Archiv der Kategorie: Griechisches Altertum

Ein neuer Blick auf Pompeji

Die Tiefe der Zeit

Das neue Buch, das ich Berthold Seliger verdanke, verbindet sich aufs wunderbarste mit einer Reihe starker Eindrücke, die bis in meine Gymnasialzeit zurückreichen und sich erst jetzt allmählich in etwas Gegenwärtiges,  Lebendiges verwandeln. Hoffentlich nicht nur, weil es vom Untergang handelt.

5.9.2024

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs / Was Pompeji über uns erzählt / Propyläen Ullstein Verlage Berlin 2023

Erinnerung an die frühen Siebziger

Perlentaucher hier

Zitate

(NZZ) Für den Rezensenten Hans-Albrecht Koch blitzt in Gabriel Zuchtriegels Buch über Pompeji die Frage auf, was wir aus der Vergangenheit lernen können. Der Direktor der Ausgrabungsstätte bei Neapel überzeugt Koch mit ungewöhnlichen Perspektiven auf die Katastrophe am Vesuv und ihre Folgen. So widerlegt der Autor laut Rezensent nicht nur bisherige Annahmen zu den Geschehnissen vor 2000 Jahren, sondern liefert auch einen frischen Blick auf die Archäologie und ihre Aufgaben und Ziele.

(Die Welt) Eine rundum gelungene Auseinandersetzung mit dem Faszinosum Pompeji liest Rezensent Jonas Greth bei Gabriel Zuchtriegel, seit 2021 Direktor der Ausgrabungsstätte. Zuchtriegel verknüpft Einlassungen zur antiken Lebenswelt klug mit eigenen, gegenwärtigen Überlegungen, ohne einen allzu konstruierten Gegenwartsbezug herzustellen, freut sich Greth. So erfährt der begeisterte Leser, dass Sexualität um 79 n. Chr. nicht nach der geschlechtlichen Orientierung, sondern nach der „Hierarchie von Aktivität und Passivität“ bewertet wurde und auch, dass sich immer noch neue Funde in Pompeji aufstöbern lassen. Einige der persönlicheren Passagen sind für den Rezensenten zwar etwas dick aufgetragen, aber der breit aufgestellten Erzählung mag er insgesamt doch gerne folgen, zeugt sie doch auch von einer großen, mitreißenden Liebe des Archäologen zu seiner Tätigkeit, lobt er.

Wie aber passt das in unsere heutige Zeit? Dumme Frage: durch die nachvollziehbare Lebendigkeit, die es ausstrahlt. Ist unsere Zeit das Maß aller Dinge? Ich habe es trotzdem einmal an einem antiken Beispiel einmal ausführen wollen…

Lebenslust Mozart

Was die Bücher von Gabriel Zuchtriegel und Tonio Hölscher innerlich verbindet, erfährt man im Vorwort des letzteren: sie kommen aus der gleichen altklassischen Schule, in der ein durchaus frischer Wind weht. Frisch? Ein jugendliches Lebensgefühl, tragisch getönt. Bezeichnend das Motto, das am Ende dieses Blogartikels kommentarlos wiedergegeben sei.

Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum / Jugend, Eros und das Meer im Antiken Griechenland / Klett-Cotta Stuttgart 2021

Neu

3 Filme in 1 über den Untergang Pompejis HIER

Presetext

Seit mehr als einem Jahr läuft in Pompeji eines der ehrgeizigsten Grabungsprojekte unserer Zeit: Ein italienisches Archäologenteam entdeckte einen bisher unerforschten Häuserblock und förderte unter anderem eine Bäckerei, ein Wohnhaus und ein Wandgemälde, das eine Art Pizza zeigt, zutage.
Die Ausgrabung beginnt mit der Entdeckung eines riesigen Steinofens. Viel zu groß, um zu einem Privathaus gehört zu haben, finden die Forscher heraus, dass er Teil einer Bäckerei war, in der Brot an die Bewohner von Pompeji verkauft wurde. Nicolas Monteix, Experte für das Backgewerbe in der Antike, besichtigt eine der 40 Bäckereien, die bisher in Pompeji gefunden wurden, und erzählt davon, wie das Leben der Sklaven vermutlich ausgesehen hat, die dort Tag für Tag bei gleißenden Temperaturen schufteten und permanent dem Mehlstaub ausgesetzt waren.
In einem Nebenraum der Bäckerei entdecken die Archäologen drei Skelette. Ihr Zustand deutet darauf hin, dass die Menschen von der einstürzenden Decke erschlagen wurden. In den ersten 18 Stunden des Vulkanausbruchs fiel ein dichter Niederschlag aus Pyroklasten und Asche auf Pompeji. Unter dem Gewicht der Gesteinsfragmente brachen überall in der Stadt Gebäude ein.
Neben der Bäckerei entdecken die Archäologen das Wohnhaus. In jedem Raum türmen sich unberührte Lapilli bis zu drei Meter hoch. Das bedeutet, dass seit dem Vulkanausbruch niemand dieses Haus betreten hat. Im Atrium finden die Forscher unbenutzte Dachziegel, Steine und Werkzeug. Daraus schließen sie, dass das Gebäude zum Zeitpunkt der Eruption renoviert wurde. Tatsächlich hatte 17 Jahre zuvor, im Jahr 62 nach Christus, ein Erdbeben viele Häuser in Pompeji zerstört, die längst noch nicht alle wieder aufgebaut waren.

