Zu Claus-Steffen Mahnkopfs Essay in Musik & Ästhetik Jan.2025
Der Autor bezieht sich auf Adornos Abhandlung über die „ominösen schönen Stellen“ (1965) und präsentiert eine eigene Auswahl von 10 Stellen. Die folgende Liste gibt Gelegenheit diese Auswahl im Selbsttest zu überprüfen. (Im „Experiment“ sollte der ganze Mahnkopf-Text zur Verfügung stehen.) Im übrigen beginne ich nur probeweise einen Kommentar, unter dem Vorbehalt, den ganzen Beitrag zuletzt als misslungen zurückzuziehen.
Vorweg kann ich sagen, dass mir Mahnkopfs Begriff von dem, was für eine „schöne“ Stelle gelten soll, viel zu allgemein gefasst scheint. Er dürfte sich nicht auf Kunst überhaupt beziehen, nicht einmal auf jedes ebenmäßige Gesicht: ein solches Gesicht würde ich der Einfachheit halber einfach „ebenmäßig“ nennen, vielleicht noch hervorheben, dass es nicht „durchschnittlich“ sei. Ich könnte behaupten, dass Mozart immer schön sei, und könnte trotzdem in den Werken einzelne (besonders) schöne Stellen benennen. Schön im emphatischen Sinn. Nicht expressiv, nicht aufregend, nicht bedeutungsvoll aufgrund einer Geschichte, die dazugehört. Ich beschränke mich aber auch nicht unbedingt auf die gern beschworenen Gänsehaut-Momente, die sich physiologisch einstellen – wie bedingte Reflexe. Ihre Schönheit muss einer Prüfung standhalten. Sie dürfte nicht rein privater Natur sein. Zum Beispiel an einen Kuss in der Bar Kolibri erinnern, wo dieselbe Musik lief. Stichwort Pawlowscher Reflex.
s.a. hier
In der Tat verliert sich Mahnkopf nicht im Allgemeinen, man kann auf den Punkt genau erkennen, was er meint. Aber nur weil er es so genau aufzeigt. Ist er aber deshalb besonders glaubwürdig? Dank ostentativer Subjektivität unangreifbar?
Wenn ein Barpianist vor sich hinklimpert und plötzlich aber unauffällig übergeht zu Robert Schumanns Original „Träumerei“, so horcht jeder Musikkenner auf, – oh wie schön:, ja wirklich, aber wo denn? was meint er genau, zahllose aufsteigende Dreiklänge hat er schon genügend hingeperlt, daraus kann er keinen „Schöne Stelle“-Effekt machen, sondern erst in dem Augenblick, wo er auf dem Subdominant-Akkord B-dur innehält, das ist er, und rückwirkend erkennen wir auch dass er vorbereitet war: er lag in der Luft, und sein Tastenanschlag und das Innehalten lässt Zeit, ihn zu würdigen. Eine Art Umarmung. Fast kein Mensch kannn sich einer solchen Umarmung entziehen, vorausgesetzt, er hat die Normalität vorher, den Tonika-Dreiklang – vielleicht dunkel – wahrgenommen, auch noch als Teil des Wohlfühlgeklimper. Dieses neue Gefühl des Besonderen verliert seinen Effekt, wenn es taktweise so weitergeht, mit immer neuen, „besonderen“ Zielakkorden, es weicht einer behaglichen Wahrnehmung des Variablen, vielleicht auch neuer „Momente“. Die ganze „Träumerei“ ist die Ausbreitung einer schönen Stelle durch geschickte Mischung mit dem Verweilen auf der einen Stelle, auf der man einschlafen, aber auch träumen kann, je nach Ruhebedürfnis.
Ein fast willkürlich ausgewähltes Beispiel. Es fordert zum Spott heraus, wie viele schöne Stellen, wenn sie sich auf mechanisch erzeugbare, „billige“ Effekte zurückführen lassen. Es sei denn, ich beginne mit deren Rechtfertigung und dem Nachweis, dass es sich bei meiner Wahrnehmung um etwas Besonderes handelt, das vielleicht nur von mir erkannt wird, weil ich es als einziger hervorheben kann. Die andern, denen es gezeigt werden muss, sind bereits von vornherein degradiert.
