Archiv für den Monat: August 2015

Nachthelle

Letzte Nacht in Aufderhöhe a Vergangene Nacht in Aufderhöhe

Wetter Gegenwärtiger Sonnentag

Schubert-Rekapitulation:

Die Nacht ist heiter und ist rein,
Im allerhellsten Glanz:
Die Häuser schaun verwundert drein,
Stehn übersilbert ganz.

In mir ist’s hell so wunderbar,
So voll und übervoll,
Und innen waltet’s frei und klar,
Ganz ohne Leid und Groll.

Ich fass‘ in meinem Herzenshaus
Nicht all‘ das reiche Licht:
Es will hinaus, es muß hinaus, –
Die letzte Schranke bricht!

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Unsere Freundschaft begann mit Schubert: ich hatte die von Hans Winking produzierten Aufnahmen der Schillerlieder mit Prégardien und Staier („Schöne Welt, wo bist du?“) in einer Radiosendung hervorgehoben, das war wohl 1994, und er rief mich spontan an. Er war ein guter Kollege, ein aufmerksamer, kritischer und einfallsreicher Gesprächspartner. Jetzt ist er am 18. August 67jährig überraschend gestorben. Er hatte Energie für weitere 20 Jahre.

Winking 15.3.2013 Im Bürgermeisterhaus Essen-Werden März 2013

Unser letzter Kontakt: er hatte in meinem Blog gelesen, dass ich plante, die Bayreuther Tristan-Übertragung live am Computer zu hören. Per Mail kam am 7. August seine launige Warnung:

Tristan?

… im Fernsehen. Und dann noch dirigiert von diesem Herrn Thielemann und zu allem Überfluss auch noch inszeniert von dieser Katharina W. Nee, nee, nix für mich. Das Stück ist viel zu gut, um so verramscht zu werden. Vielleicht kann man es auch garnicht inszenieren. Ich für meinen Teil, mein lieber Jan, sitze zwar z.Zt. noch in Essen-Werden, werde mich aber heute am Abend in einem Wiener Beisl mit einer schönen Frau befinden…

Herzliche Grüße, bis bald mal? Bin am Dienstag wieder hier.

Hans

Leider hat es kein Wiedersehen gegeben. Nur die Trauerfeier am 26. August in Essen-Werden.

Warum diese Musik? Siehe hier. (Hans Winkings Moderation in „Mein Lieblingsstück“.) Leider nicht mehr abrufbar…

Vom Theater

Werke des klassischen Kanons und Event-Inszenierungen

Ich beziehe mich auf den Beitrag „Fiktion und Gefühle„, auch auf Gedanken, vielleicht nicht einmal notierte, die sich beim Opernkonsum der letzten Zeit ergaben („Tristan und Isolde“, „Fidelio“). Ein Beitrag von Peter Laudenbach in der heutigen Süddeutschen ist bemerkenswert.

ZITAT

Der Abschied vom psychologisch-realistischem Spiel, der Guckkastenbühne samt der Gewissheit, auf ihr die großen Konflikte verhandeln zu können, scheint bei der trendbewussten Fraktion der Theatermacher Konsens zu sein. Was einst der Freien Szene als Herausforderung der Klassiker-Pflege der Staatstheater begann, ist dabei, zur neuen Konvention zu werden. Es wird Zeit, die Verlustrechnung aufzumachen. Dazu gehört etwa, dass an einem mittelgroßen Theater wie dem Schauspiel Dortmund in dieser Spielzeit keine einzige Klassiker-Premiere stattfindet. Dazu gehört auch, dass kluge, in der Konzentration auf Werke des Kanons konservative Inszenierungen, die [der] Kraft und der Kunst des Theaters vertrauen, seit dem Tod Jürgen Goschs und Dimiter Gotscheffs Seltenheitswert haben.

(…)

Die Grenzen zwischen Theater und Event-Agentur verschwimmen.

Das ist kein Grund für Kulturpessimismus. Aber man kann die Entwicklung ja mal in einen breiteren Kontext stellen. Nichts anderes versucht Bernd Stegemann so angriffsfreudig wie klug in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Lob des Realismus“ (Verlag Theater der Zeit, 212 Seiten, 18 Euro). Stegemann (…) versucht auf hohem Abstraktionsniveau ästhetische und politische Ereignisse zusammen zu denken – zum Beispiel den Zwang zur konsequenten Selbstvermarktung im Neoliberalismus und die neueren Performance-Moden.

Der „Umbau des Subjekts zum Performer seiner selbst“ findet nicht nur auf der Bühne statt, sondern ist in weiten Teilen der Dienstleistungsbranchen die Kernqualifikation der Arbeitskräfte. So gesehen vollziehen die Performer, in der Regel unter prekären Arbeitsbedingungen, freiwillig nach, was in der Realökonomie unter Zwang geschieht.

Quelle Süddeutsche Zeitung 28. August 2015 Seite 12 Die Tatortreiniger Hat das Theater seine Herkunft vergessen? Klassiker sind abgemeldet, Psychologie ist uninteressant, der Guckkasten wird abgebaut – stattdessen spielen Bürger und Flüchtlinge. Ein Plädoyer für mehr Geschichtsbewusstsein auf deutschen Bühnen / Von Peter Laudenbach

Wenn ich mich nicht irre, steckt in den zuletzt zitierten Sätzen ein Gedanke von Adorno, der an dieser Stelle einmal nachzulesen sein sollte.

Da ich ohnehin mehr an das Musiktheater denke als an die klassischen Stücke des Worttheaters, fasziniert mich der ketzerische Gedanke, dass man auch in Bayreuth endlich eine geheiligte Grundlage des Illusionstheaters aufgeben müsste: das versenkte Orchester, das längst von der Funktion und Gegenwart der Musik im Film überholt wurde, endlich wieder aus dem „mystischen Abgrund“ hervorzuholen. Es würde bedeuten, Wagner die Treue zu halten, indem man das totgelaufene Dogma des unsichtbaren Orchesters „verrät“, d.h. radikal offenlegt, den wahren Klang ins Licht setzt.

So wie es ein (von der ZEIT) zum Bayreuth-Beobachter ernannter Außenseiter namens Navid Kermani vor drei Jahren begründet und gefordert hat: hier. Warum kam das nicht längst von den Musikern der ganzen Welt? Ja, „das Orchester muss aus dem Graben“ – und kann dann endlich für Fernsehübertragungen ideal mikrofoniert werden. Und die Sänger? (Was weiß ich – nicht ihretwegen hat Wagner das Orchester versenkt…).

