held,

Der Schattenfürst in der Unterwelt.

*     *     *

Verstehen Sie das?

( Eins der letzten Gedichte von Heinrich Heine)

Ein anderes Gedicht, das mich jetzt beschäftigte, stammt von Eduard Mörike, den ich früher eigentlich nur durch die Vertonungen von Hugo Wolf ernstnahm. Dieses aber befremdete mich trotz des verlockenden Gegenstandes, den ich in der realen Umwelt überall mit Sympathie betrachte. Die schöne Buche. Zum Beispiel hier (an der Villa Zefyros):

Es war wohl die schiere Größe und die reiche Verzweigung…

Jedenfalls glaubte ich, es sei mein Thema, wenn in dem Buch der kleinen Deutungen („Wörterleuchten“) ausgerechnet Mörike das Thema anschlägt. „Die schöne Buche“. Und mich spüren lässt, dass ich nicht wahrnehme, was er meint. Es ist keine bloße Idylle, wie ich sie ihm zugetraut hätte. Ich höre das Gedicht gern in der folgenden Wiedergabe, obwohl dieses lyrische Ich wohl keine weibliche Stimme verlangt… Vorurteil. Rosel Zech. Hören Sie in größter Ruhe:

HIER.

Was ist? Warum ergreift mich nichts? Kein Wort, kein Satz, kein Tonfall. Aber jeder Blick in den Wald oder zur Buche hinauf. Und dann der gedruckte Text der Erklärung in jedem Punkt: die Vorstellung vom gescheiterten Pastor, dem Versager als Ehemann und Liebhaber, die Nachricht von seinem Sturz ins eigene Innere,  »als versänke ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend«. Und ausgerechnet er hat immer den »Don Giovanni« im Ohr, seine Lebensmusik. Nur selten, so lese ich, wird in seinen Versen die ganze Wahrheit hörbar: »O Zeit, blutsaugendes Gespenst! / Hast du mich endlich satt? so ekel satt, / Wie ich dich habe!«  Plötzlich verstehe ich ihn, ein Mitleid, wie wenn ich Beethovens erschütternden Brief an die junge Maximiliane gelesen habe: wenn er sich Mut macht, weil die ZEIT so unerbittlich vergeht, und davon handelt seine Sonate op. 109. Und sie macht dann Mut auf unerklärliche Weise. – Ich zitiere, nun wieder zu Mörikes Erlebnis im tiefsten Waldesdickicht:

Das muss man wissen, wenn man den Ort betritt, von dem »Die schöne Buche« handelt. Es ist ein magischer Ort, der andere Ort. Wer ihn betritt wird verwandelt. Er wird dahin gelockt, wird »eingeführt« wie in ein Mysterium. (…)

Die Buche ist die Achse der Welt. Um sie sind die vier Kreise gezogen: des Geästes, des Schattens, des Sonnenrings, des Waldrands. Hier ist alles im Lot, nichts in der Trennung.

Oder wenn ich diesem Ernst, dieser Emphase gerade ausweichen will, ohne Buch, ohne Buche, in einer eher prosaischen Situation (am Frühstückstisch):

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Finden Sie den falschen Buchstaben!

Ja, richtig, dieses Gedichtlein hat nichts mit dem finnischen Komponisten Sibelius zu tun, der sich ja auch seines reizenden Vornamens Jan entledigt hat, nicht etwa um sich Angelus zu nennen, er war mit einer leicht französischen Tönung desselben Namens zufrieden: Jean. Wozu auch sein berühmtestes Kurzwerk gut passt, „Valse triste“, und nicht minder zu der Todesanzeige, auf die ich unversehens im Solinger Tageblatt stieß. Halten wir dem Verstorbenen zuliebe einen Moment inne: und siehe, uns wundert, dass wir plötzlich traurig sind.

Kein realer Grund zur Trauer – ABER: bis vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass mein winziges Lieblingsgedicht, das gerade dank seiner immanenten Unlogik einen seltsamen Trost spendet, leider auch nicht von Angelus Silesius stammt, was man ja immer wieder gedruckt sieht. Freund Berthold brachte mich auf einen Namen, den ich nie im Leben gehört habe, und ich bin froh, dass noch Zeit ist umzudenken, Wikipedia kann es richten: Martinus von Biberach. Und wie schön, auf diesem Weg zu erfahren, dass Luther dessen Sinnspruch nicht leiden konnte. Es war ja die Zeit, wo die wahren Christen noch alles besser wussten, auch wo sie wenig verstanden…

Übrigens ist die Crux der Lyrik heute nicht, dass in der Schule nichts mehr auswendig gelernt wird. Man muss darüberhinaus begriffen haben, dass ein Gedicht sich kaum auf Anhieb erschließt. Es ist kurzsichtig zu erwarten, dass eine derartig komprimierte und verschlüsselte Sprache funktioniert wie ein Gespräch unter Freunden. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich den Hinweis las, dass eine der geläufigsten Balladen überhaupt, Heinrich Heines „Belsatzar“ , – Sie wissen: wo an der Wand die Flammenschrift erscheint – , vielleicht deshalb so berühmt geworden ist, weil die Lehrer (!) sich selbst und ihre prekäre Situation darin wiederfanden: „Was für den sensiblen Erzieher aber die Assoziation zwischen dem babylonischen Gelage und einem tobenden Schulzimmer endgültig zwingend macht, ist die Schrift an der Wand. Wunderbar, wie hier des Lehrers eigenstes Medium zur Apotheose findet. Die Tafel an der Wand, auf die er selbst täglich die Wahrheit in hellen Zeichen setzt, an der von seiner Hand erscheint, was gilt und Gesetz ist und notfalls ein Strafmaß festhält, sie wird zum numinosen Ort verklärt, vor dem der lärmende Troß verstummt und dem totenblassen Rädelsführer die frevlen Knie schlottern. Das kann man wirklich nur noch auswendig lernen lassen.“

Ich werde den Namen des Gedicht-Deuters erst später nennen und empfehlen. Aber aufgepasst bei eigenen Deutungsversuchen: es ist nicht der Lehrer, der am Ende umgebracht wird, sondern der Rädelsführer, der König der Untertanen.

Das oben wiedergegebene späte Gedicht Heines lebt von den letzten Zeilen, deren Anspielung man verstehen muss: der Pelide ist der große Held Achill, dessen Zorn das ganze Drama der Ilias auslöst, und der in dem anderen großen Homerischen Epos, der Odyssee, als „Schattenfürst in der Unterwelt“ wiederkehrt. Beziehungsweise von Odysseus besucht wird. Und nun müssen Sie nur noch wissen, wie der Dichter von dort auf „Stukkert“ kommt, wo man angeblich viel glücklicher ist. Reine Ironie. Kannte er etwa auch Bad Cannstatt, wo mich einst die Straßenbahn unverhofft mit Lyrik konfrontierte, als gehöre sie dort zum Alltag? Schauen Sie doch nur hier.

Zu erwähnen wäre noch, dass Homer in „unserer“ klassischen Zeit weithin präsent war. Beethovens bevorzugte Schriftsteller waren Goethe, Schiller, Homer, wobei er bedauerte, dass er letzteren nur in Übersetzung lesen konnte. Gut, – und wir haben heute das Internet. Wollen Sie mal eben in der Odyssee nachlesen, wie das Gespräch mit dem Peliden Achilles in der Unterwelt wortwörtlich überliefert ist? Notfalls sogar in Alt-Griechisch? Nichts leichter als das: HIER Vers 475 bis 491.

Was ich hier versuche, ist keine Gedicht-Interpretation. Vielmehr versuche ich im Zusammenhang mit einer Lektüre etwas für mich festzuhalten, was vielleicht auch andere interessiert und was man dann leicht wiederfinden kann (indem mann die Suchfunktion oben im Fensterchen betätigt). Die hervorragende Gedicht-Interpretation selbst kann ich ja leicht in meinem Bücherschrank wiederfinden, und dem „Fremdleser“ will ich nicht unbedingt jede Eigentätigkeit ersparen, sondern ihn eher verführen, sich diese Quelle auch zu erschließen. Dazu werden Bücher gedruckt. Immer noch. Dies ist nur ein Beispiel:

Quelle Peter von Matt: Wörterleuchten / Kleine Deutungen deutscher Gedichte / dtv  Deutscher Taschenbuch Verlag 2.Auflage 2012 / ISBN 978-3-423-34665-8 (Hanser 2009)

Es ist eine Auswahl seltener (oder jedenfalls z.T. recht unbekannter) Gedichte, die es zu erschließen lohnt, vor allem auch mit Hilfe der kongenialen Deutungen, die in sich als sprachliche Kunstwerke gelten können. Ich gebe nur einen Teil des Inhaltverzeichnisses wieder, vier von sechs Seiten. Prüfen Sie doch, was Sie schon kennen…  Ich liebe inzwischen besonders das hier erst entdeckte Gedicht Mörikes von der schönen Buche. Aber nie hätte ich seine Bedeutung im Gesamtwerk des Dichters erkannt, wenn ich es nicht hier, ganz in der Nähe Heines, erläutert gefunden hätte. Erst da begann ich zu denken. Und sehe auch die Buche vor meiner Haustür mit anderen Augen.