Es ist nicht immer so einfach wie bei Wagner, wo man behauptet, die Masse der Bayreuth-Enthusiasten warten nur auf die Stellen, wo das gesamte Blech ihm auf die Sprünge hilft.
1)
Glenn Gould spielt (sich selbst). Sein Willkür-Staccato interessiert mich nicht, auch wenn es dem „Virginal“ nachempfunden ist.
Wer spielt hier? Einer, der im Jahr „2000 den Gramophone Early Music Award für die Gesamteinspielung des Werkes für Tasteninstrumente von William Byrd“ erhalten hat.
2)
Claudio Arrau spielt Mozart
Um diese Stelle soll es gehen:
3)
4)
Wagner Götterdämmerung „Wachsende Morgenröthe“ bis „Voller Tag“
ab 17:46 / bei 20:30 sind wir mitten auf der abgebildeten Seite, deren letzte Zeile die gemeinte „Stelle“ wiedergibt (Siegfried-Motiv)
5) Kann man das Mundharmonika-Motiv von der Spannung des Countdown-Moments trennen? Es ist so oft durch – als bedeutungsvoll erkennbare Zitate – mit Bedeutung aufgeladen worden, und jetzt wieder durch die Ankündigung und Auflösung des Rätsels, dass wir die Segel des Widerspruchs streichen.
„Aber die wirkliche Gänsehautstelle kommt am Ende.“ – „Der Film hat seine Erlösung gefunden.“ Vom „Dingsymbol“ eines perfiden Mordes und dessen „grandioser Rache“ ist die Rede…
Man darf die grandiose Kitschmelodie nicht vergessen, die gleichzeitig ihre Rechtfertigung als Hymne erfährt. Widerspruch erlischt angesichts der Ernsthaftigkeit der Situation, die psychologisch unbefriedigt bleibt. Angesichts der unaufgelösten Tragik (auch der zweite „Gute“ stirbt und der einsame, auf ewig Ungetröstete reitet davon) schweigt die private Kritik.
6)
John Cage: 4’33“ Hier Wikipedia zum Klavierstück von Cage
Dies kann nicht die Bedeutung einer emphatisch schönen Stelle einnehmen, es lebt allein von dem Bewusstsein, dass Stille – die Pause – in der Musik eine wichtige Rolle spielen kann, aber eben in der Musik, von der sie lebt. Und selbst wenn das Stück von Cage als einziges pro Abend aufgeführt würde, bezieht es seine Wirkung aus der Tatsache, dass sonst an diesem Orte und in dieser Situation Musik aufgeführt wird.
7)
htps://www.ardmediathek.de/video/ard-klassik/janacek-sinfonietta-symphonieorchester-des-bayerischen-rundfunks-simon-rattle-br-klassik/ard/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNjk3NTc
Hier der Anfang ist gemeint, die seltene Klangfarbe der Bläser, die Wirkung der sonst seltenen Quintparallelen. Wahrscheinlich kommt die besondere Wirkung des Anfangs daher, dass man sich bei Beginn an ein früheres Hörerlebnis mit demselben Stück erinnert. Man weiß, dass er nicht trügt.
8)
im folgenden bei 6:oo
also: die „Stelle“ in der hohen Klarinette, Übergang von der einen Zeile in die nächste = Sturz des Icarus (?)
9)
im folgenden auf 21:40 der letzte Schlag mit dem Holzhammer, – kann man ihn im Ernst als „schöne Stelle“ aufffassen?