Tristan BR Screenshot 2015-08-07 18.22.52(2) Der Guckkasten

Der Philosoph am Meer

An manchen Tagen genügen wenige Worte und man fühlt sich mit allem einverstanden, was sich damit assoziieren lässt. Und nur dieses halte ich fest und verweise – zur Ausnüchterung – auf den vollständigen Artikel:

Das Meer selbst war von ihm, dem Philosophen, zum philosophischen Lehrmeister ausgerufen worden: – Das Meer ist die anschauliche Gegenwart des Unendlichen, hatte er geschrieben. Unendlich die Wellen. Immer ist alles in Bewegung, nirgends das Feste und das Ganze in der doch fühlbaren unendlichen Ordnung … Das Wohnen, das Geborgensein ist uns unentbehrlich und wohltuend. Aber es genügt uns nicht. Es gibt dieses andere: Das Meer ist seine leibhaftige Gegenwart. Es befreit im Hinausgehen über die Geborgenheit, bringt dorthin, wo zwar alle Festigkeit aufhört, wir aber nicht ins Bodenlose versinken. Wir vertrauen uns dem unendlichen Geheimnis an, dem Unabsehbaren – Chaos und Ordnung …

Otto A. Böhmer schreibt über den Philosophen Karl Jaspers, nachzulesen in dem Internet-Magazin Faust-Kultur, samt Rückführung in die rauere „geistige Situation der Zeit“, die ich gar nicht rekapitulieren will. Vielleicht lieber den Schnelldurchgang „Plato – Augustin – Kant“, wie lange ist das her? (Köln 6. XII. 1961 !) Das Meer hat seine Anziehungskraft nicht  verloren, hat sich unterdessen aber grundlegend verändert. Wieder einmal die Morgenlektüre über den unausweichlichen Anstieg des Meeresspiegels. Was für Assoziationen. (Es betrifft natürlich nicht nur den „Spiegel“, und diesen nicht vor allem in Asien, sondern die Auswirkungen jedes kleinen Sturms, wo auch immer.)

Jaspers geistige Situation Berlin, Leipzig 1932 (!!!)

Jaspers Vorwort „Die geistige Situation der Zeit“

Jaspers Kant Plato Augustin Kant 1957

Weltmeere 150828 Solinger Tageblatt 28. Aug. 2015

Die physi(kali)sche Situation der Zeit

Baktrien

Netze spinnen

Ich liebe es, Zusammenhänge zu erschließen, meinetwegen auch solche, die von Natur aus nicht gegeben sind, sondern nur für mich unter einer bestimmten Optik entstehen. Weil es sich besser einprägt. Zum Beispiel weiß ich, dass Maximilian Hendler, dessen neues Buch über additive Rhythmen neben mir liegt, heute von Istanbul nach Tadschikistan fliegt, das wiederum an Nord-Afghanistan grenzt, ein Thema, das mich mein Leben lang beschäftigen wird. Es ist das Gebiet des alten Baktriens, womit ich wieder einmal bei Alexander dem Großen bin und bei der altgriechischen Kultur, die mich seit der Schulzeit interessiert. In dem Text, den ich gleich zitieren werde, erscheinen die Namen Thrasybulos Georgiades, dessen Buch über „Schubert. Musik und Lyrik“ mir nachgeht, auch wenn ich mich gerade mit Hugo Wolf befasse, dann: Dietmar KORZENIEWSKI, dessen Buch über Griechische Metrik in den nächsten Tagen bei mir eintreffen wird. Das Altgriechische („Musik und Rhythmus bei den Griechen“) wird aufs Neue eine Rolle spielen. Kurz: ich verhalte mich zutiefst „unmodern“, mag es nirgendwo bei Bruchstücken bewenden lassen, möchte mich mit Charakteren beschäftigen, auch wenn ich weiß, dass jeder aus Bündeln von Personen bestehen könnte, die heute wenigstens in zwei- und dreifacher Ausfertigung auf die Bühne gestellt werden, zuweilen mit pantomimischer Sondersprache mitmischend und irritierend. Ich will das Globale – und das Komplexeste – aus heuristischen Gründen – einfacher, so einfach wie möglich. Sonst verstehe ich NICHTS. Und dieses Nichts zu bearbeiten ist lebenswichtig, auch in einer Zeit, in der man vorwiegend mit Todesgedanken konfrontiert wird.

ZITAT Hendler Seite 53

Bevor diese Fragen ins Auge gefasst werden [betr. die Formzahl 7 bei Tadschiken und benachbarten Völkern in Mittelasien], ist ein Blick auf die Arbeit „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ von Thrasybulos GEORGIADES zu werfen. In ihr weist er nach, dass der epische Hexameter, in dem u.a. die homerischen Epen geschrieben sind, in musikalischer Umsetzung einer Fz 7 entspricht, indem die Länge (-) den Wert 3 und die Kürze (‚) den Wert 2 hat. Die Kürze wird hier hochgestellt, weil sie am Computer nicht anders zu haben ist. Da die homerischen Epen bei der Erziehung der griechischen Jugend eine Rolle spielten, muss ihre Kenntnis weit verbreitet gewesen sein. Wenn dazu die Ausführungen von KORZENIEWSKI genommen werden, der weder die zitierte Arbeit von Georgiades noch die additive Rhythmik kannte, wird dem Leser bewusst, dass in der altgriechischen Musik ähnliche Verhältnisse geherrscht haben müssen wie heute und ungerade Formzahlen vorhanden waren.

Wie auch immer – als König Philipp II. von Makedonien in Griechenland einmarschierte, traf er auf eine Bevölkerung, die mit den homerischen Epen aufgewachsen waren. Sein Sohn Alexander der Große nahm die waffenfähigen Männer Griechenlands mit auf seinem Feldzug gegen Persien. Nach dem Sieg über den Perserkönig Dareios III. im Jahr 330 vor Christi Geburt verleibte Alexander dessen Reich seinem Machtbereich ein, und dadurch wurde Baktrien, dessen Hauptstadt in der Nähe der heutigen Stadt Mazar-e Scharif in Nordafghanistan lag, die Nordostgrenze des Alexanderreichs. Wie wichtig Baktrien für Alexander war, geht u.a. daraus hervor, daß er eine baktrische Prinzessin heiratete. Auf sein Wirken ging es auch zurück, dass das Griechische bis Nordindien als Verkehrssprache galt.

Alexander gründete in Baktrien eine griechische Kolonie, die auch nach seinem Tod noch Zuzug aus dem Westen, d.h. aus Griechenland und Kleinasien und wahrscheinlich auch von den teilgräzisierten Makedoniern und Thrakern erhielt. In den kommenden zwei Jahrhunderten waren die baktrischen Griechen ein ernstzunehmender Faktor in Mittelasien und Nordwestindien. Vor allem in der bildenden Kunst ist ihre Wirkung gut belegt. In Ghandara hinterließen sie Zeugnisse ihrer Bildnerei, die ein lebhaftes Abbild des täglichen Lebens ergeben, und sie sind auch verantwortlich für die Entstehung der gräko-buddhistischen Kunst, welche die Figur des Buddha bis ins Mittelalter prägen sollte. Nichts deutet darauf hin, dass sie ausgerottet worden wären, sondern sie wurden in den ersten Jahrhunderten nach Christus assimiliert, und zwar von den Ahnen der heutigen Tadschiken (AUS DEM OSTEN). Die Musik hinterlässt im Gegensatz zur Skulptur keine Objekte, die der Archäologie zugänglich wären. Wenn jedoch die baktrischen Griechen in der bildenden Kunst eine derartige Wirkung entfalteten, besteht kein Grund zur Annahme, dass ihre Musik sang- und klanglos untergegangen wäre; und wenn bereits der homerische Hexameter musikalisch einer Fz 7 entsprach, woran nach der Lektüre von GEORGIADES nicht gezweifelt werden kann, dann ist ebenso in Betracht zu ziehen, dass die relativ hohe Frequenz der Fz 7 im Umkreis des alten Baktrien, mittelalterlich Balch, ein Erbe der Griechen ist, deren Ansiedlung durch Alexander initiiert wurde. In Anbetracht dieser Sachlage ist letztendlich griechische Herkunft der Fz 7 bei den Tadschiken nicht unwahrscheinlich, auch wenn sie zunächst weit hergeholt erscheint.