Etwas liegt mir noch auf der Seele: Walter Jens – woher hatte er den Satz: „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“ Ich weiß, dass er ihn in einem Fernseh-Interview gesagt hat. Vermutlich auf die Frage, was er – als Christ – sich nach dem Tode erwarte. Resignation? Man kommt per Google auf Ingeborg Bachmann. Es könnte auch als Motto am Anfang des Buches stehen, das sein Sohn Tilman Jens 2009 geschrieben hat. (Ich möchte darin nicht suchen, etwa in der Hoffnung, dass der Satz doch ein typisches Zitat aus dem Repertoire des klassischen Altphilologen sei, zu finden in seinem Homer.) Der Titel aber ist: DEMENZ.

Hier wo ich sitze, hört man leise die Glocken von St.Joseph in Ohligs, es geht auf Mittag. – „Allerseelen“ – 1. November 2022. Vom Friedhof dort stammt dieses Foto einer schattenspendenden, mächtigen Buche; die andere aber, neben dem weißen Haus, hütet mein Arbeitszimmer. Das mit dem schmalen hohen Fenster und der weißen Gardine, die am leicht verdunkelten Schreibtisch doch noch die Sonne ahnen lässt (3. Mai 2022):

 

„Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“

P.S. Endlich, heute, am 13.11.2022, erinnere ich mich: ich hätte bei mir selbst recherchieren können. Die gleichen Wege gehen wie damals, – aber es ist ja noch gar nicht lange her, soll ich erschrecken? 31.1.22 – hier.

Meeresstille und glückliche Fahrt

Kindgemäßes Nachdenken über Verse?

Das Kind sei – in diesem Fall – ich. Oder vier andere. Oder, mit Otto gesprochen, „wir alle“.

Oudeschild Texel 20. Sept.2022 14.18-14.24 h Fotos JR

Der Anblick dieses Schiffes löste in mir Erinnerungen aus, die bis in die frühe Greifswalder Kindheit zurückreichen: das Strandbad Eldena, die ankernden Boote in Wieck und die kleinformatige Reproduktion eines Gemäldes von Caspar David Friedrich, das an den Wohnzimmerwänden meiner Eltern jeden Umzug und auch die Nachkriegsjahrzehnte überdauerte. Später meine begeisterte Lektüre der Reisen des Weltumseglers James Cook, schließlich die Entdeckung moderner Lyrik (Unterprima?) mit Gottfried Benn: „Ach, das ferne Land“ – seine unvergesslichen Zeilen, die eine (mir unbekannte) Eleonora Duse betrafen, führten mich wiederum übers Meer: „wo vom Schimmer der Seen / die Hügel warm sind, / zum Beispiel Asolo, wo die Duse ruht, / von Pittsburg trug sie der ›Duilio‹ heim, / alle Kriegsschiffe, auch die englischen, flaggten halbmast, / als er Gibraltar passierte.“ Die Erinnerung an diese umfassende Trauer brachte mich heute auf die ersten Zeilen des Gedichts „Meeres Stille“ von Goethe, dessen düstere Tiefe jedoch, so schien es mir, durch die Kopplung mit dem Gedicht „Glückliche Fahrt“ gemindert wurde. Vielleicht nur weil es der Lehrer monierte. Dazu kam die Tatsache, dass die Katastrophe einer großen Flaute in unserer durchmotorisierten Zeit nicht mehr ohne weiteres einleuchtet. Nebenbei: der Duilio , der die große Schauspielerin 1924 heimtrug, – in meiner Phantasie damals ein mächtiger Segler -, war ein Kreuzer, ein Kriegsschiff mittlerer Größe.

Gottfried Benns Erzähltonfall könnte man gedämpft nachrichtlich nennen, wenn er nicht intensiviert würde durch die vorausgeschickte Interjektion „Ach“, so dass in allem was folgt Verwunderung und Wehmut mitschwingt. Goethe lässt das Gefühl der Trostlosigkeit zeilenweise anwachsen. „Tiefe Stille“ könnte noch meditativ gemeint sein oder zu sanfter Bewegung einladen, wie im Kanon „Abendstille überall“ („… nur am Bach die Nachtigall / singt ihre Weise, / klagend und leise / durch das Tal“); anders in diesem Gedicht über „Meeres Stille“, da lauert ein bedrohlicher Unterton. „Ohne Regung“ – „bekümmert“ – „ringsumher“, und dieses letzte Wort weist nicht ins Offene, sondern lässt an Umzingelung denken, zumal wenn man die nächste Zeile mit der doppelten Verneinung erfasst: „Keine Luft von keiner Seite“ (plus Ausrufezeichen); erst hier wird man vielleicht gewahr, dass das Wort „Schiffer“ keinen Reim auf „Wasser“ ergab, der zu erwarten war. Jetzt erst erfolgt auch die Entlarvung des ersten, vielleicht noch erwartungsfrohen Eindrucks, – die „Tiefe Stille“ bedeutet in Wahrheit: „Todesstille fürchterlich“. Und in dem Wort von der „ungeheuern Weite“ öffnet sich geradezu die grausige Unendlichkeit des Weltalls, und die nachgiebige Wasserfläche verweigert jede Regung. Ich erinnere mich an Schulzeiten, als  wir ähnlich auch über Benns Gedicht „Verlorenes Ich“ nachzudenken hatten, über das „Gammastrahlenlamm“ und den „grauen Stein von Notre-Dame“.  Wenn ich den Blick hingegen auf meine starren Momentaufnahmen richte, die den Aufbruch eines motorisierten Seglers belegen, sehe ich, dass der schützende, einschließende Hafen, den er verlässt, bereits von lieblichsten Wellen gekräuselt ist. Ich glaube, ein leises Tuckern zu hören. Das lyrische Ich  gestehe ich notfalls auch einer Möwe zu, die wie die anderen, ohne Angst, auf einem der Molenpfähle sitzt. Was für eine seltsame Feierlichkeit liegt über der Szene, – Todesstille ist anders.

Wenn man das Gedicht wirklich Wort für Wort, Zeile für Zeile mitgefühlt hat, wird auch deutlich, dass beim mündlichen Vortrag und auch nach dem stummen Lesen eine lange Pause folgen muss. Anders als bei der Mendelssohn-Musik, die sich auf dies Gedicht bezieht, denn sie arbeitet ohnehin mit der Dehnung der Zeit, sie winkt mit Motiven und ihrer Wiederkehr, ja, sie kann sich am Ende – nach dem antipodischen Gedicht von der „Glückliche(n) Fahrt“ – noch einmal darauf beziehen, über welch dunklem Abgrund unsere Fahrt [des Lebens] allezeit stattfindet. Die Ferne wird nah. Ja: „Es naht sich die Ferne, / Schon seh ich das Land.“ Wohlgemerkt: von Ankunft ist noch keine Rede. Jetzt wäre es an der Zeit, vom Rhythmus zu reden, in diesem Fall vom Daktylus, lang-kurz-kurz, der an galoppierende, nein, tanzende Pferdehufe erinnert.

Kurz: es ist nicht ohne heuristischen Sinn, die Interpretation dieser Gedichte mit Musik und einem kindlichen Gemüt anzugehen. Ist die Musik vielleicht – etwas zu schön? Ohne Todesstille?

ZITAT

Ich war lange Lehrerin an einer Grundschule im Norden Neuköllns. Ganz normal, Klassenlehrerin, Klassenfahrten, Elternabende, Gesamt- und Fachkonferenzen, Elterngespräche etc. Dort habe ich instinktiv damit angefangen, meine Schüler*innen mit starken, emotionalen und tiefgehenden Inhalten zum Nachdenken anzuregen. Ich wollte die Kinder nicht nur belehren, ich wollte mit ihnen Bildungsereignisse erleben.

Johann Wolfgang von Goethe

Meeres Stille
Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

– – – – – – – – – – – – – – –

Glückliche Fahrt
Die Nebel zerreißen,
Der Himmel ist helle,
Und Äolus löset
Das ängstliche Band.
Es säuseln die Winde,
Es rührt sich der Schiffer.
Geschwinde! Geschwinde!
Es teilt sich die Welle,
Es naht sich die Ferne;
Schon seh ich das Land!

