Archiv der Kategorie: Alte Musik

Mein Buxtehude (auch für andere)

Wie ginge eine Analyse?

Ich erinnere mich an Scheidemann (und einen Urlaub jenseits von Norden). Was bin ich schuldig geblieben? An Buxtehude geht offenbar kein Weg vorbei. Aber überspringen Sie getrost alles, wenn Sie nur punktuell prüfen wollen, ob es für einen ersten Durchblick reicht.

Stylus Phantasticus

Fantastic Style

Orgel Pfeifen u.a.

Altdeutscher Reichtum

Das waren noch nicht alle Blog-Beiträge, in denen Buxtehude eine Rolle spielt. Ich rekapituliere nur diese, um zu wissen, wo ich jetzt stehe bzw.stehengeblieben bin. Und gehe einfach irgendwo weiter, wo ich glaube, dass es auch für andere nützlich ist.

Die mindesten Voraussetzungen möchte ich vorweg nennen: Choralkenntnis, und möglichst: Notenkenntnis, damit man eine einfache Choralmelodie notfalls mitsingen kann. Was dagegen musikalisch nicht besonders hilft, ist eine allgemeine Vorliebe für Orgelklang, falls man noch auf dem Stand ist, dass alles so vorüberrauscht. Man muss in den Klang hineinkriechen und Stimmen hören, melodische Linien, natürlich ist nicht alles von gleicher Wichtigkeit. Wenn Sie im Choralvorspiel den Choral nicht erkennen, ihn möglichst schon lieben, sollten Sie sich mit nichts sonst zufrieden geben. Er muss Ihnen vertraut sein, sonst ist aller guter Wille nicht viel wert: da fehlt die Substanz, jedenfalls in der Alten Musik.

Die Orgelspieler selbst kümmern sich offenbar nur um Orgelspieler; man kann froh sein, wenn man die Choralmelodie separat bekommt, – kümmern wir uns also zuerst um die CD-Aufnahme, die uns damit versorgt. Ich greife mir  heraus: „Von Gott will ich nicht lassen“. Die Fassung des Gesangbuches und die Fassung die im CD-Booklet mitgeteilt wird:

Man vergleiche die Melodie-Versionen.

Die beiden Melodien stimmen nicht überein, und auch die zweite, die aus dem CD-Booklet stammt, ist nicht genau dieselbe, die man danach in dem Orgelwerk hört. Es lohnt sich, genau die in dem Text beschriebene Fassung wahrzunehmen.

Tr.7 BuxWV 220 ist die einfache Fassung (Tr.6 schwieriger), und – wie beschrieben – hören wir die erste Choralzeile zweimal (bis zum Doppelstrich): 1. + 2. Phrase von 0:00 bis 0:30. Und 3. + 4. Phrase mit ornamentierter Melodie von 0:31 bis 0:51. Die 5. Phrase vom Doppelstrich bis zur Fermate = 6 Töne Haupttöne von 0:52 bis 1:12. Die 6., 7. und 8. Phrase ornamentiert von 1:13 bis 1:34 (Grundton als Orgelpunkt ausgehalten) + Nachspiel = 1:51.

Wenn Sie schon so weit sind, dass Sie die Umrisse der Choralmelodie nicht nur erkannt, sondern ein Gefühl für ihre Besonderheit entwickelt haben, lassen Sie es damit nicht genug sein: memorieren Sie sie nach den Noten, bedenken Sie die Varianten, die vorkommen können. Gewinnen Sie dieses Gebilde aus einfachen Tonfolgen lieb, nur – fühlen Sie sich nicht unterfordert. Ein Choral ist unglaublich wandelbar, je nach Umgebung. Vielleicht müssen wir auch Bach zu Hilfe rufen…

Vollkommen schön. Die Essenz der abendländischen Musik. Was folgen könnte: eine Meditation zur Melodie (ihre Logik), zum harmonischen Verlauf, Akkord für Akkord (probeweise vom Bassgang her hören).

Ja, für Bach tun wir alles, aber der Weg über Buxtehude ist nicht falsch, – der gleiche Choral kann ja noch einen ganz anderen Charakter annehmen: hier mit derselben Orgel-Interpretin wie oben, und der Notentext ist zu verfolgen, achten Sie auch hier auf den Bass, das Pedal, das unterste System (mit den vielen Pausen):

https://www.youtube.com/watch?v=aieXS06QiKk hier

Zurück zu Buxtehude, zum anderen Choralvorspiel „Von Gott will ich nicht lassen“ BuxWV 221, das ist Tr.6 auf der CD von Brine Bryndorf. Wir gehen am Booklet-Text entlang und fügen die Zeitangaben zur Orientierung ein:

…in der ersten Phrase verbirgt sich der Choral im Sopran, während sich die Motive durch alle vier Stimmen ziehen, ab 0:00 bis 0:14

während die Choralmelodie in der zweiten Phrase in Viertelnoten steht, [und zwar] als cantus firmus im Pedal unter der Manualfiguration. 0:14 bis 0:26

Die Satztechnik wechselt in der zweiten Hälfte, fast jede Zeile wird unterschiedlich behandelt. [3. und 4.Phrase] 0:27 bis 0:44 [5. Phrase] 0:44 bis 1:14

Im sechsten Verszeilenteil übernehmen alle vier Stimmen in imitativem Kontrapunkt eine aufsteigende chromatische Phrase in Achteln, während ansonsten die Sechzehntelmotive trotz der kompositionstechnischen Vielfalt den Zusammenhang wahren. Die letzte Phrase des Chorals (Verszeile 6-8) wird zweimal [??? sehe ich nicht so!] bearbeitet. [6-8] 1:14-1:35 hier Orgelpunkt und Nachspiel 1:52 (Ende)

Ich wende mich nun der Gesamtaufnahme der Orgelwerke Buxtehudes zu, eingespielt von Harald Vogel: hier ab 17:22 (auf Youtube schwer einzustellen, ich halte mich an die physische CD). „Von Gott will ich nicht lassen“ also als Tr. 4 und 5.