Quelle Maximilian Hendler: Atlas der additiven Rhythmik / Allitera Verlag München 2015

Heute morgen eingetroffen:

Griech Metrik Und er kannte Georgiades wohl doch: siehe Anm.1 Seite 3, allerdings erwähnt er ihn so beiläufig, als sei zu dem von jenem behandelten musikalischen Phänomen nichts weiter Erstaunliches zu vermerken. Und eine menschenfreundliche Vorwarnung ist durchaus angebracht: das Werk von Georgiades versteht auch der Laie mit einer gewissen Anstrengung, das Werk von Korzeniewski versteht nur, wer Altgriechisch fließend übersetzen kann oder alle Übersetzungen zur Hand hat. Ein Buch für Professoren und wirklich mit allen philologischen Wassern gewaschene Altphilologen. Im Vorwort steht: „Dieses Buch ist eine Einführung; es versucht mit möglichst wenig Voraussetzung zu erklären.“ Eine perfekte Irreführung! Ich flüchte mich auf den Weg der sinnlichen Anschauung, und kehre vielleicht erst über Georgiades noch einmal zu Korzeniewski zurück… vielleicht…

Afgh 1974 Balkh Stadtmauer kl  Afgh 1974 Balkh Feld & Mauern kl

Afgh 1974 Balkh Herde Hirt & Mauern Farb kl  Afgh 1974 Balkh Mauer Madadi Gallia kl

Die Stadtmauern des alten BALKH (Fotos: Jan Reichow 1974) und: ein Blick in den Bücherschrank – „Die geretteten Schätze / Afghanistan /  Die Sammlung des Nationalmuseums in Kabul“ 2010 in Bonn.

Gerettete Schätze Balkh a Gerettete Schätze Balkh b

Ich bin nicht sicher, ob dahinten jeweils dieselben Mauern zu sehen sind, die ich damals aufs Bild zu bannen suchte. Vielleicht sind sie hier längst restauriert worden:

Balkh Baktrien Katalog

Alexander der Große und die Öffnung der Welt / Asiens Kulturen im Wandel / Reiss-Engelhorn-Museen Band 36 Sonderausstellung 2009 ISBN 978-3-7954-2176-2 (Seite 157)

Das Buch von Georgiades „Musik und Rhythmus bei den Griechen / Zum Ursprung der abendländischen Musik“ (rororo rde 61) besitze ich seit 1960 – es gehörte zur Pflichtlektüre zu Beginn des Schulmusikstudiums -, aber jetzt beginne ich zu begreifen, was es bedeutet. Der Höhepunkt des Textes liegt dort (Seite 56 ff), wo es um den Zusammenhang des HOMERschen Hexameters mit einem bestimmten Reigentanz geht. Es hat keinen Sinn dort anzufangen und sich den Weg zu ersparen, aber es motiviert vielleicht, wenn man diesen Punkt kennt.

‚Syrtos‘ ist die einzige altgriechische Bezeichnung eines Tanzes, die im neugriechischen Volkstanz fortlebt. Weiterhin ist aufschlußreich, daß auch die Darstellung von Reigentänzen durch die antike Kunst eine auffallende Ähnlichkeit mit dem von den heutigen Syrtoi dargebotenen Bild zeigt. Außerdem könnte man an den delischen Geranos und an die Beschreibung dieses Tanzes bei HOMER im 18. Gesang der ‚Ilias‘ denken. Wenn man dies alles in Betracht zieht, erhält die Feststellung, daß die konkrete und konsequente Anwendung dieses Rhythmus von der altgriechischen Theorie für den heroischen Hexameter, also für den Rhythmus HOMERs in Anspruch genommen wird, eine überragende Bedeutung. Der Rhythmus HOMERs war im Altertum ebenso typisch, ebenso verbreitet wie heute der Rhythmus des Syrtos Kalamatianos. Und er war wie dieser ein Reigenrhythmus. Die Wichtigkeit der Identität des heutigen Rhythmus mit dem alten wird aber noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß es sich nicht um irgendeinen Rhythmus handelt, den man, wie etwa den 4/4-Takt, überall in der Welt antrifft, sondern um eine höchst eigentümliche Gestalt.

Genau das ist der Grund, weshalb ich seine Gestalt (mit Maximilian Hendler) in der tadschikischen Musik Nordafghanistans wiederzufinden glaube und nun wieder die afghanischen Rhytmen mit der Formzahl 7 studiere, und endlich die immer wieder aufgegebenen Pläne umsetzen kann, die Melodie „Shah Kokojan“ und die des Farkhari-Liedes der Afghanistan-CD aus der World-Network-Reihe zu notieren, so dass es mir und vielen anderen (notenkundigen) Menschen einleuchtet. Sie werden auch verstehen, weshalb ich die Schritte des Kalamatianos studiere, wie auch immer sie mir bei youtube über den Weg tanzen:

Man sehe auch hier (sofern man dergleichen in adidas-Schuhen erträgt). Oder doch lieber in „klassisch“?  Es soll nur eine erste Vorstellung vermitteln und – aus meiner Sicht – die Georgiades-Lektüre etwas auflockern…

ZITAT Georgiades zum Rhythmus 3 + 2 + 2

Durch das Beharren auf ‚1‘, das aber, da es doch keine volle zweizeitige Länge ausfüllt, als etwas flüchtig empfunden wird, und das Weitertreiben auf ‚2‘ und ‚3‘ entsteht ein den Rhythmus und den Tanz kennzeichnendes Hin und Her, ein Spielen zwischen Stehenbleiben und Vorwärtsdrängen, ein eigentümliches Schweben. Wenn man diesen Reigen selbst tanzt, empfindet man das Federnde dieses Rhythmus und das doch statisch-lockere Nebeneinander der einzelnen Zählzeiten. Ein Hin und Her drückt sich auch durch die Schrittfolge im großen aus: mehrere Schritte vorwärts, dann ein Zögern und einige Schritte rückwärts.

Auch das Grundmotiv der Schritte entspricht den drei Zeiten: ein schwerer Schritt auf ‚1‘ – als Thesis – je ein leichterer (kleinerer) auf ‚2‘ und ‚3‘ – als Arsis. Eine ähnliche Schrittbewegung haben wir auch, von hier angeregt, für den Chorgesang PINDARS vorgeschlagen.

Quelle Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen / Zum Ursprung der abendländischen Musik“ (rororo rde 61) Rowohlt Hamburg 1958 (Seite 55)

Stimmengewebe oder Solostimme?

Wird meine alte Lieblings-CD durch die neue verdrängt?

Ital Liederbuch neu a   Ital Liederbuch alt a

Ital Liederbuch neu b    Ital Liederbuch alt b

2011                                                                               1994

Es entscheidet sich mit der Rolle des Klaviers /  Im Vordergrund steht zunächst die vom Wort getragene Botschaft (wer spricht was wie?). Aber die Struktur der Musik erlaubt es nicht, dabei zu verharren. Der Gesang artikuliert, skandiert, deklamiert Sprache, aber der musikalische Text bildet den wesentlichen Zusammenhang.

Der ursprüngliche Einfall („Prägung oder Verdrängungswettbewerb“) bezog sich nur auf die zuweilen wahrgenommene Gefahr, dass man durch die Interpretation, die einem das Werk erschlossen hat, so geprägt wird, dass man jede neue Interpretation „sekundär“ findet, weniger überzeugend. Aber es gibt Fälle, in denen die neuen Qualitäten so überwältigend sind, dass die bisher wahrgenommenen defizitär erscheinen. Manchmal wirkt die differenziertere Version überinterpretiert, „gewollt“, manchmal setzt sie sich durch, verdrängt sie die einfachere, die ihren „natürlichen“ Charakter verliert und eher harmlos, naiv, unkundig daherkommt.

