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Rätsel Fußball

Ein Abend mit Bayer Leverkusen (6.Februar 2024)

Wie entsteht Wirkung? Nach diesem Spiel weiß man es wieder. So laut und wild es zugeht: es hat auch rituellen Charakter, der sich eher in der Kreuzung der Gesänge und Rhythmen spiegelt. Ich versuche, es auf dem Handy einzufangen, aber ich vermag es nicht. Vielmehr: ich kenne jemanden, der es besser kann. Ich helfe der Erinnerung visuell nach.

Fotos: ©JR

In Fußballsprache / Zitat:

Lange Zeit hatte Bayer Leverkusen vor 30.210 Zuschauer*innen in der ausverkauften BayArena große Probleme im Aufbau mit den Stuttgartern. Diese boten den Gastgebern Paroli und verhinderten klare Torchancen für B04. Eine Ecke brachte dem VfB die Führung: Angelo Stiller schlenzte den Ball von der rechten Seite an den zweiten Pfosten, wo Waldemar Anton recht frei zum Kopfball kam – und zum 1:0 einnickte (11. Spielminute). Weiterhin zeigte die Hoeneß-Elf ein bärenstarkes Spiel: Wenn sie in Ballbesitz waren, schalteten sie sofort gefährlich um. Erst in der Schlussphase nahm der Druck der Werkself nahezu minütlich zu – dennoch blieb es zur Pause beim 1:0 für die Gäste. Ohne Wechsel ging es weiter. Die Gastgeber kamen mit Schwung aus der Kabine und durften schon nach wenigen Minuten jubeln: Florian Wirtz flankte von der linken Seite nach innen, wo die Hereingabe nur vermeintlich geklärt wurde. Der Ball landete halblinks vor dem Sechzehner bei Robert Andrich, der anschließend im hohen Bogen über Keeper Alexander Nübel hinweg unter die Querlatte schlenzte (50.). Ein Traumtor! Als Bayer wenig später den Ball im Aufbau am eigenen Sechzehner verlor, ging der VfB dann durch einen Rechtsschuss von Chris Führich wieder in Führung (58.). Wieder glichen die Gastgeber aus, diesmal durch Joker Amine Adli, der halblinks im Sechzehner frei zum Abschluss kam (66.). Lange Zeit sah es ganz danach aus, als würde es in die Verlängerung gehen – ehe Jonathan Tah die Partie in letzter Minute per Kopf für Leverkusen entschied (90.). Die Aufstellungen: Bayer 04 Leverkusen: Kovar – Tapsoba, Tah, Hincapie – Frimpong (90.+3 Stanisic), G. Xhaka, Andrich, Grimaldo – Hofmann (63. Adli), Schick (63. Borja Iglesias), Wirtz (90.+3 Hlozek) Trainer: Xabi Alonso VfB Stuttgart: Nübel – Rouault, Anton, H. Ito – Vagnoman, Karazor, Stiller, Mittelstädt (70. Stergiou), Millot (62. Leweling), Führich (79. Dahoud) – Undav Trainer: Sebastian Hoeneß Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim) Kommentator: Moritz Zschau  

Nächstes Spiel: Samstag 10.02.24 um 18.30 Uhr Bayer Leverkusen gegen Bayern München

ST 9.2.24 S.9 Thomas Schulz „Der Fußballflüsterer“ Xabi Alonso

Ich habe mich schon mehrfach mit dem Thema theoretisch beschäftigt, und wiederhole, was ich damals u.a. auch zitiert habe:

Auch wenn Fußball von Menschen gespielt wird, entsteht seine Poesie nicht durch menschliche Handlungen allein. In die unvergesslichen Spiele mischt sich etwas ein, was über Menschen hinausgeht. Der Zufall lässt unfassbare Dinge entstehen: übermenschliches Gelingen, aber auch unbegreifliches Versagen. Eine geheimnisvolle Dramaturgie kann einen Spielverlauf hervorbringen, der die menschliche Phantasie übersteigt. Fußball ist freilich nicht mit den Schönen Künsten verwandt. Er ist ein rohes Geschehen und vollzieht sich im Augenblick, wie der Einschlag eines Meteoriten.

Und doch:

 Im Drama des Fußballs findet man Elemente, die wir von anderen Dramen kennen, von den Dramen des Theaters, des Films, der Politik. Anders als in diesen entsteht seine Poesie aus einem gemeinen Spiel, das sich von der hohen Kultur abkehrt. Die Abwehr gegen den hohen Ton, den guten Geschmack, die vergeistigte Haltung lässt sich nicht mit Begriffen beschreiben, die der Hochkultur entnommen werden.

Quelle Gunter Gebauer Poetik des Fussballs, Campus Verlag, Frankfurt / M. 2006 (a.a.O. Seite 8 und 9)

Interessant auch Otto A. Böhmer in der Wiener Zeitung 4.6.2016: „Als Heidegger Sein und Zeit vergaß„.

10.02.24 abends – Das Wunder ist geschehen! (Kein Wunder!)

Die letzten Minuten im Kicker-Ticker-TV

Was ist hier passiert???

Korrektur – hier

Wir „Migranten“ in Oberägypten

Ägyptern helfen, von Ägyptern lernen

von Hans Mauritz, Luxor, Januar 2024

„Assuan, Familienraum“ Foto ©Hans Mauritz

„Wer einmal Wasser aus dem Nil getrunken hat…“ Manchem Ausländer, der Ägypten besucht hat, ist Merkwürdiges geschehen: er hat sich verliebt in einen Menschen, ein Volk, eine Sprache, die Landschaft, die Kunst der Pharaonen. Er ist wiedergekommen, ist geblieben, monate- und jahrelang, ein ganzes Leben. Und weil der Wertverlust des ägyptischen Pfundes unsere europäischen Währungen so stark gemacht hat, konnten und können wir uns hier ein angenehmes Leben leisten. Übertriebene Sparsamkeit oder gar Geiz sollten für uns kein Thema sein. Das könnte man vermuten.

„Geiz ist geil“. Der Werbeslogan einer deutschen Elektrohandelskette, im Oktober 2002 lanciert, hatte unerwarteten Erfolg. Ähnliche Werbesprüche wurden in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien und Frankreich kreiert. Ein grosser Non-Food-Discounter machte Filialen auf, die den Namen „Mäc-Geiz“ trugen. Sogar ein Bordell auf der Hamburger Reeperbahn wählte den Namen „Geiz-Club“, weil es seine Dienstleistungen zu einem besonders günstigen Preis anbot. (1)

Diese neue Mentalität machte auch vor der Reisebranche nicht halt. Ein Tourismusunternehmen gab sich den Namen „Reisegeier“ und ermunterte seine Kunden , „Geizreisen“ zu buchen. Meinungsinstitute stellten ein „Geiz-Ranking“ auf, das zeigte, dass die Deutschen sich unter den europäischen Urlaubern als besonders geizig erweisen. (2)

Diese Kampagne hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Aber sie hat bewirkt, dass eine neue „Geiz-ist-geil“-Mentalität offen und schamlos zur Schau gestellt werden kann. „Supergeile Preise“, „Ausverkauf“, „Aktionen“, „Tiefpreise“, „sottocosto“ oder „Black Friday“ haben für manche Menschen eine existentielle Bedeutung bekommen. Es sieht so aus, als ob wir Deutschen ein Volk von Schnäppchenjägern geworden seien.

Dabei gilt doch der Geiz seit altersher in der christlichen Lehre als eine der Todsünden. Den Geizigen droht die Hölle. Im Alten Testament wird gesagt, dass „ein geiziges Auge die Seele austrocknet“ (Sir 14,9). Für Paulus ist der Geiz die Wurzel allen Übels und der Geizige ein Götzendiener. Augustinus definiert den Geiz als „Wahnsinn der Seele“. Der Kirchenvater Thascius Cäcilius Cyprian erklärte im 3.Jahrhundert: „Die Geizigen besitzen ihr Geld weniger als es sie besitzt. Sie sind Sklaven ihrer Schätze“ (3)

So wird die „Geiz ist geil“-Kampagne auch von heutigen Theologen verurteilt. Die Erzdiozöse Wien prangert den Geiz als Lebensverneinung an, und das Hilfswerk „Adveniat“ lanciert seine Gegenkampagne unter dem Motto“Geiz ist gottlos“. (4)

Wie die christlichen Kirchen geisselt auch der Islam dieses Laster. Der Koran preist den Frommen, der seinen Besitz hingibt, um sich zu läutern, und warnt den Geizigen und Selbstherrlichen vor dem lodernden Feuer (Sure 92). „Geiz und Glaube kommen im Herzen eines Muslims nicht zusammen“, sagt ein Hadith des Propheten.

  Ramadhan-Tafel Foto: ©Asmaa Waguih für Reuter

Weil der Geiz „harâm“ und Sünde ist, fordern beide Religionen vom Gläubigen, freigebig zu sein und einen Teil seines Reichtums für die Ärmeren zu spenden. Im Islam wird von ihm eine Spende verlangt, die 2,5 % des Einkommens betragen soll. Dieses Gebot der زكاة „Zakât“, einer der fünf Säulen des Islam, bedeutet „Reinheit, Lauterkeit“ und „Zuwachs“. (4a) Wer spendet, reinigt sich und bekommt einen Zuwachs an Wert. Gespendet wird vor allem im Fastenmonat Ramadhan. Die Vermögenden stellen für die Armen مائدة الرحمان (mâ’idet ar-rahmân), „eine Tafel des Barmherzigen“, auf. Man sieht dann ganze Strassen, in denen solche Tische aneinander gereiht sind. Weniger Reiche übergeben einem Armen aus der Nachbarschaft einen Geldbetrag.

