Archiv für den Monat: November 2017

Mozart loben

Gesunde Hemmungen

Kürzlich habe ich mal wieder Mozarts Klaviersonaten aufgeschlagen und bin beim Allaturca gelandet, dass man gern überschlägt, weil es halt „zu populär“ ist. Ja, gerade deshalb übt man’s nicht, weil man sich ein bisschen lächerlich dabei vorkommt. Besonders bei den Tschingderassa-Teilen, mit den Holzhammer-Vorschlägen im Bass und dem Gerassel im Diskant. Aber die Sechzehntel-Ketten im fis-moll/A-dur-Teil: kannst Du das eigentlich richtig gleichmäßig, ohne den kleinsten Stolperer in den Dreh- oder Angelpunkten?  Gut, man hat sich schnell hinein verbissen, plötzlich wieder in Begeisterung; eine sportliche Sache. Man arbeitet sogar den allerletzten Teil noch penibel aus, damit gerade der Lärm perfekter klingt (die drei Vorschlagsnoten im Bass nicht irgendwie, sondern VOR der Eins, damit der Hauptton im Bass genau mit der Eins der rechten Hand zusammenfällt usw.), und dann stecke ich tagelang im Satz davor, im Menuett, Schöneres gibt es nicht, das Trio, ein „Reigen seliger Geister“, Balance beobachten in diesem wundersamen Klaviersatz mit übergreifender linken Hand, das alpenländische Flair, die tschilpenden Spatzen… 100 Mal, das darf kein Ende haben! Und schließlich der erste, der Variationensatz, – ohne das Thema: da gibt es eine heilige Scheu, es ist zu schön, um es anzufassen. Und das Schlimmste – jeder, JEDE, die es hört, sagt: Ah, das ist Mozart, das ist schön. Wie arrogant soll man eigentlich reagieren, um diese Seufzer in die Schranken zu weisen!? NEIN, das meine ich nicht. Bitte keinen Mozart aus der Weihnachtsbäckerei! Es beginnt also damit, dass ich mir das Wort „schön“ verbitte. (Oder doch nicht, die Höflichkeit verbietet’s.) Wie oft haben wir schon (in Bonn!) darüber diskutiert. Jemand hat einen Töpferkurs absolviert und sagt: „Ich bin auch Künstler!“ Und man kann nur sagen: Gewiss, aber ich nicht, es lebe Joseph Beuys! Und schon hat das Mozart-Lob ein Ende.

Zurück zu Mozart, – wie kann man darüber sprechen? Endlich habe ich den Text gefunden, indem ich mal wieder das Zauberbuch „Denken und Spielen“ aufgeschlagen habe. Es hat kein Register, aber ich habe im Laufe der Jahre selbst eins auf der Innenseite des Einbandes angelegt. Ich werde das Richtige finden…

Uhde Stichworte Index Uhde Cover

ZITAT Seite 168

Mozart Uhde

ZITAT Seite 400 f (Notenbeispiele weggelassen)

(…) oder auch an jenes Variationenthema der A-Dur Sonate KV 331, ([folgt 1 Zeile Thema im Original] das so bekannt und in aller Ohren ist und dennoch sein Geheimnis, seinen Zauber so selbstverständlich bewahrt. Wie im verklärten Anschauen müßte es dargestellt sein, ganz für sich und ohne die mindeste Initiative auf den Prozeß hin, der dann – im Grunde überraschend – aus diesem einzigartigen, einer Fortsetzung unbedürftigen musikalischen Moment hervorgeht. Wie zögernd steigen dann in der ersten Variation zarte subjektive Regungen auf, die sich in Variation 2 kräftigen und in das klagende Cantabile der dritten in a-moll münden. Aber hinter ihr zieht schon das sanfte Leuchten der vierten herauf, und dieser Augenblick darf vom Interpreten nicht expressiv gestaltet, sondern nur passiv hingenommen werden, er ist ein Geschenk wie nur das Thema. Das Adagio, Variation 5, artikuliert in betontem Kontrast dazu das eindringlichste subjektive Espressivo, ehe die sechste Variation in distanzierter Vitalität den Fernblick auf das Finale eröffnet, dessen Janitscharen-Nachklänge sich im Gesamtzusammenhang des Werkes so befremdlich ausnehmen. Indessen ist das fast mechanistische Figurenwerk dort als äußerster Kontrast zum beseelten Beginn zu verstehen: zwischen diesen beiden Polen rezeptiver Charaktere schwingt der gestische Rhythmus dieses Werks.

Bei Beethoven, Schubert und späteren Komponisten bildet die Musik dann nahezu programmatisch solche Inseln rezeptiven Charakters im Strom als Widerpart zum voranschreitenden Drama oder zum rastlosen Immerweiter, ja selbst zur lyrisch bewegten Kundgabe. Weithin lebt seitdem die musikalische Gestalt vom Wechsel dieser Charaktere. Er konstituiert mit den Sinn. Beethoven, der Protagonist schrankenloser Subjektivität, hat radikaler als jemals einer zuvor den objektiven Widerstand in seiner Musik dargestellt und die Charaktere freier subjektiver Beseelung denen von Notwendigkeit konfrontiert. Im ergreifenden Dialog prägt dies Programm den langsamen Satz des G-Dur-Klavierkonzerts.

(Uhde/Wieland Denken und Spielen Seite 400-404)

*   *   *

Selbstverständlich gilt diese Auffassung nicht generell für Mozart. An anderer Stelle führen die Autoren aus, wie sinnvoll es ist, gerade bei Mozart von Ich-, Du- und Wir-Charakteren zu sprechen.

Daß nun spontane musikalische Regungen sich oft an einem Gegenüber artikulieren, das zeigt sich strukturell schon im allgegenwärtigen Spiel von Frage und Antwort. Musik sagt nicht nur Ich, sie sagt Ich und Du und Wir. Der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, der vor allem die Kammermusik als Diskurs galt, war dies gegenwärtig. Klaviermusik versetzt häufig Kammermusik auf ihr eines Instrument, und es ist eminent fruchtbar, solch kammermusikalischen Diskurs aufzuspüren.

Mozarts Sonate F-Dur KV 533 ist, vor allem in ihrem 1. Satz, quasi ein Klaviertrio.

(…)

Nur der weitere Verlauf kann darüber Auskunft geben, ob einer allein für sich, im inneren Dialog weiterdenkt oder ob gleichsam eine andere Person eingreift und eine neue Wendung herbeiführt. Blickt man in dieser Weise gerade auf Mozart, so mag sich ein Vorhang öffnen: viele seiner Instrumentalstücke offenbaren sich frei verstanden als Opern en miniature. Formale Analyse könnte nur Vorstufe zu einer Betrachtung sein, die ein Stück als Handlung wechselnder Charaktere und Situationen auf imaginärer Bühne sieht. Kundgabe eines Einzelnen, Dialog, Ensemble, Chor, das vokale Element also, steht gegen orchstrale Aktion; und so treten in Mozarts Instrumentalmusik vielerorts vokale und instrumental-orchestrale Charaktere einander gegenüber.

(Seite 386 F-Dur-Sonate KV 332)

Die Musik kennt aber neben Monolog, Diskurs, Koaktion imaginärer Individuen auch kollektive Wir-Charaktere. Märsche, Prozessionsgesänge, Hymnen, Choralgestalten gehören dazu, nicht weniger aber Charaktere ungeregelter Massenbewegung, von Getümmel und Tumult. Das solistische Denken neigt dazu, nur „Ich“ zu sagen und übersieht leicht diesen pluralen Ausdruck. Werden aber gewisse Stellen nicht als Gesten eines ich, sondern eines Wir verstanden, so weitet sich die musikalische Gebärde, vertieft sich der musikalische Atem; und der überanstrengte, falsch-titanische Gestus, der einem Einzelnen zumutet, was nur Viele tun können, entspannt sich.

(Seite 389 zu Beethoven Diabelli 1. Variation, auch Schubert!)

Nachbemerkung

Ich hätte gern noch eine andere Frage geklärt (und würde einen Schüler danach befragen): was bedeutet in Mozarts Thema (s.o.) das sf im 4.Takt auf dem 3. Achtel. Wozu dieser Eingriff in den „natürlichen“ Schwerpunktverlauf? Ist es purer Mutwille bei Mozart, – so wie oft bei Beethoven? Wie stark darf das Sforzato denn sein? Der Akkord auf 3 hat ja außerdem einen Vorhalt (ein e“ vor d“), eine Dissonanz, die als solche bereits betont wirkt.

Lust auf Latein

SENECA heute

Seneca 50er Cover   *  *  *Seneca 50er   *  *  *

Ich kann mich gut erinnern, wie sich eine Glocke von Langeweile über die Schulklasse senkte, sobald diese Heftchen vor uns auf den Pulten lagen. Und es war doch noch nicht lange her, dass ich mit Begeisterung den Roman „Quo vadis“ gelesen hatte, auch den Kinofilm dann seit 1954  mehrfach gesehen habe, und nicht im Traum daran dachte, dass dieser Seneca identisch sein könnte mit dem, der beim Gastmahl an Neros Tafel saß. Vielleicht im Gespräch mit Petronius, dem „arbiter elegantiarum“… Dies Wort kenne ich ja nur von dort! Sicher hatte ich einen Pons unter dem Seneca liegen, wie etwas Unerlaubtes, ich ahnte aber nicht, dass dies eine interessante „private“ Botschaft aus der Antike werden könnte, wenn man nur mit Phantasie etwas nachhülfe. Nein, ich befand mich ja in der Schule, Ratsgymnasium Bielefeld.