*    *    *

http://userpage.fu-berlin.de/mziesmer/media/material/Meeresstille.pdf hier

Wer ist die Autorin? https://www.fu-berlin.de/sites/dse/ueber-uns/gesichter-der-lehrkraeftebildung-volltext/volltext-ziesmer/index.html hier

Die  Frage stellt sich fast von selbst: ist dieses Herangehen an Lyrik geeignet, kindliche oder jugendliche Leser*innen zu fesseln? Einen Sinn dafür zu entwickeln, was denn an einer solchen verbal skizzierten Situation reizvoll sein soll? Was heißt schon „reizvoll“? Nachvollziehbar. Das Wort MIMETISCH bezeichnet, was nicht nur äußerlich geschieht sondern auch imaginativ geschehen sollte, in Zeilen- und Wortfolgen dieser Art. Könnte man nicht stattdessen eine Geschichte zu erzählen, die den Inhalt an einer konkreten Situation festmacht, die jeder erlebt haben könnte? Nicht nötig, nicht möglich, es ist eine andere Welt, auch wenn sie mit Erinnerungsstücken der physischen Welt „hantiert“. Das lyrische Ich hat virtuelle Tastorgane, die den Händen gleichen.

Ich denke noch einmal zurück an Gottfried Benn und zitiere aus der oben schon verlinkten Interpretation von Jürgen Busche:

Anders als den mit ihren Gedanken gleichzeitig hervortretenden Philosophen [Heidegger, Adorno, Horkheimer] geht es dem Dichter jedoch nicht nur um die Erkenntnis des Zeitzustands. Er schließt sein Gedicht mit einer sehnsuchtsvollen Erinnerung, die allerdings nicht den besseren Tagen der humanistischen Epoche gilt. Er wendet sich den Zeiten zu, in denen „der Hirte und das Lamm“ die Mitte des Lebens bildeten, längst ebenfalls verloren. Der antikisch gesinnte Goethe hätte und hat solche Rückbesinnung verabscheut. Benn 1943 stört das offensichtlich nicht. Denn auch „die Mythe log“.

Störfaktor: Vergangenheitsbewältigung. Siehe hier. Und zu Benn (eine Hausarbeit 2004) hier.

*     *     *

Anders als bei Kindern, denen ich „mit Lyrik komme“ (am besten mit irgendeinem sinnfreien, gereimten  Quatsch), würde ich bei Jugendlichen an Begegnungen zurückdenken, die mich selbst ganz unangenehm berührt haben. Zum Beispiel etwa im Untertertia-Alter, als wir bei einer Vorweihnachtsfeier einen Oberstufen-Schüler erlebten, der sich ohnehin im täglichen Leben seltsam geziert benahm, dann plötzlich aufs Podium trat, sich aufplusterte und ein Rilke-Gedicht vortrug: „Es treibt der Wind im Winterwalde / die Flockenherde wie ein Hirt, / und manche Tanne ahnt wie balde / sie fromm und lichterheilig wird“ / – – –  das ging gar nicht! Schon wie der das Wort „Hirt“ aussprach, es derart künstlich und eingeengt „aus dem Gehege der Zähne“ entließ, unmöglich! damit wollte man nichts zu tun haben. Lyrik! Feinsinnigkeit der arrogantesten Art.

Man glaubt vielleicht: Jugendliche, die womöglich zum erstenmal verliebt sind, seien am ehesten lyrisch ansprechbar, – weit gefehlt. Sie wollen keinesfalls öffentlich kundtun, wie es in ihrem Innern aussieht. Für mich waren es ohnehin Verse der wilderen Art, die mir zusagten, ich glaube, Liliencron hatte ich mir vorgemerkt. Was mich aber am meisten in der späteren „AG Moderne Lyrik“ beeindruckte, waren die provozierenden frühen Gedichte von Gottfried Benn, die ersten  aus der Sammlung „Morgue“ . Zum Beispiel „Schöne Jugend“ – … die jungen Ratten hatten die schöne Jugend erlebt, im Körper eines toten Mädchens: „Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!“ Das war mein Einstieg, ich fühlte mich in Opposition zu allem. Es durfte widerwärtig sein, je mehr, desto besser. Was paradoxerweise bedeutete, dass ich mir schließlich auch ganz andere Gefühle leisten konnte, erst recht solche, die in Liedern – „ich grolle nicht!“ – ja, in Robert Schumanns Musik, transportiert wurden: vor allem Eichendorff.

Oder – um endlich aufzuhören von mir zu reden – erinnere ich mich an die Worte eines Lyrikers, den es zu lesen (und zu rezitieren) lohnt, an das, was er im Gespräch über seine Kunst sagt:

Zitat (Jan Wagner): Lyrik war immer schon eine Sache, die sozusagen eher im Halbdunkel stattfand. Oder in einer Nische existierte. Die gute Nachricht ist: sie existiert seit Jahrtausenden, und sie ist immer noch da! Das Wahrnehmen von Welt durch Sprache. Und das … probieren zu verstehen, was uns umgibt, indem man Vergleiche benutzt. Etwas ist wie etwas anderes. Das macht ja jedes Kind. Oder der ganz natürliche Zugang zu Metaphern. Der Donner hat große Füße. Das sagen Kinder. – Bei mir war das mit 15,16, wo ich Georg Heym und Georg Trakl zum Beispiel las, auch noch andere Dichter, und dachte: das ist unendlich faszinierend. Aber .. nein, man fällt nicht vom Himmel, und.. und .. man arbeitet sich lange ab an solchen Vorbildern,  probiert sehr lange…  herauszufinden, wie das überhaupt geht. Und man muss auch lange lesen, um auch Klischees zu vermeiden. Es wimmelt da von Fallen, und ein Gedicht ist so kurz, und manchmal nur 10 oder 6 Zeilen lang, es reicht ein winziger Fehler, und alles ist kaputt. (23:27)

2017. Das ist schon einige Jahre her, immer noch aktuell, siehe also auch hier.

Emil Staiger und die Lyrik

Über allen Gipfeln

Wieder einmal kehre ich in die 60er Jahre zurück, um die Zeitspanne, die mich von meinen Anfängen trennt, zu ermessen. Damals gab es kein Wikipedia, kein Internet, das fällt bei jedem Thema, das ich neu angehe, als erstes ins Gewicht. Wie schwierig war es damals, einen Überblick zu gewinnen, auch: sich von bestimmten Ansätzen zu lösen. Wenn man einmal drei Bände von Emil Staiger erworben und studiert hatte – und zwar mit Begeisterung -, glaubte man, mit diesen Themen fürs Leben vorgesorgt zu haben. Und nach 50 Jahren erinnert man sich vor allem daran, dass der Mann plötzlich nicht mehr zitierbar war, – war nicht der neue Geist der 68er schuld daran? Aber das dauerte ja noch 7 Jahre … heute weiß man über den Zeitrahmen in 1 Minute mehr als damals in Wochen.

Danach erst kam Wolfgang Kayser „dran“, der schon 1960 gestorben war, dessen Standardwerk aber erst in dem Augenblick kontaminiert erschien, als ruchbar wurde, was heute in Wikipedia hier als erstes auffällt. Rudolf Walter Leonhardt schrieb in der ZEIT zum 29. Januar 1961 einen ergriffenen Nachruf, – ebenfalls ahnungslos? Andererseits: ich sollte „Das sprachliche Kunstwerk“ unbedingt aufs neue konsultieren. Es ist kein ideologisches Werk. Unverzichtbar seine „Geschichte des deutschen Verses“, darin insbesondere die Neunte Vorlesung über Brentano und über „Des Knaben Wunderhorn“, eine neue Welt des Rhythmischen und des Klanglichen tut sich auf. (Staiger und der Bezug auf die Musik ab Seite 124 ff !)

Besitz JR 6.XII.61

Wikipedia zu Emil Staiger hier

Züricher Literaturstreit hier

Tondokument Staigers Rede „Literatur und Öffentlichkeit“ hier

Nachruf 30.04.87

Kaum ein anderer Literat hat so einsichtig über Musik gesprochen, wenn er über Lyrik nachdachte, wie Emil Staiger. Vielleicht niemand sonst bis zu Thrasybulos Georgiades, dessen grundlegendes Buch über“ Schubert / Musik und Lyrik“ 1967 (2.Auflage 1979) erschien. Also nach Staigers „Grundbegriffen der Poetik“ 1959 (Atlantis Verlag), und daraus jetzt die folgenden beiden Seiten, dann der Anfang der Übersicht des Georgiades-Werkes:

Emil Staiger

Georgiades Inhalt (Über allen Gipfeln)

Wandrers Nachtlied u.a. – der Text im Umfeld der ersten Gesamtausgabe 1827

Eine Gedicht-Interpretation (zu Wandrers Nachtlied 1 und 2) Auszug

Autor: Reinhard Lindenhahn

Quelle Arbeitsheft zur Literaturgeschichte WEIMARER KLASSIK von Reinhard Lindenhahn / Cornelsen Verlag Berlin 1996 (siehe hier)

Übrigens: ich habe vor wenigen Jahren (2016) schon einmal zum „Nachtlied“ recherchiert, an Ort und Stelle: hier , ohne mich an Emil Staiger zu erinnern. Nicht zu vergessen auch dieser Link zu Wikipedia: hier.