Auch das Christentum verlangt, Almosen zu geben. Im Alten Testament heisst es: „Mit deinem Hab und Gut hilf den Armen und wende dich auch nicht von einem einzigen ab (…) Wo du kannst, hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich. Hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen.“ (Lutherbibel, Tobias 4)

  „Tod des Geizhalses“ von Hieronymus Bosch, 1494

Die Geizigen werden seit eh und je verspottet und verlacht, nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in der Literatur. Was wäre das Welttheater ohne jene Figuren, über die sich das Publikum seit Jahrhunderten amüsiert: Pantalone in der „Commedia dell’arte“, Volpone in Ben Jonsons gleichnamiger Komödie, Shylock in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ und Harpagon in Molières „L’Avare“. (5) Auch die arabische Welt spottet über „al-bakhil“, den Geizhals, und in der Literatur ist das „Kitâb al-Bukhalâ'“ (Das Buch der Geizigen) von al-Jâhiz zu einem Klassiker geworden.

Unter den erzählerischen Darstellungen des Geizes ist der Roman „Eugénie Grandet“ von Honoré de Balzac die berühmteste. Hier wird vor allem der Altersgeiz behandelt, ein Phänomen das letztlich auf der Angst vor dem Tod beruht. Der französische Moralist Vauvernagues nennt ihn „die letzte und tyrannischste unserer Leidenschaften“, und Schopenhauer meint, dass „das Geldraffen im Alter an die Stelle der abgestorbenen Lüste tritt.“ (6) Den Altersgeiz verurteilen zahlreiche Redensarten und Sprichwörter, europäische wie arabische. „Der Gedanke an den Tod macht knausrig, obwohl das letzte Hemd keine Taschen hat“. „Der gierige Mund wird nicht gefüllt, ausser mit der Erde des Grabes.“

 Detail aus „l’Avaro“, Druck von Antonio Piccinni, 1878

Grosszügig, edel und würdig

Das Gegenteil von „geizig“ ist in der deutschen Sprache „großzügig“, „freigebig“, „wohltätig“. Im Arabischen steht dafür das Adjektiv كريم (karím), das ein breites Bedeutungsfeld abdeckt. Es bedeutet auch „freundlich“, „gütig“, „gastfreundlich“, „vornehm“, „edel“ und „ritterlich“. حجر كريم „hagar karîm“ ist ein Edelstein, كاتب كريم „kâtib karîm“ ein berümter Schriftsteller. „karîm“ ist einer der 99 Namen Allahs, und „Karim“ oder „Abd-el-Karim“ und „Karima“ sind beliebte Vornamen. Das Adjektiv „karîm“ ist eines der am häufigsten gebrauchten Wörter der arabischen Sprache. In der nach ihrer Häufigkeit geordneten Rangliste des arabischen Wortschatzes (7) nimmt „karîm“ den Rang 381 ein. „Großzügig“ dürfte in einer Häufigkeitsliste der deutschen Sprache an einem wesentlich späteren Platz figurieren.

Die entsprechenden Substantive sind كرم (karam) und كرامة (karâma). „Karam“ bedeutet Großzügigkeit, Freundlichkeit, Güte, „karâma“ Ehre, Würde, Adel, Ansehen, Prestige. Dass beide Begriffe vom selben Stamm gebildet sind, deutet an, dass nur der Grosszügige ein edler, würdiger, angesehener Mensch sein kann. „(8) Großzügig, freigebig, wohltätig sein ist eine Grundbedingung für den Araber, der etwas auf sich hält. Der Geizhals dagegen ist ein gemeines, verächtliches Exemplar der Gattung Mensch.

Was Geiz und Großzügigkeit angeht, stimmen also die Urteile der europäischen und der arabischen Ethik weitgehend überein. Freilich nimmt freigebiges, wohltätiges Verhalten in der islamisch geprägten Welt einen weit höheren Rang ein als bei uns, und kaum jemand würde dort wagen, sich schamlos zu seinem Geiz zu bekennen. Das ethische Verhalten ist durch die Religion bestimmt, während der Westen weitgehend laizistisch denkt und handelt.

Unter den Fremden, die bei uns in Luxor leben, gibt es nicht wenige, die großzügig helfen. Ein Engländer baut auf der Strasse eine Schiefertafel auf gibt den Kindern des Dorfes Englisch-Unterricht. Diese machen begeistert mit, aber schliesslich kommen so viele, dass er den Unterricht einstellen muss, bis er einen Helfer findet, der die Aufgabe mit ihm teilt. Eine Dame aus Deutschland verschaffte sich gebrauchte Nähmaschinen und liess sie von der Egyptair kostenlos nach Luxor transportieren. So konnte sie mittellosen jungen Frauen helfen, sich einen kleinen Verdienst zu verschaffen. Einige der Niedergelassenen, freilich viel zu wenige, übernehmen Patenschaften, damit Kinder aus bescheidenem Milieu eine Privatschule besuchen statt die hoffnungslos überfüllten und wenig effizienten öffentlichen Schulen. Eine Dame, die vor ein paar Jahren verstorben ist, hinterließ ihr Erbe einem Hilfswerk, das sich um behinderte Kinder kümmert.

Geiz-Strategien

Leider engagieren sich längst nicht alle in solcher Großzügigkeit. Dabei gehört doch jemand, der in Europa bescheidene Einkünfte hat, in Ägypten zu den Reichen und könnte es sich leisten, einen Teil seines Reichtums abzugeben. Indessen hört man Sätze wie „Mach‘ bloss die Preise nicht kaputt“ oder „Hier ist ohnehin alles viel zu teuer“. Die Preise sind tatsächlich kaputt, denn für Ägypter ist wegen der Geldentwertung alles sehr teuer geworden. Der Fremde, der heute bis zu 50 ägyptische Pfund für einen Euro bekommt, lebt wie im Schlaraffenland. „Wir Europäer können die Probleme Ägyptens nicht lösen“, sagt eine andere Ausländerin. Recht hat sie, aber das heisst nicht, dass nicht jeder in seinem Umkreis sein Bestes tun kann. Im Restaurant hört man über das Trinkgeld diskutieren. „Geben wir etwas oder nicht? Sind 50 Pfund zuviel?“ Dabei wird ausgeblendet, dass 50 Pfund nur noch wenig mehr als einen Euro wert sind.

Um Geld zu sparen, hat sich einer dieser Fremden einen fast genialen Trick ausgedacht: er lehnt das Umrechnen einfach ab. Für ihn bleibt ein Pfund gleich einem Euro. Damit vermeidet er große Ausgaben und bleibt beim Schenken und beim Trinkgeld bei unglaublich kleinen Beträgen. Alle anderen wissen natürlich genau, wieviel ihre Währung wert ist. Im täglichen Leben schaffen sie es dennoch, dieses Wissen auszublenden. Der uneingestandene Geiz hat seine eigenen abstrusen Strategien.

Eine solche Sparsamkeit wird dadurch erleichtert, dass man über das Leben und die finanzielle Situation der Einheimischen wenig weiss und vielleicht wenig wissen will. Der Verdienst der Leute bleibt weit hinter der Preissteigerung zurück. Die Ärmsten verdienen 2000 Pfund (etwa 40 bis 50 Euro), was nicht mehr reicht, um ihre Familie zu ernähren.

Toleranz

Unwissenheit in Bezug auf die Einheimischen geht einher mit Unverständnis und Besserwisserei. Die Unterschiede im Leben und Denken zwischen Ägyptern und Ausländern sind riesengross. Es gibt Dinge, die wir Europäer nur schwer akzeptieren können. Aber als Gäste in diesem Land ziemt es sich, mit der Kritik zurückzuhalten. Es ist anzunehmen, dass die Einheimischen auch nicht alles verstehen und akzeptieren, was ihnen an uns auffällt. Wer miteinander lebt, muss Toleranz üben und sich bemühen, auch das Gute im Verhalten der Anderen zu sehen. Er wird erkennen, dass wir manches von den Ägyptern lernen können. Wer hier lebt, erkennt sehr schnell, wie gross die Anteilnahme untereinander ist. Wenn man sein Gegenüber nicht mit dem Vornamen anspricht, sagt man أخويا „akhûya“ (mein Bruder), عمّي „‚ammî“ (mein Onkel) oder حبيبي „habîbî“ (mein Liebling). Wer krank ist, wird sofort besucht. Wer hungert, wird unterstützt. Wer dringend Geld braucht, bekommt es geliehen, auch von Verwandten und Freunden, die selbst Schulden haben. Die Alten bleiben in ihrer Familie, verrichten kleine Aufgaben und haben die Gewissheit, ein sinnvolles Leben zu führen. Behinderte, Blinde und alte Menschen werden mit einer Zärtlichkeit behandelt, die wir fast als peinlich empfinden. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Trauerzelt aufgeschlagen, in welchem die Leute drei Tage lang zusammenkommen, kondolieren und schweigend dasitzen, wobei die Nachbarn für das Essen sorgen. Solche Kranken- und Kondolenzbesuche, „wâgib“ (Pflicht) genannt, können mehrmals in der Woche anstehen. Niemand beruft sich darauf, unabkömmlich zu sein. Für andere da zu sein, ist Pflicht, auch weil Einsamkeit das Schlimmste ist, das man sich vorstellen kann. „Wer allein ist, der hustet auch allein.“ Ein anderes Sprichwort sagt: „Sogar ein Frommer würde aus dem Paradies entfliehen, wenn er dort allein bleiben müsste.“ Dieses Bestreben, nicht allein zu sein, führt zu einem beständigen Bemühen um die anderen, in der Familie und der Dorfgemeinschaft.