Aber um von Prägung und Voreingenommenheit zu schweigen, – beide sind letztlich durch geduldiges Vergleichen überwindbar -, was ist das A und O einer Liedaufnahme?

Etwa der Sänger, die Sängerin? Ja, aber nicht „die Stimme“, sondern die Gestaltung, das Verständnis des Gesungenen, die Seele, wie auch immer ich es in ein einzelnes Wort fassen will, – das ist das A.

Und das O?

Das ist der Klavierklang, nichts anderes! Aber nicht hier die Stimme, dort das Klavier, nicht A und O, sondern symbolisch bezeichnet als AO, umgeben von einem Kreis. Und dies ist mein erster Eindruck: in der neueren Aufnahme spielt das Klavier die zweite Geige, – die im Streichquartett durchaus nicht zu verachten wäre. Aber was bei Hugo Wolf im Klavier geschieht, ist die Hauptsache! Und wenn es diese Präsenz bei Geoffrey Parsons jederzeit hat, weniger jedoch bei Gerold Huber, so liegt das, wie mir scheint, zunächst an der Aufnahmetechnik. Steht das Instrument wirklich im selben Raum wie die Stimme, greift es tätig in die Gestaltung ein – oder bildet es nur den Hintergrund?

Bei Wagner geht es um das Orchester. Für meine Auffassung habe ich in der „Tristan“-Übertragung aus Bayreuth viel zu wenig davon gehört, das schamhafte Verbergen des physischen Klangapparates, angeblich von Wagner beabsichtigt, der tönende „mystische Abgrund“, verleitet offenbar zur sträflichen Missachtung in der Mikrofonierung. Um so schrecklicher das isolierte Vibrato der vielgerühmten Solisten auf der Bühne. Das gilt auch für Beethoven, Berlioz oder Verdi, man höre doch dessen Requiem live von der Konzertbühne und nachher dieselbe Aufführung aus dem Radio: dort wo im wirklichen Leben die Solostimmen in dem gewaltigen Schwall der Chor- und Orchestermassen fast unterzugehen drohten (fast!!!!), da stechen jetzt die Solostimmen mühelos hervor – und lassen einen kalt.

Man lese einmal, was Liedbegleiter hervorheben, wenn sie darüber reden; Erik Werba in seinem Hugo-Wolf-Buch, gewiss kein großer Wurf, aber authentisch:

„Auch kleine Dinge können uns entzücken“ ist mit Recht eines der berühmtesten Wolf-Lieder geworden. Man spiele oder höre einmal den Klavierpart allein: da haben wir ein nuancenreiches Klavierstück, dem mit keiner Sechzehntelnote und in keiner Phrasenpause die eliminierte Singstimme abgeht. Diese wieder hat den Tonfall der Worte und auch den Rhythmus des Gedichtes geradezu beispielhaft in Noten gesetzt erhalten. Dabei profiliert weder die Gesangsmelodie allein noch die Klavierstimme an sich die innere Aussage dieser Heyse-Poesie; das Miteinander wohlgemerkt: das belebende und belebte Miteinander, das Ineinandergreifen der Phrasierungsbögen von Singstimme und Klavierhänden, die komplementäre „Atmung“ der drei „Stimmen“ – des Gesanges, der rechten (harmoniegebenden) und der linken (Melodie bzw. Gegenmelodie tragenden) Hand – macht die schier vollkommene Einheit von Wort und Ton möglich.

Quelle Erik Werba: HUGO WOLF oder Der zornige Romantiker / Verlag Fritz Molden Wien München Zürich 1971 (Seite 221)

Was mir fehlt ist auch das Rühmen des Textes. Wie konnte man nur Paul Heyse nach seinem Tod so schmählich fallen lassen, was für ein Instinkt auf Seiten des Komponisten, diese Gedichtfolgen zu einem Zyklus zusammenzustellen, dessen Worte man nie ohne Rührung zitieren wird. Und man hört dabei eine innere Stimme singen: „Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht“, „Es schließen Frieden Fürsten und Soldaten, und sollt‘ es zwei Verliebten wohl missraten?“, „Wie viele Zeit verlor ich, dich zu lieben! Hätt‘ ich doch Gott geliebt in all der Zeit.“ „Wie goldne Fäden, die der Wind bewegt, schön sind die Haare, schön ist, die sie trägt! Goldfäden, Seidenfäden ungezählt, schön sind die Haare, schön ist, die sie strählt!“

(Fortsetzung folgt)

Krasses Denken

Kürzlich hörte ich den folgenden Spruch, der aus dem Mund einer Schülerin stammen soll:

„Denken ist wie Googeln, nur krasser!“

Wunderbar. Zum Denken gehört die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes (durchaus naiv, also ohne Vorschaltung der relativistischen Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“). Es gibt Regeln dafür.

Ein Beispiel: beim Nachtisch – Früchte wie Pflaumen, Ananas, Apfel, Mango – erzählt man mir, es gebe einen neuen Trend: nur das zu essen, was der eigenen Blutgruppe entspricht. Wie bitte? Ein Trend? Nein, eine Theorie! Die Blutgruppe gebe Auskunft über die Herkunft der Ahnen, ob heimisch in Ackerbaukulturen, bei Nomadenvölkern, unter Waldbewohnern, Früchtesammlern, ich weiß nicht was. Und nur das dürfe man essen, was zu diesem Ursprung passt. Ich frage nach Beweisen dafür, dass es da eine reale Korrelation gebe. Wissenschaftliche Untersuchungen. Welche? Wieviele? Vertrauenswürdige? Schon überprüfte? Mein vorläufiger Einwand: ist es nicht eine Art neuer Rassismus? Hat damit nichts zu tun, ist erfolgreich, hat sich als Diät bewährt. Aha, da ist das Stichwort. Vielleicht kann ich doch – statt krass zu denken oder gar aus Prinzip zu zweifeln – erstmal googeln? Stichwort: Blutgruppen-Diät. Schon liest man in den ersten 3 Angaben dreimal den Namen Peter D’Adamo. Schon ist klar: nicht d i e Wissenschaft steht dahinter, sondern eine einzelne Person. Eine erfolgreiche zweifellos, der Mann hat immerhin für einen Trend gesorgt, der nun zum Nachtisch passt. Der erste Google-Treffer führt jedoch zu einem Artikel des Stern, – und welche Erfahrungen man auch immer mit dieser Zeitschrift gemacht hat: wenn der Wahrheitsgehalt eines verbreiteten Trends schon beim ersten prüfenden Blick in Zweifel gezogen wird, hat man ein Indiz, dass ernsthafter Widerspruch, zumindest eine Beachtung aller Gegenargumente angeraten ist. Nun fehlt auf der anderen Seite nur noch ein Appell des Glaubens, eine Anmahnung positiven Denkens, dann weiß man, was von Blutgruppen zu halten ist. Und eins ist ohnehin klar: sobald zum Beweis Einzelfälle aufgezählt werden (spektakuläre Heilungen, wunderähnliche Wirkungen, statistisch gestützte Einzel-Erfahrungen), rechnet man die Angelegenheit lieber zum allgegenwärtigen Gedankenmüll. Klar ist auch: Ich kann nicht alles widerlegen, was an Unsinn erzählt wird.

Kinder, googelt besser und denkt trotzdem nach!