Der entsprechende Teil des langen und informativen Textes der CD:

Zu meinen liebsten Tätigkeiten gehört diejenige, die in irgendeiner Weise Zusammenhang schafft. Oder mich Zusammenhänge sehen lässt. Das gelingt hier z.B. mit dem Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, das zu meinen Lieblingsliedern gehört seit meiner Volksschulzeit. Ich weiß auch, warum!

(Beide Gesangbücher stehen noch in meinem Regal: das untere zerfällt fast, es enthält das Datum 1950, das andere hat mir meine Belgarder Großmutter zur Konfirmation geschenkt, mit Widmung.) Ich erinnere mich, dass das Lied für mich einen Störfaktor enthielt: es nimmt nach dem Doppelstrich – Terzsprung mit Fortsetzung auf der neuen Seite – einen deutlich empfundenen „Leiercharakter“ an, der gewissermaßen wettgemacht wird durch den Oktavsprung zum hohen d. Das gab mir zu denken, oder auch nicht, ich sang den Ton wahrscheinlich einfach mit mehr Inbrunst. Er war das Signal, auf den ersten Abschluss der Morgenstern-Melodie (vor dem Doppelstrich) zurückzugreifen, mit dem Wort „hoch“. Der Ton war der Morgenstern! Und dann ging der Blick abwärts zum Horizont…

Soweit der Zusammenhang mit meiner musikalischen Geschichte. Im Gesamtzusammenhang der sämtlichen Werke Buxtehudes, Untergruppe Choralvorspiele. Ich kann mit diesem jetzt gleich beginnen, wenn ich im Youtube hier das Praeludium ex g hinter mir habe, stattliche 8:12 Minuten, auf der CD Tr.1, und danach bin ich nach Absolvierung des Morgensternes Tr.2 und einer kurzen Canzonetta in C (ab 16:10 bis 17:20) bald in bekanntem Gelände… (Tr.4 und 5).

Das Morgenstern-Lied zuerst mit 2 klar gespielten und umgarnten Strophen, später die entwaffnenden Terzrufe, die Probleme mit der „Leier“-Passage scheinen nachvollziehbar, und am Schluss die Apotheose der absteigenden Tonleiter macht alles wieder gut. (Man sieht: ich versuche, mich selbst in der Behandlung wiederzufinden, ein Versuch, den ich natürlich ad acta legen werde, um in ein Lob der hellen Registrierung zu verfallen und mich zu erinnern, dass dies alles von mir als Kind irgendwie mit Bedeutung versehen wurde. (Wenn wir einzeln vorsingen durften, suchte meist gerade der Oberschelp vom Bielefelder Kinderchor Nachwuchs. Ich kam nie in Frage.) Ein anderes Lieblingslied damals: Die güldne Sonne voll Freud und Wonne.

All das verschwindet, wenn ich die „Netherlands Bach Society“ mit dem Lied meiner Kindheit höre, wieder nach der Fassung von Johann Sebastian Bach.

Nun kann ich fortfahren, weitere Zusammenhänge zu knüpfen. Hier ist noch die zweite der drei CDs aus Norden, eine wunderbare Zusammenstellung aus Bach-Werken und Werken seiner Vorbilder, u.a. mit Buxtehudes „Von Gott will ich nicht lassen“ BuxWV 120 als Tr.3.

Das virtuos orgelspielende Ehepaar Agnes Luchterhandt und Thiemo Janssen hat zu dem klugen Programm einen angenehm zu lesenden Text geschrieben, aus dem ich nur den Abschnitt kopiert habe, der „Bach und Buxtehude“ betrifft.

(in Arbeit)

Zum Mitlesen

Zum Schauen und Hören (aber auch: Bach)

Harnoncourt in meinem Leben

Rückblick auf die frühe Phase „informierter“ Alter Musik

Es lässt tief blicken, dass diese CD einer Aufnahme aus dem Jahr 1963 mich heute dank jpc keine 4 Euro (ohne Porto) gekostet hat. Ich musste sie haben, aus „historischen“ Gründen. Wir – im Collegium Aureum – hatten damals kaum begonnen, den Concentus Musicus zu beobachten. Meine Erinnerung datiert die Frühphase auf Franzjosef Maiers Kurs Alte Musik (1964 Initiator Dr. Alfred Krings), Hauptgegenstand die Vorreden Georg Muffats zu seinem „Florilegium“ mit den verblüffenden Angaben zum Lully-Stil (1698). Ich finde den Hinweis auf diesen großen „Influencer“ schon in dem Booklet, das den Text von damals wiedergibt. Für uns wohl zum erstenmal präsent in dem vielgelesenen Sammelband „Musik als Klangrede“ 1982, dem 2 Jahre später „Der musikalische Dialog“ folgte. (In den 70er Jahren habe ich  – mit einem gewissen Durchblick – auch in Sigiswald Kuijkens „Petite Bande“ bei einer CD-Aufnahme mit Muffat-Werken mitgewirkt. In den Proben begeisterte ich mich für seine kontrapunktische Satzweise.) Die beiden genannten, hinreißend geschriebenen Bücher von Nikolaus Harnoncourt hatten einen enormen Einfluss, nicht nur auf mich. Als Texte, die sich aus der praktischen Arbeit ergeben hatten. Man sieht: der zweite Absatz im Booklet entspricht dem auch im Buch wiedergegebenen Text. Die Künstler konnten zu Forschern werden, und ihre Praxis wurde zur wichtigen Anregung der Forschung.

Fortsetzung s.u.

Foto 1956!

Inhalt der CD

Johann Joseph Fux Wikipedia  hier

Leopold I. Wikipedia hier Zitat: Als einer von sehr wenigen Herrschern hinterließ er als Komponist von 230 Werken nachhaltig kulturelle Spuren.