Der richtige Umgang mit der Zeit
SENECA LUCILIO SUO SALUTEM
(1,1) Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat, collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse, ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et si volueris adtendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.
(1,2) Quem mihi dabis, qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cottidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit; quidquid aetatis retro est, mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas conplectere; sic fiet, ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris.
(1,3) Dum differtur vita, transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit, quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est, ut, quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, inputari sibi, cum inpetravere, patiantur, nemo se iudicet quicquam debere, qui tempus accepit, cum interim hoc unum est, quod ne gratus quidem potest reddere.
(1,4) Interrogabis fortasse, quid ego faciam, qui tibi ista praecipio. Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum sed diligentem evenit, ratio mihi constat inpensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum, dicam; causas paupertatis meae reddam. Sed evenit mihi, quod plerisque non suo vitio ad inopiam redactis: omnes ignoscunt, nemo succurrit.
(1,5) Quid ergo est? non puto pauperem, cui, quantulumcumque superest, sat est; tu tamen malo serves tua, et bono tempore incipias! Nam ut visum est maioribus nostris, ’sera parsimonia in fundo est‘); non enim tantum minimum in imo sed pessimum remanet.
Vale!
Seneca grüßt seinen Lucilius
(1)  Tue es so, mein Lucilius; rette Dich Dir selbst; sammle und bewahre die Zeit, die Dir jetzt bald geraubt, bald entwendet wurde, bald entschlüpfte. Glaube mir, es ist so, wie ich schreibe: ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer unbemerkt entzogen, ein dritter zerrinnt uns. Doch der schimpflichste Verlust ist der, der aus Nachlässigkeit erwächst; und betrachten wir’s genauer, so verfließt den Menschen der größte Teil der Zeit, indem sie Übles tun, ein großer, indem sie nichts tun, das ganze Leben, indem sie andere Dinge tun als sie sollten.
(2) Wen willst Du mir nennen, der einigen Wert auf die Zeit legte, der den Tag schätzte, der es einsähe, dass er täglich stirbt? Das ist unser Irrtum, dass wir den Tod in der Zukunft schauen: er ist zum großen Teil schon vorüber; was von unserem Leben hinter uns liegt, hat der Tod. Also, mein Lucilius, tue, wie Du schreibst; halte alle Stunden zusammen; ergreife den heutigen Tag, so wirst Du weniger von dem morgigen abhängen.
 *
(3) Indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber. Alles, mein Lucilius, ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser. Dieses so flüchtige, so leicht verlierbare Gut, ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat; und doch verdrängt uns daraus, wer da will. Und so groß ist die Torheit der Sterblichen, dass sie das Geringste und Armseligste, wenigstens das Ersetzbare, haben sie es empfangen, sich aufrechnen lassen, dagegen niemand sich in Schuld glaubt, wenn er Zeit erhalten, während diese doch das einzige ist, was auch der Dankbare nicht erstatten kann.
 *
(4) Du fragst vielleicht, was ich denn selbst tue, der ich Dir diese Lehren gebe. Ich will es Dir offen gestehen. Es ist bei mir wie bei dem, der viel Aufwand macht, aber sorgfältig Buch führt; die Rechnung über meine Ausgabe ist in Ordnung. Ich kann nicht sagen, dass mir nichts zugrunde gehe; aber was zugrunde geht, und warum und wie, vermag ich zu sagen; die Gründe meiner Armut kann ich angeben. Allein es geht mir wie den meisten, die ohne ihr Verschulden in Dürftigkeit geraten sind: jeder verzeiht, niemand hilft ihnen.
(5) Doch – was ist’s? Ich halte den nicht für arm, dem das wenige genügt, das er übrig hat. Dir aber rate ich, spare was Du hast, und fange bei guter Zeit an. Denn wie unsere Alten meinten: „Zu spät ist es, auf der Neige zu sparen.“ Denn nicht bloß wenig ist es, sondern auch das Schlechteste, was auf dem Boden bleibt.
Lebe wohl!

(Die obige Synopsis verdanke ich der Website www.gottwein.de)

Wäre es möglich gewesen, mich für immer an solche Lektüre zu binden, wenn es damals schon Lehrbücher gegeben hätte wie heute? Nun ist das folgende ganz neu, winkt mit Informationen über Freizeit und gehört vielleicht zu den Glücksfällen. Zudem mindert sich leicht der Anreiz einer Aufgabe, sobald sie zur Pflicht wird. Vor allem auch in der Gruppe, in der immer ein latenter Wettbewerb läuft und die Gefahr, zu unterliegen oder eine schlechte Figur zu machen, nie auszuschließen ist. Immer wieder irritiert es mich, auf welche Weise neugierige, wissbegierige Kleinkinder in der Schule zu verdrossenen Lernern werden, die aus lauter „Coolness“ Front machen gegen sogenannte „Streber“ in ihren Reihen. Wer die winzige Schwelle hinnimmt, – überhaupt zu einer Leistung aufgefordert, zu bestimmten Reflexionen angehalten zu werden, auf die man vielleicht lieber selbst gekommen wäre, der liest mit größtem Vergnügen. Er oder sie kann gar nicht anders. Der Ton ist seriös, und doch locker genug („wer dies liest, ist doof“), das Angebot so verlockend und aktuell (!) – etwa über Zeitmanagement heute und Massenveranstaltungen bei den Römern -, dass man schnell eingefangen ist. Ich überspringe ungern die ersten Seiten, um sofort – oh je: aus didaktischen Gründen – an den schon zu Beginn dieses Artikels angebotenen Text anzuknüpfen:

Seneca heute Cover Vandenhoeck & Ruprecht Leseproben HIER.

Seneca Hengelbrock Seneca Hengelbrock f  *  *  *Seneca Hengelbrock ff Seneca Hengelbrock fff *  *  *

Ein Wort noch zum Autor des Lehrbuchs (für ältere oder sogar – alternde Schüler): Dr. Matthias Hengelbrock. Ich wäre vielleicht nie ohne Facebook auf diese Quelle des Wissens gestoßen. Ich kenne ihn allerdings schon länger als Fachmann für Alte Musik, er besitzt – anders als ich – tatsächlich alle LPs und CDs, die es vom Collegium Aureum gab und gibt, und natürlich alles, was er sonst noch braucht für seine Tätigkeit in der Jury „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“, also unendlich viel, siehe HIER.

Beethoven in unserm Universum

Beethoven Cover 2x 1979 / 2017

Möchte man’s glauben? Zwischen diesen Büchern liegen bald 40 Jahre. Aber was kann Beethoven dafür. Er schaut von der Missa Solemnis auf, 1820, zeitlos genialisch, zweifellos idealisiert, obwohl nach dem Leben gemalt und von Beethoven autorisiert. Eine Lithographie des Gemäldes (siehe hier) hat der Komponist handschriftlich seinem alten Freund Franz Wegeler gewidmet.

Das Originalgemälde war in Auftrag gegeben worden von den Eheleuten Franz und Antonie Brentano, denen Beethoven seit 1810 freundschaftlich verbunden waren. Und wo auch immer von der „Unsterblichen Geliebten“ die Rede ist, fällt auch der Name dieser Frau, den Beethoven in dem rätselhaften Liebesbrief vom 6./7. Juli 1812 allerdings nicht genannt hat, stattdessen: „Mein Engel, mein Alles, mein Ich“.

In beiden Büchern findet man ein Kapitel über dieses Geheimnis der Unsterblichen Geliebten. Bei Solomon ergibt sich eine detektivisch detaillierte Studie von 32 Seiten, Ergebnis: es kann nur Antonie gewesen sein. Während Martin Geck auf der ersten von 14 Seiten entscheidet:

Wir lassen den „Engel“ dort, wo er ist, nämlich im Reich des „Mythos Beethoven“, und fragen stattdessen nach der Essenz des Briefes.