Der folgende Textausschnitt soll (mich) daran erinnern, von der oben erwähnten Arbeit über „Die Geschichte des deutschen Verses“ überzugehen zu dem interessanten Verhältnis zwischen Dichtung und Musik, und zwar anhand der Schubertschen Vertonung des Goethe-Gedichtes (und auch im Vergleich zu anderen Vertonungen), so wie es Georgiades in seinem großangelegten Buch über Musik und Lyrik (SCHUBERT) unternimmt.

Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1979

Diese präzise Sensibilität der Liedbetrachtung ist ohne Vergleich; sagen Sie nur vorweg, in welchem Vers Goethes die entscheidende „Brechung“ stattfindet (s.o. Seite 109 „Ein gleiches„), und lesen Sie die Begründung des Autors…

Dietrich Fischer-Dieskau 1969, – in studentischen Zeiten war er jahrelang das Nonplusultra des Liedgesangs; irgendwann aber begann man zu diskutieren, ob er nicht zu einer gewissen Manieriertheit des Vortrags neigte. So vollkommen seine Technik, witterte man doch die Absicht, die verstimmt. Wie hier zu Anfang in den Worten „überrallen“ Gipfeln, oder im leicht übertrieben inbrünstigen, zweiten „warte nur“. Es gibt nichts Empfindlicheres als solche Musik, solche Verse, und es trifft am Ende selbst den, der eine solche Differenzierung überhaupt erst in die Liederabende eingebracht hat.

An die Sonne

Wer war Rudolf Eucken?

Er erhielt 1908 den Nobelpreis für eine große philosophische Leistung. Nein: für „Literatur“. Was mich beim Lesen bestach: Seite für Seite erleuchtet und einleuchtend formuliert, wieso wird er nicht als Pflichtlektüre empfohlen, als Einführung ins Philosophieren überhaupt, was hat er falsch gemacht? Biederes, bürgerliches Denken zum falschen Zeitpunkt, im Anfang des Jahrhunderts der Katastrophen? Ich war neulich schon gefesselt, als es um „Idealismus“ ging, und jetzt stieß ich darin auf den bekannten Vierzeiler von Goethe, der inhaltlich auf Plotin zurückgeht und als Vers in Goethes „Farbenlehre“ vorkommt: „Wär nicht das Auge sonnenhaft…“ Oder? Ich gebe die Zeile bei Google ein und kann mich von einem bestimmten Ergebnis nicht trennen: Ingeborg Bachmanns Gedicht „An die Sonne“, interpretiert von Peter von Matt, aber: gesprochen von ihr selbst, und das ist es, was mich ergreift. Etwas unsicher (?), etwas zögerlich (?), niemanden ins Auge fassend, wenig oder kaum kommunikativ deklamierend. HIER.

Ich kann mich davon nicht lösen, es muss noch mal von vorn beginnen. „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein…“ – kenne ich das nicht von Walter Jens? lange bevor er ins Dunkel abtauchte. (Ja! siehe hier, er zitiert Ingeborg Bachmann!) Und dann lese ich die Peter-von-Matt-Interpretation, über die systematisch wechselnde Verszahl der Strophen, lese auch „wegen dem Mond“ – ist das mundartlich? – höre noch einmal, gewöhne mich an den österreichischen Sound und bleibe an der Schlusszeile hängen:  „Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst / Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.“

Es dauert eine Weile, ehe ich zu Rudolf Eucken zurückkehre, dessen Werk ich in Buxtehude aus einer Telefonzelle mit Büchern zum Nulltarif mitgehen ließ. Ingeborg Bachmann? Daran hätte ich nicht gedacht, an alte Zeiten schon. (Ich erinnere mich an einen Film, in dem es um ihren Vater ging, am Ende liefen Tränen, viel Musik aus „Verklärte Nacht“, Haneke! endlich wiedergefunden, wenigstens den Titel hier.)

Springen wir nur mitten hinein, in dieses Werk, wie könnten es versuchsweise dort beim Wort nehmen, wo es die WAHRHEIT zum Thema nimmt, Plato und kurz Goethe (Plotin) streift, um dann zur Stoa weiterzugehen; da ist kein Satz, den nicht jeder versteht:

Der Mensch unterscheidet sich (= einen eigenen Gedankenkreis) von der Welt der Dinge.

So entsteht eine Kluft und damit: das Problem der Überbrückung. Das griechische Altertum… Beseelung der Weltumgebung. Wesensverwandtschaft des Geistes mit dem All. Unerträgliche Vermengung von Bild und Sache. Plato…

Das Selbständigwerden der wissenschaftlichen Forschung bei Aristoteles. Neu: die Stoa. (Siehe auch bis Marc Aurel: „Dabei dürften die Grundlagen der dort formulierten Überzeugungen bereits frühzeitig gegolten haben, denn sie fußten auf einer bald 500-jährigen, fortlebenden Tradition stoischen Philosophierens.“ Wikipedia)

Plotin und das Christentum (Theologe Eucken – „Katze aus dem Sack“?) So etwa war der Verlauf der üblichen Geschichtsdeutung bis in meine Schulzeit. Ich erinnere mich an meinen triftigen Einwand in Religion: Hinweis auf Marc Aurel. (Wozu noch Christentum…) Aber bei Eucken nicht zu vergessen: die Wende mit KANT (ab Seite 182 – nach Aufklärung, Spinoza).

(Fortsetzung folgt)

John Dowland

Nicht traurig sein! (Ein Antidot)

John Dowland

Can she excuse my wrongs [hier]

Übersetzung von Peter Rottländer

1. Kann sie meine Fehler mit dem Mantel der Tugend bedecken?
Soll ich sie lobpreisen, wenn sie sich als grausam erweist?
Sind dies helle Feuer dort, die sich in Rauch auflösen?
Muß ich die Blätter lobpreisen, wo ich keine Früchte finde?

Nein, nein: Wo statt Körper Schatten sind,
wirst du vielleicht geschmäht, wenn dein Blick getrübt ist.
Kalte Liebe ist wie in Sand geschriebene Worte,
oder Blasen, die auf dem Wasser schwimmen.

Willst du dich weiter so schmähen lassen,
wissend, daß sie dich niemals gerecht behandeln wird?
Wenn du ihren Willen nicht überwinden kannst,
wird deine Liebe ewig so fruchtlos bleiben.

2. War ich so unedel, daß ich nicht emporstreben könnte
zu jenen hohen Freuden, die sie mir vorenthält?
So hoch wie sie sind, so hoch ist mein Verlangen:
verweigert sie mir diese, was gilt denn dann noch?

Gibt sie dem nach, was die Vernunft gebietet:
Der Wille der Vernunft ist, daß Liebe gerecht sei.
Liebste, mache mich glücklich und gewähre mir das noch,
oder beende das Warten, wenn ich denn sterben muß.

Besser ist’s, tausend Tode zu sterben,
als so gequält weiter leben zu müssen:
Liebste, erinnere dich aber daran, ich war’s
der dir zuliebe zufrieden gestorben ist.

Alfred Deller in seiner späten Zeit

1. Can she excuse my wrongs with virtue’s cloak?
shall I call her good when she proves unkind?
Are those clear fires which vanish into smoke?
must I praise the leaves where no fruit I find?

No, no: where shadows do for bodies stand,
thou may’st be abused if thy sight be dim.
Cold love is like to words written on sand,
or to bubbles which on the water swim.

Wilt thou be thus abused still,
seeing that she will right thee never?
if thou canst not overcome her will,
thy love will be thus fruitless ever.

2. Was I so base, that I might not aspire
Unto those high joys which she holds from me?
As they are high, so high is my desire:
If she this deny what can granted be?

If she will yield to that which reason is,
It is reasons will that love should be just.
Dear make me happy still by granting this,
Or cut off delays if that I die must.

Better a thousand times to die,
then for to live thus still tormented:
Dear but remember it was I
Who for thy sake did die contented.

Aus der frühen Zeit des Sängers:

ZITAT

Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles Lebens.

Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.

Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)

George Steiner [Vorspruch zu seinem Buch]: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6

Nachwort

Ich kann mir Steiners Gründe nicht durchweg zu eigen machen, obwohl Schelling mich ebenso anrührt: vielleicht der „Schleier der Schwermut“ mehr als die „anklebende Traurigkeit“. Aber die ganze Natur? Der einfache Grund, dies so zu sehen, ist wohl die projizierte Vergänglichkeit, – ein Wort, nah am falschen Sentiment, leichthin gesagt und wohlklingend. Kennt die Ästhetik der Klassiker nicht auch das Erhabene, das Tremendum, den Sternenhimmel, die griechische Schönheit? Da klebt nichts …

Und doch geht mir der achte Grund nicht aus dem Kopf:

ZITAT

Wir werden nie erfahren, welch tief verborgene Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, Abneigung oder alternative Vorstellung den manifesten erotischen Text dekonstruieren. Noch die einander nächststeheneden, aufrichtigsten Menschen bleiben Fremde füreinander, mehr oder minder voreingenommen, mehr oder minder unerklärt. Der Akt der Liebe ist auch der eines Akteurs. Diese Doppeldeutigkeit ist dem Wort mitgegeben.

Denken ist am lesbarsten, am wenigsten verhüllt in Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, wie etwa im Falle von Furcht oder Haß. Diese Triebkräfte können, insbesondere im Augenblick des Geschehens, kaum vorgetäuscht werden, mögen auch Virtuosen des Doppelspiels oder der Selbstkontrolle die Verschleierung bis zur Meisterschaft beherrschen.

Tiere, mit denen wir Umgang haben, zeigen uns, daß wir in Momenten der Furcht einen spezifischen Geruch absondern. Vielleicht hat auch Haß einen Geruch. Da Haß die gesamte Palette mentaler und instinkthafter Kräfte mobilisiert, könnte er sehr wohl die vitalste, geladenste Geisteshaltung sein. Er ist stärker, kohäsiver als Liebe (wie Blake intuitiv erkannte). Oft ist er der Wahrheit näher als jede andere Offenbarung des Selbst. Die andere Klasse gedanklicher Erfahrung, bei der es zum Zerreißen des Schleiers kommt, ist die spontanen Lachens. In dem Augenblick, da wir den Witz verstehen oder einen Blick auf die komische Seite erhaschen, liegt unser Wesen bloß. Kurzzeitig gibt es keine  ›Hintergedanken‹. Doch diese Öffnung hin auf die Welt und die anderen ist nicht von Dauer; unabsichtliche Beweggründe kennzeichnen sie.

In dieser Hinsicht wird das Lächeln fast zur Antithese des Lachens. Das Lächeln von Schurken hat Shakespeare sehr beschäftigt.

Im großen und ganzen bleibt der Skandal bestehen. Kein letztes Licht, keine einfühlende Liebe legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei. (Bilden echte Zwillinge, mit ihrer Privatsprache, wirklich eine Ausnahme?) Letztlich kann Denken uns zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe – schwächer vielleicht als Haß – ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.

Ein achter Grund für Betrübnis.

Quelle George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6 (Zitat Seite 61f)

…wem bricht das Herz entzwei?

War es Heinrich Heine?

Der folgende Ausschnitt gehört zu einer Sendung, die ich am 22. September 2004 für die Musikpassagen in WDR 3 produziert habe (das vollständige Skript finden Sie hier). Rekapituliert also am 7. Juni 2017. Und jetzt noch einmal, mit gutem Grunde, hoffe ich. Am besten, Sie hören vorweg aufmerksam das Schumann-Lied aus der „Dichterliebe“, falls Sie es noch nicht kennen. Mich hat es seit Jugendzeiten verfolgt, wie auch viele andere Lieder und die der „Dichterliebe“ ganz besonders. (Etwas Geduld, falls es nicht sofort „anspringt“: per Hand auf 14:43 einstellen:)

ZITAT (Ausschnitt Sende-Manuskript)

Meine Damen und Herren, passt es Ihnen überhaupt, wenn ich an dieser Stelle zurückkomme auf das Heine-Lied: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen…“?

Seit ich es kenne, habe ich es immer nur in der Vertonung Robert Schumanns gehört, ich fand es toll – und habe doch immer verdrängt, dass mir die Logik der Aussage nicht ganz einleuchtete. Um wieviel Personen geht es da eigentlich?

18) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’01“

Wieso war jetzt der Jüngling übel dran, er war doch längst aus dem Spiel?

Am vergangenen Freitag war ich in der Kölner Philharmonie, in einem der schönsten Chor-Konzerte, die ich je gehört habe. Mit dem Balthasar-Neumann-Chor. Es war aber nicht nur die Qualität dieses Chores, sondern auch die dramaturgische Gestaltung des Programms, die dichte Kombination von gesprochenen Texten, Chor- und Sololiedern. Michael Heltau sprach, und er sprach unter anderem dieses Heine-Gedicht „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, das ich bisher eigentlich nur in Schumanns Vertonung kannte und dessen zweite Strophe ich deshalb so gesprochen hätte:

Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /

der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.

So konnte ich das auch derartig falsch verstehen, als ob der Jüngling aus der ersten Strophe gemeint sei. Der war natürlich übel dran, aber warum jetzt schon wieder?!

Und nun las Michael Heltau folgendermaßen:

Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /

der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: dieser „Mann“, der erstbeste, ist natürlich auch der zuletzt genannte Jüngling, natürlich. Auch er ein Jüngling. Und der muss nun lebenslang den ganzen Frust seiner Frau ausbaden, keineswegs der Jüngling aus der ersten Strophe, der hat vielleicht sogar noch einmal Glück gehabt.

Die Personenzahl bleibt gleich, fünf. Zwei Paare und der erste Jüngling

Sehen Sie, so kann man nach Jahrzehnten des Irrtums durch einen einzigen Gang in die Philharmonie messbar klüger werden!

Wem also bricht das Herz entzwei? Na, jedenfalls nicht uns Rechenkünstlern!

19) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’00“

Robert Schumann, Heinrich Heine; vorhin mit Olaf Bär, jetzt mit Fritz Wunderlich.

Ende des ZITATS und freie Fortsetzung nach rund 15 Jahren, anhand eines Buches, das ich damals nicht recht zu schätzen wusste:

Marcel Reich-Ranicki: Ein Jüngling liebt ein Mädchen / Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen / Insel-Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001

Dieses Büchlein muss ich damals schon besessen haben, aber die Interpretation ergab nichts zu meinem (möglichen) Missverständnis, das der Verfasser offensichtlich nicht geteilt hätte; er kannte von vornherein den realen Hintergrund:

Die Sache ist längst geklärt: Der junge Heine liebte seine Hamburger Cousine Amalie, die von ihm nichts wissen wollte, da sie in einen anderen verliebt war; dieser wiederum gab einem anderen Mädchen den Vorzug – weshalb die verärgerte Amalie eiligst einen John Friedländer aus Ostpreußen heiratete. Heine ging leer aus und war, wie man sich denken kann, enttäuscht und verbittert. Er hat sich darüber in Briefen an Freunde mehrfach geäußert – nicht sehr ausführlich, doch unmißverständlich.

So auf Seite 54. Womit ich meinerseits nichts anfangen konnte, noch weniger mit Reich-Ranickis Vorbehalt gegenüber Robert Schumanns Vertonung; er sagt: „Den düsteren, den alarmierenden Hintergrund hören wir sowenig wie den Aufschrei des Liebenden. Die zwischen den Zeilen verborgene Dramatik hat Schumann übersehen. Da hilft auch nicht das Ritardando bei wem sie just passieret. Nach den letzten Worten kehrt die Begleitung sofort zum ursprünglichen Zeitmaß zurück, dem raschen, dem heiteren.“

Ja, wieso denn nicht?! Wäre ein Trauermarsch passender? Die verborgene Dramatik wird einem auch im gesungenen Text niemals entgehen, wenn man nur weiß, von welchem Jüngling die Rede ist. Beide Sänger, sowohl Bär als auch Wunderlich, dürften allerdings das Wörtchen der  vor Jüngling etwas dehnen. Aber auf diese helfende Hervorhebung ist selbst Reich-Ranicki nicht gekommen, auch er denkt nicht nur, dass der Jüngling genau jener ist, mit dem das Gedicht anhebt, er weiß es sogar, und dementsprechend betont er in der Rezitation. Er meint: „Heine ging leer aus“. Der arme!

Und ich? Ich bin enttäuscht, denn ich war – mit Heltau – der felsenfesten Überzeugung, dass es ein John Friedländer aus Ostpreußen war, dessen Namen ich aber nicht kannte und auch jetzt nicht zur Kenntnis nehmen will. Es war ein weiteres Glied in der Kette derer, die – nicht gerade leer ausgehen –  die aber ganz übel dran sind. Und am Ende bricht auch ihm das Herz entzwei, wenn auch weniger dramatisch.

Was sagen Sie? Das ist doch eine alte Geschichte!