  „Trauerzug in Ägypten“ Foto ©picture-alliance/Hervé Champollion/akg-image

Was manchem Fremden zu schaffen macht, ist die Religion und die Art, wie sie das Leben bestimmt. „Jetzt fängt der schon wieder an!“ ruft eine Touristin aus, als der Muezzin zum Gebet ruft, wie er es fünfmal am Tag zu tun hat. Eine andere Europäerin vergnügt sich damit, den Gebetruf „Allah akbar“ zu verballhornen, indem sie daraus „Ulla in der Eckbar“ macht. Wer Gast ist in einem Land, sollte den Glauben seiner Gastgeber respektieren, so gross auch seine Vorbehalte sein mögen. Dasselbe verlangen wir ja von den Fremden und Migranten, die bei uns leben. Wir sollten uns hüten, gängige Stereotype ungeprüft zu übernehmen. Einen fanatischen und gewaltbereiten „Moslembruder“ habe ich in den 25 Jahren meines Lebens hier noch nie erblickt. Der Glaube in Oberägypten ist stark geprägt vom Sufismus, der islamischen Mystik, die nicht das Dogma in den Mittelpunkt stellt, sondern die Meditation, das Gebet, den Gesang und die rhythmische Bewegung (9). Dieser Islam schenkt, das ist unverkennbar, den Gläubigen Sicherheit und Zuversicht. Aus den Gesichtern der Alten strahlt eine Gelassenheit, welche keine Angst vor dem Ende verrät.

„Kinder in Assuan“ Foto: ©Hans Mauritz

Wir Fremden sollten dankbar sein dafür, in diesem Land freundlich empfangen und verwöhnt zu werden. Viele Migranten und Flüchtlinge in Europa werden wohl weit weniger wohlgesonnen und tolerant behandelt als wir „Luxus-Migranten“ in Ägypten.

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Quellen

(1) Wikipedia, „Geiz ist geil“. Siehe auch Erzdiozöse Wien „Todsünde: Geiz und Enge“

(2) Heute.at: „Deutsche besonders geizig beim Reisen“

(3) Rosa Luxemburg Stiftung: „Geiz ist geil! Wieso auf einmal?“

(4) Wikipedia: „Almosen“ und „Zakat“

(5) Wikibrief: „Geizig“

(6) Rosa Luxemburg Stiftung, s. (3)

(7) Abdulghafir Sabuni, „Wörterbuch des arabischen Grundwortschatzes. Die 2000 häufigsten Wörter“, Helmut Buske Verlag, Hamburg 1988

(8) Vgl. Hans Mauritz, „Ägypten verstehen – seine Sprache erleben“, p.53 ff. (Kubri Verlag, Zürich 2016)

(9) ders., „Arabische Volksfrömmigkeit. Allahs Namen nennen“ http://s128739886.online.de/volksfroemmigkeit/ hier

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Veröffentlicht am 5. Februar 2024, am 85. Geburtstag des Autors Dr. Hans Mauritz (s.a. hier)

Herzlichen Glückwunsch, lieber Hans, „ad multos annos“ und lieben Dank für Jahrzehnte der Freundschaft, die – wenn ich es recht erinnere – in Langeoog1955 begann („Klingsors letzter Sommer“). Erinnerungsfoto von unserm Wiedersehen im Sommer 2010 in der Toskana:

Arabische Volksfrömmigkeit

„Allahs Namen nennen“

الذكر „Zikr“

Sufi-Rituale in Oberägypten

Ein Essay von Hans Mauritz

Wer als Tourist nach Luxor-Westbank kommt oder sich neu dort niedergelassen hat, wundert sich schon bald über ein akustisches Phänomen, das aus der Ferne zu ihm dringt: eine Art Sprechgesang, in schnellem Tempo vorgetragen, dann Lieder, oft mehrstimmig, schliesslich ein stossweises Ein- und Ausatmen, welches anzeigt, dass sich die Teilnehmer in hektischem Rhythmus hin- und herbewegen. Wenn er nicht völlig desinteressiert ist an den Traditionen seines Gastlandes, erfährt unser Neuling, dass man dies „zikr“ (auch „dhikr“ geschrieben) nennt und es sich dabei um ein wichtiges Zeugnis der Volksfrömmigkeit in Oberägypten handelt.

Das Wort „dhikr“ gehört zum Verbstamm ذكر يذكر (dhakara – yadhkur) „gedenken, sich erinnern, denken an, sich in Erinnerung rufen“. Das Substantiv bedeutet demnach „Erinnerung, Gedenken, Nennung, Anrufung Gottes, Nennung des Namens Gottes“ und bei den Sufis „unablässige Wiederholung bestimmter Worte oder Formeln zum Preise Gottes, oft von Musik und Tanz begleitet“. (Hans Wehr, „Arabisches Wörterbuch“ p.278f). Diese Zeremonie befolgt eine Aufforderung, welche der Koran an alle Muslime richtet. „Oh, Ihr Gläubigen! Gedenkt Gottes mit vielem Gedenken.“ (Sure 23,41) „Siehe, das Gebet hält vom Schändlichen und Verwerflichen ab. Doch das Gedenken Gottes ist wahrlich noch bedeutender.“ (29,45) „So gedenket meiner, damit auch ich euer gedenke.“ (2,152) أذكر الله „uzkur Allah“ (Gedenke Gottes!) steht auch häufig an Mauern geschrieben. „One can be close to Allah by frequently remembering Him with his lips and heart, even as he is busy with his daily tasks.” (https://islamonline.net/en/remembrance-of-allah-dhikr)

Fast noch wichtiger als die gemeinschaftliche Zeremonie, die laut und ekstatisch zelebriert wird und die man ذكر اللسان zikr al-lisân“, Zikr der Zunge nennt, ist eine meditative Übung, die ذكر القلب „zikr al-qalb“, Zikr des Herzens, genannt wird. Es geht dabei um ein immerwährendes Gedenken Gottes,دوام الذكر „dawwâm al-dhikr“, das inmitten anderer weltlicher Aktivitäten praktiziert wird. Um sich auf dieses Gedenken zu konzentrieren, wiederholt der Gläubige in vorgeschriebener Anzahl Anrufungsformeln wie الله أكبر „Allahu akbar“ (Gott ist grösser), الحمد لله „al-hamdu lilah“ (Gott sei Dank) oder سبحان الله subhân Allah“ (gepriesen sei Gott), wobei ihn der muslemische Rosenkranz beim Zählen hilft.

Der gemeinschaftliche, „laute“ Zikr, den man auch حضرة „hadhra“ nennt, „Anwesenheit, Teilnahme“, wird von Mitgliedern eines Sufi-Ordens ausgeführt, die als Derwische دراويش „darâwîsch“, sg. درويش „derwîsch“ bezeichnet werden. Das Wort stammt aus dem Persischen, bedeutet ursprünglich „arm“ und entspricht damit dem arabischen Wort فقير , „faqîr“. In der Tat gehören Armut, Bescheidenheit und Demut zu den Eigenschaften, die von den Sufis verlangt werden. Das Wortspiel فقري فخري faqrî fakhrî“ (meine Armut ist mein Stolz) drückt diese Lebenseinstellung in prägnanter Weise aus. In Ägypten bedeutet „derwisch“ einerseits „member of a Sufi order“, aber seltsamerweise auch „person not quite right in the head“ ( A Dictionary of Egyptian Arabic”, p.287) Dieser Ambiguität begegnen wir öfters, wenn von „Dhikr“ und sufistischer Mystik die Rede ist. Andere Bezeichnungen, die in der muslemischen Welt den Teilnehmer an Dhikr-Ritualen kennzeichnen, sind صوفي Sufi, عارف „‘ârif“ Wissender, عاشق, „‘âshiq“, Liebender, und سالك , „sâlek“, „Wanderer (auf dem Weg zu Gott)“.

Der Sprechgesang, in schnellem Tempo vorgetragen, mit dem jeder Dhikr beginnt, handelt von der Geschichte der jeweiligen Bruderschaft. In dieser سلسلة „silsila“, Kette, Reihe, Stammbaum genannten Aufzählung werden der Gründer des Ordens und seine Scheiche in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt, der bis auf die Person des Propheten und seiner Familie zurückgehen kann. Dieser Sprechgesang wird immer wieder unterbrochen von der „fâtiha“, dem muslemischen Glaubensbekenntnis. Der anschliessende Gesang, meist mehrstimmig von oft sehr schönen Männerstimmen vorgetragen, besteht aus Liedern aus der sufistischen Tradition. In den Texten, die auswendig gesungen werden, geht es um den Preis Allahs und um die Liebe zum Propheten und seinen Nachkommen. Das Repertoire dieser Lieder ist erstaunlich gross und variiert je nach Zusammensetzung der Gruppe. Der Gesang wird von Rahmentrommeln wie Bendir oder Daf und manchmal auch von der Rohrflöte und von Seiteninstrumenten begleitet. Er kann langsam und lyrisch anfangen, aber aus dem Rezitativ wird bald mehrstimmiger, rhythmischer Gesang, der mit Hilfe des Trommelwirbels ein frenetisches Tempo erreicht. So wird etwa das muslemische Glaubensbekenntnis لا الاء الّا الله „lâ ilâha illâ Allah“ „es gibt keinen Gott ausser Allah“ zu Beginn äusserst langsam vorgetragen, aber die Geschwindigkeit wird allmählich so gesteigert, dass Sänger, Trommler und Zuhörer in einen rauschhaften Zustand verfallen. Diese Ekstase entsteht noch einmal, wenn die Teilnehmer sich erheben, sich in einer Reihe aufstellen und ihren Körper nach links und rechts wirbeln lassen, während ihre Füsse fest am Boden stehen bleiben. Diese Ekstase wird gesteigert dadurch, dass sie Laute wie“ Allah hû“ „Gott Er“ oder „Allah hey“ „Gott ist lebendig“ ausstossen. Der Vorsänger, dessen Tremolo an einen Rocksänger erinnern kann, peitscht die Tanzenden in einen regelrechten Rausch hinein. „Du gehst an die Extreme mit deiner Stimme und deiner Seele“, hat einer der Derwische gesagt (qantara, sufismus-in-aegypten).

Einige dieser Derwische wirken ganz in sich gekehrt. Ihr Gesicht ist verklärt von einem Lächeln, das nicht von dieser Welt scheint. Sie können so sehr in Trance geraten, dass sie ins Wanken geraten und vom Scheich aufgefangen werden, um nicht ohnmächtig hinzufallen. Der Aufgefangene kann verärgert reagieren, wenn er auf diese Weise aus seinem Rausch gerissen wird. Er hockt dann, aufgewühlt und völlig erschöpft, mit gesenktem Kopf am Boden, bedeckt sein Gesicht mit einem Schal und verharrt unbeweglich in dieser Stellung, bis er den Rückweg in die Realität geschafft hat.