Giovanni Legrenzi Wikipedia hier

Heinrich Ignaz Franz von Biber Wiki hier

Johann Heinrich Schmelzer Wiki hier Zitat: 1658 war er Leiter der Instrumentalmusik im Gefolge Leopolds I. bei dessen Krönung in Frankfurt. Sein enges Verhältnis zum Kaiser brachte ihm vor allem einen finanziellen Vorteil, machte ihn aber auch zu dessen musikalischem Ratgeber, der dem Kaiser bei seinen Kompositionen half. 1665 wurde er zum Ballettkomponisten ernannt, weshalb er künftig den Hof mit Balletti zu versorgen hatte.

    Inhalt der Harnoncourt-Bücher von „Klangrede“ und „Dialog“

Stylus Phantasticus

Mir fiel eine Orgel-CD in die Hände, die ich mal irgendwie durchgeackert hatte, einige rot unterstrichen Zeilen zeugen davon, und ich erinnere nichts. Im Blog-Register: nichts. Sie stammt aus dem Jahre 2003, – vielleicht fehlten mir die geeigneten Anknüpfungspunkte, vor allem die Blog-Arbeit … So etwas lässt mir keine Ruhe. Und siehe da! Matthesons „Vollkommener Capellmeister“ ist Kronzeuge, vielleicht besaß ich den Band noch gar nicht.

Ich kannte also auch noch nicht http://s128739886.online.de/altdeutscher-reichtum/ (2o19), auch noch nicht http://s128739886.online.de/die-beruehmte-toccata-und-der-junge-bach/ (2023). Also jetzt erst mal ran. Der schwer lesbare Text in größer:

Aha, der schöne Text ist also nicht von der Interpretin Bine Bryndorf, sondern von Kerala J. Snyder.

Gute Idee: Die Choral-Melodien sind im Booklet wiedergegeben.

So, – dies wäre eigentlich das Minimum an Vorarbeit, an Wissenserwerb, wenn ich die Stücke angemessen wahrnehmen und: jederzeit wiedererkennen möchte.

Zu dem Mattheson-Zitat auf der ersten Seite:

   

Quelle Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister 1739 / Faksimile, herausgegeben von Margarete Reimann / Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1969 (Seite 87 ff)

Jetzt heißt es, die vorhandenen Aufnahmen zueinander in Beziehung setzen, diese vor allem mit denen der Gesamtaufnahme von Harald Vogel. So wären die Fächer im Gedächtnis (siehe die Links oben) neu sortiert und vielleicht besser greifbar.

Auch bedenken, was ich selbst einmal geschrieben habe:

Das Buch von Andreas Weil enthält ein wichtiges Kapitel über den Stile fantastico, allerdings auf eine spätere Entwicklung bezogen, während Andrew Manze bei Athanasius Kircher im17. Jahrhundert ansetzt. Unglaublich schön.

Wo stand das denn???

Es war eine Verpflichtung…

Was lange währt…

…wirkt später Wunder: der verzweigte Weg von Bach zu Sweelinck

hören

Es sind schöne Noten (Henle!), kein Grund, sie ungern aufzuschlagen. Ich muss später begründen, was mir daran nicht behagt. (Mir war, als fehlte ein Takt.) Im anderen Zimmer fällt mein Blick auf eine alte CD Box, – warum musste ich sie damals unbedingt haben?- kaum gehört, geschweige denn studiert, und musste sie doch unbedingt besitzen. Fehler: ich hatte versäumt, mich in einige Stücke zu verlieben, oder in wenigstens eins, es wäre so leicht gewesen… aber das Buch hat mir Schwierigkeiten bereitet (ausschließlich niederländischer Text). Ich wollte verstehen und einordnen und dgl., und auch: ich hatte noch keine Spielwiese im Digitalen, nach meiner Pensionierung im WDR, Ende 2005.

2008

Die Schlüsselfigur war Harry van der Kamp, mit seinem Gesualdo-Consort. Ich hatte eine Neuaufnahme meiner Kollegin Dr. Barbara Schwendowius gehört und war der Überzeugung: etwas Schöneres habe ich nie aus dem Radio vernommen, ein Ensemblegesang a cappella mit alter Musik, so vollkommen ausgeglichen in den Stimmen und perfekt sauber, das ist übermenschlich. Es lag sicher auch an dem Stück, das ich zugleich kennenlernte: die Neue Litanei (oder wars die alte?) von Philipp Emanuel Bach. Ich ruhte nicht, bis ich eine Kopie der ganzen Produktion hatte.

 und mein Sohn hatte die Partitur! Die, um die es ging. Er war mir längst vorausgeeilt…

Hänssler Verlag

Dieselbe melodische Formel – unzählige Male unterschiedlich harmonisiert! Und kaum zu glauben: die gleiche, nein, dieselbe Aufnahme gibt es längst bei Sony auf CD und natürlich auf Youtube:

Vorwort im Hänssler Verlag

Der Bach-Sohn wusste, was er geleistet hat, – hier die hochinteressante Vorrede:

Zum Vergleich: https://www.youtube.com/watch?v=kdY0R79fZZ4 hier

Und weiter auf Youtube mit dem Gesualdo-Consort…

Sweelincks Chansons, eins schöner als das andere! Die Texte sind in der Kopie besser lesbar. Ich entscheide mich für I-8,9 „Bouche de Coral“.

(Fortsetzung folgt)

Bachs längste Fuge

BWV 944 A-moll

Der Anlass zu dieser Erkundung im Blog: das Programm in SG-Wald und die Gespräche mit JMR über die erstaunliche Fuge (plus vorangehende Fantasie), die er vorbereitet hat. Auch der Text dazu (aus dem Bach-Buch von Spitta):

Die Noten besitze ich seit Sept. 1985, habe sie vor allem anhand der CD von Andreas Staier (1988) studiert, wenn man das so nennen kann. In Erinnerung an seine unglaublich „wilde“ Fantasie BWV 922… ebenfalls in A-moll.

Aber eben diese fehlt… BWV 944.