Folgerichtig tendiert er dazu, die kryptischen Buchstaben, die in Beethovens Notizen für bestimmte Namen gesetzt sind, als bloße Chiffren zu betrachten. Bei dem A. (für Antonie?) könnte es sich auch um einen Schreibfehler des Kopisten handeln (das Original ist verschollen). Und dann:

Bereits 1807 war ihm in Baden bei Wien, „als die M. vorbejfuhr und es schien als blickte sie auf mich“, der Seufzer entfahren: „Nur liebe  ja nur Sie vermag dir ein Glücklicheres leben zu geben – o Gott – laß mich sie – jene endlich finden – die mich in Tugend bestärkt – die mir erlaubt  mein ist“. Immer wieder gibt es Hinderungsgründe, in diesem Fall mögen sie im Familienstand der im Wagen vorbeifahrenden Dame gelegen haben. Wer ist diese „M“? Man weiß es nicht und muss es auch nicht wissen: Der Buchstabe ist eine Chiffre für den schicksalhaften Mangel an geglückten Liebesbeziehungen. (Geck Seite 184)

Wie bitte? Maynard Solomon bezieht sich auf dieselbe Notiz und darüberhinaus auf eine vorhergehende mit dem Kürzel T., – der frühe Biograph Thayer erwähnt, dass es sich um die auch „Toni“ genannte Antonie Brentano gehandelt haben könne und bringt das mit dem Kürzel M. in Zusammenhang:

Thayer behauptet zwar nicht, „T“ und „M“ seien ein und dieselbe Person gewesen, er sagt nur, es könne so sein, und fährt fort: daß „der Anblick der M. eine halb geheilte Wunde wieder aufriss“. Diese bisher rätselhafte Passage bei Thayer wird kristallklar, wenn wir annehmen, „T“ sei Toni gewesen und „M“ ihre Tochter Maximiliane, deren Anblick 1817 (meinte Thayer) in Beethoven das Bild ihrer Mutter wieder aufsteigen ließ. (Solomon S. 204)

Das klingt zwar hier in meiner abkürzenden Wiedergabe recht umständlich, aber so mäandert zuweilen das Leben.

Und wenn Martin Geck glaubwürdig oder jedenfalls zitierenswert findet, dass die Anfangsphrase der Klaviersonate op.110 dem gesungenen Seufzer „Liebe Josephine“ entsprossen sein könnte (Geck Seite 188), anspielend auf Josephine Deym geb. Brunsvik, so scheint mir  doch bemerkenswerter, dass die vorhergehende Sonate op.109  Maximiliane von Brentano gewidmet ist und von einem sehr, sehr  merkwürdigen Widmungsbrief an die junge Frau bzw. deren Eltern begleitet wird. Und es mag wohl genügen, der genannten Josephine das Andante favori zuzugestehen, das zu ihrer Zeit und für sie komponiert wurde (nahe op. 53), während im Umfeld der Klaviersonate op.109 (für Maximiliane!) ein so gewaltiges Werk wie die Diabelli-Variationen ans Licht trat, ein Universum, das keiner anderen als – Antonie von Brentano, „Maxis“ Mutter, gewidmet ist.

Vom Wesen der Stadt

Die trügerische Natur der 50er Jahre

Reichowplatz

Dieser Platz ist nach dem älteren Bruder (*1899) meines Vaters (*1901) benannt, der eine Architekt, der andere Musiker, der sich zeitlebens mit Klavierspiel beschäftigt hat, immer auf der Suche nach den natürlichen Grundlagen. (Siehe hier.) Dieses Wort wurde mir erst auffällig, nachdem ich in den Büchern des Architekten Reichow eine Redundanz naturbezogener Begriffe festgestellt habe. In den Jahren nach dem Krieg, in denen mein Vater (zu spät) sein Klavierspiel auf ein neues Niveau zu heben trachtete, auch eine umfangreiche Sammlung mit technischen Übungen niederschrieb, veröffentlichte sein Bruder zwei opulente Bände über „Organische Baukunst“, gewann Preise und machte als Städtebauer Karriere.

Hans Atelier in Rissen Wohnhaus & Atelier in Rissen (60er Jahre)

Hans Bernhard R

Dieses Bild gefiel ihm: der berühmte Sohn an der Seite seiner alten Mutter. Nach dem Frühstück pflegte er zuweilen Geschichten vorzulesen, die er der Zeitung entnommen hatte, z.B. von Thaddäus Troll. Von dieser Oma kommt übrigens die ganze Musik in die Reichow-Familie. Ich werde nie vergessen, wie der Onkel einmal nach meiner Geige verlangte und sich damit niederkrümmend abmühte, die „Air von Bach auf der G-Saite“ wiederzufinden. Er muss es in seiner Jugend mal geübt haben.

Stadtbaukunst Organische Stadtbaukunst Seite 28

Jeder Satz zeigt, dass es ihm um ein harmonisches Ganzes geht, einen einheitlichen Organismus“ geht, er will zeigen, „was alles wir einer gesunden Landschaft als wichtigster Voraussetzung menschenwürdigen Großstadtlebens heute mehr denn je schuldig sind: ihr ihre Reinheit und Ursprünglichkeit wiederzugeben und zu erhalten, wenn wir sie wieder zu dem machen wollen, was sie den Menschen gesunderweise immer war und bleiben muß: zum ewigen Jungborn unserer physischen und geistigen Kräfte!“ Wenig später ist sogar schon (1948) davon die Rede, wohin „die bedenken- und sinnlos weitergetriebene Versteinerung alles städtischen Grund und Bodens, der Höfe, Straßen und Plätze“ geführt habe: „zu bedenklichen Klimaveränderungen.“ Manches scheint vielleicht aktuell und enorm weitsichtig gedacht, wenn nicht die ins Umfassende zielende Wortwahl, der Ruf „nach einer neuen Verinnerlichung“, „einer neuen Beseelung des Kosmos“ viel zu hoch gegriffen wäre, angesichts der allenthalben noch sichtbaren, gigantisch realen Zerstörung, an der doch diese ganze Generation mitgewirkt hatte. Bewusst oder unbewusst? Fatal wird es, wenn dann dem Unbewußten ein Loblied gesungen wird:

Und wie die Verzweckung und Entseelung, Vermassung und Entinnerlichung all unseres Daseins in wechselseitiger Beziehung die Zerstörung jeder menschenwürdigen Lebenseinheit in der Großstadt zuwege gebracht, so vermag auch nur die übersichtliche, lebens- und naturnahe Gliederung der bisher amorphen Großstadtmassen und ihre sinnvolle u n b e w u ß t  wirkende, auf naturnahes Leben zielende Ordnung die Einheit alles Großstadtdaseins planvoll zu begründen.

Gerade das Unbewußte solcher Wirkung ist schließlich das Geheimnis ursprünglich gesunden Lebens!

Das unbewußte Wirken werden wir deshalb als Grundsatz bei der Ordnung und Gestaltung aller stadtlandschaftlichen Funktionen wiederfinden, weil es aller menschlichen Natur zum Besten dient. Denn der Mensch und seine Gesundheit, die Einheit und Ganzheit seines Daseins steht über allem im Mittelpunkt unseres städtebaulichen Denkens und Trachtens. (Seite 29)

Man begreift es nicht, wie man sich solchen Visionen von Einheit und Ganzheit hingeben kann, wenn man noch vor Augen hat, wie die Welt gerade in Trümmer gelegt wurde. Das Schlusskapitel des ersten Bandes allerdings ist überschrieben: Von der Dauer der Stadtlandschaft, danach folgt ein Motto von Raoul H. France: „Weltgesetz ist, was Dauer sichert.“ Und dann endlich der ganz kurze Blick in die jüngste Geschichte – ich vermute, dass die zwei Jahre nach Kriegsende psychologisch wie eine große Zeitspanne wirkten  und ohnehin der Blick auf eine schönere Zukunft gerichtet war:

Die wir den Aufbau unserer zerstörten Städte planen oder lenken, belasten uns alle mit einer ungeheuren Verantwortung. Noch in fernsten Zeiten wird es uns zur Ehre gereichen, wie wir diese Verantwortung trugen, welche Pläne und Entschlüsse wir faßten. Und niemand wird danach fragen, wer seine Städte zuerst und am schnellsten, am billigsten oder am aufwendigsten, sondern wer sie am weitsichtigsten für ein dauernd menschenwürdiges Dasein, wer sie organisch und gesund für die größte Dauer zu gestalten vermochte.

Die Hervorhebung in roter Farbe stammt von mir. Mein Großvater mütterlicherseits hatte ähnliche Wunschvorstellungen, allerdings bezogen auf sich selbst, seine nächsten Verwandten und ein engeres Leben auf dem Dorfe, bei Rohkostversorgung in guter Landluft, einem Leben nach den Reformvorstellungen Are Waerlands,  schon seit 1935 im Zeichen eines Dr. Malten („So heilt die Natur“). Für ihn war klar, dass er „gut 100 Jahre alt werden würde“ und wir alle für immer frei von Krankheiten sein würden. Politisch war er – nicht erst seit dem Krieg – kontrovers eingestellt, so dass mein Vater, mal in Polen, mal im norwegischen Kirkenes stationiert, besorgte Briefe an meine Mutter nach Hause schickte, sogar einen fast drohenden Ton anschlug (weil wir zuhaus „dem Vaterland in den Rücken fallen“), der sonst sorgfältig bewahrte Briefwechsel meiner Eltern weist hier plötzlich Lücken auf.

Stadtbaukust Trilogie

Mein Onkel richtete sein Augenmerk auf Städte von größter Lebensdauer, er schrieb den dritten Band der Trilogie nicht mehr, stattdessen „Die autogerechte Stadt“, womit er aber – entgegen dem verbreiteten Missverständnis – durchaus eine menschengerechte Stadt meinte. Es gab auch Großstädte, die er gelten ließ.