„Die alten Griechen“

Einige Anregungen aus dem Bücherschrank

Ich will nicht aufwärmen, wann und wo es mir in meiner Schulzeit begegnet ist, und dass die Lektüre letztlich völlig unverstanden blieb (Aischylos oder Sophokles), bei Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“, Dionysos, Euripides, das Satyrspiel, letztlich begeisterte mich nur der Bezug auf Wagner. Jetzt ist es die spezielle Literatur zum Thema, die mich fesselt, durch was genau, soll mir erst noch klarer werden. Die Bilder, würde ich sagen, – die untrüglichen Belege, dass das einmal Wirklichkeit war, 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Ja, wir haben Homer gelesen, bzw. mühsam übersetzt, wir haben die „Antigone“ des Sophokles (oder Euripides?) in der Unterprima aufgeführt (ich stand im Chor, und rezitierte in der Gemeinschaft das Original der Verse: „Vieles ist schrecklich, aber am schrecklichsten ist der Mensch!“ – „Deínos…“ vielleicht auch „ungeheuer“ –  ich muss den Text wiederfinden. Insgesamt beeindruckte mich das Erlebnis (zur Hälfte war es eher lächerlich), jedenfalls ohne Bezug zum realen Abstand der Jahrhunderte. Den hätte ich nur rein verbal bezeichnet, nicht als erlebte Distanz und Überwindung der Distanz. Ich springe hinein in die doppelte Vergangenheit, also… auch in meine eigene. Ich muss nicht mehr nach dem alten Originaltext von Aischylos oder Sophokles in dem Regal hinter mir (zweite Reihe) suchen, nein, nicht zurück, – vorwärts – mit einem Sprung ins Internet bin ich weiter, bitte – unverbindlich – hier (Aischylos). Oder hier (Sophokles). Oder (s.o. Link) in der Hölderlin-Fassung.

Und dann zurück in die Gegenwart: das neu entdeckte Buch (aus dem Nachlass meines Freundes Christian Schneider), zudem ganz neuwertig, er hat nicht mehr darin lesen können.

schnell weiter – zur Sache! Ich kopiere, so gut es geht. Unglaublich – die Equipe eines Satyrspiels. Ich glaube, wenn Christian mir dies gezeigt hätte, hätte ich ich das Werk  zwingend kaufen müssen. Nun stand es in meinem andern Bücherzimmer inmitten der Bach-Literatur. Nein, da entdeckte ich auch aufs neue das hervorragende Buch „Das Musikleben der Griechen“ von Max Wegner, und dabei glaubte ich wahrhaftig seit meiner Studienzeit, die Sachen von Thrasibulos Georgiades würden für mein ganzes Leben ausreichen. Doch der Reihe nach.

bitte vergrößern, im Detail betrachten!

Auf der obigen Textseite ist von einem Flötenspieler die Rede, ein Fehler, der weit verbreitet ist, aber in einem so kompetenten Werk verwundert. Ein Aulos ist keine Flöte! Ich habe ein anderes Buch bereitgelegt, in dem der Aulos so genau beschrieben ist, – dazu auch in so anschaulicher Sprache -, dass ich nicht umhin kann, auch daraus ausführlich zu zitieren. Es stammt aus dem Jahre 1949.