Die Cembalistin auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz trägt dieselben Noten in der Tasche, ich erkenne auch bald die aufgeschlagene Fuge, 9 Seiten lang, ja, aber wie wird sie blättern?

    

Das Originalinstrument Cembalo zwingt zu einem überschaubaren Tempo, aber es gibt kein „originales“ Tempo, das auch für einen virtuosen Klavierspieler verpflichtend wäre. Ich habe die Fuge in einer Aufnahme des jungen Pollini gehört, – das kann nicht das Ziel sein. Andererseits – wenn man die Fuge schon gut kennt und alles versteht, glasklar und auch optisch präsent, – wer wollte da anfangen zu mäkeln, wie der Fuchs bei den Trauben?

Zur Notation der einleitenden Fantasia:

Quelle Paul Badura-Skoda: BACH INTERPRETATION Die Klavierwerke Johann Sebastian Bachs / Laaber Verlag Laaber 1990 Seite 411 f

Die Fantasia schweift ins Wesenlose …. (?) etwa die Fuge auch, die fein gefügte?

Frage also: Gibt es einen Weg, die Form einer solchen Fuge befriedigend ins Auge zu fassen und sich nicht zu bescheiden mit der Auskunft: „perpetuum mobile“ ?

Plan: Die Folge der Stimmen hoch-tief etc. und Übergang zur Hoch-Tief-Wanderung der Fragmente… kulminierend in den Orgelpunkt-Teilen Seite 6 und 8.

Und dies HIER nicht pauschalisierend.

Die genauere (hörende) Betrachtung verweilt – in Chiara Massinis Aufnahme anfangend bei 0:30 – bei den beiden Teilen, die bis 1:29 bzw. 2:08 dauern. Also betreffend 1) und 2), und natürlich wiederholend nach Bedarf…

1) Die Fuge ist dreistimmig. Als erstes das sechstaktige, aus Sechzehnteln bestehende Thema einprägen! Man sollte es bei jeder Wiederkehr eindeutig wiedererkennen, auch wenn nun kein Takt mehr folgt OHNE durchgehende Sechzehntelgänge. Die drei Stimmen kennzeichne ich als Oberstimme, Mittelstimme und Bass, O – M – B, jeden durch eine Themenfolge und die zugehörigen Zwischenspiele bezeichneten Teil der Fuge sehe ich als „Durchführung“. Wir haben hier allerdings nur zwei „reguläre“. Bach ist zu nichts verpflichtet, wenn der Geist zu ihm spricht…

Die erste Durchführung – von Takt 1 bis Takte 33 – enthält die Themenfolge O – M – B   und endet mit dem Kadenztakt in Takt 33, der zugleich als Scheineinsatz den neuen Durchführungsbeginn in Takt 34 signalisiert. (Chiara Massini 1:29)

2) Die 2. Durchführung, M – B  – O, beginnt in Takt 34, das Ende des Formteils würde ich allerdings schon  nach der Kadenz in Takt 53 ansetzen, weil das Thema O noch einmal in e-moll kommt (wie schon in O Takt 44), zugleich die volle Dreistimmigkeit erreicht ist (Chiara Massini 2:08) und in diesem neuen Teil 3  ein paralleler Vorgang geplant ist:

3) ab Takt 54 also Thema O in e-moll, ab Takt 72 Thema B in d-moll, ab Takt 93 Thema M in C-dur bis Kadenztakt 108 (zugleich Scheineinsatz) (Chiara Massini 3:48),

4) dort beginnt C-dur mit Themenfragmenten (Modulationen!), zielt auf den Orgelpunkt H-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“, und es folgt (Chiara Massini 4:14)

5) ein Neubeginn mit Thema M in e-moll ab Takt 122, dann Thema O  in a-moll, Thema Kadenz (Scheineinsatz) B in g-moll ab Takt 156, mit Themenfragmenten (Modulationen), zielt auf den Orgelpunkt E-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“ und aus der Tiefe

6) scheinbarer  Neubeginn mit Thema in a-moll (Chiara Massini 5:55), ausweichend, Laufwerk, ab hier nur noch Akkordschläge als Begleitung, allmählicher Aufstieg. Ab Takt 192 wird die zweite Hälfte des Themas a-moll nachgeholt und zum Ende geführt.

*     *     *     *

An der obigen Übersicht, die eine Orientierung ohne gedruckte Noten ermöglichen sollte, missfällt mir, dass die gutwilligen Rezipienten zuviel Zeit verlieren mit der Identifizierung der Stellen, die durch Taktzahlen bezeichnet sind. Im Folgenden erwarte ich nur, dass man das Thema zweifelsfrei beim Hören erkennt, entsprechend den rotgefärbten X-Reihen (die natürlich nicht genau die Zahl der Sechzehntel wiedergeben, aber immer ein vollständiges Themenzitat meinen). Die Relationen der Tonarten könnten vielleicht nur erfahrenen Hörern einleuchten, etwa in der Reihe e-moll, d-moll, C-dur, H-dur (durch Fettdruck hervorgehoben). Notfalls findet man sich in der echten Wiedergabe immer zurecht, weil sie dem Verlauf der einzelnen Minuten folgen, wo dann jede bezeichnete Stelle  genau zu lokalisieren ist.

Diese Fuge ist kein Stück zum Grübeln, es wirkt atemberaubend und soll es wohl auch sein. Das heißt aber nicht, dass wir orientierungslos durch musikalische Räume irren.