Dieser Zustand, in welchem man sich selbst vergisst, wird غيوبة genannt, „ghaiyûba“, „Ohnmacht, Bewusstlosigkeit, Trance“. Das Substantiv gehört zum Verbstammغاب – يغيب , der „abwesend sein, sich entfernen, entschwinden, untergehen (Sonne)“ bedeutet. Der Teilnehmer am Dhikr ist غائب عن الوجود „ghâ’ib an al-wugûd“, „abwesend, entfernt aus seiner normalen Existenz“. Er hat sich auf einen Weg gemacht, der wegführt von sich selbst, hin zu einer höheren Wirklichkeit. Was aus dem ekstatischen Singen und Tanzen entspringt, ist عرفان „‘irfân“, „Erkenntnis“, حقيقة „haqîqa“, Wahrheit, اطئنان „ith’nân“, Ruhe, Gelassenheit, Zuversicht, فناء „fanâ‘“ , Auslöschen des Selbst und توحيد „tauhîd“, Eins Werden mit Gott. Es ist nicht zu erwarten, dass alle Derwische diese zentralen Begriffe aus der Gedankenwelt der grossen Mystiker kennen. Die Rituale, die wir in Luxor erleben, sind sufistisch geprägte Manifestationen der Volksfrömmigkeit und der Dorfkultur. Die Teilnehmer kommen, weil das zur Tradition der Familie und des Dorfes gehört, weil sie schon als Kind von diesen seltsamen Tönen angezogen wurden und noch heute das Bedürfnis spüren, im Singen und Tanzen für Allah aus der Routine ihres Lebens und der Enge ihres Selbst auszubrechen.

Der Zuschauer bemerkt, dass oft auch geistig behinderte Männer zugegen sind. Für sie gibt es das Adjektiv مجنوب „magnûb“, pl. مجانب „magânib“, das „besessen, verrückt, irr“, aber auch „hingezogen, hingerissen, Mystiker und Derwisch“ bedeutet. Diese Ambivalenz ist typisch für Bezeichnungen, die mit Trance und Ekstase zu tun haben. Zwischen „entrückt“ und „verrückt“ herrschen fliessende Grenzen. Bei einem Behinderten, der regelmässig am Dhikr erscheint, fällt auf, wie stark er Musik, Rhythmus und Bewegung auf sich wirken lässt. Wenn die Ekstase ihn packt, verzerrt sich sein Gesicht, er macht wilde Bewegungen und reisst sich manchmal die Galabiyya vom Leib, so dass er in seiner schäbigen, durchlöcherten Unterhose dasteht. Die Umstehenden, die sich das Lachen nicht verkneifen können, haben Mühe, ihn wieder anzukleiden. Sie behandeln ihn jedoch ausgesprochen herzlich und zärtlich, indem sie ihm z.B. beim Trinken helfen, weil er das Teeglas nicht halten kann. Diese Hilfsbereitschaft und Zärtlichkeit kennzeichnen das Verhalten sufistischer Muslime. Nicht umsonst bekommt in Ägypten der geistig Behinderte den Ehrentitel „Scheich“.

Dhikr-Rituale finden regelmässig statt, vor dem Haus eines Scheichs, vor den Gräbern von „Heiligen“ oder bei Privatpersonen, welche die Derwisch-Truppe einladen, z.B. am Todestag eines Familienangehörigen. Vor allem aber begegnen wir solchen Ritualen an den Maulids (ägyptisch Mûlids), von denen es In Ägypten etwa 3000 gibt. Halb Wallfahrt, halb Jahrmarkt werden sie gefeiert, um an den „Lokalheiligen“ des jeweiligen Ortes zu erinnern. Diese frommen Männer wie Abou al-Haggag in Luxor oder Abou al-Gomsân in al-Qurna sind eigentlich keine „Heiligen“, denn der Islam kennt dieses Konzept nicht, sondern „Freunde Gottes“, ولياء الله , „Aulîa‘ Allah“). Diese beim Volk sehr beliebten Feste, die für den oberflächlichen Beobachter mit ihren Karussels und Verkaufsbuden unserer Kirmes gleichen, finden aus religiösem Anlass statt, aber die Stimmung, die dort herrscht, vor allem in der abschliessenden, „laila al-kabira“, kann ausgelassen und durchaus weltlich sein. Zu den grossen Mulids strömen bis zu einer Million Besucher herbei, und sie können beunruhigende und anarchische Formen annehmen. Der unüberschaubare Trubel und die in Ägypten sonst vermiedene Vermischung der Geschlechter können bei strengen Gläubigen auf Ablehnung stossen. Vor Jahren habe ich in Kairo erlebt, wie eine Frau ins Zelt der Derwische stürzte und mit hysterischer Stimme „harâm“ schrie. Die Mulids können auch bei der Obrigkeit Besorgnis auslösen. Noch vor wenigen Wochen wurde am Mulid Abou al-Haggag in Luxor der Umzug verboten, weil die Regierung Ausschreitungen von unter Drogeneinfluss stehenden Jugendlichen befürchtete.

Die Derwische gehören einer Bruderschaft an, an deren Spitze ein Scheich steht. Diese Sufi-Orden, die man طريقة tharîqa“ nennt, gehen auf eine Jahrhunderte alte Geschichte zurück. Das Wort „tharîqa“, im Plural „thuruq“, bezeichnet gleichzeitig einen solchen Orden wie auch den mystischen Weg, den man zurücklegt, um zur Wahrheit zu gelangen. Die Bruderschaft in unserem Dorf leitet sich her von Ahmed al-Rifa’i, einem irakischen Mystiker aus dem 12.Jahrhundert, dem Begründer des ältesten Sufi-Ordens der Welt. Er soll schon im jugendlichen Alter ein berühmter Prediger gewesen sein, zu dessen Auftritten mehr als Hunderttausend Pilger herbeiströmten. Al-Rifa’i wird vor allem wegen seiner menschlichen Qualitäten verehrt. Immer lächelnd, bescheiden, tolerant und geduldig widmet er sich den Kranken, den Waisen, den Blinden und sogar leidenden und verwundeten Tieren. Er ging auch zu den Leprakranken und wusch ihnen ihre Kleider. (https:en.wikipedia.org/wiki/Ahmad_al-Rifa’i)

Der geistige Führer der Bruderschaft wird Scheich شيخ genannt. Diesen Titel teilt er in Ägypten mit anderen, die im geistlichen, weltlichen oder sozialen Leben eine bedeutende Rolle spielen oder als weise und verehrungswürdig angesehen wird. Im täglichen Leben genügt es, alt an Jahren zu sein, um mit „Scheich“ angesprochen zu werden. Zwischen dem Scheich als Führer einer Derwisch-Bruderschaft und seinem Schüler, مريد „murîd“ genannt, besteht eine enge Beziehung. Bei der Begrüssung umarmen ihn die Schüler und küssen ihm die Hand. Der Scheich unserer Bruderschaft ist ganz und gar nicht der Ehrfurcht gebietende, gestrenge Mann, den wir uns vielleicht vorstellen. Er ist freundlich und leutselig, strahlt Güte und Verständnis aus. Seinen Titel hat er geerbt von seinem Vater und dieser vom Grossvater, über Jahrhunderte hinweg. Seine Funktion hat auch eine praktische Seite: er organisiert die „Sitzungen“, indem er per Handy die Derwische und Vorsänger zusammenruft. Auch dem Fremden fällt auf, welch sanfte, liebevolle Atmosphäre hier herrscht. Wir werden freundlich aufgenommen, so als sei man stolz auf unser Interesse an diesen Ritualen.

Erstaunlich ist, dass die kleine Schar von ein paar Dutzend Derwischen, die einmal oder mehrmals wöchentlich im Dorf zusammenkommt, um in Gesang und Tanz an Allah zu erinnern, in einem Zusammenhang steht mit Fakten und Ideen, die mehrere Jahrhunderte und Kontinente betreffen. Das lokale Ereignis hat seine Wurzeln im Sufismus الصوفّية „al-Sufîyya“, oder التصّوف „al-tasawwuf“, der islamischen Mystik, dem „geistigen Hintergrund von über 50 Millionen Menschen, von Marokko bis Südostasien.“ („Troubadoure Allahs“, p.64) Diese Sufis, deren Namen sich von dem wollenen Gewand ableitet, das sie einst trugen, haben in der Geschichte des Islams eine bedeutende Rolle gespielt und tun das auch heute noch. In Ägypten zählt man an die 80 offizielle anerkannte Sufi-Orden und schätzt, dass etwa 15% aller Ägypter einem Orden angehören oder mindestens regelmässig an solchen Ritualen teilnehmen. Diese Bruderschaften werden vom „High Council of the Sufi Brotherhoods“ geregelt und überwacht, erfreuen sich jedoch beim aktuellen Regime einer gewissen Sympathie, weil man sie als ein Gegengewicht zum fanatischen und oft gewalttätigen Islamismus betrachtet ( „Mulid.Sufi Festival in Egypt“, https: jujusounds.com/2019/09/29).