Durch Googeln erfährt man z.B., wie Bernhard Hoecker kürzlich anmerkte, dass Erdbeeren keine Beeren sind, sondern zu den Nüssen gehören. Er hat recht, denn das ist nachprüfbar, wenn auch nicht mit einer Erdbeere im Mund, sondern in einem Artikel. Verschwiegen wird aber meist, dass mit ebenso gutem Grund die Banane zu den Beeren gezählt wird. Und jetzt wird ernstlich unser Denken herausgefordert. Was bedeutet solche Zuordnung, – nennen wir sie: Korrelation -, in der Wissenschaft, was im täglichen Leben?

Ohne direkten Zusammenhang lasse ich Sätze des Berliner Philosophen Byung-Chul Han folgen (nehmen wir „Big Data“ in diesem Zitat für „google“):

Big Data suggeriert ein absolutes Wissen. Alles ist messbar und quantifizierbar. Dinge verraten ihre geheimen Korrelationen, die bisher verborgen waren. Genau voraussagbar soll auch das menschliche Verhalten werden. Es wird eine neue Ära des Wissens verkündet. Korrelationen ersetzen Kausalität. Es-ist-so ersetzt Wieso. Die datengetriebene Quantifizierung der Wirklichkeit vertreibt den Geist ganz aus dem Wissen.

Hegel, diesem Philosophen des Geistes, würde das All-Wissen, das Big Data verspricht, als absolutes Un-Wissen erscheinen. Hegels Logik lässt sich als Logik des Wissens lesen. Demnach astellt die Korrelation die primitivste Stufe des Wissens dar. Eine starke Korrelation zwischen A und B besagt: Wenn A sich verändert, findet eine Veränderung auch bei B statt. Bei der Korrelation weiß man nicht, warum es sich so verhält. Es ist einfach so. Die Korrelation ist eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit und nicht der Notwendigkeit. Sie lautet: A findet oft zusammen mit B statt. Darin unterscheidet sich die Korrelation vom Kausalverhältnis. Die Notwendigkeit zeichnet es aus: A verursacht B.

Die Kausalität ist nicht die höchste Wissenstufe. Die Wechselwirkung stellt ein komplexeres Verhältnis als das Kausal verhältnis dar. Sie besagt: A und B bedingen einander. Zwischen A und B besteht ein notwendiger Zusammenhang. Aber selbst auf der Stufe der Wechselwirkung ist der Zusammenhang zwischen A und  noch nicht begriffen: „Bleibt man dabei stehen, einen gegebenen Inhalt bloß unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten, so ist die in der Tat ein durchaus begriffsloses Verhalten.“ [Hegel]

Erst der „Begriff“ generiert das Wissen. er ist C, das A und B in sich begreift und durch das A und B begriffen werden. Er ist der höhere Zusammenhang, der A und B umfasst und aus dem heraus sich das Verhältnis von A und B begründen lässt. So sind A und B die „Momente eines Dritten, Höheren“.

Quelle Byung-Chul Han: Psychopolitik / Neoliberalismus und die neuen Machttechniken / S. Fischer Wissenschaft Frankfurt am Main 2014 (Seite 92 f.)

Ein letzter Themenwechsel dient dazu, alles wieder unserer geliebten Realität anzunähern: vielleicht bildet sich doch ein geheimer Zusammenhang.

Im Editorial der Zeitschrift NATUR erinnert sich Chefredakteur Sebastian Jützi an sein Biologiestudium in den 80er Jahren; damals funktionierten GENE nach dem Jacob-Monod-Modell:

Demnach waren Gene aus verschiedenen Teilen der Erbsubstanz aufgebaut und besaßen vorgeschaltete Regulationselemente. Im Falle einer Aktivierung sollte dann die Erbinformation ausgelesen und über einen komplizierten Mechanismus in Proteine übertragen werden. Ein grundlegender Mechanismus in der Steuerung unseres Genoms.

Heute weiß man deutlich mehr: Unser Genom, wie das aller Lebewesen, ist ein kaum vorstellbar komplexes Geflecht. Auf zahlreichen Ebenen unterliegt es einem Gefüge aus Regulationsmechanismen, die über Wirkung und Gegenwirkung bestimmen, ob und wie stark ein Gen aktiv ist und seine Information in Eiweiße umgesetzt wird.

Es handelt sich, so Jützi, um „grundlegende Vorgänge, die jedes Lebewesen und damit letztlich auch deren Zusammenleben in einem Ökosystem prägen. Dieser Wissenszuwachs verdeutlicht uns aber auch: Absolute Wahrheiten sind selten.“ Sein Editorial zielt letztlich auf die sogenannte „Grüne Gentechnik“. ZITAT:

Die Gegner warnen unter anderem vor unkalkulierbaren Folgen dieser Technologie, wenn sie im Freiland angewendet wird, und vor Monopolstellungen weniger Konzerne, die die grüne Gentechnik entwickeln.

Wie auch immer man diese Argumente gewichtet, hinter ihnen verschwindet meist eine simple Tatsache. Komplexe Merkmale, wie der Ertrag einer Getreidesorte – also ihre Leistungsfähigkeit -, werden fast nie von nur einem einzelnen Gen bestimmt, sondern von einer Vielzahl von Genen und Regulationsmechanismen. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte haben Züchter diese Erkenntnis angewandt und immer leistungsfähigere Getreidesorten entwickelt – ganz ohne Gentechnik. Die so entwickelte Vielfalt hat uns bislang meist gut ernährt und wir könnten damit die gesamte Weltbevölkerung satt bekommen, wenn wir die Nahrungsmittel nur besser verteilen würden. Das wissen wir. Was wir (noch) nicht wissen, ist, wie sich die Grüne Gentechnik in Ökosystemen entwickelt und welche Auswirkungen sie letztlich auf uns hat. Deshalb sollten wir mit ihrer Anwendung zurückhaltend sein. Meine Genetik-Lehrbücher sind in ihrer aktuellen Fassung längst umgeschrieben. Ökosysteme lassen sich dagegen niemals umschreiben.

Quelle natur Das Magazin für Natur, Umwelt und besseres Leben. 09/15 Seite 3 Sebastian Jützi: Editorial / Mehr Wissen. (Hervorhebungen in rot: JR)

Wie fängt Rassismus an?

Gibt es an und in dem andern irgendetwas, was er nicht ändern kann und was ich (ja sicher … nur wenn ich will) gegen ihn auslegen kann? Hinsichtlich der Herkunft, Hautfarbe, der Händigkeit (links oder rechts), der Form des Halbmonds auf der Fingerkuppe, der Blutgruppe.

Einen datierbaren Anfang gab es wohl 1492 in Spanien: als man Gründe suchte, auch die getauften Juden und Moslems auszusortieren. Da genügte die Religion nicht mehr. (JR)

Nächster Opern-Termin: Fidelio

Fidelio Titel Fidelio Inhalt

Dieser Beitrag lag halbfertig im Speicher, geplant als eine Übung in Sachen Opern-Regie, daher auf einen Sendetermin bezogen: Samstag 22. August. Die Salzburger Inszenierung. Siehe HIER.

Einstweilen Studium der Partitur, ein Exemplar meines Vaters. Ob er die Oper einmal dirigiert hat? In seinen Anfängen, etwa in Stralsund oder in Bielefeld, Anfang der 20er Jahre, der Namenszug oben links stammt aus seiner frühen Zeit. Meine Übung beginnt mit der Rekapitulation der Aufzüge, der Szenen, der Charaktere… (Siehe auch Wikipedia-Artikel. Zu beachten insbesondere der Abschnitt „Inszenierungen!)