BWV 944 interpretiert von der Pianistin Gile Bae

0:00 Fantasia (bis 1:17)

1:00 (ab 1:19) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:29) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:42) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 1:49)

2:00 (ab 2:02) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:11) (ab 2:16) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (ab 2:30) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:37) dann modulierend

3:00 (ab 2:55) d-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:01) dann modulierend (ab 3:21) C-dur xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:27) motivisch weiter (bis 3:39) C-dur motivisch weiter bis H-dur-Orgelpunkt (bei 3:51) (hier = Bass-Tremolo)

4:00 (ab 3:56) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:03)  motivisch weiter (bis 4:17) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:24) modulierend weiter – über g-moll 4:40 – bis E-dur-Orgelpunkt (ab 5:01)

5:00 Ende des Orgelpunkts und Anfang des Schlussteils (ab 5:07) a-moll xxxx-xxxx-yyyy-zzzz abgewandeltes Thema (Akkordakzente als Begleitung), (ab 5:25) der vorher ausgesparte Rest des Themas: – zweistimmige parallel oder in Gegenbewegung laufende Sechzehntel – wie im vorigen Teil vor 4:24. Plus lapidarer Schluss. (5:40)

*     *     *     *

Dieser Artikel ist – wie so oft – ein Work in Progress, und ich bin mir darüber im Klaren, dass er hier und da wieder die Dikussion auslöst, ob es nicht eher „zeitgemäß“ sei, – unserer Zeit gemäß -, Bach auf dem modernen Flügel vorzutragen. Im übrigen könne man diese Fuge auch auf dem Cembalo in rasanterem Tempo angehen (und durchhalten). Bei solchen Fragen bin ich auf eine andere Aufnahme gestoßen (worden), die auf dem Cembalo unvergleichlich schön klingt, nebenbei aber auch zeigt, dass eine ganz andere Geschwindigkeit möglich ist, so dass es sich lohnt, über die Mechaniken der beiden Tasteninstrumente aufs neue nachzudenken. Ich schlage vor, bei Philipp Spitta – dem anfangs Zitierten – zu beginnen. Es ist erstaunlich: geschrieben im Jahr 1873.

Ein Klangwunder ohnegleichen, es lohnt sich immer wieder einzutauchen. Oben im letzten Notenbeispiel sehen Sie, was Bach als Vorlage lieferte und dem Spieler zur Ausgestaltung überließ. Wer hätte das geahnt?

Wenn Sie, nach einigen Wiederholungen, sich lösen können und die Fuge anschließen wollen – sie folgt auf dem Fuße – HIER.

Besonders interessant die Differenzierung des Tempos im Bereich des E-Orgelpunktes und der Neuansatz in dem Schlussteil (mit den Akkorden der linken Hand): fast wie eine Stretta, die neue Gestalt des Themas. Sehr überzeugend. Kein „perpetuum mobile“.

Der Interpret ist Léon Berben. Aufnahme 2010. Biographie: https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Berben Website http://leonberben.org/

Und weiter im Spitta:

 

Quelle Joh. Seb. Bach von Philipp Spitta / Dritte unveränderte Auflage / Erster Band / Leipzig Druck und Verlag von Breitkopf & Härtel 1921

JMR 9.3.25

Leichter lesbar: Goebels Geigengeschichte

CD-Booklets, wie schön auch immer geschrieben, sind oft mühsam zu lesen, zu klein, zu farblos; und haben zudem – wenn doch frequentiert – die Neigung spurlos zu verschwinden. Da wollte ich mir (und Freunden) den Zugang erleichtern. Mit schneller Erinnerungsmöglichkeit (auch zum Anspielen) anhand der jpc-Quellen.

Alle Texte natürlich ©Goebel , hier wiedergegeben mit freundlicher Erlaubnis.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/la-cremona-italian-concertos/hnum/11183207 Hier

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/la-cremona-2-konzerte-fuer-3-4-violinen/hnum/12164138 Hier

Mehr erfahren über Prof. Reinhard Goebel über Website: hier

Alte Musik – über 50 Jahre hin

Beispiel Couperin

Biographie

Ausgangspunkt für mich war diese alte CD von René Jacobs, die mich ratlos machte. Ich habe mich beim Abhören gelangweilt und erst ab Tr. 3 (nach 30 Minuten) begonnen, etwas zu begreifen… (Gedanke: es muss an mir gelegen habe, Die musikalische Grammatik war mir geläufig, aber nichts sprach zu mir. Was tun? Ich suche im Kommentar nach Anhaltspunkten, ab Tr.3 schien sich ohnehin von selbst ein Sinn – was ist das? – zu ergeben. Die zwei Gesangsstimmen, die einander folgen, – ist das nicht sogar schön? Ich möchte sie singen sehen! Ihre „Ausdrucksgesten“. Ich habe vorwitzig schon in das unten gegebene zweite Beispiel geschaut… Tun Sie dasselbe, bevor Sie lesen. Erlauben Sie zuerst intensivere Sinnlichkeit…)

Ich versuche, die stilistische Bandbreite zu erkunden… Die unterschiedlichen Wirkungen, je nachdem, ob ich die Interpreten und den Raum sehe oder nicht. Ich brauche natürlich den Text. Die Klagelieder des Jeremias.

Der Text – zum Mitlesen

JOD. Manum suam misit hostis ad omnia desiderabilia ejus; quia vidit Gentes
ingressas Sanctuarium suum, de quibus praeceperas ne intrarent in ecclesiam
tuam.
Der Feind hat seine Hand gelegt an alle ihre Kleinode. Ja, sie mußte zusehen, dass die Heiden in ihr Heiligtum gingen, während du geboten hast, sie sollten nicht in deine Gemeinde kommen.

CAPH. Omnis populus ejus gemens, et quaerens panem; dederunt pretiosa quaeque pro cibo ad refocillandam animam. Vide, Domine, et considera, quoniam facta sum vilis.
Alles VoIk seufzt und geht nach Brot, es gibt seine Kleinode um Speise, um sein Leben zu erhaIten. »Ach Herr, sieh doch und schau, wie verachtet ich bin!«

LAMED. O vos omnes, qui transitis per viam, attendite, et videte si est dolor sicut dolor meus; quoniam vindemiavit me, ut locutus est Dominus in die irae furoris sui.
Euch allen, die ihr vorübergeht, sage ich: »Schaut doch und seht, ob irgendein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mich getroffen hat; denn der Herr hat Jammer über mich gebracht am Tage seines grimmigen Zorns.