Wikipedia folgt übrigens der Interpretation von Reich-Ranicki, lesen Sie hier. Dann bleibe ich eben allein mit Michael Heltau

Und festzuhalten bleibt aus meiner Sicht auf jeden Fall: für die Interpretation von Lyrik spielt der reale (lokale) Ausgangspunkt überhaupt keine entscheidende Rolle. Da würde ich ausgehen von Walter Killy „Wandlungen des lyrischen Bildes“, – bezogen auf das Goethe-Gedicht: „Früh, wenn Thal, Gebirg und Garten…“, das sich wiederum auf den 5. September 1828 bezog, als Goethe etwa in meinem jetzigen Alter war. Einst von mir – einem Jüngling zweifellos – gelesen „im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen“: 1959. Könnte einem da nicht auch heute noch das Herz im Leib zerspringen?

Zurück in die Schule (des Lebens)! Z.B. hier.

ENDE

Ist schön, macht aber viel Arbeit

Die Menge der Literatur

SZ 23.Dez.2020

Die Zeitung hatte ich mir aufgehoben, das Bild (Peter Cornelius 1859) erinnerte mich an die alten Heldensagen oder an die Wagner-Illustrationen des „Opera Book“, das wohl in einem der Care-Pakete nach dem Krieg enthalten war und damals mit größter Andacht betrachtet wurde. Jetzt war ich hinuntergewandert in mein Übezimmer und hatte diese Zeitungsseite zu Füßen des Regals der vergessenen oder kaum gebrauchten Büchern gelegt, z.B. zu dem vollständig – Band für Band – ab den 80er Jahren erworbenen Meyers Lexikon, daneben die irrsinnig detaillierten Bände zur Geschichte der Deutschen Literatur, die mich so entsetzlich gelangweilt haben. Wollte ich Enzyklopädist werden? Und jetzt habe ich sie plötzlich wieder am Bein und muss mich irgendwie dazu verhalten.

De Boor/Newald angeschafft 27.04.1964

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: der Überdruss hatte zwar auch mit der Offenlegung der Nazizeit des Protagonisten de Boor zu tun gehabt. Aber später, als der schiere Wissensstoff des Nachfolgers Hans Rupprich sehr hilfreich gewesen wäre, stand mir das fulminante Büchlein von Heinz Schlaffer im Wege: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv München 2003). Oder kam es mir eher zu Hilfe?

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur / dtv München 2003/2008 /  ISBN 978-3-423-34022-9

Dieses Buch ist unbedingt empfehlenswert. Bei mir hat es jetzt erst dazu geführt, dass ich auch den Rupprich-Band „Von späten Mittelalter bis zum Barock“ fast vollständig durchgeblättert habe, mich hier und da festlesend, insbesondere um festzustellen, was eigentlich an dieser Literatur überhaupt deutsch war und was lateinisch. Was es mit dem damaligen Übersetzungseifer auf sich hatte, mit den schulischen Bindungen und Ambitionen des Humanismus. Ganz besonders hat mich die Entstehung und Bedeutung des Gesangbuches interessiert, und – anschließend an meine Choral-Artikel hier und hier – die Qualität der deutschen Verse seit Luther. Zitat Seite 255: „Das evangelische Kirchenlied neben und nach Luther weist eine umfangreiche Produktion auf. Der persönliche Gehalt ist fast immer gering. Die Texte sind zumeist lehrhaft, aber trotz viel Nüchternem und Schematischem finden sich auch volkstümliche und ergreifende Lieder; dogmatische Streitigkeiten bleiben nicht ganz ausgeschaltet.“

Die Dürftigkeit z.B. des Meistergesangs.Zitat Seite 265: „Der Meistergesang war eine kunstpflegerische Nebenbeschäftigung von Handwerkern. Seine zunftbürgerliche Gebundenheit, die gesellschaftliche und ideologische Begrenztheit seiner Mitglieder, die Enge der Teilnehmerkreise hielten ihn zunehmend außerhalb des lebendigen geistigen und literarischen Lebens der Zeit.“

Erstaunlich, in welchem Maße wir z.B. die große Zeit des italienischen Sonetts verschlafen haben, während wir in lateinischen Lehrgedichten herumwerkelten.

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Tatsächlich findet man die tieferen Spuren lyrischer Anstrengung erst nach 1570, der Grenze dieses Buches. Heinz Schlaffer geht darauf ein (Seite 50f):

Erst die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts findet, indem sie sich der mystischen Unterströmung des Mittelalters erinnert, zu ruhigeren Tönen und zu Themen, die der Poesie angemessen sind. Dieser Richtung gehören die Werke an, die noch im folgenden Jahrhundert wieder aufgegriffen wurden: die Lieder Friedrich von Spees, Paul Flemings und Paul Gerhardts, die Sinnsprüche des Angelus Silesius, die Schriften Jakob Böhmes. Die spätere Übertragung religiöser in weltliche Mpotive ist bereits bei diesen Begründern einer eigentümlich deutschen Lyrik vorbereitet.

Und während man das obige Inhaltsverzeichnis studiert, klingen die abschließenden Sätze des schmalen Buches von Heinz Schlaffer nach und sind wohl von bleibendem Wert:

In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Literaturschichten erschienen oder noch im Erscheinen begriffen; sie sind im Durchschnitt auf zehn Bände veranschlagt. In derselben Zeit, die es brauchte, sie zu lesen, ließe sich bereits ein Gutteil der wichtigen literarischen Werke selbst lesen. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt.

Und seit wir nicht mehr deutsche Literatur auf lateinisch lesen oder produzieren müssen, dürfen wir doch getrost fremdsprachige Literatur in guten Übersetzungen lesen. Ich schweige von der frühen Lektüre der meisten Novellen C.F. Meyers, die nunmal alle greifbar waren, und betrachte dankbar die Phalanx der Werke Tolstojs und Dostojewskys, die ich in meiner Schulzeit verschlungen habe, auch aktiv herangeschafft habe: kann das nach 50 Jahren noch als wirklich auch innerlich angeeignete Lektüre gelten?

Wie wäre es denn, statt vieles zu lesen, intensiver zu lesen und – nicht zu vergessen – zu wiederholen, was man längst gelesen hat? Man ist immer ein anderer, wie oft auch man in denselben Fluss eintaucht.

Was suchte ich denn? Das Wort „dargestellte Wirklichkeit“ trifft es; „vorweggenommene Lebenserfahrung“ wäre auch ein gutes Wort, es war kein „rein“ literarisches Interesse. Gibt es das überhaupt? Gab es denn ein „rein“ musikalisches Interesse? Ich erinnere mich, dass ich zumindest „Gustav Adolfs Page“ mit stark erotischem Anteil wahrgenommen oder aufgeladen habe.

Ansonsten würde ich behaupten, dass die Schule des Lesens – wenn ich es so anspruchsvoll bezeichnen darf – immer auch ein Schule des Lebens war. Und es ist kein Zufall, dass ich jetzt diesen Aspekt herauskehre, wenn ich rückblickend die Rolle der russischen Literatur für mich betone, dann die französische mit der Hauptfigur Marcel Proust und die deutsch-österreichische in Gestalt von Robert Musil. Und schließlich hatte ich das Buch der Bücher entdeckt (1969), in dem ich jeweils – trotz aller Begeisterung für diese Art von Sprachwissenschaft – steckenblieb und zu dem ich gleichwohl alle paar Jahre zurückzukehren hoffte: MIMESIS / Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Siehe hier oder hier oder hier oder hier.

und bevor ich mich aufs neue auf die Reise ins Innere dieses Buches begeben, lese ich einen erhellenden Beitrag zu seinem 50jährigen Jubiläum begeben: aus der Feder des Romanisten Hans-Jörg Neuschäfer (FAZ 13.9.1996): HIER Titel: Dichter des Irdischen Schule des Lesens: Erich Auerbachs „Mimesis“ wird fünfzig.

(Fortetzung folgt)

Weiteres vom Choral

Vorwärts in die Vergangenheit!

Am frühen Montagmorgen nach meinem Geburtstag, einem angeblich recht hohen, – der Tag danach war zugleich der Geburtstag meines Vaters (1901-1959) -, las ich zum Trost in der Sonderausgabe der ZEIT einen schönen Leitartikel von Giovanni di Lorenzo: Kann Vergangenheit trösten? Daraus die folgenden Zeilen, die mich an unsere Truhe, ein Erbstück aus dem Besitz der Schwester meines Vaters (Tante Ruth), denken ließ:

Als Kind hatte ich im Haus meiner Großeltern und in der Wohnung meiner Eltern oft Angst, wenn ich allein war. An beiden Orten standen antike Möbel. Einmal nahm ich aus meinem Kinderarztkoffer das Stethoskop heraus, dockte mich an eine uralte Truhe an und stellte mir vor, sie würde mir aus ihrem Leben erzählen, aus allem, was sie über Jahrhunderte beobachtet und erlebt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir damals verraten hat, aber die Angst war wie weggeblasen.