ZITAT

Das ist eine schwere Nuss – Naivität und Pathos in schwieriger Melange einerseits, geniale Musiknummern und schwächliche Texte anderseits. Nun traue ich mich mal heran – hier in Salzburg, im Rahmen außerhalb des Repertoires scheint mir so eine Annäherung möglich.

Sagte der Regisseur Claus Guth und wurde dann gefragt, ob er dieses Werk auch als „Befreiungsoper“ auffasse. Seine Antwort:

Ich versuche in meiner Interpretation den Begriff Gefangenschaft und Befreiung weiter zu fassen. Alle Personen dieses Stückes sind befangen und gefangen in Abhängigkeiten – aus emotionalen oder hierarchischen Gründen. Die Hoffnung, sich daraus zu befreien, teilen sie, doch zu gelingen scheint es niemand.

Für Guth spielt durchaus eine Rolle, dass Beethoven alles andere als ein Opernroutinier war:

Bis zum Schluss war er auf der Suche nach der adäquaten Form. Musikalisch sind ihm unfassbar geniale Eingebungen gekommen – theatralisch bleibt das Stück eine Baustelle. Deshalb ist mir der Text auch nicht so heilig – das hat es möglich gemacht, die Rezitative [Guth meint offenbar die gesprochenen Dialoge] zu streichen. Ich habe bemerkt, dass dabei eigentlich keine wesentliche Information verloren geht. Zum Glück war ich nicht der einzige, der an der Qualität dieser Dialoge zweifelt.

Dann kommt im Interview die Frage nach dem (titelgebenden!) Motiv der Oper: nach der Treue. Ob es nicht ein Prinzip sei, das in einer relativistischen und individualistischen Gesellschaft nur noch schwer verstanden werden könne. [Es ist zweifellos unvermeidlich, in der Oper wie im Schauspiel heute das kompakte Ich, die Charaktere, samt allen zwischenmenschlichen Beziehungen, die einst Romane füllten, zu problematisieren, auseinanderzufalten, auf verschiedene Körper zu verteilen, scheitern zu lassen, dies in jedem Fall. Keine Märchen mehr. So mag es überraschen, wie Claus Guth beginnt:]    

Guth: Die Idee der Treue ist wohl zeitlos gültig und verständlich. Interessant wird es tatsächlich, wenn man den Mensch als ein sich stets veränderndes Individuum wahrnimmt. Wem bin ich treu: dem der er/sie damals war – aber was, wenn er jetzt ein „Anderer“ ist? Auch deswegen wurden zwei zusätzliche Figuren, als Schatten, eingeführt. Durch sie laufen diese verschiedenen Ebenen einer Person mit.

Quelle Kleine Zeitung Steiermark 30.07.2015 Interview: Maria Scholl / APA – Austria Presse Agentur

Weiteres zur Regie siehe auch HIER.

Mich interessierte früh das zwiespältige Verhältnis zwischen Kunst und Leben; daher habe ich schon bei einem ersten Text, der Beethoven betraf, nämlich seine Klaviertrios op. 1, die dem Fürsten Karl von Lichnowsky gewidmet sind, den Widerspruch zwischen klassischer Idealität und widriger Realität in aller Kürze zum Thema gemacht. Es ging um die reale Rolle des Ehepaars Lichnowsky, die sich keineswegs auf finanzielles Mäzenatentum beschränkte:

Beethowen Lichnowsky CD TACET 76

Oder soll man planmäßig Leben und Kunst in der Kunst aufeinanderprallen lassen, Befreiung und Leben notfalls auch in der Kunst verweigern, wenn sie im Leben draußen keinen Platz haben?

ZITAT

Tot ist auch Florestan am Ende von Beethovens Fidelio, jedenfalls in Claus Guths Lesart, und dies Sterben eines Geschundenen, politisch Verfolgten und zu spät Geretteten beschert dem Salzburger Opernsommer Augenblicke von erschreckender Wahrhaftigkeit. (…) Der Held, der sich unter dem Befreiungsjubel des Volkes die Ohren zuhält, der schwersttraumatisiert ist und selbst die Liebe seiner Frau Leonorre alias Fidelio nicht mehr erträgt (…) – ist dies nicht auch ein Alter Ego des Künstlers und Startenors schlechthin, der Gesang und Welt und Welt und Gesang nicht mehr zusammenbringt?

Wie Kaufmann durch Guths psychedelische Doppelgängerschattenwürfe und Christian Schmidts minimalistischen Raum taumelt – ein Kabinett, das von einem schwarzen, Kaaba-artigen Quader durchdrungen wird und später mit einem Kronleuchter prunkt – und wie er am Schluss, für ein paar wenige Glückstakte nach dem Sextett, mit Leonore nach vorne an die Rampe stürmt, nur um dort zusammenzubrechen, ausgerechnet dort: Das lässt hoffen, dass die Kunst die Zeichen der Zeit verstanden hat. Und daran arbeitet.

 Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 47 Hier Leben. Da Kunst Vor den Operntoren von Salzburg kauern Flüchtlinge. Haben die Festspiele die Zeichen der Zeit erkannt? Von Christine Lemke-Matwey.

Beethoven Fidelio Finale

* * *

Walter Riezler (1936):

Man hat die kunstvolle Form und die damit verbundene Ausdehnung der Stücke als Beweis für die geringe dramatische Begabung Beethovens – vor allem im Vergleich zu Mozart, aber auch zu Weber – genommen, was vom Standpunkt der äußeren Wirkung vielleicht richtig ist, aber dem inneren dramatischen Leben dieser Musik nicht gerecht wird. Ist ja doch sogar die Wirkung des vielgetadelten „Kanon“, des Quartetts im ersten Akt „Mir ist so wunderbar“ erfahrungsgemäß wahrhaft erschütternd, trotz der allem Herkommen der Oper widersprechenden statischen (hier übrigens recht kunstlos angewandten) Form des Kanons. Die Musik nimmt die in den einfach-schönen Worten des Dialogs: „Meinst du, ich könnte dir nicht ins Herz sehen?“ angeschlagene Stimmung und die in der Handlung begründete Spannung auf und läßt sie sich ausbreiten.

Aufnahme 1963

Das oben zitierte Buch von Walter Riezler (1878-1965) ist und bleibt eine Fundgrube treffender Einsichten in Beethovens Werk, wenn auch das Erscheinungsdatum 1936 manchen Leser verleiten könnte, nach dem Lebenslauf des Autors zu fragen. Es ist erstaunlich in anderer Hinsicht als vermutet: hier. Er promovierte über den Parthenon und die attische Vasengeschichte, erhielt aber zugleich eine musikalische Ausbildung bei Felix Mottl und Max Reger. – Interessant, was er über die verbessernde Arbeit Beethovens am „Fidelio“ schreibt, lediglich die Arie des Rocco hält er für ein auch in der Endfassung entbehrliches Relikt:

Man fühlt bei diesem schönen Stück Musik ein leises Unbehagen – es ist die einzige Stelle, wo noch etwas von der ersten Fassung übrigblieb, was der menschlichen und dramatischen Haltung des Ganzen, so wie es schließlich gelang, nicht ganz würdig ist. Jedenfalls ist für das Ganze wenig verloren, wenn man die Arie fortläßt, während sonst Striche und Umstellungen sofort an die Substanz des Werkes rühren. Alles steht fest an seinem Platz und ist unentbehrlich – während noch in Mozarts „Zauberflöte“ Weglassungen nur wegen der dann verlorenen Schönheit des einzelnen zu vermeiden sind und Umstellungen nichts Wesentliches bedeuten. Ein Beweis, wie dichtgefügt der Fidelio als Ganzes ist, trotz der „Nummernoper“ und des gesprochenen Dialogs. Der Mißerfolg der ersten Aufführung erwies sich als ein Glücksfall sondergelichen. Niemals wäre Beethoven sonst zu den Änderungen bewogen worden, die dem Werk als Ganzem zu einer Vollkommenheit völlig einziger Art verhalfen. Unter dem Getilgten mag manches schöne Stück gewesen sein – dabeben aber auch manche Länge und etwas so Unmögliches, wie das Duett zwischen Leonore und Marzelline über das eheliche Leben (nach dem Duett Pizarro-Rocco!). Neu hinzu kamen Herrlichkeiten wie das große Rezitativ der Leonore, der Schluß des ersten Finales, an Stelle einer lärmenden Arie des Pizarro mit dem Chor der Wache, und der größte teil der Arie des Florestan mit der Vision des „Engel Leonore“, an Stelle einer schönen, aber matten Klage. Ob das dann folgende ergreifende Melodram, mit dessen Musik Beethoven einmal ausnahmsweise, wie auch da und dort in der Musik zu „Egmont“, nur „Gefühl“ gibt, ohne jede „Form“, schon in der ersten Fassung vorhanden war, steht nicht ganz fest. Wir wissen, dass an diesen Änderungen der Textdichter Treitschke großen Anteil hat. Er beriet sich mit Beethoven über alle Einzelheiten und bewies hierbei feinstes Gefühl auch für musikalische Wirkungen. Ihm verdanken wir auch die endgültige Fassung des schlichten, aber oft sehr schönen Dialogs. Ihm verdanken wir auch die endgültige Fassung des schlichten, aber oft sehr schönen Dialogs. Geradezu genial ist die Änderung des Dialogs gegen Schluß der Kerkerszene. An die Stelle des ursprünglich auf den Abgang Pizarros folgenden Rezitativs trat ein kurzer Dialog, von dem heute nur mehr die in ihrer Einfachheit erschütternden Worte gesprochen werden: „O meine Leonore, was hast du alles meinetwegen erduldet! – Nichts – mein Florestan!“

Quelle Walter Riezler : Beethoven (mit Vorwort von Furtwängler) Atlantis Verlag Berlin und Zürich 1936 Seite 197 ff (heute neu bei Schott!)

Vielleicht ist uns heute das Pathos der alten Zeit in der folgenden Aufnahme zu affirmativ. Wie für die Ewigkeit –  Jon Vickers. „Beauty and Love and Truth!“ Andererseits – kann es Jonas Kaufmann übermorgen etwa beiläufiger übermitteln??? „… ein Engel Leonore“ hier bei 3:40.

Offenbar handelt es sich um eine der Aufnahmen mit dem Philharmonia Orchestra unter Otto Klemperer 1962 oder 1964 bei EMI (Christa Ludwig, Jon Vickers, Walter Berry, Gottlob Frick).

Nach Beethovens „Fidelio“

Anders als ich geglaubt habe, konnte man die Salzburger Aufführung nicht am Computer verfolgen, sondern nur bei 3sat im Fernsehen. Sehr gute Aufführung, großartige zweite Leonoren-Ouvertüre – platziert vor dem letzten Finale, Wie eine innere Rekapitulation des Erlebten, zum Umbau der Bühne, wo der rote Teppich ausgelegt, der riesige Kronleuchter hochgezogen wird. Die Geister-Figuren mit ihren aufgeregten Pantomimen erscheinen mir störend. Sehr überzeugend: der bei Beethoven nicht vorgesehene Tod (Zusammenbruch) Florestans in der abschließenden Jubel-Szene. Wie stand es in der ZEIT?

(…) und wie er am Schluss, für ein paar wenige Glückstakte nach dem Sextett, mit Leonore nach vorne an die Rampe stürmt, nur um dort zusammenzubrechen, ausgerechnet dort: Das lässt hoffen, dass die Kunst die Zeichen der Zeit verstanden hat. Und daran arbeitet.

Ich gehe nachher ins Arbeitszimmer an den Computer und sehe als erstes wieder einmal eine Todesmeldung. Ich kann nicht anders, als sie hier, an dieser Stelle, wiederzugeben. Sie gehört genau in diesen großen Zusammenhang.

 Mariem Hassan Mariem Hassan

Chromatische Irritationen bei Chopin

Sinnlose Fragen zur Etüde op. 25 Nr. 6

Man kann sich an dieser phantastischen Etüde (gerade im langsamen Tempo) begeistern, die Reibungen und Querstände genießen, die Unabhängigkeit der chromatischen Girlanden über den links vorgegebenen Akkordpunkten, und man kann in jeder Zeile kindliche Warum-Fragen stellen. Warum nicht? Es ist eine schöne Übung, darauf kindliche Antworten zu finden. (Ich nutze aber den Vorteil des Notenschreibens.)

Das Abbremsen der chromatischen Abwärtsfahrt

Chopin Chromatik Ende  Chopin Chrom Ende JR

Der leere Klang als Ziel

Chopin Chromatik Ende leer  Chopin Ende leer x  56/57 & 52/53                                 Vorschlag zur Verschlimmbesserung

Geballte Parallelen

Chopin Chromatik Parallelen  Chopin Parallelen rot falscher Fehler…

Chromatik als Aufhebung harmonischer Logik

Wieviel Töne der chromatischen Girlande passen zum Akkord? Im Grunde muss nur der Ausgangspunkt und der Zielpunkt zum Bass passen, in Takt 8 ergibt der Basston mit der Terz h/dis der rechten Hand die gis-moll-Tonika. Und dass dieselbe Terz im nächsten Takt erst auf der Zählzeit 2 erreicht wird, während die linke Hand den Tonika-Dreiklang bereits auf der 1 anschlägt, wird als reizvolle Schwerpunkt-Differenz empfunden.

Takt 7: Ganzton- oder Halbtontriller? siehe dazu die Diskussion im Forum CLAVIO

Ich glaube, dass hier das letzte Vorzeichen (ais) außer Kraft gesetzt ist, also ein „a“ gespielt werden muss. Nirgendwo in der Etüde gibt es einen Terzen-Triller, bei dem das Intervall zwischen der unteren Note und der oberen mehr als eine reine Quarte umfasst. (Abgesehen von der kleinen Ausnahmestelle in der Mitte der Takte 52 und 56.) Mein Argument ist also nicht identisch mit dem, das im Revisionsbericht steht. Ich höre die Stelle als cis-moll, obwohl es sich (auch) um die Unterdominante von gis-moll handelt; aber das „a“ in der linken Hand ist ganz sicher nicht als „Überraschung“ einzuschätzen.

Chopin gis Komm

Sehr schön ist die Bemerkung zu den Quintenparallelen („denn jene klingt monoton“), zumal wenn man an die schon oben erwähnte Quinten- plus Oktavenparallele denkt. Die Autonomie der Stimmen in ihren Einzelschritten liegt hier überhaupt nicht im Focus der Aufmerksamkeit.

Der Revisionsbericht meiner Paderewski-Ausgabe (Polnischer Musikverlag 1956) stammt von Ludwig Bronarski und Josef Turkzynski.

Übrigens: auch der oben erwähnte „leere Klang“ ist keine Notlösung, sondern ein wunderbarer Einfall! Die Klarheit, die der seltsam gezwirbelten plagalen Kadenz folgt!