MEM. De excelso misit ignem in ossibus meis et crudivit me: expandit rete pedibus
meis, convertit me retrorsum: posuit me desolatam, tota die maerore confec-
tam.
Er hat ein Feuer aus der Höhe in meine Gebeine gesandt und lässt es wüten. Er hat meinen Füßen ein Netz gestellt und mich rückwärts fallen lassen; er hat mich zur Wüste gemacht, dass ich für immer siech bin.

NUN. Vigilavit jugum iniquitatum mearum: in manu ejus convolutae sunt, et impositae collo meo: infirmata est virtus mea: dedit me Dominus in manu, de qua non potero surgere.
Schwer ist das Joch meiner Sünden; durch seine Hand sind sie zusammen geknüpft. Sie sind mir auf den Hals gekommen, so dass mir alle meine Kraft vergangen ist. Der Herr hat mich in die Gewalt derer gegeben, gegen die ich nicht aufkommen kann.

Jerusalem Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Jerusalem, Jerusalem, bekehre dich zum Herrn, deinem Gott!

Aufnahme 1983

Aufnahme 2021

Aufnahme 2024

unser „Stammvater“ Alfred Deller (ich hatte ihn in Saint Maximin (bei Aix) kennengelernt)

Aufnahme 1967

Aufnahme 1960

Hören Sie Alfred Deller mit „Flow my tears“ , – und Sie verstehen, warum ich ihm ewig dankbar bin. (Jaja, es ist vielleicht zu langsam! Stört es Sie im Ernst?)

Wie ich das Deller Consort 1969 kennenlernte: HIER (Kopierfehler leider ausgerechnet in 24:55) Monteverdi: „Hor che’l ciel e la terra“ !

Und heute? Über 50 Jahre später: die Wirkung ist unvermindert!

Alfred Krings (100)

Wer erinnert sich noch an ihn im WDR? Wo finde ich eine Gedenksendung für den ideenreichsten Musikchef, der je fürs Kölner Radio gearbeitet hat? Der u.a. dafür gesorgt hat, dass der WDR zum größten und vielseitigsten Musikveranstalter in NRW geworden ist?

Für Hans Martin Müller, der seinerzeit als Solo-Flötist viele Jahre im WDR Sinfonieorchester gewirkt hat, bleibt er unvergessen, und er hat jetzt dafür gesorgt, dass der 22. Oktober 1924 als besonderer Tag ins Bewusstsein vieler Menschen rückt, die kaum bemerkt haben, dass im Radio-Programm und Im Konzertleben fast alle seine Spuren verwischt sind. Eine der bemerkenswertesten – pars pro toto – hinterließ die Reihe „Nachtmusik im WDR“, die Krings 1972 gründete: jahrzehntelang sorgte sie live für Sternstunden mit einer global ausgerichteten Auswahl.

 

Krings (ganz links) nach einer der Veranstaltungen „Alte Liturgien in Romanischen Kirchen Kölns“ (Foto WDR)

Die letzte, ganz kurze Info ist die einzige Spur seines Lebens, die sich im angeblich allumfassenden Internet leicht finden ließ. Dazu eine Auflistung aller Schallplatten, für die er verantwortlich zeichnete: hier. Ab 1960 bis 1987 bzw. indirekt weiter bis 1999, nach seinem Tode.

Nur das Collegium aureum betreffend, siehe auch hier

Von der schwierigen WDR-Wende der 60er Jahre in der Praxis Alter Musik berichtet die Chronik „50 Jahre Alte Musik“:

Quelle Thomas Synofzik: Collegium musicum und Collegium aureum /oder: Vom Rundfunk zur Schallplatte / Aus: 50 Jahre Alte Musik im WDR 1954-2004 / im Concerto Verlag mit dem Westdeutschen Rundfunk

Völlig neue Horizonte in der Weltmusik öffnete Krings 1969 mit seinem programmatischen Blick auf die Zukunft der Volksmusik, wenngleich es noch etwas vorsichtig anklang: „Durch die Zusammenarbeit mit dem Kölner Institut für vergleichende Musikwissenschaft ergaben sich verschiedene Anregungen mit Musik aus aller Welt.“ WDR-Aufnahmereisen u.a. nach Korea, Bali, Indien und Afghanistan (1974) setzten bald Maßstäbe. Krings gab der Musikethnologie eine Stimme, Marius Schneider und Josef Kuckertz traten durch Radiosendungen an die breite Öffentlichkeit.

Quelle Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk / Eine Dokumentation der Hauptabteilung Musik 1958-1968 / WDR Köln

Goebel – alte Texte wieder frisch

Oder: Ein Vermächtnis aus jungen Jahren, fortgesponnen

Wie soll man darüber reden? Der einst revolutionäre Griff nach der Alten Musik ist brisant geblieben, man staunt, dass wirklich Jahrzehnte vergangen sind, seit man sie – um Bachs und Monteverdis willen – insgesamt zur Kenntnis genommen hat. Und nicht nur dank Reinhard Goebel und in seinem unmittelbaren Umfeld. Es hat insgesamt – man kann sagen: weltweit – Schule gemacht. Man beachte, was allein die Heidelberger Schola – inspiriert durch die Neue Musik – an Projekten entwickelt hat, etwa zum Rätsel Gesualdo da Venosa („Eros und Gewalt“ ).

Zurück zu Reinhard Goebel, dem man heute vielleicht zum ersten Mal auf die Schliche kommen kann, ohne das Gesamtwerk in hundert Einzelaufnahmen und zahllosen verstreuten Quellen um sich versammeln zu müssen. Überhaupt: für seine glänzende Sprache braucht man kein Studium (das hat er selbst schon geleistet), sondern das gleiche unstillbare Interesse an lebendiger Musik, das ihn selber auszeichnet.