Stadtbaukunst San Francisco

Siehe auch: HIER (Wikipedia-Quelle)

Fragwürdig an Reichows „autogerechter Stadt“ ist aus heutiger Sicht vor allem sein permanenter Bezug auf biologistische Ideale, die er als „organisch“ und damit „naturwüchsig“ vorstellt. Damit einher ging die Vorstellung von der Großstadt als ungesunder Großeinheit, als Moloch, die es zu heilen, durch Ordnung und Städtebau in übersichtliche Nachbarschaften zu gliedern gelte. Dieser Impuls war bereits bei den Stadtreformern der englischen Gartenstädte und den Städtebauern der 1920er Jahre anzutreffen. Er war im Falle von Reichow anschlussfähig auch an völkisch und führerstaatlich motivierte kleinteilige „Organik“. Durchmischung, Überlagerung und Chaos, die städtisches Leben prägen und attraktiv machen, kommen in einer solchen Argumentation nicht vor.

Die andere Welt (auf der Lohe), die sich quasi „unbewusst“ (ohne Theorie) aufs Familiäre, Persönliche, die eigene Haut zurückzog, verließ sich darauf, dass ein Dr. Malten für den großen Überbau gesorgt hatte.

Malten Natur

Dr. Malten „So heilt die Natur“

Ich glaube nicht, dass mein Großvater den theoretischen Teil des Werkes wirklich durchgearbeitet und verstanden hat, ich selber bin immer drin steckengeblieben, zumal ich seit Mitte 1955 Julian Huxleys „Entfaltung des Lebens“ verinnerlichte und diese seltsame Teleologie des Dr. Malten wohl hätte widerlegen können. Andererseits bemerkte ich erst Anfang der 60er Jahre und später, in welchem Maße die Vorkriegsideologie uns alle im Griff gehalten hat. Der Titel des Buches von Ludwig Klages „Der Geist als Widersacher der Seele“ (das ich nicht besaß) spukte in unseren Köpfen herum, zuweilen in Rilkes poetischer Gestalt. Mit diesem Kalender bewaffnet fuhr ich im April 1960 zur Aufnahmeprüfung nach Berlin. Auch das subkutan wirkende Gegengift des Arztes Gottfried Benn war darin zu finden.

Kalender Rilke 1960 Kalender 1960 Benn

Dazu gehörte „Struktur der modernen Lyrik“ von Hugo Friedrich und Theodor W. Adornos „Philosophie der Neuen Musik“, weitere Gegenströmungen, die Moderne in jeder Form, aber auch die intensive Zuwendung zu fernöstlichen Gedankenwelten. Alles koexistierend. Liebe zur Natur und Skepsis gegenüber Naturschwärmerei. Abkehr vom Vegetarismus als Abwehr des Elite-Denkens. Berlin / Köln / Großstadt erleben.  „Berlin Alexanderplatz“, Jürgen Becker (!), Musil, Proust, Christopher Caudwell. Den Rest besorgten die 68er Jahre.

Nietzsche, mit dessen Zarathustra ich begonnen hatte, ahnungslos, was sein Freund Peter Gast mir im Nachwort einbrockte oder unterjubelte, seriös angehoben durch den Ober-Nazi Alfred Bäumler, – erst mit dem Buch von Karl Jaspers wurde mir klar, dass „wilde“ Nietzsche-Lektüre viel vergeudete Zeit bedeutete. Andererseits – dass Unordnung nicht grundsätzlich vom Teufel war:

Dörfer in der Stadt

*  *  *  *

Mein Motiv, diesen Artikel zusammenzustellen, lag in der These, dass vieles, was in meiner Jugend gut gewesen sein soll, aus der Zeit vor dem Krieg stammte; und nur dieser selbst, wie auch die Hitlerzeit insgesamt wurde weitgehend ausgeklammert, als habe es sich nur um einen Betriebsunfall gehandelt. Man müsse jetzt nur die ewigen Werte wieder ernsthaft beherzigen. Daher erschien es mir wichtig, die Rolle Adornos und die (linke) Studentenbewegung hervorzuheben. Ich hatte die Bände zur Organischen (Stadt-)Baukunst noch nicht gründlich genug gelesen. Im Vorwort des ersten Bandes wird durchaus Bezug auf den Krieg genommen, und es wird klargestellt, dass das Werk in den Grundzügen eben schon vor den großen Zerstörungen geschaffen worden ist. Klar ist immerhin, dass die idealistische Weltsicht keinerlei prinzipiellen Schaden erlitten hat. Weiterhin wird – wenn ich recht verstehe – für die Ewigkeit gebaut.

Organische Stadtbaukunst Vorwort 1948 Organische Stadtbaukunst

Und um meinem Vater, der schon mit 58 Jahren starb, Ehre zu erweisen, möchte ich auch von seinem Werk, an dem er mit Herzblut arbeitete, wenigstens den Anfang wiedergeben. Die klavierspielenden Söhne habe es zu seinen Lebzeiten wenig geschätzt. Wir hielten es für eine Zwangsjacke. Eine Fehleinschätzung natürlich. Übrigens hat er nie von ewigen Werten gesprochen, er war ein Skeptiker und sprach mit Emphase nur von der Pflicht. Wahrscheinlich wären wir uns heute näher als früher.

Artur Reichow Klavier 1a  *  *  *Artur Reichow Klavier 1b  *  *  *

Ich schreibe dies also nicht, um mit den Leitbildern meiner Jugend abzurechnen. Sie erschienen mir nicht als solche, ich war nachhaltig beeindruckt durch einen Vortrag (incl. Diskussion) von Carlo Schmid über „Vorbilder“. Ein älterer Mitschüler im Publikum stand auf und beschwerte sich, dass er Jesus nicht genannt habe! Ich fühlte mich mit der Verehrung Albert Schweitzers auf der sicheren Seite (Arzt in Afrika, Bach-Forscher, bekennender Nietzsche-Leser trotz „Leben-Jesu-Forschung“). Ich schreibe um die unmittelbar mich betreffende Vorgeschichte zu verstehen. Mein „Zarathustra“ ist markiert durch drei Unterschriften, womit drei Generationen gekennzeichnet sind, jeweils im Alter von 17, 16, 15 Jahren, aber auf sehr verschiedenem Bewusstseinsstand. Ich glaube nicht, dass Nietzsche das Problem war (der war geschützt durch seine mythologisch überbordende Schreibart), sondern der schrecklich verständliche Peter Gast mit seinem Nachwort. Diese Kröner-Ausgabe war 1930 gedruckt worden, meine Mutter war Jahrgang 1913.

Zarathustra Signaturen

1981 war das Nietzsche-Thema in der Familie geläufig, das Wagner-Thema sowieso, Adornos „Versuch über Wagner“ lag griffbereit seit 4. April 1966 (da hatte ich meine Staatsarbeit über den „Tristan“ längst geschrieben, und derjenige, der eines Tages als letzter mit roter Schrift Besitzrechte am Zarathustra dokumentieren sollte, war gerade 4 Tage alt ).

Das Nachwort des Nietzsche-Freundes Peter Gast (1854-1918!!) ist heute wohl kaum noch zu finden und soll hier in Auszügen wiedergeben werden. Interessant übrigens, dass der „Instinkt“, der als bedeutsam lenkende Instanz durch Nietzsche zu Ehren kam, die gleiche Rolle spielte wie später das Unbewusste, das in deutschen Kreisen der 30er Jahre durchaus nicht zu dem Konnex gehörte, der von Sigmund Freud und der Psychoanalyse entwickelt worden war.

Nietzsche Peter Gast Nachwort 1 Nietzsche Peter Gast Nachwort 2 Nietzsche Peter Gast Nachwort 3 Nietzsche Peter Gast Nachwort 4 Nietzsche Peter Gast Nachwort 5 Nietzsche Peter Gast Nachwort 6 Nietzsche Peter Gast Nachwort 7Nietzsche bei Kröner

Gescannt aus dem Original Alfred Kröner Verlag Leipzig 1930. In meinen Händen ab November 1956. Bis Ende desselben Jahres besaß ich auch die anderen Werke Nietzsches, die im Anhang annonciert waren, alle weiterhin ausgestattet mit den Nachworten des Propagandisten und Fälschers Alfred Bäumler!!! Man lese die zuletzt wiedergegebenen „Waschzettel“. Um hier auch noch direkt aus Bäumlers Nachwort zur „Fröhlichen Wissenschaft“ (Seite 324) zu zitieren:

Zu dem Thema Deutschland gehört auch der höchst wichtige Aphorismus über Luther (Nr. 358). Der Begriff des „guten Europäers“, der schon in ‚Menschlich, Allzumenschliches‘ auftritt und in ‚Jenseits von Gut und Böse‘ eine Rolle spielt, erfährt im Aphorismus 377 eine ausführliche Darstellung. Im ‚Wanderer und sein Schatten‘ ist den guten Europäern die Aufgabe und Überwachung der gesamten Erdkultur zugewiesen (Aph. 86). Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist eine „Verstärkung und Erhöhung des Typus Mensch“ nötig. Nichts steht dem mehr entgegen als die „Religion des Mitleidens“, die seit der Französischen Revolution in Europa vorherrschend ist. Wir guten Europäer, so erläutert Nietzsche im ‚Willen zur Macht‘ (Aph. 117) seinen Gedanken, führen im Grunde einen Krieg gegen das 18. Jahrhundert. Unter dem 18. Jahrhundert versteht Nietzsche immer das Jahrhundert Rousseaus und der Revolution.