Nachtrag 21.08.15

Irrtum: es ist keine „Quinten- plus Oktavenparallele“, nur Quinten und Terzen parallel. Wenn man aber das andere sucht, auch dafür gibt es eine schöne Stelle (Etüde op. 25 Nr.8):

Chopin Quinten & Oktaven

Natürlich ist das besonders reizvoll, ein Hauch Impressionismus. – Ich erinnere mich an den ersten Harmonielehreunterricht bei meinem Vater, der mir also beigebracht hatte, dass man Oktav- und Quintparallelen zu vermeiden hat. Und wie ich ihm mit verhaltener List zeigte, dass in einer Partitur von Johann Christian Bach am Anfang alle Instrumente in Oktaven spielen (unisono!). Die Regel der verbotenen Oktaven und Quinten gilt nur im „strengen Satz“, sagte er. Weil sonst die Vierstimmigkeit aufgehoben ist, die beiden parallel geführten Stimmen verschmelzen „aus Versehen“. Im Anfang dieser Partitur sollen sie aber alle sozusagen mit einer Stimme sprechen. Sobald es um den „Effekt“ der Parallelen geht oder um die besondere Klangfarbe, sind sie natürlich erlaubt. An der Hochschule in Köln, wo Theorie u.a. von  Heinrich Lemacher und Hermann Schroeder unterrichtet wurde, deren Kompositionsstil man im Schatten Stockhausens und und B.A. Zimmermanns gern bespöttelte, wusste um 1960 jeder, wer mit den Spitznamen „Quinten-Heinrich“ und „Quarten-Hermann“ gemeint war. Natürlich galten in ihrem Theorie(!)-Unterricht dieselben Regeln des „strengen Satzes“ wie anderswo.

Eine kleine Sext aufwärts

Notiz zu einer motivischen Geste

Kommt das Intervall in Klavierwerken weniger vor (in keiner Cavatine etwa), aber in: „Von fremden Ländern und Menschen“, gehört es also mehr zur Streicher-Idiomatik / und zum Gesang? Zu unterscheiden, ob es in der Betonungsfolge leicht/schwer erscheint – wie in Mozarts g-moll-Quintett – oder einen weiterführenden Bogen schlägt wie in der ersten Kinderszene bei Schumann (Dur) oder in Pfitzners Palestrina-Motiv (Moll).

Sonderfall als Antwort (Umkehrung) auf die fallenden Terzen am Anfang der 4. Sinfonie von Brahms (Verweis auf Beethoven).

Meistens genügt es nicht, nur dieses eine Intervall aufwärts zu bedenken, auch die darauf folgende Abwärtswendung gehört dazu, über eine kleine und eine große Sekunde zu dem Ton, der als Grundton gehört wird.

Deryck Cooke beschreibt es in seinem anregenden Buch „The Language of Music“ Oxford University Press 1959) auf Seite 137 bis 140, er denkt es von Anfang an weiter bis zum Grundton. Als Moll-Bogen von der Quinte hinauf auf die Terz und abfallend zum Grundton.

Cooke Beispiel

Ich würde das Intervall (zunächst) gern isoliert sehen oder nur in Verbindung mit dem Klageton der kleinen Sekunde abwärts.

Die ersten beiden Töne des Tristan (Cello) – ohne den Tristanakkord – und das „Oh“ am Anfang der schönen Schnulze „Manuela“… (man erhebe sich nicht, der Niveauunterschied ist bemerkenswert, das hört jeder Esel).

Hier Rocco Granata 1960

Man bedenke, wie anders eine aufsteigende große Sexte wirkt, z.B. in Mahlers Vierter: so süß sie klingen kann, im Wiegenlied (oder in „Aba heidschi bum beidschi“), sie neigt von vornherein zum Triumphalen, wie in der Vision der „Himmlischen Stadt“, wo nach diesem Aufschwung der zwei Töne 10 Takte E-dur-Jubel folgt:

Mahler Vision

Die kleine Sext als melodischer Ansatz gehört zum sentimentalen Charakter romantischer Musik. Oder eben auch in der alten phrygischen Skala als oberer Rahmenton. So in Beethovens „Dankgesang“ im Wechsel von C-dur nach a-moll (siehe hier). In der afghanischen Volksmusik – mit ihrem dominanten E-Modus – zwar nicht als explizites melodisches Intervall, aber sehr häufig nach Periodenabschlüssen auf dem Grundton E im Neuansatz des Refrains auf dem Ton C mit absteigender Sequenz. Beispiel: „Shah Kokojan“. (Siehe hier , von Teil A nach Teil B).

Fingerspiel: nicht wippen!

Noch einmal: Chopin op. 25 Nr. 6 gis-moll

Ich vermute, es ist ein schülerhafter Fehler, dem ich auch durchaus nicht verfallen bin. Aber es lohnt sich trotzdem, die Gefahr zu notieren und zu beobachten. Das Wippen von Terzgriff zu Terzgriff, – aber nicht nur, weil es sich nicht beschleunigen lässt. Es ist eine grobe Unhöflichkeit gegenüber der feinen Lebensart der Finger.

Chopin Terzen

Als ich zum erstenmal die Tänzerinnen des georgischen Ensembles Rustavi erlebte, staunte ich, wie man sich so von der Stelle bewegen kann: gewissermaßen ohne Schritte. Man sah die Füße nicht, – sie waren unterm Kleid verborgen, aber es schien, als bewegten sie sich auf Rollen. Es handelte sich offenbar um so winzige und derart schnelle und kontinuierliche Bewegungen, dass die Tänzerinnen sich unmöglich mit den Spitzen oder den Hacken auch nur einen Millimeter vom Boden erheben konnten, vielleicht machten sie minimale Gleitbewegungen – seitlich, das könnte ich mir vorstellen, aber „rollten“ sie nicht auch vor und zurück?

Gottseidank, haben wir nur mit den Klaviertasten zu tun, aber die Vorstellung der georgischen Tänzerinnen könnte beim Fingerspiel nützlich sein.

Bei den Terzen-Tonleitern an dieser Stelle der Chopin-Etüde hat man in unregelmäßiger Folge zwei weiße Tasten oder eine weiße gekoppelt mit einer schwarzen Taste zu bedienen, wobei sich unvermerkt ein „klappernder“ Anschlag einschleicht. Um das zu vermeiden und beide Tasten genau gleichzeitig an den Anschlagspunkt zu „schleudern“, versucht man dem Anschlag mehr Schwung (Wucht) zu geben, und schon stellt sich das Wippen ein, das sich als äußerst hinderlich erweist, wenn man ein schnelleres Tempo erreichen möchte. Der einzige Weg ist der, den Paul Barton so schön zum Anfang dieser Etüde demonstriert, siehe hier. Dieselbe Übe-Methode gilt natürlich auch für die Terzen-Tonleiter. Man gebraucht allerdings manchmal den Daumen allein als Scharnier beim Übersetzen von der einen Terz zur nächsttieferen Terz.

Chopin Terzen-Lauf

Ein Versuch, das Überhalten und das Ausholen zum neuen Anschlag in Zeitlupe einzuprägen. Der Pfeil nach oben bedeutet „Tasten freigeben, bereit sein für neuen Anschlag“, die Fermate bedeutet „den Daumen als Scharnier bedenken“. Der Ton wird nicht lang gehalten (nicht wie eine Fermate), der Daumen muss sich ja unter dem Terzenanschlag in die neue Position bewegen. Geduld! Und beim Beschleunigen an die georgischen Frauenfüße denken…