Geplant waren einige Anmerkungen, die ich während der Lektüre des Goebel-Buches besonders memorabel fand. So im ersten Text (Seite 15 ff) » Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…« die nicht weiter spezifizierte Quelle eines FAZ-Artikels aus dem Jahr 2009, der Goebel zu den Worten veranlasste: „Alles hier über Rezeption und Darstellung des Mittelalters Gesagte trifft auch den musikalischen Barock-Nagel mitten auf den Kopf.“ Schon ist der Goebel-Fan begierig, so detailliert wie möglich zu eruieren, worum es sich dabei handelt, und stößt dabei auf ein Buch, das in der  Anmerkung 1 des Vorwortes einen klärenden Weg zur Quelle anbietet.

¹Mittelalter-Symposion. Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. 24.09.2009−26.09.2009. Pädagogische Hochschule Freiburg. Vgl. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667 (Konferenzankündigung von Thomas Martin Buck); http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2835 (Tagungsbericht von Nicola Brauch). Siehe auch den Bericht von Maik NOLTE, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2009, Nr. 302, S. N3.

Das Werk lohnt sich insgesamt als Einübung in die Mediävistik, vorausgesetzt man lässt sich wirklich auf die echte Fährte ein: Hier ist das gesamte Vorwort und die Inhaltsangabe zu dem betreffenden Mittelalter-Symposion, das 2009 in Freiburg stattgefunden hat.

Aus fünf Kapiteln Fankreich von »Le Roi Danse« bis Spätbarock

Man definierte sich in Frankreich ganz einfach und rigoros neu, löste alle alten Bindungen und schuf neue Wege, die Musik optimal der Prosodie der französischen Sprache anzupassen. Selbst der Opern-Prolog diente nicht mehr dazu, die Götter als die das Schicksal bestimmenden Mächte einzuführen. Stattdessen sang man hier unverhohlen das Lob des Herrschers, und slbst des Göttern war es eine Ehre, dem Sonnenkönig zu huldigen: Selten wurd Musik so eindeutig zum Politikum.

Dem reinen, absoluten Gehalt der Sonate oder des Concerto jedoch standen die Franzosen weitgehend ratlos gegenüber. Frankreich geriet in Aufruhr, als nach mehr als 60jähriger Herrschaft des Sonnenkönigs mit Konzerten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« erstmals wieder unpolitische, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Musik zur Aufführung kam. (…) Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen

Nie aber ist sie intellektuelle Kunst, die um ihrer selbst willen existiert und wahrgenommen werden will. Das Absolute ist ihrem Wesen fremd. (Goebel Seite 27)

Im Jahr 1700 lag übrigens auch eine der Notenschrift im weitesten Sinne vergleichbare Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen vor, (…) basierend auf den Vorarbeiten des Monsieur Pierre Beauchamp, der 1635 geboren, noch mit allen Meistern der Frühzeit – Robert Cambert, Molière und Pierre Perrin – gearbeitet und sämtliche Opern und Ballette des königlichen Hofes bis 1686 choreographiert hatte.  (…)

Zum Debütstück für den ersten solistischen Auftritt dieser jungen Mädchen wurde nach 1715 das Werk »Les Caractéres de la Danse« des Lully-Schülers Jean-Féry Rebel, der zwanzig Jahre später mit seinem inzwischen wieder häufiger gespielten »Le Cahos« noch ein weiteres Mal Geschichte schreiben sollte. Die Tänze – sie basieren übrigens auf der Idee des Sonnenkönigs, dass alle Provinzen Frankreich[s] durch einen typischen Tanz am Hofe zu repräsentieren seien – haben alle neben einem charakteristischen Tempo ein klar bestimmtes Figuren- und Bewegungsprofil, und so wurde das Stück zum Prüfungsstück für die Tänzerinnen – nicht nur in Paris, sondern auch in London und Dresden – und obgleich man immer behauptet, dass »Les Caractéres« völlig neuartig gewesen seien, basiert das Werk dennoch auf dem Auftritt des Maître des Danse in der ersten Szene von Molières und Lullys »Bourgeois Gentilhomme«, wo der Tanzmeister dem einfältigen Bürger Jourdain einen kurzen Einblick in seine Kunst gewährt […]. (Goebel Seite 29)

Youtube-Beispiele, an dieser Stelle nicht durch das Buch autorisiert, sondern vom Abschreiber JR als Nachhilfe ausgewählt und eingefügt:

Erinnerung an die Aufnahme vom „Bourgeois Gentilhomme“ mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (1973):

Man höre sorgfältig die Ausführung der Ouvertüre, insbesondere die Punktierungen, um zu verstehen, was 10 Jahre später geschehen ist. Uns Mitspielern war oft selbst nicht recht klar, welche alten Schriften zur Überpunktierung „berechtigten“ oder warum und ab wann es doch wieder anders zu lesen oder zu interpretieren war. Der Name Neumann (Frederick) wurde genannt, ohne dass damals die leichte Internet-Orientierung von heute vorauszusetzen war, es blieb im ungefähren. Goebels Aufnahmen der Bachschen Ouvertüren entstanden in den Jahren 1982 und 1985, für mich ganz starke Eindrücke, – sie beruhten auf den neuen Überlegungen, die Goebel auch gewissenhaft dargelegt hat (Seite 150 ff). Heute könnte man das hier nacharbeiten: Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music, with Special Emphasis on J.S. Bach (Frederick Neumann 1978).

Goebel:

Diese Auffassung von den synchronisierten Überpunktierungen basiert eindeutig auf Fehlübersetzungen und -interpretationen der Flötenschule von Quantz (XVII. Hauptstück, VII. Abschnitt, § 58).

(…) Für den Tuttisten um 1720 galt genau die gleiche Regel wie für den Tuttisten des 20. Jahrhunderts: Kein rhythmischer Wert wird verändert. Wenn Quantz dennoch von scharfen Punktierungen redet, so im Zusammenhang von Tanzsätzen nach französischer Manier -aber die Ouvertüre ist nun einmal kein Tanzsatz. Quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Solisten aus augenblicklicher Caprice erlaubt ist, nämlich die Veränderung des vorgegebenen Notentextes, ist dem Tuttisten schlichtweg verboten. (a.a.O. Seite 152f)

Siehe auch hier. (=Blog-Artikel „Wie Goebel in Frankreich“.)