Quelle DIE ZEIT 7. Dezember 2020: 2020 Was für ein Jahr! Der große literarische Jahresrückblick der ZEIT. Titelseite rechts: Kann Vergangenheit trösten? (Von Giovanni die Lorenzo, 2020) Titelseite links: Ein neuer Weltgeist entsteht (Von Alexandre Dumas, um 1860)

Ich bewege mich in Richtung Keller. Von wegen Angst, ja oder nein?

Ist sie zu erkennen? Bitte anklicken, etwas rustikal, das Teil! Aber mit einer merkwürdigen Aura.

Vielleicht beherbergte die Truhe die Aussteuer einer Vorfahrin, die 1813 heiratete. Genau 100 Jahre später wurde mein Mutter auf der Lohe bei Bad Oeynhausen geboren. Und zufällig auch die besagte Tante. In Roggow oder schon in Belgard a.d.Persante? Man wird alte Choräle gesungen haben. Zur gleichen Zeit wurde in Wien Beethovens siebte Sinfonie uraufgeführt.

Es war auch Zufall, dass ich mir „Das Treffen in Telgte“ wieder vornahm. Noch einmal fast 200  Jahre zurück, Deutschland war verwüstet worden. Ich hatte aber lediglich nachlesen wollen, wie man sich die alten Singer-Songwriter zur Zeit Grimmelshausens vorstellen könnte. Zudem erinnerte ich mich, dass der Geiger Werner Ehrhardt mich einmal darauf aufmerksam gemacht hat, mit welcher Hochachtung man in der Grass-Erzählung dem Komponisten Heinrich Schütz begegnete. Und ich fand u.a. dies:

[Ein Text über das Choralsingen]

Heinrich Schütz‘ Vorwurf, es fehle der deutschen Poeterey an Atem, vollgestopft mit Wortmüll sei sie, keine Musik könne sich in ihrem Gedränge mit sanfter oder erregter Geste entfalten: Diese schlechte Zensur, der als Fußnote unterstellt war, es habe wohl der Krieg das Gärtlein der Dichtkunst verdorren lassen, blieb als These haften, denn, von Dach aufgerufen, redete Gerhardt nur allgemein hin. Es habe der Gast einzig seine hohe Kunst im Auge. Bei so kühnem Überblick werde ihm das schlichte Wort entgangen sein. Das wollte zuerst Gott dienen, bevor es sich der Kunst beuge. Weshalb der wahre Glaube nach Liedern verlange, die als Wehr gegen jegliche Anfechtung stünden. Solche Lieder seien dem einfachen Gemüte gewidmet, so daß die Kirchengemeinde sie ohne Mühe singen könne. Und zwar vielstrophig, damit der singende Christ von Strophe zu Strophe seiner Schwäche entkomme, Glaubensstärke gewinne und ihm Trost zuteil werde in schlimmer Zeit. Das zu tun, dem armen Sünder zu ihm gemäßen Gesang zu verhelfen, habe Schütz verschmäht. Selbst der Beckersche Psalter sei, wie er vielenorts hören müsse, den Kirchengemeinden zu vertrackt. Da baue er, Gerhardt, besser auf seinen Freund Johann Crüger, der sich als Kantor aufs strophische Lied verstehe. Dem rage nicht die Kunst vor allem. Dem seien nicht der Fürsten glänzende Hofkapellen teuer, sondern des gewöhnlichen Mannes Nöte wichtig. Dem wolle es mit anderen, wenn auch nicht weitberühmten Komponisten nie zu gering sein, der täglich bedürftigen Christgemeinde zu dienen und strophigen Liedern Noten zu setzen. Er nenne: des so früh zu Gott gegangenen Fleming ›In allen meinen Taten…‹ oder des ehrbaren Johann Rist ›O Ewigkeit, du Donnerwort‹ oder unseres freundlichen Simon Dach ›O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen…‹ oder des grad noch geschmähten, nun wahrlich wortmächtigen Gryphius ›Die Herrlichkeit der Erden muß Rauch und Aschen werden…‹, oder auch seine, des ganz dem Herrn ergebenen Gerhardt Strophen: ›Wach auf, mein hertz, und singe…‹ oder was er jüngst geschrieben ›O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben…‹ oder ›Nun danket all und bringet Ehr…‹ oder was er hierorts, in seiner Kammer geschrieben, weil doch der Friede bald komme und dann von den Kirchengemeinden gelobpreiset sein wolle: »Gott lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord…«

Dieses sechsstrophige Lied, in dessen vierter Strophe – »… ihr vormals schönen Felder, mit frischer Saat bestreut, jetzt aber lauter Wälder und dürre, wüste Heid…« – des Vaterlandes Zustand zu einfachen Wörtern gefunden hatte, trug Gerhardt auf sächsische Weise in ganzer Länge vor. Die Versammlung war ihm dankbar. Rist grüßte ergeben. Schon wieder in Tränen: der junge Scheffler. Gryphius stand auf, ging auf Gerhardt zu und umarmte ihn mit großer Gebärde. Danach wollte sich Nachdenklichkeit breitmachen. Schütz saß wie unter eine Glasglocke gestellt. Albert voll innerer Not. Dach schneuzte sich laut, mehrmals.

Da sagte Logau in die abermals ausbrechende Stille: Er wolle nur bemerken, daß das fromme Kirchenlied, wie es von vielen, die anwesend seien, fleißig für den Gemeindegebrauch hergestellt werde, eine Sache sei, die zum literarischen Streit nicht tauge; eine andere Sache jedoch nenne er des Herrn Schütz hohe Kunst, die sich um das alltägliche Strophenlied nicht kümmern könne, weil sie auf vielstufigem Podest dem beliebigen Gebrauch entrückt stehe, doch gleichwohl, wenn zwar über die Gemeinde hinweg, einzig dem Lobe Gottes erschalle. Außerdem wolle, was Herr Schütz kritisch zum atemlosen Sprachgebrauch der deutschen Poeten angemerkt habe, gründlich bedacht sein. Er jedenfalls danke für die Lektion.

Quelle Günther Grass: Das Treffen in Telgte dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 1994 (Seite 89f)

Wikipedia über diese Erzählung (1979) hier

Simon Dach, Paul Gerhardt, der Beckersche Psalter, Johann Crüger, Paul Fleming, Johann Rist, Andreas Gryphius, Heinrich Albert, Friedrich von Logau, Scheffler alias Angelus Silesius

Wiki: Auch Heinrich Schütz veröffentlichte 1628 92 Tonsätze, denn er hatte in den Gedichten Trost gefunden, nachdem seine Frau verstorben war. / Mehr darüber in MGG (neu) Personenteil Art. Schütz Sp.398

ZITAT

Der Leipziger Theologieprofessor C.Becker hatte mit seinem deutschen Reimpsalter (1602) das Ziel verfolgt, der weitverbreiteten Versverdeutschung des Hugenottenpsalters durch A.Lobwasser (1573) einen lutherischen Liedpsalter entgegenzustellen. Die Versmaße seiner Dichtungen hatte er so gewählt, daß sie sich auf bekannte Melodien des lutherischen Kirchenliedrepertoires des 16. Jahrhunders singen ließen. Schütz hielt dieses Verfahren für unangemessen und verwendete traditionelle Melodien nur dort, wo schon Becker auf bereits vorhandene Psalmnlieder zurückgegriffen hatte. Die Beckerschen Dichtungen vertonte er zunächst in Auswahl für seine »HaußMusic« und die Morgen- und Abendandachten der Kapellknaben, ohne auf eine selbständige Komposition und eine Publikation abzuzielen. Den Ausschlag für die Vollendung des Werkes gab der frühe Tod von Schütz‘ Frau Magdalene am 6. September 1625, in dessen Folge er sich für längere Zeit zu größeren Kompositionen unfähig fühlte und aus der Vertonung des Becker-Psalters in seiner »Betrübnüß […] Trost schöpffen« konnte. Die Texte sind laut Titel »Nach gemeiner Contrapuncts art« (also im Note-gegen-Note-Satz] vertont. Dennoch sind sie nicht eigentlich als Kantionalsätze anzusprechen, da sie keine Harmonisierungen präexistenter Melodien darstellen, sondern von vornherein als vierstimmige Sätze konzipiert sind. In ihrer oftmals individuellen und expressiven Gestaltung stellen sie einen Typus sui generis dar.

Quelle MGG (neu) Personenteil Band 15 / Bärenreiter Kassel 2006 / Sp. 398 Heinrich Schütz (Autor: Werner Breig)

Meine Suche hatte ursprünglich einem anderen Faktum gegolten: wie es eigentlich dazu gekommen ist, die einfachen Melodien für den Gemeindegesang zu erschaffen. Genau die, die mich in den Bachschen Kantaten und Passionen so früh ergriffen haben. Auch vom Turm der Pauluskirche in Bielefeld, auf den unser Kinderzimmer in den frühen 50er Jahren ausgerichtet war, wurde eine Choralmelodie jeden Samstagnachmittag (?) von einem einzelnen Trompeter in alle 4 Richtungen geblasen. Wochenende!