Im orthodoxen Islam aber stossen die Sufis mit ihren Dhikr-Zeremonien und ihren Mulids auf Missbilligung und Ablehnung. Eine meiner Bekannten, die sich von ihrem ägyptischen Partner zum Dhikr fahren lässt, erzählt mir, wie er sie jeweils rasch aussteigen lässt und mit zorniger Miene davonfährt. Zwischen streng orthodoxen Muslimen und Sufis besteht eine tiefe Kluft. „Glauben“, sagt ein Theologe, „heisst denken, nicht singen und tanzen“, und ein Sufi-Scheich antwortet: „Glauben, das sind nicht Gesetze – das ist dein Herz“ (Simon, p.222) Für orthodoxe Theologen ist Frömmigkeit vor allem Beachtung von Pflichten und Verboten. Sie betonen die äussere Form der Religion, الظاهر („al-zâher“), während bei den Sufis die innere, verborgene mystische Bedeutung ihres Tuns, الباطن („al-bâthin“), zählt. Dabei könnte sich dieser Widerspruch zwischen شرعية (shar’îa) (Gesetzmässigkeit) und طريقة („tarîqa“), dem mystischen Weg, auflösen, wenn es gelänge, beide Aspekte zu vereinigen: „Die tarîqa, der schmale Pfad der Mystiker, kommt aus der scharîa, der breiten Strasse des Gesetzes (…) Nur wer beide Wege geht, erreicht das dritte Stadium, haqîqa, die Wahrheit, die Weisheit, oder ma’rifa, die Erkenntnis“. (Simon, p.229)

Gegner der sufistischen Mystik sind vor allem die Salafisten, eine Reformbewegung, die alles verdammt, was in ihren Augen den strengen Monotheismus verletzt. Für sie sind Mulids und Dhikr-Rituale بدعة , „bid’a“, Ketzerei, unerlaubte Erneuerung und Abweichung von der reinen Lehre. Die Verehrung von „Heiligen“ verstösst gegen den Monotheismus, und Musik, Gesang und Tanz sind unvereinbar mit der religiösen Praxis. In Saudi-Arabien, wo das religiöse Leben vom Wahhabismus geprägt ist, werden die Lehren der Sufis als شرك „shirk“ verurteilt, als Götzendienst und Polytheismus. Verfolgt wurden sie auch im Iran unter dem Ajatollah-Regime und in Pakistan unter den Taliban. (wikipedia.org/wiki/Sufismus) Von solcher Gewaltanwendung ist auch Ägypten nicht verschont geblieben. So forderte im November 2017 der Anschlag der Islamisten des IS auf eine von Sufis besuchte Moschee auf dem Sinai mehr als 300 Tote. (BBC News, 28.11.2017). Diese feindliche Haltung erstaunt nicht: ein mystisch geprägter Islam, der die Menschen sanft, freundlich und tolerant macht, ruft bei Fanatikern Ablehnung, Verfolgung und Gewalt hervor.

Auf Ablehnung stossen die Mulids und die Dhikr-Zeremonien auch bei Angehörigen der westlich orientierten Mittel- und Oberschicht. Wer in europäisch geprägten Vierteln der grossen Städte lebt, wer in der modernen, von den Medien, vom Internet und von der englischen Sprache beherrschten Arbeitswelt zu Hause ist, empfindet Jahrhunderte alte Rituale und volkstümliche Festlichkeiten als rückständig und unvereinbar mit dem Image eines modernen Staates, das Politiker und Wirtschaftsführer der Welt präsentieren wollen. Erstaunlich ist, dass man gerade in diesem Milieu neuerdings ein wachsendes Interesse an sufistischen Lehren und Praktiken beobachtet. Ein gewisses Unbehagen an der modernen Welt treibt an zur Suche nach alternativen Wegen. Ähnlich erklärt sich wohl auch die Hinwendung zum Sufismus bei uns im Westen, die beeinflusst ist von Phänomenen wie „life style“ und „new age“.

Wer die Derwische des Rifa’iyya-Ordens im Dorf besucht, hört mit Verwunderung, dass diese Bruderschaft berühmt war wegen ihrer exzentrischen Praktiken der Selbstgeisselung und Selbstverletzung. Sie sollen Glassplitter hinuntergeschluckt haben, in brennende Öfen gekrochen sein und sich die Wangen mit scharfen Drähten und Spiessen durchbohrt haben. (https://en.wikipedia.org/wiki/Rifai) Auch von Schlangenbeschwörungen und Ritt auf Löwen wird berichtet. Einmal im Jahr, in der „laila kabira“ des Mûlids kurz vor Beginn des Ramadhan, werden die Zuschauer von heute Zeugen eines erstaunlichen Spektakels: Derwische, mit Spiessen bewaffnet, führen eine Art Kampf auf und legen sich dann wie Tote auf den Boden, jeder zwischen die geöffneten Beine seines Vorgängers, die Spiesse zwischen den Zähnen in ihren weit geöffneten Mündern. Der Scheich springt auf die Bäuche der Daliegenden, freilich gestützt von zwei Kameraden, so dass sein Gewicht abgemildert wird. Danach spielt sich dasselbe Ritual noch einmal ab, mit dem Unterschied, dass er, wiederum abgestützt. von Schulter zu Schulter „springt“. Wer nach dem Sinn dieser Zeremonie sucht, erfährt, dass es sich um eine symbolische Aufführung des „dawsa“-Ritus handelt. Das Substantiv دوسةgehört zum Verbstamm داس يدوس „zertreten, zertrampeln“ , und das „Dictionary of Egyptian Arabic“ verzeichnet es als „Sufi ceremony in which the sheikh walks upon the necks of his followers“ (p.312). Ursprünglich soll der Scheich auf einem Ross über die Daliegenden hinweg geritten sein, um den Anwesenden Gelegenheit zu geben, Zeugen der كرمات, „karamât“, „heiliger Wundertaten“ zu werden, indem er erlebt, dass die Daliegenden den Ritus unverletzt überstehen. Obwohl solch exzentrische Rituale seit Jahrzehnten kaum mehr praktiziert werden, zeigt ihre pantomimische Aufführung, dass die Derwische des Ordens auch heute noch mit einem gewissen Stolz zu ihrer Geschichte stehen.

Literaturhinweise

Annemarie Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik“, C.H.Beck, 2000 hier

Karl Günter Simon, „Islam. Und alles in Allahs Namen“, GEO , Hamburg 1988

La Rifa’iyya ou la voie des pratiques extatiques”, https://albayane.press.ma (?)

Albanie. Le Zikr des Rifaï, confrérie soufie de Tirana hier

“Mulid. Sufi Festival in Egypt“, https://jujusounds.com/2019/09/29 (hier) Text von Luka Kumor (Video: hier)

“Troubadoure Allahs”, Text und Konzept: Peter Pannke, München 1999

https://de.qantara.de/inhalt/sufismus-in-aegypten-zwischen-revival-und-reaktion hier

Sufismus (Wikipedia) hier

Ahmad al-Rifa’i hier

Who are Egypt’s Sufi Muslims? BBC News, 28.11.2017 , by Ghada Tantawi

Luxor, 18.4.2023 Hans Mauritz

(das obige Vimeo, dem auch die Fotos entnommen sind, wurde vom System mit dem Namen des Bearbeiters versehen. Das authentische Material stammt natürlich vom Autor H. M.)

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Hinweis zum Literaturhinweis

Edition 1999

Heute vielleicht nur noch auf diesem Wege hier.

Mozart und die Anmut eines Tempels

Gefrorene Musik?

Ja, dieses Fragekürzel bezeichnet die Ausgangslage bzw. den möglichen Diskussionspunkt. Wer war es denn, – Schopenhauer, Schelling oder Valéry -, der gesagt hat, Architektur (samt deren Ableger Bildhauerei) sei gefrorene Musik. Ich bin zum Widerspruch aufgelegt, obwohl ich gern über die Differenz nachdenke. Zumal wenn man beim Musikhören an größere Formen denkt, die man im Sinn hat, Figuren in einem gedachten Raum.

Wer weiß, ob ich nicht in Wirklichkeit an ein ganz anderes Tempelchen gedacht habe, bei uns im Bergischen Land. Die waldreiche Landschaft spielt mit. Weitläufige Wanderungen.

Kein griechischer Tempel

Ich erinnere mich an die begeisterte Lektüre eines rororo-Bändchens mit Gedichten von Paul Valéry und die Essays in Form sokratischer Dialoge: Die Seele und der Tanz / Eupalinos oder Der Architekt. Erworben im Nachklang meiner Schulzeit, die 1960 endete (u.a. mit starker Wirkung der AG Moderne Lyrik bei Karl Ernst Nipkow), – entdeckt und zerlesen seit einem Langeoog-Urlaub (Insel-Bücherei Krebs) im August 1962. Die Seeluft gehört dazu, wenn auch bei Valéry wohl  immer die mediterrane gemeint ist.

PHAIDROS [erzählt von einem Achitekten namens Eupalinos, der u.a. folgendes äußerte]:

Ich bin geizig mit Träumen. Wenn ich mir etwas vorstelle, ist es schon immer, als führte ich etwas aus. Niemals mehr betrachte ich in dem unabgegrenzten Raum meiner Seele jene eingebildeten Bauwerke, die in bezug auf wirkliche Gebäude das sind, was die Schimären und Gorgonen darstellen im Verhältnis zu wirklichen Tieren. Aber das, was ich denke, läßt sich ausführen; und das, was ich ausführe, geht auf ein Einsehen zurück . . . Und dann . . . Höre, Phaidros (sagte er mir noch), der kleine Tempel, den ich einige Schritte von hier für Hermes gebaut habe, wenn du wüßtest, was er für mich bedeutet! – Wo der Vorübergehende nichts sieht als eine elegante Kapelle – eine Kleinigkeit: vier Säulen, ein sehr einfacher Stil, – da habe ich die Erinnerung an einen lichten Tag meines Lebens untergebracht. O süße Verwandlung! Dieser zarte Tempel, niemand ahnt es, ist das mathematische Bildnis eines Mädchens von Korinth, das ich glücklich geliebt habe. Er wiederholt getreu die besonderen Verhältnisse ihres Körpers. Er lebt für mich! Er gibt mir zurück, was ich ihm gegeben habe . . .