Neugierig geworden: Wer war „Fritz“, ein unbekannter Bach, wie klang seine Musik? Ein Anfang sei gemacht mit diesem Stück aus „Pygmalion“:

Alle Titel der Goebel-CD „Cantatas of the Bach family“ anspielen: hier

Dreißig Jahre lang stellte Johann Sebastian Bach die musikalische Speerspitze der Welt: Sie war immer genau dort, wo er war, in seinen Händen und auf seinem Schreibtisch. Um 1735 aber drängten ambitionierte Konkurrenten auf den Markt und zeigten Bach, wo das neue Vorne war: im galanten Stil, der sich ab 1715 von Neapel aus nach Norden verbreitete und der flamboyanten, religiös bedeutsam verschlüsselten und manchmal auch überlasteten Musik des Spätbarock etwas entgegen stellte – eine einfachere Musik mit leichter verstehbarer Harmonik und im weitesten Sinne singbaren Melodien mit weniger komplexer Polyphonie.

Bachs Söhne, ebenfalls gestandene Musiker, die zu einflussreichen Komponisten heranwuchsen, hatten das Handwerk bei ihrem Vater gelernt – aber bei aller Verwurzeltheit in der Tradition des großen Johann Sebastian sind diese modernen Einflüsse auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Wilhelm Friedemann Bach deutlich zu erkennen. Bei Carl Philipp ist der Prozess der musikalischen Emanzipation nur noch mittelbar nachvollziehbar, da er einen guten Teil seiner Kompositionen aus jener Umbruchzeit verbrannte – eine hier erstaufgenommene Sinfonie in F-Dur kann ihm mit der nötigen musikwissenschaftlichen Vorsicht zugeschrieben werden.

Ebenfalls eine Weltpremiere ist die Aufnahme der dreisätzigen Solo-Kantaten Carls »Ich bin vergnügt mit meinem Stande«. Eine gar dritte Erstaufführung erlebt hier die Sinfonie in B-Dur Wilhelm Friedemann Bachs. Abgerundet von Musik von Bachsohn Johann Christoph Friedrich und einer Kantate des Übervaters Johann Sebastian selbst macht diese grandiose neue Produktion der Berliner Barocksolisten und dem gefeierten Bariton Benjamin Appl unter Leitung von Reinhard Goebel die musikalische Metamorphose des 18ten Jahrhunderts akustisch erlebbar.

Weiterlesen und -suchen:

http://www.musicweb-international.com/classrev/2020/Dec/Bachfamily-Cantatas-HC19081.htm hier

(Ensemble) Pygmalion interprète la Cantate „Es erhub sich ein Streit“ de Johann Christoph Bach sous la direction de Raphaël Pichon. Extrait du concert enregistré le 7 avril 2023 à la Chapelle Royale de Versailles.

Text verfolgen nach analytischer Abschrift ©Clemens Flämig August 2022 (Quelle: https://www.bachipedia.org/werke/bwv-19-es-erhub-sich-ein-streit/ hier)

Da ich die Goebel-CD seltsamerweise übers Internet nicht bestellen kann, habe ich einen Ersatz finden müssen (27.09.24), bemerkenswerterweise schon aufgenommen 1988:

Text: Hannsdieter Wohfahrt

ENTSCHULDIGUNG! Da ich von Goebels im Buch veröffentlichten Texten ausgehe, zu denen ich mich etwas frei „auslasse“, – auch ohne alle CDs besitzen, denen sie ihre Entstehung verdankten -, kann ich in einer gewissen Konfusion enden wie JETZT. Ich hatte gehofft, mehr über „Pygmalion“ und den Bückeburger Bach-Sohn zu erfahren, fand Goebels Ausführungen wie immer erhellend, ohne recht zu bemerken, dass er sich unvermerkt gänzlich auf das die CD abschließende Werk des alten Bach bezieht, die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, mit einigen Seitenblicken wiederum auf dessen rhetorische Prinzipien docere, movere & delectare. Für uferloses Staunen und Studieren sei auch der Youtube-Link wenigstens zu dieser Aufnahme beigesteuert: hier.

In Goebels Text blieb ich u.a. stecken bei der Bemerkung:

Zauberhaft unbeantwortet bleibt die Frage: »Hat er nun, hat er nicht?«

Erst allmählich fiel der Groschen: Diese Frage kann sich nur aus dem maßlosen Wunschziel des „Pygmalion“ ergeben, – wobei Goebel seinen Kopf dezent aus der Schlinge zieht, indem er von dem sinnlichen Begehren hinüberlenkt zu der Todesfreude des trunken in den Himmel tanzenden Simeon, und damit zur „Climax“ der Kantate „Ich habe genug“. Was mir an Reinhard Goebel von Anfang an auffiel, war sein eigenartiger Humor, eine zuweilen etwas drollige Respektlosigkeit. Bei den Aufnahmeprojekten unseres Lehrers Franzjosef Maier inmitten des Ensembles Collegium aureum erlebte ich ihn 1974 zum erstenmal als jungen Kollegen, witzig, wortgewandt, aufmüpfig, belesen. „Missa Salisburgensis“! Siehe alle Mitwirkenden…

1974

Kein Zweifel: man sollte auch seine „besserwissende“ Aufnahme kennen:

1989 (2024)

(Blog-Artikel unvollendet, Fortsetzung folgt, vielleicht)

Zuschrift aus Düsseldorf-Oberkassel betr. einen SWR-Link zu aktuellsten Goebel-Sendungen, 10.10.2924, Dank an Christel H.!

https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/reinhard-goebel-der-Kopf-macht-die-musik-100.html HIER