Alfred Baeumlers Tendenz ist klar, auch wenn er vorgibt, nur Nietzsches Worte wiederzugeben. Und es scheint ja auch so, als ob er die Einführung von Peter Gast, der noch dem 19. Jahrhundert angehörte, in aller Harmlosigkeit beigefügt hat. Er weiß, dass sie prophetisch gelesen wird, auch wenn gerade von Napoleon die Rede ist:

„Die Menge  b r a u c h t  nicht nur Führer, sie  w i l l  sie selbst, wenn auch uneingestandenermaßen. Sie weiß mit sich nichts anzufangen; sie wird sich auf die Dauer zum Ekel. – Kommt aber der Große, dann fühlt sie mit heiligem Schauer, was sie nie gefühlt: daß über ihr noch sieben Himmel der Übermenschheit ausgespannt sind!“

Siehe oben im Peter-Gast-Text Seite 406. Siehe auch in Wikipedia über Alfred Baeumler HIER. Im Artikel über Peter Gast dagegen fehlt vielleicht der warnende Hinweis, dass dieser Mann ein peinlicher Jünger des vereinsamten Nietzsche war, mit wenig eigenem Denkvermögen.

Um Nietzsches Denken näherzukommen, bedurfte es eines Karl Jaspers, dessen große „Einführung in das Verständnis seines Philosophierens“ 1935 in Heidelberg abgeschlossen wurde  (Walter de Gruyter Berlin & Leipzig 1936). Ich erwarb das Buch im Mai 1965 und erlebte einen völlig neuen, differenzierten Nietzsche. Man kann nur vermuten, dass das Buch auf Grund seiner gedanklichen Akkuratesse in den 30er Jahren unterging oder einfach nicht verstanden wurde.

Es gab einen langen Vorlauf für die simplifizierende Weltanschauung der Hitlerzeit und ein Nachspiel bis in die zweite Hälfte der 60er Jahre, mindestens. Und vieles davon hatte mit meinem Leben zu tun. Jedenfalls, sobald ich genauer hinschaue.

Ein unverbindliches Vielerlei? Durchaus nicht. Ein Wort noch zum Lesen; Karl Jaspers im Vorwort zu seinem Nietzsche-Buch:

Nietzsche zu lesen, gilt manchen als leicht; wo man ihn aufschlägt, kann man ihn unmittelbar verstehen; fast auf jeder Seite ist er interessant; seine Urteile faszinieren, seine Sprache berauscht; die kürzeste Lektüre belohnt. Jedoch entstehen schon Störungen, wenn man, stehen bleibend bei solchen Eindrücken, viel lesen will; die Begeisterung für den unmittelbar ansprechenden Nietzsche schlägt in Abneigung gegen ein scheinbar unverbindliches Vielerlei um; immer anderes bei ihm zu lesen wird unerträglich. So aber wird weder ein wahres Verständnis noch die rechte Schwierigkeit erreicht.

Maximen

Beginne den Tag!

Orpheus

Auch ich könnte so in Rätseln sprechen, und jede Leserin, jeder Leser ebenfalls, und vielleicht schauen Sie manchmal in solche Ratgeber. Wie ich mit 15, als ich das Weiseste beherzigen wollte, was es gibt (aber das war wirklich nur die eine Seite meiner Pläne), das Taoteking (seit gestern wieder ganz neu, nämlich als Daodejing abgesegnet von Jan Philipp Reemtsma). Und inzwischen bin ich ganz skeptisch gegenüber solchen Rätselsprüchen, die nur deshalb so weise erscheinen, weil sie so vieldeutig sind, am Ende legt man das Allerweiseste selbst hinein. Und mag es um so weniger hochschätzen. Den Zarathustra wollte ich am liebsten auswendig lernen, ach, diese schrecklichen Prophetengebärden! Urworte Orphisch, alle Strophen schrieb ich mir mit Tinte an die Fensterscheiben, so dass ich lesen und lernen konnte, während ich auf die Stadt Bielefeld hinabschaute. Vom Paderborner Weg 26 (heute Furtwänglerstraße). Mein heutiges Urwort steht nun da oben als Überschrift. Und ehrlich gesagt: ich kam darauf, weil ich gestern tatsächlich mal nachgeschlagen habe, was denn im Ernst am Tempel von Dephi stand. Ich erinnerte nur einen Spruch, aber es waren derer (dessen?) drei, wenn richtig ist, was im Buch von Kükelhaus (s.a. hier) stand, das ich gerade aufwärmte (ich sage nicht wo):

(Überlegen Sie selbst)

Beginne den Tag. Womit? Klar: mit etwas, was du gut kannst. Sagen wir: Geigespielen, aber nur was wirklich gut gelingt. Notfalls leere Saiten einstimmen und einfach nur streichen. Oder sonst eine Bewegung, eine rein gymnastische Grundhaltung. Sagen wir: Im Gleichgewicht stehen. Wichtig ist nur eins: Keine Kritik! (Ich bin hässlich. Ich bin gebrechlich. Das Wetter ist schlecht. Dies wird nicht mein Tag. Das alles NICHT. Aber auch sonst nichts mit NICHT.)

Kükelhaus

Quelle Hugo Kükelhaus, Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne / fischer alternativ / Frankfurt am Main 1984

In der Tat, es sind drei Sprüche, von denen aber der dritte so rätselhaft ist, dass er kaum je zitiert wird. Wikipedia sagt:

Der Überlieferung zufolge sollen am Eingang des Tempels von Delphi die Inschriften „Erkenne dich selbst“ (gnôthi seautón, γνῶθι σεαυτόν) und „nichts im Übermaß“ (μηδὲν ἄγαν, medèn ágan), angebracht gewesen sein. Insbesondere die erste, bekanntere Aufforderung deutet die eigentliche Absicht des Kultes bzw. der verehrten Gottheit an, nämlich die Auflösung individueller Probleme und Fragestellungen durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit. Die Erkenntnis der „Innenwelt“ diente damit als Zugang zur Problemlösung in der „Außenwelt“.

Die zweite Inschrift (medèn ágan, „Nichts im Übermaß“, „Alles in Maßen“) mahnt zur Bescheidenheit im eigenen Tun. Das rechte Maß steht für eine Grundfigur antiken griechischen Denkens, die neben der platonischen Seinslehre bis zur aristotelischen Tugendethik auch die Musik, die Mathematik, Medizin und viele andere gesellschaftlichen Bereiche erfasste.

Die Existenz dieser Inschriften ist nicht durch archäologische Funde, sondern aus schriftlichen Überlieferungen bekannt. So lässt z. B. Platon im Phaidros und vor allem im Symposion den griechischen Philosophen Sokrates über die Bedeutung dieser Inschriften referieren.

Weit weniger bekannt ist, dass nach einer Überlieferung des Charmides sowie dem etwa 500 Jahre jüngeren Bericht Plutarchs zu diesen beiden Weisheiten noch eine dritte, „Du bist“ (), gehört. Inwieweit diese das Portal zierte, ist ungewiss. Nach Plutarchs Erzählung war sie vermutlich eher eine gesprochene Antwort der Besucher des Tempels auf die Inschriften. Durch ihre später gewonnene Bedeutung kann sie jedoch legitim als „dritte apollonische Weisheit“ gelten.

Um darüber Genaueres zu erfahren, empfehle ich, an den zitierten Ort zu gehen, an die

Quelle bei Wikipedia: HIER (Orakel von Delphi)

Womit aber begann mein Tag? (Nachdem ich diesen Artikel begonnen hatte und bei Kükelhaus innehielt?) Mit der erneuten Lektüre eines Interviews mit Thomas Lange, dessen Methode ich gerade erst (vom Hörensagen oder Sagenhören) kennengelernt habe. Ein Zitat, das zu meiner oben angedeuteten und dort vielleicht in ihrer Bedeutung übertrieben dargestellten Einsicht passt:

Ja, eine Sache, die ich immer wieder sehe, ist die Kritik am eigenen Spiel, dass Spieler sich während des Spielens kritisieren. Und ich bin der Meinung, dass das nicht ins Spiel rein gehört. Wenn überhaupt Kritik, dann sollte diese ausserhalb des Spielprozesses passieren. Um diese störende Art von Selbstbeobachtung zu beschreiben, hole ich etwas aus und gehe einen Schritt zurück in die Wissenschaft: 1927 hat Heisenberg die sogenannte Unschärferelation entdeckt. Wenn man eine Sache bzw. ein Objekt beobachtet, z.B. im atomaren Bereich, verändert sich nur dadurch, das sie beobachtet wird, die Sache. Und dann hat er noch festgestellt, dass durch verschiedene Arten von Beobachtung die Sache sich auf verschiedene Weise verändert. Das ist ein großes Thema in der Quanten-Physik. Für mich gilt das aber eigentlich für jeden Lebensprozess. Sobald ich eine Sache beobachte, verändert sich die Sache selbst.
Deswegen braucht man beim Musizieren das, was ich eine Feldwahrnehmung nenne. Das heisst, man sieht ein Feld, mit einem Musiziervorgang darin, und man sieht sich selbst auch in diesem Feld agieren und wie man auf den Musiziervorgang einwirkt.
Die besonders störende Art von Selbstbeobachtung, die kritisch untersuchende Selbstbeobachtung, lässt den Prozess stehen, obwohl die Musik eigentlich immer weiter fließen möchte. Das verhindert sozusagen das Basiselement von Musik, dass der Klang immer weiter fließt. Also: Kritik verhindert Resonanz.