10)
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KOMMENTARE
zu 2)
Ich frage mich, ob der Autor die Noten betrachtet und den Neubeginn in A-dur reflektiert hat oder ob er durch eine Aufnahme angeregt wurde, dem Auftakt mit Cis soviel Gewicht beizumessen. Arrau dehnt den Ton keineswegs, er lässt sogar die dolce-Vorschrift außer Acht, nähert die Tonstärke bereits dem nachfolgenden forte, und im piano danach scheint er das Cis in Frage zu stellen, um beim nächsten Ansatz im forte das C etwas grob zu rehabilitieren, ich will nur sagen – mit andern Worten – der Dur-Auftakt war nicht die Sensation, die klanglich auszukosten wäre – dafür ist gar keine Zeit -, sondern eine gewisse Unschlüssigkeit wird „insinuiert“. Unversehens sind wir in E-dur, eine fast glückliche Lösung, wie früher schon die anderen Dur-Tonarten (F-dur und C-dur). Ich fürchte, die Über-Interpretation des Auftakt-Cis war voreilig und der bloßen Imagination überm Papier geschuldet: am Klavier bindet man sich damit einen Klotz ans Bein, mit dem die folgenden Takte nichts zu schaffen haben wollen. Glückliches E-dur, das ist tatsächlich ein „Sprung in eine andere Landschaft, mit hellerem Licht, klarerer Luft und sonniger Wärme“, wie der Autor schreibt, – aber den ganzen darauf folgenden Text kann er ersatzlos streichen, ganz besonders die Metapher, dass der Finger das alles aus dem einen Ton „mit einer leichten Schwungbewegung erstreicheln“ muss.
Anderes Beispiel, das glaubwürdiger zeigt, wie Mozart den Kontrast Dur / Moll – wirklich interpretierbar – in Szene setzt.
Mozart Violinsonate KV 304 in e-Moll
Eine Stelle, über die ich staune, seit ich die Sonate spiele. Letzter Satz, die Pause im Dur-Teil, 4 Viertel Pause nach einem irrational (!) verlängerten Halbschluss. Ein Innehalten, das so nicht voraussehbar war. Auch die vier eingeschobenen Überleitungstakte vor dem Dur-Teil sind nicht notwendig. Mozart macht sich die Mühe, unsere Ohren zu öffnen. Dadurch wird einem bewusst, – ebenso wie später durch die Überlänge der Pause -, was für ein Wunder dieser Teil in Dur ist, der ganze Satz, die ganze Sonate.
folgende Aufnahme ab 8:42
8)
Man beschreibe jemandem die „schöne Stelle“ in diesem Werk und stelle ihm die Aufgabe, sie beim Durchhören des ganzen Werkes zu benennen (wiederzuerkennen). Fehlanzeige.
Auch mit Mahnkopfs Hinweis, dass es dort „so etwas wie einen Genuss des Klanges“ gebe, ja „anfänglich fast tonal, mit einem übermäßigen Dreiklang (e, gis, c), aber mit einem Viertelton im tiefen Cello, höheren a, Vierteltontritonus unter e, und einem Schatten eines f im Vibraphon.“
Selbst mit Noten in der Hand und einem hilfreichen Rippenstoß – – – zu Hilfe!!!!
Was immer hilft, ist der lebende Anblick der Künstler bei der Arbeit.
9) Kann man sich den absoluten Schlussmoment überhaupt als „schöne Stelle“ vorstellen, hervorgehoben aus allem, was bis dahin für wachsende Spannung gesorgt hat?
Ich kann mich nur an wenige Schlussakkorde erinnern, die zum Abschluss eine Unvergesslichkeit präsentieren.
Z.B. In einer Brahms-Sinfonie, wo ein kurzer Schlussakkord unerwartet Raum lässt für die ausgehaltene Terz zweier Hörner, die durch nochmaligen Schlussakkord das Tutti-Ende lautstark besiegelt. Oder der hohe, einsam durchklingende Ton der Solo-Violine im langsamen des Violinkonzertes. (?)
Oder im H-dur-Schlussakkord des „Tristan“, der nur noch die chromatische Auflösung des Hauptmotivs abwarten muss, mit dem er – scheinbar unauflösbar – begonnen hat.
Ich könnte aber auch die Luftpause des Dirigenten nach dem Abschlag nennen, mit der er den Anfang des Beifalls aufschiebt.
10) Fidelio … die Stelle „Töt‘ erst sein Weib“
(Fortsetzung folgt)