Max Wegner: Das Musikleben der Griechen / Walter de Gruyter & Co. Berlin 1949

Tafel 10 und 11

 

Tafel 12 bis15

 

Zitat (Seite 19)

Dieser Widerstreit zwischen Saitenklang und Schalmeiengetön scheint sich vergrößert wiederzuspiegeln [sic!] in dem spannungsreichen Gegensatzpaar des Apollinischen und des Dionysischen, mittels deren Zusammenwirkens Nietzsche sich die Tragödie aus dem Geist der Musik entstanden dachte. Da nimmt es zunächst Wunder, daß D i o n y s o s selbst gar keine so innige Beziehung zu eigener Musikübung hat wie Apollon. Der Musik wohnt – nicht allein nach griechischer Auffassung – ein Geist der Ordnung inne, wie er dem Wesen des Apollon gemäß ist, sich aber mit der ausgelassenen dionysischen Schwärmerei, mit deren unvermittelt ausgestoßenen Schreien und ihrem aufreizenden, gellenden Getön schwer verträgt. So wild wie sein Schwarm ist nun allerdings Dionysos selber merkwürdigerweise nicht und es ist für das Verständnis seines Wesens nicht bedeutungslos, daß er in Delphoi herrschen konnte, während Apollon bei den Hyperboräern weilte. Im Griechischen sind immer die Gegensätze irgendwie im Kontrapost, in wechselseitiger Gebundenheit oder harmonische Spannung aufeinander bezogen. Niemals bläst Dionysos die Schalmei.

  Eine solche Statue befand sich im Ratsgymnasium Bielefeld auf dem Flur neben unserer Klassentür, weniger als lebensgroß, dafür auf hohem Sockel, in meiner Unter-/Obersekunda-Zeit; als ich sie kennenlernte, ohne je genauer hinzuschauen, wusste ich nicht einmal, ob es sich um Sokrates oder Sophokles handelte. Vielmehr: ich war enttäuscht, dass es nicht Sokrates war.

Noch eine wichtige Statue meiner Schulzeit… sie passte. Autoritär eben.

Über schwarzfigurige und rotfigurige Vasenmalerei (Wikipedia)

Vorwärts zu Aischylos! zuerst biographische Übersicht bei Wikipedia hier, dann zu Gutenberg (Texte Orestie I) Inhalt + Text „Der Mord“ (Agamemnons Tod) – Erklärende Anmerkungen dazu hier (auch Versmaße). Inhaltsangabe:

Als die vor Áulis zum Rachekriege wider Ílion versammelte Flotte der Hellénen durch widrige Winde zurückgehalten ward, verkündigte der Seher Kálchas, daß die grollende Ártemis die Abfahrt so lange verzögern werde, bis Iphigenía, die Tochter des Heerführers Agamémnon, ihr als Opfer gefallen sei. Agamemnon schwankte, ob er die eigene Tochter der Göttin zum Opfer bringen oder den Heerzug gegen Trója aufgeben solle. Endlich siegte sein kriegerischer Ehrgeiz über die Regungen des Vaterherzens: Iphigenia wird unter dem Vorwand einer Vermählung mit Achílleus nach Aulis gelockt und geopfert. Aber die unnatürliche That sollte durch eine neue Unthat gebüßt werden. Wie nun Agamemnon, siegreich von der eroberten Troja zurückkehrend, von seiner Gemahlin Klytämnéstra feierlich empfangen, wie er von ihr und Ägísthos, welchem sie während der Abwesenheit ihres Gemahls in ehebrecherischem Bunde sich ergeben, zugleich mit der tróischen Königstochter, der kriegsgefangenen Kassándra, noch an demselben Tage gemordet wird, ist in dieser Tragödie dargestellt.

Scene. Königlicher Palast in Árgos. Flügelgebäude zu beiden Seiten, rechts die Wohnung für das Gesinde, links die Gastwohnungen. Vor dem Palaste stehen Bildsäulen und Altäre des Zeus, des Apóllon, des Hérmes. Auf dem flachen Dache der Gesindewohnung, das die Aussicht auf Gebirge, Meer und Land bietet und das als Warte dient, sieht man den Wächter sich von seinem Lager aufrichten.

(Übertragung von Johann Jakob Christian Donner, ca. 1900)

Das nächste Drama „Das Totenopfer“ oder „Die Blutrache“ / Inhalt siehe hier :

Die Mörderin des Gatten, Klytämnéstra, ist mit ihrem Buhlen Ägísthos an dem Orte ihres Verbrechens in frechem Trotze zurückgeblieben; ihr und Agamemnons einziger Sohn, Oréstes, ein zwölfjähriger Knabe, war von seiner Schwester Eléktra, gleich in der ersten Verwirrung nach dem Tode des Vaters, zu dem Könige Stróphios in Phókis, ihrem Oheim, gesendet worden, mit dessen Sohne Pýlades er die berühmte Freundschaft schloß; Elektra selbst lebte im väterlichen Hause zu Mykénä unter den Mördern ihres Vaters ein kummervolles Leben. Nach acht Jahren war Orestes zum Manne gereift. Da erhält er von dem Orakel Apóllons die bestimmte Weisung, den Tod des Königs und Vaters an den Mördern zu rächen. Er kommt mit Pylades nach Árgos, eben als Elektra nach dem Befehle der Mutter mit einer Schar dienstbarer Frauen am Grabe des gemordeten Vaters Trankopfer bringt. Zuerst fällt Ägísthos, dann Klytämnestra, die Mutter, von seiner Hand. Aber die Qual der Reue ergreift alsbald seine zagende Seele. Von den Erínnyen verfolgt, die vorerst nur seinem Auge sichtbar sind, flieht er nach Délphi zum Heiligtum Apollons, um bei dem Gotte Schutz und Reinigung zu suchen, dessen Ausspruch ihn zu der verhängnisvollen That getrieben hat.