Quelle Thomas Lange: Resonanzlehre HIER

Und wie soll ich den Artikel beenden? Indem ich einfach aufhöre und zum Beispiel solch ein Feld schaffe. Aber vielleicht ohne an Heisenberg zu denken…

Lenggries vor 44 Jahren

Weihnachtsoratorium mit dem Collegium Aureum

Entscheidender Faktor: der Tölzer Knabenchor unter Gerhardt Schmidt-Gaden. Die quirlige Vitalität in der Polyphonie. Und alle waren verliebt in die samtene Stimme von Andy Stein. Schwer erträglich schon damals: die halbtaktig skandierende Betonung der Choräle. Wohl ein Missverständnis.

WeihnachtsOratorium 1973 Kirche innen a Die Aufnahmesituation

WeihnachtsOratorium 1973 vorn

WeihnachtsOratorium 1973 Mitwirk  WeihnachtsOratorium 1973 Instr

WeihnachtsOratorium NotenWeihnachtsOratorium 1973 Fotos a WeihnachtsOratorium 1973 Fotos b

Autogramme: Barry McDaniel, Andreas Stein, Gerhard Schmidt-Gaden, Franzjosef Maier. Acht Fotos von oben links in drei senkrechten Reihen, 1 Barry McDaniel, 2 Fj Maier, Theo Altmeyer, Hans Buchhierl, 3 Theo Altmeyer, Andy Stein 4 G. Schmidt-Gaden, Wolfgang Neininger, Jan Reichow, Franz Beyer, Karlheinz Steeb, Peter Mauruschat, Heinrich Alfing, 5 Karlheinz Steeb, Hans Buchhierl, Horst Beckedorf, Rolf Schlegel, Franz Lehrndorfer (Orgel), G. Schmidt-Gaden 6 Steeb, Hans-Georg Renner, Bruce Haynes, P. Mauruschat, Robert Bodenröder, 7 gesamt 8 Andy Stein, Hans-Georg Renner, Bruce Haynes.

Alle Fotos: Marianne Adelmann, Zürich / Das Impressum zeigt merkwürdigerweise den wichtigsten Namen der Produktion NICHT: Dr. Alfred Krings. Er war seit 1969 fest angestellt im WDR, blieb aber parallel dazu der – neben Rudolf Ruby – führende Kopf der Harmonia Mundi. Er steckt wohl letztlich hinter dem unten wiedergegebenen musikwissenschaftlichen Kontext (Wolfgang Werner ist mir unbekannt). Ebenso wird er den Beitrag „Wider den Strich“ von Walter Dirks in Auftrag gegeben haben, dessen 80. Geburtstag im Kleinen Sendesaal des WDR vom Bläserensemble des Collegium Aureum mit Mozarts Gran Partita beehrt wurde.

WeihnachtsOr Namen Produktion *  *  *

Der musikwissenschaftliche Stand

WeihnachtsOratorium 1973 Rhetor Über  *  *  *  WeihnachtsOratorium 1973 Rhetor  *  *  *

Der geistige oder auch „geistliche“ Hintergrund *  *  *

WeihnachtsOratorium 1973 Wider den Strich

Aus dem Beitrag „Wider den Strich“ von Walter Dirks.

Übrigens: in demselben Jahr 1973 kam auch das Weihnachtsoratorium unter Nikolaus Harnoncourt heraus (mit den Wiener Sängerknaben), im Jahre 1982 erschien sein Buch „Musik als Klangrede“, wodurch dieses Wort zum meistgebrauchten in der Bach-Praxis wurde.

*    *    *

Viel später: Collegium aureum & Tölzer Knabenchor 80er Jahre (Foto E.Reichow)

 

 

Franzjosef Maier, Marlis Maier, Rudolf Mandalka

Ab wann weihnachtet es?

Wieder einmal zu Bach

Es ist mir völlig egal, ob es zu früh in der Ohligser Innenstadt oder in Düsseldorfer Geschäftszentren weihnachtet. Es ist nie zu früh, sich darüber aufzuregen, und ich hätte mir auch eine neue Johannespassion gekauft. Man muss nichts Neues haben, weil es neu ist, und auch nicht für immer das Alte behalten, weil es sich nun mal bewährt hat (RIAS-Kammerchor unter René Jacobs 1997, Windsbacher 2000, The Sixteen Choir, auch „wir“ mit den Tölzern vor 44 Jahren und bis in die 90er auf allerhand Tourneen). In diesem Fall genügte ein winziges Motiv, das C und das y in dem Wort Gächinger Cantorey, oder war’s nur die Mitwirkung der Sängerin Anna Lucia Richter? Ich hätte es gar nicht gemerkt, ohne mir die Stellen vorzumerken. Bei der Aria „Schlafe mein Liebster“ habe ich allerdings ins Booklet geschaut, um mir den Namen der Altistin einzuprägen.

WeihnachtsOratoriumRademann WeihnachtsOratorium Mitwirkende

Ich finde es toll, dass im Booklet daran erinnert wird, wie es Bach selbst mit der Vorbereitung des Publikums („Hörerinnen und Hörer“) auf seine Musik hielt:

Damit den Leipzigern 1734/35 der gesungene Wortlaut zur persönlichen Vorbereitung zum Mitlesen in den Gottesdiensten sowie zum betrachtenden Nachlesen zur Verfügung stand, hatte Bach ein Textheft rechtzeitig in Druck gegeben und in Umlauf gesetzt. Dies war auch deshalb wichtig, weil sich die Liturgische Aufführungspraxis ja vom 25. Dezember bis zum 6. Januar erstreckt hat. Vermutlich hoffte Bach, dass zumindest einige Hörerinnen und Hörer den gesamten sinnlich-sinnvollen Spannungsbogen erfasst hatten, wenn er am 6. Januar 1735 das Gesamtwerk mit eben jener Choralmelodie schloss, die bereits am 25. Dezember als erste Liedstrophe erklungen war.

Ich stehe auf gründliche Vorbereitung, wenn ein gutes Konzert winkt, auch wenn ich damit nicht fertig werde, wir kürzlich beim Debussy, und eine gründliche Nachbereitung und Fortführung wesentlich wäre. Zumindest weiß ich gleichzeitig, dass Benjamin Britten keinen ähnlichen Druck oder Eindruck hinterlassen hat. Vielleicht mein Fehler.

Im ersten Teil hören wir den überaus vokal empfundenen, zudem adventlich-erwartungsvollen vierstimmigen Bachchoral Wie soll ich dich empfangen?, am Ende dann ein orchestrales Finale mitsamt Trompeten-Feuerwerk, in welches dieselbe phrygische Melodie, jetzt auf die Worte „Nun seid ihr wohl gerochen an eurer Feinde Schar“ und in triumphierende Dur-Harmonien gekleidet, zeilenweise „eingebaut“ ist.

Textautor: ©Meinrad Walter (für Carus CD 83.311) – Siehe dazu auch das MGG-Zitat am Ende des Blogartikels hier.

Und wenn ich bedenke, dass ich schon Mitte der 50er Jahre in Bielefeld das Werk mitgespielt habe (in Bethel und Jöllenbeck!) und mich noch früher regelmäßig im Gemeindehaus mit einem Freund traf, Sohn des Küsters, um die dort vorhandene Gesamtaufnahme aus der Archiv-Reihe mit Silber-Etiketten aufzulegen. Dass aber nicht viel später der kleine Laotse-Band  in meine Hände kam und mir (ohne tieferen Grund bzw. ohne Musik) ähnlich viel bedeutete. Und nun wieder. Das kann kein Zufall sein. Ist es natürlich auch nicht…

Reemtsma Laotse

Ich liebe die Umschlaggestaltung. Sie ist von „Kunst oder Reklame “ , München. Ähnelt den Wänden der Elbphilharmonie, spielt aber offenbar an auf das berühmte Kapitel 78, das folgendermaßen anhebt:

Nichts auf der Welt

ist weicher und fügsamer als das Wasser,

und doch höhlt es den härtesten Stein.

Es kann das, weil es nicht hart ist.

So bei Jan Philipp Reemtsma. Er überschreibt den am Ende folgenden kleinen Essay „EIN PAAR BEMERKUNGEN HERNACH“, womit er wohl im Sinne das chinesischen Weisen etwas altertümelt, beginnt mit drei schönen Zitaten über das Mystische von David Hume, Søren Kiekegaard und Ludwig Wittgenstein, und dann folgt Bertold Brechts sehr bekannte „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“, 13 Strophen à 5 Zeilen. Zugleich relativiert er deren Bedeutung:

Peter Rühmkorf nannte das Gedicht einmal „unseres Fortschrittsphilistertums beliebteste Erbauungsballade“. Diese Spitze will ich hier nicht diskutieren, auch meinen Verdacht nicht, daß Brecht das Daodejing eher aus kursorischer Lektüre kannte – schließlich bezieht er sich nur auf das 78. Kapitel und macht den Versuch, es auf einen alltagssinnlichen Nenner zu bringen, was bei anderen Kapiteln schwerlich hätte gelingen können. Das Daodejing ist viel mehr, wovon gleich die Rede sein wird.