Diese Suche hatte ich vor vielen Jahren schon einmal durchgeführt und war im alten MGG fündig geworden. Die damals rot unterstrichenen Abschnitte möchte ich noch scannen, Stichwort Gemeindegesang, Autor Walter Blankenburg, mir seit 1982 bekannt durch das dtv-Büchlein über das Weihnachts-Oratorium.

[Zur frühen Praxis des Choralsingens MGG (alt) „Gemeindegesang“]

Am besten zeigen wohl die kaum noch homophon zu nennenden, figurierten Eccardschen Sätze [1597] , daß ihr Zweck keinesfalls die harmonische Stützung des Gemeindegesangs, sondern ein Nebeneinanderwirken von Chor und Gemeinde sein sollte. Durch die Kantionalien erfährt man nun erstmals etwas Gewisseres über das Zeitmaß des Gemeindegesangs im Reformations-Jahrhundert. Während Osiander allgemein forderte, daß „die Schüler sich in der Mensur oder Takt nach der Gemein allerdings richten und in keiner Noten schneller oder langsamer singen, denn eine christliche Gemeine sebigen Orts zu singen pflegt, damit der Choral und figurata musicafein beinander bleiben nund beide einen lieblichen Concentum geben“, lautet es in Eccards Vorwort: „Endlich vnd zum Beschluß / wil ich einen jeglichen Cantorem hiemit obiter gantz freundlich erinnert haben / das er im singen der Kirchen Lieder / sich einen feinen langsamen Tacts befleissigen vnd gebrauchen wolle / da durch wird er zu wege bringen / das der gemeine Man die gewöhnliche Melodiam desto eigentlicher hören / vnd mit seiner Cantorey vmb so viel leichter vnd besser wird fortkommen können.“

Daraus ist zu entnehmen, daß die Gemeinde langsamer als die Chöre zu singen pflegten. wenn für diese der integer valor des menschlichen Pulsschlags maßgebend war, so wird im allgemeinen für den Gemeindegesang ein etwas ruhigeres Zeitmaß angenommen werden müssen. –

Das Generalbass-Zeitalter brachte im 17. Jahrhundert infolge des barocken Bedürfnisses nach der Darstellung von Affekten allmählich das Verlangen von Harmonisierungen der Gemeindeliedweisen mit sich.  In dieser Zeit begegnen die Anfänge des durch die Orgel begleiteten Gemeindegesangs. […] Freilich lassen solche Gesangbücher nicht schon auf Gemeindegesang-Begleitung durch die Orgel in ihren Entstehungsorten schließen, denn sie waren ja mindestens ebensosehr für die Hausandacht wie für den öffentlichen Gottesdienst bestimmt. Es zeigt sich hier nur das jetzt allgemein werdende Bestreben zur gesangbuchmäßigen Behandlung des Kirchenliedgesangs, die u.a. eben auch zur Orgelbegleitung geführt hat. Daß der natürliche Anknüpfungspunkt für den Begleitsatz der Kantionalsatz war, obwohl dieser, wie gesagt, einen anderen Zweck verfolgte, versteht sich von selbst. Die Orgel ist als Begleitinstrument für den Gemeindegesang diesem im Laufe der Geschichte nun freilich wenig förderlich gewesen; das wurde früh erkannt. So hat sie fraglos einen besonderen Anteil an einer allgemeinen Verlangsamung des Gemeindegesangs, die noch im Laufe des 17. Jahrhunderts wiederum um des affekthaften Ausdrucks beim Singen willen einsetzte und sich vom integer valor immer weiter entfernte. Nicht eigentlich durch die Orgelbegleitung hervorgerufen, aber mit ihr im Bunde ging die Tendenz zur totalen Isorhythmisierung des Gemeindegesangs von etwa nach der Jahrhundert-Mitte ab, eine der folgenschwersten Wandlungen während seiner Geschichte, nachdem im frühen 17. Jahrhundert unter dem Einfluß weltlicher Geselligkeitslieder, vor allem der Kanzonette und des Balletto, noch einmal besonders ausgeprägte rhythmische Melodietypen durch Männer wie J.H.Schein, M.Vulpius, M.Franck, J.Crüger, J.Ebeling u.a. in den Gemeindegesang gekommen waren. In der Folgezeit herrschte aber nun nicht nur in den Neuschöpfungen die Isorhythmik vor, es sei denn, daß vom weltlichen Solo-Arienstil der Krieger, Ahle usw. diesem besonders eigene rhythmische Schlußwendungen oder daktylischer Dreiertakt übernommen wurden, sondern man nahm nun auch die rhythmische Planierung aller älteren Kirchenweisen vor und versah zudem vielfach die Weisen mit dehnenden Zwischennoten. In dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sind wahrscheinlich auch die Fermatensetzungen zwischen den einzelnen Melodiezeilen aufgekommen, was im Zeitalter von Kanzonette und Balletto höchstens vereinzelt schon vorstellbar ist. Es gibt einen untrüglichen Beweis dafür, daß gegen Ende des 17. Jahrhunderts allenthalben Zeileneinschnitte beachtet wurden, nämlich die um diese Zeit aufgekommenen Zeilenzwischenspiele (sog. Passagen) der Orgel, die für ca. anderthalb Jahrhunderte dem Gemeindegesang sein Gepräge geben sollten. Daß nach heutiger Vorstellung dieser dadurch nicht gefördert, sondern wesentlich gehemmt wurde, bedarf keiner besonderen Begründung.

Quelle MGG (alt) Band 4 Artikel „Gemeindegesang, B. Evangelisch“ / Autor: Walter Blankenburg / Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1955 /

Erinnern Sie sich, was mich neuerdings wieder auf den Choral-Trip gebracht hat? Nein, müssen Sie nicht, vielleicht sind Sie neu hier!!! Es war diese einzigartige Weihnachts-CD, die man – wie ich finde – zu jeder Jahreszeit hören kann; sie ist ja auch im Sommer entstanden, wie man erfährt. Und sie trifft einen Nerv unserer Zeit, – nicht nur meiner Lebenszeit. Und bei mir nicht nur, weil mein Sohn im Hintergrund bei der Redaktion dieser CD beteiligt ist, und nicht nur, weil ein Freund hinter der ganzen Produktion steht, Walter Nußbaum mit seiner Schola Heidelberg. Es kommt vieles zusammen, kein Wunder, dass die erste Auflage der CD nach zwei Wochen ausverkauft war, – ich muss nicht die Werbetrommel rühren. Ich sehe auch das Titelbild sehr gern und die weiße Fermate, die im Hintergrund schwebt, wie der Heilige Geist, denke ich, – auch wenn ich ihn mir lieber bei Hegel als in der Bibel vorstelle. Aber auch die Texte, die ich höre, rühren mich an, sowohl die gesungenen als auch die von Bodo Primus gesprochenen des Philosophen Enno Rudolph. Für mich die Krönung der Corona-Zeit. Um noch einmal Giovanni di Lorenzo zu zitieren: „… die Angst war wie weggeblasen…“.

Oder im externen Fenster hier. Oder auch über jpc, wenn es um das physische Original geht.

Ich habe eben den Philosophen (und Theologen) Enno Rudolph erwähnt; vielleicht glauben Sie, dass hier durch die Hintertür doch wieder ein „harmloser Brauch“ beschworen werden soll, der gedanklich nichts kostet. Mitnichten. Die Zeit ist anders. Das spürt man auch, wenn derselbe Autor ein Riesenwerk behandelt, das die gesamte philosophische Vergangenheit des Abendlandes auf 1000 Seiten vorüberziehen lässt. Und darin gebe es kein einziges überflüssiges Wort, meint unser Autor. Mehr davon: Hier. (Enno Rudolph über Jürgen Habermas)

Hier fehlt noch ein besonderer Choral. Ich weiß zwar schon welcher, aber ich muss ihn noch etwas schöner abschreiben – für Klavierspieler – und eine Aufnahme des Orchesterstücks suchen. Ich vermute, dass der Komponist bei dem Entwurf eines seiner letzten Werke 1943 an die verlorene Heimat gedacht hat, vor allem an seine Mutter. Während mir plötzlich ein anderes Kind (mit Oma) in den Sinn kam, – in der Zeit vor rund 20 Jahren. Zugleich denke ich an den kleinen Bartók mit seiner Trommel, und die Mutter, die ihn ermutigte. Sehe das seltsam erwachsene Kind auf dem Bild von Hieronymus Bosch. Wir sind von Vergangenheit eingehüllt. Und wo bleibt der gesuchte Choral?

im folgenden ab 2:52