Das dritte Drama „Die Eumeniden“ oder „Die Sühnung“ / Inhalt siehe hier :

Oréstes ist im Heiligtume zu Délphi. Auf dem Vorplatze desselben erscheint die Pýthia, die weissagende Priesterin des Apóllon, spricht ein Gebet zu den Göttern des Orakels, der Stadt und des Landes und geht dann in den Tempel, ihres Amtes zu warten. Bald aber wankt sie voll Entsetzen wieder zurück. Sie hat den Orestes erblickt, der als Schutzflehender den Altar des Gottes umschlingt, und um ihn her, vom Schlafe betäubt, die schwarzen Gestalten seiner Verfolgerinnen. Nachdem sie den Gott angerufen, daß er selbst sein Heiligtum vor Befleckung wahren möge, eilt sie hinweg.

Die Scene verwandelt sich. Wir sehen das Innere des Tempels, in demselben den Orestes von den schlafenden Erínnyen umgeben. Apollon selbst tritt zu seinem Schützling, spricht ihm Mut ein und verweist ihn an Pállas Athéne.

Noch schlummern die rächenden Göttinnen; aber nun hebt sich der Schatten Klytämnéstra’s Rache fordernd aus der Unterwelt empor. Die Erinnyen raffen sich auf, sehen mit Ingrimm ihre Beute sich entrissen und häufen Vorwurf und Schmach auf den rettenden Gott. Dieser erscheint selbst, die düsteren Töchter der Nacht aus seinem Heiligtume zu verscheuchen.

Orestes ist nach Athen geflohen, zum Altare der Pállas, daß sie über ihn richte, ihn rette. Bald stürzen auch die Erinnyen herbei, mit Drohungen gegen den Flüchtling, der ihnen dennoch nicht entgehen werde, und mit einer schauerlich erhabenen Verkündigung ihres Amtes, ihres ewigen Rechtes, ihrer unentfliehbaren Gewalt. Da naht Athene selbst auf den Ruf des Orestes. Beide Parteien tragen ihre Sache vor und übergeben ihr das Richteramt in dem schweren Handel. Aber die Göttin wagt nicht allein den Streit zu schlichten: aus den Besten ihres Volkes will sie Richter setzen, die nach heiligem Eide zwischen den Streitenden entscheiden sollen. »So wird denn das Gericht angeordnet, und Athene verkündigt, daß diese Anordnung nicht bloß für den gegenwärtigen Fall, sondern auch für die Zukunft bestehen und ein ehrwürdiger Rat, auf dem Áreshügel versammelt, fortan immerdar das Richteramt verwalten solle. Apollon erscheint, um für Orestes zu zeugen und als Anwalt seine Sache zu unterstützen. Die Verhandlung beginnt: die Erinnyen bringen ihre Anklage vor, Orestes seine Rechtfertigung, und was er selbst nicht hinreichend darlegen kann, ergänzt Apollon. Darauf werden die Richter zur Abstimmung aufgerufen, wobei Athene erklärt, daß bei gleicher Zahl der beiderseitigen Stimmen Orestes als losgesprochen gelten solle und daß sie selbst ihre Stimme den lossprechenden zulegen werde. Die Stimmen werden gezählt; sie sind auf beiden Seiten gleich; Orestes ist also losgesprochen, und mit Dank an die Göttin, mit Segenswünschen und Verheißungen für die Stadt eilt er von dannen.