Es lohnt sich auch hier, mit neuem Impetus (nicht zu stark, nicht zu schwach?) zu lesen.

Das Schwache besiegt das Starke,

das Weiche besiegt das Harte.

Jeder weiß das.

Warum lebt keiner so?

Hat mit Moral-Predigt nichts zu tun. Mein damaliger Freund übrigens, von dem die Rede war, der Küsterssohn, spielte Trompete, jeden Samstagabend Choräle vom Turm der Bielefelder Pauluskirche, in alle vier Himmelsrichtungen, ich liebte dieses Wochenend-Signal. Und er hat bei unseren Hearings immer wieder die Bass-Arie (mit Solo-Trompete) aufgelegt: „Großer Herr, o starker König“. Gelegentlich bat ich ihn, wieder mit dem Anfangschor zu beginnen oder wenigstens mit dem Choral-Rezitativ: „Er ist auf Erden kommen arm.“ (Bei meiner Konfirmation war ich ein frommes Kind. Aber seit der Vorschulzeit in Greifswald bewahrte ich ein kleines japanisches Püppchen auf, übrigens bis heute.)

Sehr lesenswert übrigens im Booklettext auch der Abschnitt über Bachs „Parodie“-Verfahren, das natürlich mit Parodie nichts zu tun hat: die Wiederverwendung abgrundtief weltlicher Texte in heiligem Zusammenhang.

Was Bach anno 1734 nicht wissen konnte: bei der Wiederentdeckung seiner geistlichen Vokalmusik im 19. Jahrhundert fällt ein Schatten ausgerechnet auf das Weihnachtsoratorium. Zwei wichtige ästhetische Kritereen schienen damals fraglich im Blick auf dieses Werk. Vor allem aber kritisierte man die mangelnde Originalität! Bachs Übernahme fast aller Arien und großen Chöre aus weltlichen Glückwunschkantaten wie Blühet, ihr Linden in Sachsen wie Zedern – daraus wird mittels Umtextierung „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“, die festliche Rahmung von Teil III – schien mit dem Makel des Sekundären, jedenfalls nicht Originalen behaftet. Bach aber denkt anders. Er will besonders gelungenen Sätzen aus Werken mit einmaligem Aufführungsanlass einen dauerhaften Platz in seinem Œuvre zuweisen, also die Musik sozusagen „retten“. Und das gelingt im musicopoetischen Teamwork mit seinem Textdichter Picander so überzeugend, dass man gerne Details über die Zusammenarbeit erfahren würde. Darüber jedoch schweigen die Quellen.

Die […] „Echo-Arie“ stammt aus der sogenannten Herkules-Kantate zum elften Geburtstag des Kurprinzen Friedrich Christian von Sachsen. In Picanders weltlicher Dichtung singt Herkules: „Treues Echo dieser Orten, soll ich bei den Schmeichelworten süßer Leitung irrig sein. Gib mir doch die Antwort Nein!“. Und mit „Nein, nein!“ oder „Ja, ja!“ antwortet jeweils das Echo. Bach aber verändert bereits in der weltlichen Fassung ein Wort. Er intensiviert die Bitte des Herkules zu „Gib mir deine Antwort“. Damit eröffnet er die Möglichkeit, jeweils am Schluss des vokal-instrumentalen Spiels von Echo und Doppelecho kompositorisch aus dem Prinzip auszubrechen. Jetzt singt der zweite Sopransolist nicht mehr nur das nach, was ihm zuvor in den Mund gelegt wurde. Vielmehr beantwortet das Echo – nun in der geistlich-weihnachtlichen Fassung – die Bitte „Nein, du sagst ja selber …“ mit einem klaren „Nein!“ und „ja, du Heiland sprichst selbst …“ mit einem frei einsetzenden „Ja!“. Doch genau daran entzündete sich eine weitere Kritik an Bach. Sein großer Biograph Philipp Spitta nämlich tadelt, dass das Echo zweimal „unaufgefordert redet“. Die Stimme Christi wiederholt nicht nur bestätigend die menschliche Bitte. Sie antwortet vielmehr aus freien Stücken, und das benennt Bach nicht nur, er inszeniert es.

Textautor: ©Meinrad Walter im Booklet (für Carus CD 83.311)

WeihnachtsOratorium nur Echo vgl. Fortsetzung unten

Das sind interessante Aspekte. Ich habe es bei hundert Aufführungen nicht bemerkt, obwohl man als Geiger in dieser Arie nichts anderes zu tun hat als zuzuhören.

*  *  *

Letzte Nacht bin ich aufgewacht und habe ein Büchlein gelesen, das ich nie im Leben beachtet habe, erst jetzt, wo ich eigentlich eine andere Aufgabe vor mir herschiebe, die das Böse betrifft, das ja in allen Zeitungen mit Recht, aber auch bis zum Überdruss beschworen wird. Ich setze das (provozierende?) Cover hierher, um die halb bedrückte, halb polemische Stimmung der Nacht bei Gelegenheit wiederzuerwecken:

Bruno Walter Musik

Bruno Walter (Seite 30f):

… im grenzenlosen Reich der Musik gibt es auch Bezirke des „Wilden“ und des „Interessanten“; diese stellt sie dem Bösen zur Verfügung. Es sind Grenzbezirke, die dem Triebhaften, beziehungsweise dem Verstandesmäßigen der menschlichen Natur entsprechen. Aber man höre die […] Pizarro-Musik im Fidelio neben Leonores und Florestans Gesängen und man wird die astronomische Distanz zwischen dem Gebiet der ersteren und den Sphären der letzteren, in denen die höchsten Kräfte der Musik walten, wahrnehmen. Wieviel weniger wirkliche Musik dem moralisch Tiefen gegeben ist, erhellt auch, wenn man sie sich ohne Worte vorstellt; die Musik der höheren Gefühle dagegen ergreift uns fast mit derselben Macht auch bei fortgelassenem Text: Man denke an die Arie „Erbarme dich“ aus der Matthäuspassion oder an Leonores „Komm Hoffnung“ in Fidelio. Was gibt Mozart dem Intriganten Bartolo zu singen und was der seelenvollen Gräfin, der liebenswürdigen Susanne?

WeihnachtsOratorium Noten WeihnachtsOratorium Noten Echo

Übrigens kann ich es nicht dabei bewenden lassen (siehe nächster Beitrag). Und mein Lob des Booklets relativiert sich etwas, wenn ich in die Schallplattenaufnahme der Harmonia Mundi von 1973 schaue und vor allem in das Vorwort dieses Klavierauszugs. Alfred Dürr schrieb es im Juni 1961.

Und den Lobpreis der neuen Aufnahme nehme ich etwas zurück. Schon der Anfangschor, – zwar ist das Tempo sehr, sehr schnell: aber reißt er mich „jauchzend und fohlockend“ vom Stuhl? Wo greift mich ein Accompagnato zum erstenmal ans Herz?

Erinnerung 1987

Festival auf dem Bonner Marktplatz

Eine Überraschung, die heute über Facebook (Manfred Bartmann) kam, ein Stück WDR-Folkfestival (später „Weltmusikfestival“ genannt) auf Youtube : die irische Gruppe Patrick Street mit Andy Irvine, dazu das Tanzpaar mit den unaussprechlichen Namen (der Tänzer erzählte, auch ein irischer Moderator habe sie im Fernsehen kurzerhand Donnicken o‘ Monnicken genannt), bei uns gab es die bewährten Moderatoren Bettina Böttinger und Tom Schroeder , die alle Namen und noch mehr gelernt hatten (Begrüßung bei 4:25). Redakteure der Sendung waren Dieter Kremin (TV WDR) und Jan Reichow (Hörfunk WDR). Angeschlossen waren Sender wie Radio bzw.TV Moskau, Lissabon, Helsinki, Amman, live: Sofia, ČSSR, UDSSR. Und auf diesem Wege kam auch wohl dies irische Fragment ins Netz.

Kürzlich waren wir mal wieder dort, am Tatort:

Bonn Rathausplatz Markt 170709 Bonn Beethoven am Rathaus

Niemand wusste, ob es im jeweils nächsten Jahr weitergeht, und erst recht nicht, dass es noch 16 Jahre erfolgreich weitergehen würde. (Das unwiderruflich letzte, ich glaube: 27. Festival, seit den 90er Jahren umbenannt in „WDR Weltmusikfestival“, fand im Jahre 2003 statt).

1981 auf dem Domplatz in Köln 1982 ebenfalls (s. folg. Video ) 1986 auf dem Marktplatz in Bonn

  hier

Festival Köln 1983 Festival Bonn 1986 Plakat

Ich kann es bei den Namen der Irish Dancers nicht so belassen; hier sind die beiden in einer noch 15 Jahre älteren Aufnahme: Celine Hession und Donncha O’Muineachain:

Clip from 1972. Celine Hession & Donncha O Muimhneacháin *(R.I.P) dance two slip jigs: Fig for a Kiss & Kid on the Mountain. The fiddle player is Paddy Glackin. The young lad sitting beside Seamus Ennis is the one & only Noel Hill. The greatest concertina player to ever grace this earth.