– Deshalb also ist er von so unerklärlicher Anmut, erwiderte ich ihm. Man fühlt wirklich in ihm die Gegenwart einer Person, die erste Blüte einer Frau, die Harmonie eines entzückten Wesens; er erweckt ungefähr eine Erinnerung, die es nicht bis zu ihrem Umriß bringen kann; und dieser Anfang eines Bildnisses, das du in seiner Vollendung besitzest, hört nicht auf, die Seele zu stechen und zu bestürzen. Wenn ich mich meinen Gedanken überlasse, so möchte ich ihn, weißt du, vergleichen mit einem Hochzeitsgesang, in den sich Flöten mischen, und ich fühle ihn in mir aufkommen.  (. . . . )

Ich kann dir nur andeuten, welche Wahrheiten, wenn nicht Geheimnisse du da eben gestreift hast, da du mir von Musik sprachst, von Gesängen und von Flöten im Hinblick auf meinen jungen Tempel. Sag mir (da du so empfänglich bist für die Wirkungen der Architektur), hast du nicht beobachtet, wenn du dich in dieser Stadt ergingest, daß unter den Bauwerken, die sie bevölkern, die einen stumm sind, die andern reden, und noch andere schließlich, und das sind die seltensten, singen? – Diese äußerste Belebtheit geht nicht von ihrer Bestimmung aus oder von ihrer allgemeinen Gestalt, ebensowenig wie das, was sie zum Schweigen zwingt. Das hängt ab von dem Talent ihrer Erbauers oder vielmehr von der Gunst ihrer Musen.

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Wollen Sie wissen, warum ich im Titel Mozart genannt habe? Es hat keinen tieferen Sinn, ich dachte an Werke wie das Klarinetten-Quintett – z.B. hier – , hören Sie doch in diesem Sinne genau bis 1:24 und weiter ab 1:24 sehr liebevoll zu: diese mehrfach verschlungene Linie, und ganz besonders, wie sie sich verfärbt, sobald die Klarinette sie übernimmt. Und nehmen Sie mein Bild des kleinen Tempels nicht zu verpflichtend, vielleicht wäre die Assoziation eines Gesichtes, eines Antlitzes, viel angemessener.

Wikipedia hier

Wie geht eigentlich Bildhauerei?

War es 1960? Jedenfalls in Berlin, dort musste ich „die Nofretete“ zum erstenmal realiter gesehen haben, deren Halslinie ich gedanklich – vielleicht dank eines Lehreres – schon immer mit Mozart verband. Greifbar in Berlin-Dahlem. Ich weiß nicht genau, seit wann mich das wirklich interessiert hat. Kann aber noch nachvollziehen, wie schwer es damals war, die einfachsten Fragen zu beantworten. Man musste es tun, ehe der Eifer erlahmte. Und wenn man glaubte, etwas gefunden zu haben, was detaillierter war als das gängige Konversationslexikon, so bedeutete dies: ABSCHREIBEN. Ich saß endlos in Bibliotheken und schrieb ab. In Berlin gab es ein riesiges Amerika-Haus, wo ich z.B. auch das Standard-Werk von Carl Flesch übers Violinspiel kennengelernt habe. Später in Köln das Johannishaus (an der Machabäerstraße, die vom Hbf. zur Musikhochschule führte). Erst 5 Jahre später konnte man einigermaßen preiswert kopieren. Ein Freund kopierte mir seitenweise aus dem MGG, meist mit vielen verschmierten Fehldrucken, Grundlegendes über Arabische Musik. Aber viel früher, aus dem Jahrfünft des Abschreibens, entstanden die folgenden Blätter (und ich weiß, weshalb ich heute das gewaltige Werk über Michelangelo besitze), das Interesse an „gefrorener Musik“ ließ nie nach. Rodin war ebenso schuld wie Rilke, obwohl beide hier nicht vorkommen.

  Titelbild des Katalogs: Uräusschlange in Bronze (Spätzeit). Uräus siehe unten Papier 2.

Die handgeschriebenen Papiere fand ich also jetzt wieder in dem Katalog, den ich einst bei einem Besuch in Hannover gekauft hatte: Aegyptische Kunst. Und ich erinnere mich, dass ich in der Mensa der Kölner Hochschule von Zeitungsberichten erschüttert wurde, in denen es um die Flutung von Riesenstatuen in Oberägypten ging, – der Assuan-Staudamm war im Bau. Heute kostet mich die genauere Information einen Klick. Ist es Zufall? (natürlich nicht): ein Schulfreund aus der alten Zeit schrieb mir vor drei Tagen aus Luxor:

(…) Bei mir ist es der Wechsel zwischen Toskana und Orient, und hier in Ägypten sind es die Menschen, die, von Armut, Perspektivlosigkeit und Zwängen bedrängt, trotz allem ihr Leben und ihr Zusammensein geniessen. – So, und jetzt lasse ich mich von einem Tuktuk an den Nil verfrachten, hocke am Ufer, blicke hinüber auf den Luxortempel und den Winterpalast von König Farûk, auf die bunt bemalten Boote und die Schiffe, die vorübergleiten, und auf die Felder mit all den Eseln, mit denen mich eine gewisse Seelenverwandtschaft verbindet.

*     *     *

Ich will mich nicht in uferlosen privaten Reflexionen verlieren, – was mich damals interessierte, waren ja auch recht einfache Fragen. Zum Beispiel: wie wurden vor 14 Jahrhunderten Skulpturen geschaffen? Wie arbeitete man am härtesten Material, das zur Verfügung stand, und schuf bleibende Menschenfiguren, mit denen man sich in aller Unschuld identifizieren konnte? Wie entstand Ähnlichkeit, wie wurde das widerspenstige Material fügsam gemacht, sah man längst die Gestalt im Gesteinsblock, ehe sie geformt wurde, wie es im Fall Michelangelo behauptet wurde. Man konnte ja nicht mit einem Gerippe beginnen, dem man Schicht um Schicht von außen zusetzt, bis es endlich um die feinsten Feinheiten der Außenhaut geht. Tonfiguren werden halt anders geschaffen als Marmorskulpturen. Aber wie war es bei den alten Griechen: haben sie ihre Plastiken von vornherein anders als die Ägypter gesehen und zusammengesetzt, zuerst die Beine und die Statik, den Torso, die Schulter, die Extremitäten usw. Und den Kopf? Natürlich alles aus einem Stück! Oder? Ich wusste nicht einmal, ob die wunderbare Nofretete als Kopf einer Statue geplant war. Nur ein Modell? Hat man sich je mit Köpfen zufrieden gegeben?

Vielleicht muss ich die damals abgeschriebenen Papiere noch einmal mit der Tastatur bewältigen, um mir die naiven Fragen von einst zu vergegenwärtigen. Bewältigt ist ja überhaupt nichts. Bredekamps mächtiger Buch-Block über Michelangelo steht dort drüben im Schrank und soll noch abgetragen werden, aber mich auch verbinden mit den Fragen, die sich vor 50, 60 Jahren quasi von selbst gestellt haben…

Ich kann natürlich auch das Internet bemühen, ich weiß, ich weiß … siehe oben. Und nochmals:

Hier betrifft es den Einzelfall Nofretete (insgeheim von mir globalisiert: ich denke an Mozart, an das Klarinetten-Quintett, aber an welches Thema? Oder an das Ganze? Ist ein Thema – oder ein Kopf – die Exposition des Wesentlichen auch schon ein Ganzes? )

Abschrift der obigen handgeschriebenen Blätter

Rudolf Anthes: Die Büste der Nofretete – Ehemals Staatliche Museen Berlin / Verlag Gebr.Mann Berlin 1960

Seite 10 [Versuch eine Sehhilfe]

Papier 1

… Das Werkverfahren des ägyptischen Bildhauers erforderte, daß auf den Flächen des rechtwinklig behauenen Steinblocks das Formgerüst der Figur aufgezeichnet wird, die der Künstler gleichsam herausholen will aus dem Blocke. Er sieht und gestaltet sein Werk also von vornherein in senkrechter Blickrichtung genau von den vier Seiten und von oben her. Das bedeutet nicht, daß ihm die Übergänge gleichgültig wären, oder gar, daß wir als Beschauer die Schrägansicht ägyptischer Skulpturen vermeiden sollten, in denen sich doch die plastische Feinheit besonders gern offenbart. Aber den Aufbau einer ägyptischen Figur können wir aus den flächigen Ansichten der Vorderseite und des Profils am sichersten begreifen.

In diesen Ansichtsseiten wird eine Besonderheit unserer Büste unmittelbar augenfällig, nämlich der Gegensatz zwischen der drückenden Last der Krone und der aufstrebenden Schlankheit des tragenden Unterbaus. Dieser Gegensatz kommt vor allem in der Seitenansicht zur Geltung durch den Druck nach vorn des massigen Oberteils und die nachgiebige, aber feste Vorneigung des Halses. Ein gelungenes Wagnis des Bildhauers ist der fast rechtwinklige Zusammenstoß dieser Kräfte im Nacken. Der Künstler traut der Kohäsion des Steines bis an die Grenze des Möglichen; R.J. [?] zeigt in seiner oben mitgeteilten Besprechung der Büste, daß durch die Verwendung von Gips das gefährliche Übergewicht der Krone etwas vermindert worden ist. Der ägyptische Bildhauer hat diesen Versuch offenbar mit voller Absicht durchgeführt. Das können wir daraus schließen, daß diese Nackenfüllung, die das Gewicht der Krone auffangen würde, sonst in der ägyptischen Skulptur gern stehen gelassen wird, keineswegs nur in statisch bedenklichen Fällen, so bei der Königsbüste des gleichen Bildhauers Thutmose.