Aber die Erinnyen zürnen heftig. Sie glauben ihre Ehre verletzt, ihr uraltes, heiliges Recht gekränkt und drohen dem Lande, in dem ihnen diese Kränkung widerfahren, mit Unheil und Verderben. Athene sucht sie zu beruhigen; sie seien nicht entehrt, ihr Recht sei nicht verkannt, da ja die Hälfte der Stimmen für sie gewesen sei; und auch fortan, wenn sie nicht selbst es verschmähen, solle ihnen Dienst und Ehre in Áttika neben dem Sitze der Schutzgöttin selbst gleich den erhabensten der Himmlischen erwiesen werden. Endlich gelingt es ihr, sie zu besänftigen. Sie lassen sich unter dieser Bedingung sowohl das, was jetzt geschehen ist, als auch die Stiftung eines Blutgerichtes für die Zukunft gefallen und verheißen dem Volke, wenn es ihrer eingedenk sein und ihre Macht und ihr Recht anerkennen und ehren werde, Heil und Segen dafür. So führt sie denn Athene in feierlichem Festzuge zu dem ihnen bestimmten Heiligtume, und mit Festgesängen und der Einsetzung des Kultes der Erinnyen, die fortan wohlwollend und segensreich, als Eumeníden, im Lande wohnen und walten werden, schließt die Tragödie.

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Merken, hier anschauen und bald anschaffen: Christian Meier „Die politische Kunst der griechischen Tragödie“ siehe Leseprobe HIER

13.03.2024 Das Buch ist eingetroffen (meine Buchhandlung Jahn SG machte es möglich), und es übertrifft alle meine Erwartungen. Was mir in der Schule vor 70 Jahren gefehlt hat: eine Art altgriechische Ethnologie. Erst nachdem sich Japan, Indien, Südsee und Afrika in mein Interessenuniversum gefügt hatte, begriff ich allmählich, wozu das – im wahrsten Sinne des Wortes – humanistische Gymnasium den Boden hätte bereiten können. Und heute: zu spät???

Das Inhaltsverzeichnis:

Unerhört interessant. Dadurch bewirkt die Vergewisserung anhand Immanuel Geiss:

Erinnerung an eine Viertelstunde des jüngst vergangenen Tages (6.März 2024 18.10 bis 18.25)

Dionysien heute? (Material)

Ist Karneval vergleichbar? Loslassen? Ischgl?

Das ganz gewöhnliche Besäufnis?

Karneval Wiki  hier

Spiel oder Sport?

Die provisorische Reihe von Stichworten ließe sich beliebig erweitern. Sie zielt aber auf Abgrenzung, nicht auf Erweiterung und Verwischung der Grenzen. Ich habe mich des öfteren mit solchen Überblendungen beschäftigt, schon um den Verdacht des vorgefassten Elitarismus zu bannen. Als sei die hohe Kunst ständig vor dem niederen Unterhaltungstrieb der Massen zu schützen. Dabei ist sie doch auch – Unterhaltung?! (Solche Behauptungen schreien nach sorgfältigen Definitionen.) Ein Beispiel aus früheren Zeiten hier. Das Spiel im Konzert und auf dem Fußballfeld. Neuerdings stand der böse Blick auf Katar Pate beim Vergleich des Kamelrennens gegen die uns vertrauteren Sportarten, insbesondere dem aktuellen Sport der Männermannschaften bei der WM in Katar. Zumal unter dem Zeichen der FIFA und der weltweiten Korruption. (Siehe hier.) Was außerdem hängenblieb: das Bild von den Scheichs, die in klimatisierten SUVs neben der Rennstrecke der Kamele mitfahren und per Knopfdruck die Peitschen der kleinen Roboter auf dem Rücken der Tiere betätigen. Ein atemberaubendes Spiel. Die Tiere sind ein wichtiger Faktor in ihrem Leben, aber noch wichtiger ist der ausgesetzte Preis, die tierische Hochleistung und das arbeitende Geld. Hauptgewinne: eine Reihe neuester SUVs.

Bei Schiller, der seine Theorie vom Spiel entwickelt, findet man auch die Aufzählung von Sportarten der Antike im Vergleich zu denen seiner Gegenwart. Ich denke dagegen an Hemingway und seine Verteidigung der Ästhetik (?) des Stierkampfes. Die quasi religiöse Feierlichkeit der Reiter, die ich im nahen Umfeld der Arena in Sevilla erlebte. Archaisch? Sakral? (Einen wirklichen Stierkampf habe ich nie gesehen.)

Anders als bei anderen Menschen: Hölderlins Trunkenheit siehe hier

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https://www.deutschlandfunkkultur.de/lois-hechenblaikner-ischgl-champagner-bad-im-skigebiet-100.html hier