Über Celine H. siehe hier. *Abschied von Donncha M. hier

Gerhaher gestern

Schmerztherapie Schubert in Düsseldorf

Gerhaher Titelbild Gerhaher Editorial

Christian Gerhaher gibt beeindruckende Interviews (mich erinnert er merkwürdigerweise an Matthias Brandt). Ich zitiere hier aus der Süddeutschen (Magazin 4/2015), das ich zu lesen empfehle. Von wegen „Trösterin Musik“:

Kann Musik Sie trösten?
Tut mir leid, aber diesen Zweck sehe ich für mich nicht. Wohl aber kann sie mich aufregen, ja sogar nerven. Wenn ich zum Beispiel frühe Symphonien von Tschaikowsky höre, kriege ich Beklemmungen, und meine Kehle zieht sich zusammen. Es gibt in dieser Musik keine Luftlöcher. Jede Sekunde ist ausgefüllt, alles tönt übervoll. Ich möchte aber niemanden ärgern und kann umgekehrt gut damit leben, dass nicht viele Menschen meine Begeisterung für Mendelssohns Reformationssymphonie teilen.

Finden Sie es banal, wenn andere Menschen sich von Musik trösten lassen?
Nein, aber ich höre Musik eben weder um getröstet noch um unterhalten zu werden. Musik von Bach, Beethoven, Schubert, das ist keine Vergnügung, genauso wenig wie Musik von Velvet Underground oder The Cure. Es geht um Tod, Verlust und Einsamkeit, um das Fehlen des ideal Vollkommenen, um problematische Seelenzustände und Defizite, die ich interessant finde, und das nicht unbedingt wegen ihrer Nähe zu meinem Leben. Musik schafft oft erst die Erschütterung, die einen dazu bringt, sich nach Trost zu sehnen – und den kann sie dann wunderbarerweise auch noch selbst spenden.

Na, also doch! Wenn Sie unbedingt woanders weiterlesen wollen, bitte hier.

Gerhaher Programm Tonhalle Nov 2017

Am Schluss, nach einigen „Vorhängen“, sagt er: das letzte Lied – von Schubert, leises Lachen im Saal: das letzte Lied des Schwanengesangs soll heute auch sein letztes sein: die Taubenpost. Gibt es eigentlich Leute, die dieses Lied als das schwächste der späten Sammlung bezeichnen? Vielleicht nur, wenn man es noch nicht von Gerhaher gehört hat. Was ist das für eine Epiphanie! Sie heißt – die Sehnsucht. Kennt ihr sie?

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„Schwanengesang“ Christian Gerhaher & Gerold Huber 1999 HIER Taubenpost bei 47:42

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CHRISTIAN GERHAHER ERKLÄRT UND SINGT „DIE SCHÖNE MÜLLERIN“ HIER

betr. auch das „lyrische Ich“.

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Eine hörenswertes BR-Interview mit Christian Gerhaher: HIER. (21:51)

insbesondere zu Mahler „Ich bin der Welt abhanden gekommen“

Organik

Eine neue Übepraxis? (Ungeordnete Notizen)

Zwei Zitate

Alles beginnt damit, dass ich Anfang der 80er Jahre erkennnen muss, dass weder die Schulmedizin noch die Alternativmedizin noch die Musikpädagogik noch die angebotenen Bewegungsverfahren, wie z.B. Alexandertechnik, Feldenkrais oder Yoga, in der Lage sind, mich von den Schmerzen in meinen beiden Armen zu befreien.
Die Schmerzen sind durch das Geigespielen entstanden.
Und ich stehe als Musiker quasi vor dem Aus.

*  *  *

Technische Bewegungen erkennen Sie daran, dass irgendetwas im Körper festgestellt wird, um gegenüber dem festgestellten Körperteil ein anderes Körperteil zu bewegen und vor allem in der Bewegung zu kontrollieren.
Ein typisches Beispiel dafür ist z.B. bei Streichern, Bläsern und Pianisten, dass der Rumpf fixiert wird, um demgegenüber die Bewegungen der Arme und Hände zu kontrollieren.
Das technische Prinzip ist das Training von isolierten Bewegungen. Das technische Prinzip stammt aus der Maschinen- bzw. Motorenwelt. In einem Automotor macht dieses Prinzip Sinn: Es gibt einen festen Motorblock mit Zylindern, und demgegenüber bewegen sich die Zylinderkolben. Was in einer Maschine Sinn macht, ist aber in einem Organismus sehr ungeeignet.

Diese Zitate stammen (mittelbar) aus einem Lehrgang, den ich nur vom Hörensagen* kenne, den ich aber so weit wie möglich aus den schriftlichen Vorgaben erschließen möchte. Zum Verlinken dieser Vorgaben soll dieser Blogbeitrag dienen. Es geht nicht allein um Geigespielen, das Üben eines Instrumentes überhaupt, oder um die Behandlung der Stimme. Es geht um den sinnvollen „Gebrauch“ des eigenen Körpers.

Da ich immer gern an etwas anknüpfe, was ich schon kenne, und sei es aus alter Zeit, als ich noch wenig damit anfangen konnte, wodurch aber eine tiefer sitzende Motivation geweckt wird, nenne ich die Worte, die mir etwas bedeuten. Selbst wenn ich zwischenzeitlich eine Opposition dazu gebildet hatte: „Gebrauch des Körpers“ (Alexandertechnik) und „Organische Stadtbaukunst“ (eine Theorie meines Onkels).

*Mailzitat Teilnehmerin S.R.: (…) Besonders inspirierend war die umfassende Wirkung! Also die nicht nur aufs reine Kursgeschehen, auf Körperübungen und Instrumentalunterricht begrenzte Erkenntnis, sondern die veränderte Wahrnehmung, die von Wertung, von Zwang, Kritik oder angespanntem Wollen befreite Wechselwirkung mit der Außenwelt – eben Resonanz ! – beim Spazieren durch Berlins Straßen, beim Zugehen auf Menschen, beim Nachdenken über die Elastizität des Lebendigen!

Korrektur: Bei Alexander heißt es anders, nämlich: „Gebrauch des Selbst“. Auf die  „Organische Stadtbaukunst“ folgte später „Die autogerechte Stadt“. Man las dazu irgendwann nur noch die wohlfeile Kritik, eine Stadt solle bitte nicht auto- sondern menschengerecht sein.

Ich persönlich muss mich hüten, bei allen „lebensreformerischen“ Gedanken, die in meinen 50er Jahren grassierten, einschließlich dem eigenen jugendlichen Eifer (von Nietzsche bis Rilke oder Zen, viel später noch Hugo Kükelhaus) einen verborgenen nationalsozialistischen Kern zu argwöhnen. Es handelt sich einfach darum, die Welt der Körper, des Körpers nicht im Auswärts – gegen das „zersetzende“ Reflektieren –  zu isolieren. Das Wort Wechselwirkung im letzten Zitat ist wichtig. In diesem Sinne mache ich mich also an die Web-Seite, die letztlich „nur“ eine Anleitung zum sinnvolleren, bewussteren Geigeüben (Laufen, Atmen, Am-Schreibtisch-Sitzen etc.) bieten soll.

Das Stichwort also lautet ORGANIK oder auch RESONANZ. Man studiere die näheren Ausführungen HIER. (Autor: Thomas Lange)

ZITAT Thomas Lange im Kapitel Audiomotorik

Das Ohr und das Gleichgewichtsorgan bilden eine räumliche Einheit und sind direkt miteinander gekoppelt. Das Gleichgewichtsorgan ist über Nervenbahnen mit allen Muskeln im Körper verbunden. Der Nerv vom Hörorgan und der Nerv vom Gleichgewichtsorgan laufen als achter Hirnnerv in einem Strang zusammen zum Gehirn. So gibt es über das Hören bzw. den Klang einen Weg in das gesamte Bewegungssystem des Menschen. (weiter: hier)

*   *   *

Eine wichtige Grundlage – wenn ich den methodischen Ansatz recht verstehe – ist die Kenntnis das Körpers bzw. seines Knochenbaues und der gegebenen SCHWERPUNKTE. Ich knüpfe auch da an meine Anfänge 1964 an, als ich mir einen kleinen Anatomie-Atlas für Medizinstudenten zulegte, den ich dann im Detail nicht recht verstand. Jedenfalls nicht, wenn ich meine eigenen Bewegungen, ihre Mechanik, dadurch von innen her zu erfassen versuchte. Ich ließ davon ab und machte lieber Musik. Heute finde ich es interessant, vielleicht nur, weil ich die Vergleiche mit dem Prinzip „Mobile“ und den Hinweis auf das Gleichgewichtsgefühl so einleuchtend finde, auch unabhängig von der Musik. Also: keine Scheu vor dem Studium des Baugerüstes! Ich fange so an (und habe allerhand Arbeitspapiere von T.L. auf meinem Pult liegen, die Skelette aber stammen aus einem alten Medizin-Atlas meines Opas, ich werde später eins mit den Schwerpunkten versehen, deren genaue Position ich inzwischen gelernt habe):

Skelett vorn Skelett rück durch Klicken lesbar machen

Skelett Schwerpunkte

(Fortsetzung folgt)