Privates und Musikalisches
Was hat denn eigentlich, so frage ich mich, der mehr oder weniger zufällige Lauf meines Lebens mit den geistigen Phänomenen zu tun, die sich in seltsamsten Wechselwirkungen manifestieren?
Meine private Musikgeschichte begann mit dem getanzten Bi-ba-butzemann und mit schwerfälligen Russenliedern. Zwei Brüder (4 und 6) als Soldatenchor. Greifswald – das wussten wir nicht – war kampflos übergeben worden, während Anklam lichterloh brannte. Ich bin in einem zerstörerischen Weltkrieg Ende 1940 geboren, habe jahrelanges Chaos erlebt, das ich nicht einzuordnen wusste, Kälte, Hunger, endlose Eisenbahnfahrten, und bin doch nach 20 Jahren – in Lohe bei Bad Oeynhausen und Bielefeld – an einen Punkt gelangt, von dem aus ich mit vielen Punkten dieser Welt freundliche Verbindung aufnehmen konnte. Nachträglich sieht es fast wie Planung aus, aber da war nichts, nur der Vorsatz, nach dem Abitur etwa 10 Jahre lang zu studieren, Musik im Zentrum, darüberhinaus möglichst viel Wissen und Können zu erwerben – wer weiß was wieviel und wo, nur nicht drauflos wie wild, sondern immer mit den zugehörigen Abschlüssen. Niemand sollte sagen können, ich wisse nicht, was ich wolle, mal dies mal das. Ich kritisierte tatsächlich tüchtige Mitschüler, die beim Abitur bereits wussten, wohin die nächstfolgende Ausbildung führen würde, dass sie also gewissermaßen einen glasklaren Lebensplan erfüllten, alles im Griff hatten, alles im Blick, bis hin zu den aus der Ferne winkenden Pensionsbezügen.
Kurz: bei mir lief es anders, mit vollem Risiko, besonders als sich Nachwuchs einstellte, eine unverhoffte Aufgabe, die mein Studium generale nicht beeinträchtigte, vor allem intensivierte sie die pädagogische und philosophische Begleitlektüre. Ich extrahiere hier einmal das entscheidende Jahrzehnt aus einer Bio-Bilanz, die ich wohl 2005 angefertigt habe (s.a. hier ohne die Unschärfen der Kopie). Weichenstellung! Sofort sehe ich aus der Mitte des Textes das Wort Beirut bedeutungsvoll hervorleuchten: im Apri 1967 hätte ein verlockendes Angebot aus dem Goethe-Institut Tripolis fast bewirkt, dass wir unseren Lebensmittelpunkt für ein paar Jahre dorthin verlegten. Ich gab meinem Studium in Köln schon mal eine neue Wendung: Musikethnologie mit Schwerpunkt Beduinenmusik. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 machte die Libanon-Pläne zunichte, zugleich rückte daheim der WDR ins Blickfeld. Der Lebensunterhalt war gesichert. Allerdings entwickelten die fremden Kulturen eine bleibende Faszination, ich konnte nichts von dem aufgeben, was ich einmal aus der Nähe kennen- und liebengelernt hatte. Und die arabische Musik ist mir beim Aufschreiben und Analysieren für die Dissertation besonders ans Herz gewachsen. So erlebte ich einen kleinen arabischen Frühling, als mir JMR jetzt das neue Beirut-Heft mitbrachte. Plötzlich fand ich darin all die Themen wieder, die mich jahrelang beschäftigt haben. Qasida, Mawwal al Bagdadi und das Rauschen der alten Baidaphon-Schallplatten, die aus einer versunkenen Epoche wieder auferstehen wollen und heute dank Internet plötzlich mühelos abrufbar sind.
Hier folgt eine von vielen Qasiden aus meinem syrisch-libanesisch getönten Lebensabschnitt Ende der 60er Jahre, als jede Baidaphon-Schallplatte, die Marius Schneider mir auf den Tisch legte, mich wochenlang beschäftigte. Man legt die beiden Blätter nebeneinander, links sind die Instrumentalteile, denen auf der rechten Seite eine Strophe folgt. Das Untereinanderschreiben der Strophen und der Zwischenspiele erlaubt ein detailliertes Vergleichen der Varianten und Konstanten, woraus sich das eigentliche Hörvergnügen entwickelt. Vor dem „geistigen Ohr und Auge“ bildet sich die differenzierte Gestalt dessen, was die gebildeten Araber „Maqam“ nennen. Sie brauchen dafür keine Notenschrift. Ob der Volksmusiker davon weiß, steht dahin, er macht eher intuitiv Gebrauch von einem unbewussten Arsenal melodischer Formeln und Formen, das ihm die mündliche Tradition bereitstellt.
Daraus ergab sich allmählich der ganze Ablauf der Dissertation, es hat Jahre gebraucht, ehe ich verstand, warum und in welchem Unfang der Maqam Sikah mit seiner Grundformel aus drei Tönen zum unerschöpflichen immateriellen Kulturerbe des Orients gehört. Wie so oft in meinem Leben lichtet sich das Chaos, nach langer Vorarbeit, wie durch ein Wunder, „von selbst“.
Heute erfahre ich in Kürze viel mehr, als mir damals das Morgenländische Institut Beirut in Wochen mit Marius Schneider und Salah el-Mahdi (aus Tunis) vermitteln konnte. Den Weg gewiesen hat mir Diana Abbani mit ihrer Arbeit „Auf der Suche nach Beiruts Klang“, veröffentlicht in der Zeitschrift für Ideengeschichte, Verlag C.H.Beck, auffindbar im folgenden Link: www.z-i-g.de hier
Es ist ein Hörvergnügen, in die folgende Reihe einzutauchen, der wohltönenden arabischen Sprache zu lauschen, zugleich dem englischen Text zu folgen und die zahlreichen eingestreuten Musikbeispiele zu genießen, vielleicht sogar den Versuch zu wagen, sie mitzusummen: Liebe Leserinnen, lieber Leser, hörend werden Sie sich ganz allmählich zu Hause fühlen – und vielleicht in der nächsten Nachrichten-Sendung mit den Tränen kämpfen.