Lois Hechenblaikner: „Ischgl“ Interview

Relax if you can. Après-Ski wurde einfach ein neuer Wirtschaftszweig. Das ist so ein erfolgreiches Geschäft geworden, man kann nur staunen, da werden irre Gewinne gemacht. Da geht aber nur, wenn der Gast mitmacht. (…)  Das Individuum verhält sich in der Gruppe völlig anders. Wenn dann bei einem solchen Konzert oben in Ischgl, wo dann 15.-20.000 Leute sind, entsteht natürlich eine sehr enthemmte Stimmung in einem. Dazu kommt, dass der Schnee ein Medium ist, wo man sich im doppelten Sinne des Wortes fallen lassen kann. D.d. die Erwachsenen werden wie Kinder, sehr infantile Muster treten dann auf, und dann gints da diesen Beschleuniger Alkohol, der dazukommt. Aber es ist immer so eine Mischung aus dieser Musik und eben dieser Dosis an Alkohol. Jetzt könnte man sich fragen, warum brauchen die Leute auch diese Dosis an Alkohol? (5:50) Ich war mal in Gröden in Südtirol, bei den Skirennen, und da war relativ wenig Après-Ski, und da habe ich mal nachgefragt: warum ist das so? Und da haben sie gesagt, ja, die Italiener, die gehen abends eher gepflegt essen, trinken ein Glas Wein, und das hat sich. D.h., das hat auch mit uns zu tun, oder mit der Trinkkultur, und die ist sicher in Österreich verändert mit den Deutschen, es sind auch viel Holländer drin, es sind Belgier usw., d.h. da ist einfach ein anderes soziologisch-gesellschaftliches  Verhalten anscheinend in der konsumistischen Ebene. Und ich glaube auch, dass mit Alkohol viel verdrängt wird, dass da Sorgen des Alltags sprichwörtlich weggetrunken werden. (6:04)

Relax as you can – der ganze Ort wurde dahinkalibriert. Und wenn ich mir heute Ischgl anschaue, die Gästeschicht, die da ist, sind schon sehr sehr viele … auch geschieden, 40, 50 Jahre alt, deshalb sag i auch immer: Ischgl ist so etwas wie ein hormoneller Second-Hand-Markt.“

Moderatorin (bezieht sich aufs Nachwort des Buches): da sagt ein Hotelier und Barbetreiber: man müsse mehr mit dem Penis ndenken, um neue Gäste zu werben. Hechenblaikner:

Das zeigt natürlich den völligen Realitätsverlust, die Duchgeknalltheit. (7:10) …hat damit zu tun, dass sich die Tourismuswirtschaft ja jedes Jahr neu sich hervorzubringen versucht. Jede Saison muss neu gestartet werden, das ist ein Wirtschaftszweig, der darauf angewiesen ist, dass die Gäste herkommen. (…) Tourismus ist immer ortsgebunden, die Gäste müssen immer neu angelockt werden.

(…) weil eben die Tourismuswirtschaft dazu neigt, immer den Schleier des Erhabenen, des Schönen, des Verklärten darüber zu legen (11:18)

Das Buch „Ischgl“ von Lois Hechenblaikner im Steidl Verlag, siehe hier.

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/kulturjournal/Kulturjournal,sendung1302378.html hier

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Was war in früheren Jahrhunderten damit gemeint, wenn vom Rausch die Rede war, der Feier des Frühlings, den großen Festen zu Ehren des Weingottes Dionysos? Entfesselung?

Was habe ich in den dumpfen 50er Jahren erwartet, als ich Nietzsche zu lesen begann, an Befreiung dachte, an den Sinn der „Dionysos-Dithyramben“, als ich ihm noch alles glaubte, was er über Wagner schrieb. Die Wiederkehr einer dionysischen Kultur, eines Zeitalters der großen Erneuerung. Und dazu das Victrola Opera Book (1919), das wir einem Care-Paket aus den USA verdankten, darin Bühnenbilder und Illustrationen zu den Wagner-Götterdramen, die 1:1 kindlichen Wunschvorstellungen entsprachen. Brunhilde (auf den Knien) zu Wotan „Was it so shameful?“ Wovon sprach sie?

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Geburt_der_Trag%C3%B6die_aus_dem_Geiste_der_Musik HIER

https://de.wikipedia.org/wiki/Dionysien hier

https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/dionysos/dionysos.html hier

https://www.projekt-gutenberg.org/schrempf/nietzsch/chap008.html hier

Christoph Schrempf https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Schrempf hier

7. Kapitel

»Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«: das Dionysische Erlebnis und der Wille zur Kultur. Friedrich Nietzsche Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1922

Die Religion der Klassiker Herausgegeben von Professor D. Gustav Pfannmüller Neunter Band:
Friedrich Nietzsche Geburt der Tragödie aus Kapitel 1.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von »Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre »Gesundheit« sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust.

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der »Freude« in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder »freche Mode« zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?« –

Anmut und Würde?