Papier 2

Die beiden von oben nach unten und nach vorn zueinander drängenden Kräfte können wir in das Antlitz der Büste hinein verfolgen. Zum Beispiel wird in der Vorderansicht die durch Haarbinde und Uräus aufgelockerte Kronenmasse vom Stirnband aufgenommen und vermittels der Augenbrauen abgeleitet über den Nasenrücken zum Munde, der vom Kinn leicht getragen wird; dagegen aber führen die Mundwinkel- und Nasenlippenfalten die Umrißlinien des Halses und seine aufsteigenden Muskel weiter hinauf, über die Nase zu den Augenbrauen, über denen das Stirnband lastet. Im Profil ist schon durch den scharfen Winkel im Nacken die Kreuzung der beiden Wirkungskräfte augenfällig, da Krone wie Hals das Antlitz voll umgreifen. Diese Beispiele können nur andeuten, auf welchem Wege die Vielfältigkeit der formalen Beziehungen an dieser Büste gefunden werden kann, denn solche Betrachtungsweise erschließt notwendig immer weitere Einblicke. Dabei wird das Kunstwerk in jeder Hinsicht verständlicher. Den strengen Aufbau des Gesichtes, der zunächst gekünstelt erscheinen mag, schreiben wir nun nicht mehr der Laune des Künstlers zu, sondern wir verstehen, daß er wohl notwendig zur Einordnung in das Gesamtwerk gehört; ja, ein Gesicht, das wie dieses als Feld der Begegnung von Kräften und Massen dient, muss wohl eine gewisse Strenge zeigen, kann schwerlich einem jugendlichen Menschen angehören. Die zarte Plastik der Wangen macht nicht nur das Gesicht besonders lebensvoll, sondern wir erkennen, daß sie auch zu den aufbauenden Kräften des Kunstwerkes gehört. Mit den Farben können wir uns jetzt leichter befreunden, denn sie unterstreichen die plastische Bedeutung von Krone und Halsschmuck, Mund und Augen. Die Büste ist uns nicht mehr der oberste Teil einer Menschenfigur, die nach Belieben ergänzt werden könnte, sondern ein in sich abgeschlossenes, aus seinen eigenen Kraftquellen lebendes Gebilde. Sie ist nicht nur eine Vorlage für Bildhauergehilfen, sondern in erster Linie ein vollkommen gelungenes Meisterwerk.

Papier 3

Wie bei den Reliefbildern (von?) vor Amarna finden wir bei der Büste der Nofret Ete eine lebendig bewegte und kaum lösbare Verbindung der Bildteile durch die Form als ein Mittel zur seelischen Vertiefung. Solche durch Bewegung oder andre Wirkungskräfte beseelte Komposition ist nun aber nicht etwa kennzeichnend für die ägyptische Kunst in allen Zeiten ihrer 3000-jährigen Geschichte, sondern eine Stileigentümlichkeit der Amarnazeit und des ihm folgenden Jahrhunderts. –

S.21 : Der ägyptische Bildhauer dieser und der älteren Zeit gestaltet sein Bildwerk frei aus dem Stein unter Verwendung von Vorzeichnungen und Hilfslinien auf dem Werkstück. Diese freie Bildhauerei kommt auch im Abendland vor, z.B, in der archaischen Zeit Griechenlands, und sie wird auch von einigen Bildhauern unserer Tage angewandt. Carl Blümel (Griechische Bildhauer an der Arbeit, Berlin 1840 S.16) beschreibt sie folgendermaßen: „Der Bildhauer geht von vier Seiten an seinen Block heran und zieht mit seinem Meißel eine dünne Steinschicht nach der anderen herunter; und bei jeder Schicht, die er von der Statue ablöst, kommen jedesmal einige wenige neue Formen hinzu. Das Ausschlaggebende ist aber, daß der Bildhauer jedesmal eine ganze Schicht rings um den Block herunternimmt. . . So wird dieselbe Figur, angefangen von dem viereckigen Block bis zu ihrer endgültigen Fertigstellung, mindestens hundertmal ganz modelliert, zu Anfang nur mit wenigen Formen, dann immer reicher, runder und lebendiger bis zum endlichen Abschluß. Ist es da wohl verwunderlich, daß von einer solchen griechischen Skulptur soviel Energien ausstrahlen, da der Bildhauer sie bei jeder Schicht immer wieder neu  durchdacht und gleichsam mit neuen Kräften geladen hat?“

( ↔ Sonst meist erst Tonform oder Gipsabguß durch Punktierungverfahren in Stein übertragen.)

Soweit die Papiere aus dem Jahr 1960 (Beginn des Musik- und Germanistikstudiums in Berlin)

Zu Carl Blümel siehe auch Hermes des Praxiteles Wikipedia hier.

*     *     *

Es bedarf sicher gar nicht dieser mehr als 60 Jahre zurückliegenden Vorgeschichte, um interessierten Menschen zu erklären, was an dem gewaltigen Michelangelo-Buch von Horst Bredekamp so faszinierend ist. Es gilt ja mit Recht einem einzelnen Menschen, der für eine ganze Welt der Formen einsteht, in der man nicht „von Natur“ zu Hause ist. Ich kann jedenfalls von mir nur sagen, dass ich einmal vor dem „DAVID“ in Florenz auf und ab gegangen bin, auch gestaunt habe. Aber eigentlich nichts gesehen habe! Ich ahnte, dass ich mich tagelang auf diese Konfrontation hätte vorbereiten müssen. Aber ein solches Buch wie dieses gab es noch nicht. Und hier ist nur der Anfang der David-Geschichte, nicht der Moses oder die Pietà, gar nicht zu reden von dem Riesen-Gemälde der Sixtina. Nein, was für eine riesige Verpflichtung ist man mit dem Erwerb des Buches eingegangen! Sofern man sich wirklich einmal hinein vertieft hat. Ich würde heute aber wohl auch mitten drin beginnen:

Ich muss nur die nächsten Kapitelüberschriften wiedergeben, um das Ausmaß der kunstwissenschaftlichen Erschließungsarbeit anzudeuten. Oder etwas mehr: wie der DAVID sich ins Leben des Künstlers einfügt:

Und hier der Wikipedia-Überblick, der auch schon ein Anfang wäre…

ZITAT Bredekamp

Wie akribisch Michelangelo jeden Zentimeter [des Marmorblocks] auszunutzen suchte, ist an der Linie abzulesen, die vom linken Knie bis zum Handrücken der linken Hand verläuft. Sie muss die Außenfläche des Marmorblockes gebildet haben. In der Seitenansicht zeichnet sich somit die flache Kastenform des Blockes ab, wie sie in Carrara gebrochen worden war.  (…)

Angesichts dieses relativ schmalen, von Agostino verschlagenen [!] Blockes wird die sich tief in die Materie hineindenkende Vorstellunbgskraft Michelangelos ersichtlich. Die Treppenmadonna und die Kentaurenschlacht hatten seine Technik gezeigt, sich dem Block zu überlassen und die in ihm latent mögliche Form aufzurufen, um dieses Innenbild im Prozess des Skulptierens immer wieder zu verändern. Diese Abkehr von festgelegten Modellen hatte ihn bei den frühen Arbeiten zu Detailfehlern verleitet; nun aber befähigte ihn das eingeübte Suchen nach Alternativen, jene Vision zu entwickeln, die den verloren geglaubten Block retten sollte: als Drehung um die Längsachse. Aus alldem ist abzuleiten, warum Michelangelo am 9. September 1501, Tage vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn, mit wenigen Schlägen den Mantelknoten des alten Giganten beseitigte. Da er die inneren Möglichkeiten des Marmors wie niemand vor ihm auszuloten verstand, konnte er die Vorderseite von Agostinas David in eine Rückseite verwandeln, und damit nahm er die Statue in den Besitz seiner Vorstellungskraft.

Quelle Horst Bredekamp: Michelangelo / Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2021 / Zitat Seite 132

Es ist der Ton und die Methode des Vorgehens: das Wesentliche folgt noch, aber was einen bannt, ist das allmählich wachsende Verständnis für die einzigartig lebendige „Seelengestaltung“ in dieser steinernen Gestalt. Man sieht endlich, was man sieht. Ja, und wer zuerst – immer noch leicht peinlich berührt – nur sieht, dass diese mächtige männliche Figur schamlos nackt ist, wird auch diese Kühnheit Michelangelos, die dem Studium der Antike zu verdanken ist (!), ausführlich behandelt finden. Im unten gegebenen Wikipedia-Link wird man nebenbei auch mit einer fortwirkenden Feigenblatt-Auffassung des 16. Jahrhunderts konfrontiert, die erst 1873 verschwand. Lächeln Sie ruhig. Zum Ausgleich gibt es auch demonstrativ (?) androgyne Personen auf Darstellungen der Heiligen Familie, fast, als habe es gegolten, heute aktuellen Gender-Themen zuvorzukommen.

Weiteres siehe bei Wikipedia hier.

Ägypten Luxor Street Art

Impressionen aus einem wirklichen Leben

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_essays_street_art.html hier

Glück in Ägypten: Scheich Hans

Aus dem Alltag von Scheich Hans

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_kultur_arbeiterdorf_deirelmedina.html hier

(Besonders interessant seit dem Terra X-Film über die Pyramiden und insbesondere über das zugehörige Arbeiter-Dorf!)

Zeitung Berlin 1935

Ein Zufallsfund

„Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929-1939“ (Florian Illies). Viele Episoden spielen in Berlin. Als Ergänzung zum Buch sollte man vielleicht die Filme, das Herzenslied mit Marta Eggerth oder auch nur die eine Zeitungsseite jener Jahre ganz ernst nehmen, so zufällig das alles aussieht…

Eine Zeitungsseite, die sich in einem alten Buchexemplar von Curt Sachs befand, dem Handbuch der Musikinstrumentenkunde (1920), aus dem ich – es an beliebiger Stelle aufschlagend – etwas ganz Neues lernte, „wie vom Blitz getroffen“: woher kommt das Wort „Inventionshorn“? Bitte eine schnelle Antwort. Nachfrage: was hat es – sagen wir – mit einer Bach-Invention gemeinsam? Antwort: (natürlich nichts, nein, noch weniger!) siehe ganz am Ende dieses Artikels.

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Alle Namen und Filme sind im Internet greifbar, u.a. der Zeitungsmacher Scherl, der Schachmeister Friedrich Sämisch, natürlich auch Hans Hickmann (!) oder der Sänger Leo Slezak, den mein Vater in seiner Berliner Zeit als Korrepetitor am Klavier begleitet hat. (Vielleicht nur beim Üben? Jedenfalls hat der ihm die Bücher „Meine sämtlichen Werke“ und „Der Wortbruch“ mit Widmung überreicht.)