Komponenten der Schönheit

Bevor wir Schillers philosophische Schriften gründlich zu lesen anfangen, sollte uns klar sein, in welchem Maße unsere Klassiker vom Geist des Griechentums besessen waren. Was immer sie darunter verstanden, – keine Skepsis kann uns darüber hinweghelfen, dass wir allzu wenig darüber wissen und doch glauben, uns davon distanzieren zu können. Kein Wort mehr in dieser Richtung. Wollen wir etwa die Weisheit des Genderismus dagegensetzen, wenn uns jemand mit den Grazien kommt, oder sein Schönheitsideal aus den Proportionen der Venus ableiten will?  Halten wir doch erstmal inne, sobald wir wissen, dass uns einiges an notwendigem Wissen fehlt, wenn Friedrich Schiller also anhebt:

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, Dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttin von Cnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht. Juno, die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt (den man der Gattin Jupiters keineswegs abspricht), ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Was ist mit dem Gürtel? Wer genau ist die Göttin von Cnidus? Hier ist der erste Schritt zum Verständnis. Hätte jemand geahnt, dass die griechische Nackheit durchaus nicht so selbstverständlich war, wie seit den Jahren der Wiederentdeckung vorausgesetzt wurde? Wiedergeburt, Renaissance. Dass die Scham, zumindest die weibliche, ein Thema war? Nichts falscher als an die Kriterien einer FKK-„Kultur“ zu denken. (Siehe am Ende des Artikels zum David hier). Wohlgemerkt, bei Wikipedia heißt es:

Der Bildhauer habe dann zwei Versionen angefertigt: eine vollständig bekleidete und eine völlig nackte. Die schockierten Einwohner von Kos hätten die Nackte zurückgewiesen und die bekleidete Version gewählt.

Von der letzteren ist keine Kopie überliefert. Nimmt uns das wunder?

Der Gürtel! Verstehen Sie, was er bedeutet? Siehe dazu hier. (Nebenbei auch hier.) Was also ist der Unterschied zwischen Schönheit und „Anmuth“? Hat Anmut immer mit Bewegung zu tun? (Ist es unanständig, in diesem Zusammenhang an Sex appeal zu denken? Man schaue nur auf das Knäblein an der Seite der weiblichen Figur, eine Priapus-Gestalt, die jedoch – wie die ganze Skulptur – aus römischer Zeit stammt. Man mag sie nicht geil nennen.)

Weiter mit Schiller:

Die Schönheitsgöttin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne übergehen.

Die nämlichen Griechen empfahlen Demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein Neigung einflößen kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern als folgenden Sinn einschließen.

Bemerkenswert übrigens, dass Schiller auch von „Demjenigen“ spricht, und dass die Grazien auch dem Manne gewogen sein sollten, ja unentbehrlich sind, wenn er gefallen will.

Anmuth ist eine bewegliche Schönheit; eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz Besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig sei, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft aufdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deßwegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweitens etwas Zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bei dem Minderschönen und selbst bei dem Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minderschöne, auch das Nichtschöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön sein, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben; die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es gibt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Eine andere Zwischenfrage, die noch nicht im Text anklang: Was ist eigentlich Moral?

Wir verstehen darunter oft – sehr vereinfacht – ein menschenfreundliches Wertesystem, gern auch (einfach) ein christliches. Und wenn Nietzsche Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen“ bezeichnet, hat er sich offenbar dieses Vorurteils bedient. Obwohl gerade er wusste, was alles ins Gebiet der Moral fällt, eben auch die von ihm präferierte „Herrenmoral“. Im philosophischen Sinne halten wir uns an das Metzler-Lexikon: demnach bezeichnet Moral

den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. Moralen differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der Moral ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede Moral ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv.

Ich füge diese (unvollständige) Definition an dieser Stelle nur ein, um daran zu erinnern, dass man Schillers Begrifflichkeit nicht allzu intuitiv auffassen sollte, sie bezieht sich ja unmittelbar auf KANT; wobei aber nun die leichtere Lesbarkeit nicht ohne Tücken ist. Verstehen wir nicht zu schnell! Folgen wir Schiller in bedächtiger Leseweise. Ich wechsele auch regelmäßig zu anderen Schriftbildern (Dünndruckausgabe der 50er Jahre) oder in die Wiedergabe des Projekts Gutenberg . Und folge Schiller weiter in seiner Antwort auf die zuletzt gestellte Frage:

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazie nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttin von Cnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da, wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur: darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel zu entwickeln und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sei mir erlaubt, zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in so viel andern Fällen, wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahnet und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Bevor Schiller nun einen neuen Begriff einführt, den der architektonischen Schönheit – wohlgemerkt: des Menschen –

Mit diesem Namen will ich denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

möchte ich mich einschalten, um jenseits aller modernen Wokeness-Bedenken ein paar Beobachtungen zu verbalisieren, die sich aus alten Gewohnheiten heraus nicht eliminieren lassen. Man registriert andere Menschen nicht, ohne insgeheim ihr Aussehen zu bewerten (oder auch zu relativieren). In welche Runde man auch immer gelangt, – ob real oder als Fernsehzuschauer/in – man weiß, wer gut aussieht, oder bei wem man, sagen wir, von einer instinktiven Bewertung absieht, oder auch abstreitet, dass dies überhaupt eine Rolle spielt. Immer wieder kommt man aber zu der Erfahrung, dass jemand im Laufe eines Gespräches auf geheimnisvolle Weise sein/ihr Aussehen ändert. Klartext: wer hässlich wirkte, erscheint plötzlich ausdrucksvoll, um nicht zu sagen „schön“. Die Gesprächsbeiträge haben den naturgegebenen Ausdruck des Gesichtes überlagert. Ich kann natürlich grundsätzlich jede Äußerung über „gutes Aussehen“ oder gar „Schönheit“ unterlassen oder zurückweisen, was aber nicht garantiert, dass die Einschätzungen im Untergrund nicht um so heftiger ihr Unwesen treiben. Eine Frau, die noch keinen Ton gesagt hat, kann mir die Kehle zuschnüren. Angesichts eines (jungen) Mannes neutralisiert man sich gern mit Spott (und der Melodie: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön!“).

Ganz verpönt ist der Ausdruck von der „schönen Seele“ (anders noch als: „Gutmensch“), er wirkt ebenfalls sofort ironisch, und wenn er bei Schiller auftaucht, muss man ihn fortwährend „passend“ paraphrasieren.

Ich bin allerdings glücklich über Schillers Begriff von der architektonischen Schönheit des Menschen. Und würde ihn auch anstandslos auf das Tier übertragen, auf ein edles Pferd, natürlich auch auf einen Schmetterling, sogar auf eine Raupe oder eine Kröte; bei deren Charakterisierung wir vielleicht das Wort Anmut vermeiden würden, außer bei übertrieben poetisierender Tendenz. Bei Gelegenheit schaue ich nochmal in das Buch von Josef H. Reichholt (der wohl immer schon gut aussah).

  s.a. hier (u.a.Bredekamp)

Was ist es nun, das sich verändert, wenn ein Mensch nach einem Gespräch anders aussieht als vorher?

Wir folgen Schiller:

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt, diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues ( architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondernder auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur, welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück, welches das Bildungsgeschäft der Natur vor jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grunde liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke, noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues  [← Achtung: im Gutenberg-Text steht an dieser Stelle sinnloserweise das Wort „Balles“] durch den Begriff, der demselben zum Grunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isoliert doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein rein ästhetisches Urtheil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn, sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann nie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur in sofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses Letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, welches einen Widersprach einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höhern Bestimmung ist; denn wäre dieses, so würde die nämliche Bildung aufhören, schön zu sein, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte; so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt; man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in sofern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung, zugleich mit den Bedingungen zusammentrifft, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

(Fortsetzung folgt)

Wenn man vielleicht etwas schockiert wahrgenommen hat (siehe Wikipedia-Artikel oben), wie realistisch „man“ in der Antike die Weiblichkeit einer Statue zur Kenntnis nahm,

Der Überlieferung zufolge war die Figur derart lebensecht, dass sich ein junger Mann in der Cella des Tempels einschließen ließ und mit ihr zu verkehren versuchte. Ergebnis dieser Bemühungen sei ein unauslöschlicher Fleck auf der Rückseite eines Oberschenkels gewesen, der offenbar tatsächlich vorhanden war und den Anlass zu dieser Erzählung gegeben haben könnte.

wird man auch Schiller leichter zugestehen, dass er die antike Kunst nicht nur unter dem Aspekt der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gesehen hat, und dass in seiner Zeit ebenso wie 100 Jahre später fortwährend das Frauenbild moralistisch justiert oder entmythologisiert wurde. Daher habe ich an dieser Stelle für mich auch andere Lektüren interpoliert, in denen es um die Bedeutung der Renaissance für die deutsche Klassik geht  und zugleich um die Gender-Motivik der heutigen Forschung. Z.B. in dem lesenswerten Buch Interkulturellr Transfer und nationaler Eigensinn Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften / Herausgegeben von Rebekka Habermas und Rebekka v. Mallinckrodt. Darin besonders interessant der Beitrag von Michael Wenzel über „Das weibliche Bildnis der Italienischen Renaissance“. (Siehe auch hier.)

  Wallstein Verlag ISBN 3-89244-731-4

  Flora, Frühling, Braut, Schauspielerin, Kurtisane?