Hier noch eine Geldüberweisung von Artur an seine Schwester Ruth in Berlin, die einst meine liebe Patentante werden sollte, die ihm damals wohl das Göschen-Buch über die „Technik der deutschen Gesangskunst“ von Hans Joachim Moser (!) nach Belgard (an der Persante) übersandt hatte; und den Beleg konnte er als Erinnerungs- und Lesezeichen verwenden.

Moser war in den 5oer Jahren durchaus Gesprächsthema bei uns zuhaus, ich studierte seine Bücher, mein Vater „flachste“ über seinen „blumig-barocken“ Sprachduktus (1954), sie lasen Mosers Liebesroman über Robert Schumann und Clara, von Tante Ruth bekam ich die Musikgeschichte (1), die ich sorgfältig zu studieren versuchte, von meinen Eltern die „Musikgeschichte in hundert Lebensbildern“ (2), – aber niemals gab es bei uns das Thema NS-Zeit, die noch nicht weit zurücklag, in fernster Ferne.

(1) (2)

Das Fragezeichen am Rand des zweiten Buches stammt von mir, ich wurde gerade 14, die Seitenzahl 167 bezieht sich auf einen lächerlich ähnlichen Satz im Monteverdi-Artikel:

Im Sommer 1643 besuchte er zum Abschiednehmen die Stätten vergangener Tage in Cremona und Mantua, kehrte dann nach Venedig zurück und schlummerte nach neuntägigem Krankenlager im Spätherbst in das Reich jenseitiger Harmonien hinüber.

Ja, der Musikwissenschaftler Moser war durchaus ein Romantiker. Aber seine Tätigkeit im untergegangenen diesseitigen Reich holte ihn doch immer wieder ein…

Und ich blieb ziemlich ahnungslos, obwohl ich Dostojewskij (und Tolstoi) las. Aber das war ja ein ganz anderes Jahrhundert…

*     *     *

Was war nun mit dem Horn bei Curt Sachs? Folgt gleich, aber es gab noch viel mehr. In dem Buch fand sich nicht nur die Zeitungsseite, die jemand aufbewahrt hat, sondern auch noch eine Postkarte, die ich ablichte, um nun Sie zu veranlassen nachzuschauen, wer Hermann Diener ist, – geht er uns was an??? Ist es wichtig zu wissen, dass er kurzzeitig bei Bram Eldering (s.a. hier) Violinunterricht hatte, jedoch in Berlin 1955 infolge eines Unfalls beim Schlittschuhlaufen gestorben ist? Oh Gott, ich fürchte, dass es auf dem Schlachtensee geschah, den ich kennenlernte, als ich 1960 bei Doris Winkler Gesangsunterricht hatte, der Lehrerin von Elfride Trötschel, die ich vom „Dulcissime“ der Carmina Burana-Platte kannte, die mir mein Onkel Hans geschenkt hatte. Alt, und ohne Hülle. Jeder Punkt eine Geschichte für sich…

 

Ich fürchte auch, dass diese Geschichte kein Ende nehmen will, – die Karte gehört, wie der Poststempel erzählt, schon ins Zeitalter der Werktätigen, warum schreibt denn Hermann Diener an Dr. Peter Wackernagel?

Soll ich aufhören? Das Buch stammt dem Besitz meines Freundes Christian Schneider, der es von seinem Vater geerbt hat, Prof. Michael Schneider, und diese Spur führt nach Berlin, wo er von 1958 bis 1965 lehrte, bevor er nach Köln kam…

Und nun ist der Inhalt der aufklappbaren Postkarte fällig, eine Einladung folgenden Inhalts:

Ewald Vetter und Paul Bildt

Das Collegium Musicum Hermann Diener dient … ja, mein Gott! er dient und dient u.a. der Verbindung von  Musik und Malerei, und das Thema erwischt mich auch nicht zum ersten Mal. Gestern allerdings ganz ohne Musik, nur eben dieselbe Zeit beschwörend. Oder vielmehr – die der Generation vorher, Aufbruchszeit des großen Musikwissenschaftlers Curt Sachs, der seine Dissertation über Andrea del Verrocchio geschrieben hat. Formenwelt der Musik und der Malerei. Gemeinsamkeit! HIER.

Antike Musik im Arte-Film

Was gibt’s Neues?

Gesucht: Der Soundtrack der Antike (2021)

Link s.u.

Pressetext

Es war eine spektakuläre Entdeckung für die Wissenschaft: Der Papyrus, der unlängst im Depot des Louvre wiedergefunden wurde, scheint eine antike Partitur zu sein. Die Doku begibt sich auf eine Reise zu den geschichtsträchtigen Stätten von Delphi und Pompeji, um längst verloren geglaubte Klangwelten hörbar zu machen.

In den letzten 30 Jahren hat sich ein Zweig der Altertumsforschung dank neuer digitaler Technologien und interdisziplinärer Ansätze enorm weiterentwickelt: die Musikarchäologie. Ihr Ziel ist es, die Musik der Antike zu entdecken. Von den sagenumwobenen Stätten Griechenlands bis zu den Tempeln von Dendera in Ägypten, vom geheimnisvollen Delphi bis Pompeji: An zahlreichen bedeutenden Schauplätzen der Geschichte wurden die Überreste alter Instrumente wie Harfe, Tamburin, Aulos und Cornu gefunden. Sie sind ebenso unterschiedlich wie eindrucksvoll dokumentiert, etwa durch Mosaike, Keramiken und Statuen, auf denen überraschend häufig Szenen des Musizierens abgebildet sind. Einige Quellen geben außerdem Aufschluss über die Funktion der Musik in den Hochkulturen Ägyptens, Griechenlands und im Römischen Reich. Schon in der Antike begleitete Musik die Menschen in vielen Lebenslagen, von der Geburt bis zum Tod, ob im Krieg oder bei religiösen Ritualen, zu politischen Zwecken oder auch nur zur Unterhaltung.
Die Dokumentation stützt sich zum Beispiel auf antike griechische Partituren. Ihr Notationssystem konnte mit Hilfe eines Textes entschlüsselt werden, der dank der Kopisten des Mittelalters zumindest in Teilen überliefert wurde: Alypios‘ „Einführung in die Musik“.
Einige Fundstücke haben den Musikarchäologen nun ermöglicht, den jahrtausendealten Partituren Leben einzuhauchen: die Seikilos-Stele, die nahe Ephesos in der Türkei gefunden wurde und auch „das älteste Lied der Welt“ genannt wird, oder die Hymnen an Apollon, die an den Wänden Delphis entdeckt wurden. Und nicht zuletzt der Papyrus, der vor einigen Jahren im Depot des Louvre wieder auftauchte. Er bildet den Teil einer Arie aus der Tragödie „Medea“ ab. Eine faszinierende Forschungsreise auf den Spuren antiker Klangwelten rund ums Mittelmeer.

https://www.arte.tv/de/videos/093649-000-A/gesucht-der-soundtrack-der-antike/

HIER (abrufbar bis 25.8.2021)

Ein Film von Bernard George, Produzent: Olivier de Bannes / Namen und Begriffe: Laurent Capron, Annie Bélis (Musikarchäologin), Sylvain Perrot (Historiker CNRS), Tabellen des Alypios, Seikolos Säule 7:00, Konstantinos Melidis, (Universität Zypern), Ausgrabungsstätte Delphi 8:55, Hymnen an Apollo 128 v.Chr. Ensemble Kerylos 40 Sänger + Instrumentalisten 9:50 Text des Papyros „Glauke“, „Medea“, „Iason“, Euripides, Goldenes Vlies, Version Louvre Medea, Zeugnisse über Stimmübungen 14:00, 2. Jhdt. n.Chr., Aristoteles, Autor Karkinos 375 vor Chr., also viele Male kopiert, Wettbewerbe, Konstantinos Melidis, Satyros von der Insel Samos, Pythische Spiele, „Flötenspieler“ Stefan Hagel spielt Seikoloslied auf „Aulos“ (Aulos-Link hier) 19:20 Stefan Hagel in Wien 21:21 das Rohrblatt!!! Darstellung aus der klassischen Periode 22:22 Ägypten-Expedition Napoleons 23:36 Sibylle Emerit „Rero“ (?): Stimme, Ton, Lärm

24:50 „Geräusche galten als Ausdruck des Lebens, während Stille mit dem Tod verbunden war. Um gegen diese Stille anzukämpfen, legten die Ägypter manchmal Musikinstrumente in die Gräber.“

Anita Quiles (Datierung antiker Musikinstrumente), Rekonstruktion Harfe durch Susanne Schulz, Berlin 27:50 Gabunischer Harfenspieler 31:21

Rekonstruktion Wiedererweckung 

33:00 Tempel der Hathor (nördl. von Luxor) hier, 34:15 Sistrum, „Sobald etwas dargestellt wird, ist es lebendig“, Klang im Tempel und was außerhalb hörbar ist, Nähe zur Gottheit? 38:00 Pompeji, Isistempel, ägyptische Musik ist von Bedeutung, Sistren, Christophe Vendries (Rennes), griechische Kultur, Haus des Menander, Tibia, 41:00 Stefan Hagel, Wandmalereien, Theaterstücke des Terenz mit Tibia-Spieler,

43:20 „typische römische Trompeten“ in Pompeji, „Cornu“, Nachbauten im Brüsseler Instr.museum, Géry Dumoulin, Ircam, Klang des Cornu 49:00 zurück zum Papyrus, Annie Bélis, Amphitheater von Arles, Medea von Karkinos, Frédéric Albou singt, Medea als Bass! – Nachspann / 53:01 Kommentar: Antonia Mohr.

die Trompete „cornu“ beim Militär der Trompeter als Gladiator digital rekonstruiert Aufführung der „Medea“