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Der Kern meiner Philosophie

unter Berufung auf Ernst Cassirer und Susanne K. Langer

Die folgenden rot hervorgehobenen Sätze haben sich mir eingegraben, sie strahlen Zuversicht aus bis in die Gegenwart. Schwieriger wird es, wenn ich sie im Detail ausführen soll. Der „Kern“ dürfte aus mehreren Stichworten bestehen, nur dass ich mich nicht von allen guten Geistern verlassen führe. Also voran: eine Übung! Mit längeren Lesestücken zum Überfliegen.

… die Idee, etwas mit einem Namen zu belegen, ist der fruchtbarste Gedanke aller Zeiten; sein Einfluß mag durchaus imstande gewesen sein, das gesamte Leben und Fühlen der Gattung binnen weniger Generationen zu verwandeln. (…) Kaum war der erste Funken geschlagen, so war auch das Licht der Vernunft entzündet; ein Zeitalter phänomenaler Neuerungen, Veränderungen, vielleicht sogar zerebraler Entwicklungen hatte begonnen, als aus der nichtigen Affenkreatur, die er gewesen, der Mensch hervorging.

Natürlich nicht von mir erdacht, immer nur aufs neue entdeckt, – was eben den Wunsch erweckt, das Phänomen in einigen Formeln jederzeit präsent zu habe. Nicht zum ersten Mal versuche ich das, es hat ja in gewisser Weise geholfen, nicht auf unnütze Nebengeleise zu geraten. Aber es bedarf immer neuer Übungen, so des Cassirer-Originaltextes, der mir in dem Reclamband begegnete: „Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft“ (Stuttgart 2010 / Reclam 18715), den ich mir an anderem Ort und in anderer Situation wohl nicht erschlossen hätte. Mir ginge es sicher wie vielen anderen Leserinnen und Lesern: diese von mir verunstaltete Form, die sich beim oftmaligen Lesen von selbst eingestellt hat, hätte mir nicht geholfen, wenn sie nicht mit Denkpausen verbunden gewesen, in denen sich einzelne Worte und Sätze mit Bedeutung gefüllt hätten, die mich an frühere „Offenbarungen“ erinnerten und die ich hier rekapitulieren will. Zunächst der strapazierte Reclam-Text:

Neu war mir der Ansatz bei Herder, ausgerechnet ihn als Antipoden Hegels zu erfassen, und gleichwohl von einer „Phänomenologie des Geistes“ zu sprechen. Wobei es alsbald nicht mehr einfach um die „Natur der Sprache“ geht, sondern unvermerkt um „die Frage der Wirklichkeitserkenntnis“, die eine immer komplexere Gestalt annimmt und eine immer reichere Gliederung erfährt. Von dieser Stelle an möchte ich dem Text Satz für Satz folgen, ihn abschreiben,  an einzelnen Stellen innehalten, um sie mir vollkommen anzueignen.

ZITAT (Texte zur Kulturtheorie … Seite 136f)

Jetzt wird deutlich und unverkennbar, dass diese Frage nicht nur nicht gelöst, sondern in ihrem eigentlichen und vollen Sinne nicht einmal gestellt werden kann, solange die „physischen“ Gegenstände das einzige Thema und das einzige Ziel der Betrachtung bilden. Der physische Kosmos, das Universum der Naturwissenschaften, bildet nur nnoch einen Sonderfall ud ein Paradigma für eine viel allgemeinere Problemstellung. Diese Problemstellung ist es, die jetzt an die Stelle jenes Ideals der Pan-Mathematik, der Mathesis universalis tritt, das seit Descartes das philosophische Denken beherrscht hatte. Der mathematische und der physikalische-astronomische Kosmos ist nicht der einzige, in dem die I d e e des Kosmos, die Idee einer durchgreifenden Ordnung, sich darstellt. Diese Idee ist nicht auf die Gesetzlichkeit der Naturphänomene, auf die Welt der „Materie“ eingeschränkt. Sie tritt uns überall entgegen, wo an einem Mannigfaltigen und Verschiedenen ein bestimmtes einheitliches Strukturgesetz sichtbar wird. Das Walten eines solchen Strukturgesetzes: das ist der allgemeinste Ausdruck für das, was wir im weitesten Sinne mit dem Namen der „Objektivität“ bezeichnen.

Man könnte fragen, was mit dem Ideal der Pan-Mathematik gemeint ist (man ahnt es), am deutlichsten wird es in den Worten Heideggers, der laut Wikipedia „in Descartes den Schlüssel zur Wissenschaftsgenese der Neuzeit [sieht]. Durch die (anti-aristotelische) Einklammerung der Qualitäten des Organischen und durch Fixierung auf die Quantifizierung der Objektwelt stelle seine Philosophie den Beginn der unheilvollen technischen Beherrschung der Welt dar.“

Symbolische Formen

https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_der_symbolischen_Formen hier

ZITAT (Texte zur Kulturtheorie … Seite 137)

Um dies für uns zu voller Deutlichkeit zu erheben, brauchen wir nur an jene Grundbedeutung des Begriffs „Kosmos“ anzuknüpfen, die schon das antike Denken festgestellt hatte. Ein „Kosmos“, eine objektive Ordnung und Bestimmtheit, ist überall dort vorhanden, wo verschiedene Subjekte sich auf eine „gemeinsame Welt“ beziehen und denkend an ihr teilhaben. Dies ist nicht nur dort der Fall, wo wir uns durch das Medium der sinnlichen Wahrnehmung das physische Weltbild aufbauen. Was wir als „Sinn“ der Welt erfassen, das tritt uns überall dort entgegen, wo wir uns, statt uns in die eigene Vorstellungswelt zu verschließen, auf ein Über-Individuelles, Allgemeines, für alle Gültiges richten. Und nirgends tritt diese Möglichkeit und diese Notwendigkeit der Durchbrechnung der individuellen Schranke so fraglos und so deutlich hervor wie im Phänomen der Sprache. Das gesprochene Wort geht niemals im bloßen Schall oder Laut auf. Es will etwas bedeuten; es fügt sich zum Ganzen einer „Rede“ zusammen, und diese Rede „ist“ nur, indem sie von einem Subjekt zum andern hingeht und beide im Wechselgespräch miteinander verknüpft.

Man vergegenwärtige sich den Inhalt des Satzes „Das gesprochene Wort geht niemals im bloßen Schall oder Laut auf.“ Das gilt auch in scheinbar urtümlichen Fällen, wenn man darauf  verweisen will, dass etwa das Wort (?) „Kikeriki“ sehr wohl mit Schall oder Laut etwas aussagt. Es kann Schall und Laut in etwas verwandeln, das über seine onomatopoetische Erscheinung hinaus etwas bedeutet, und nicht etwa nur den individuellen Schrei eines mir gut bekannten Haushahnes, nämlich den Schrei aller Hähne und schließlich diese Tiere selbst in ihrer Allgemeinheit. So wie das Wort „Hirsch“ die Allgemeinheit aller Hirsche meint, den Hirsch schlechthin.

Ich greife jetzt vor, also in dem Text, dem ich folge, dort, wo es um SPRACHTHEORIE geht, die eine Vorbedingung der ERKENNTNISTHEORIE ist. (Im folgenden zunächst Anspielung auf „Pan-Mathematik“, siehe oben.)

ZITAT (Texte zur Kulturtheorie … Seite 138)

Wer die Kritik der Erkenntnis erst mit der Wissenschaftstheorie, mit der Analyse der Grundbegriffe und Prinzipien der Mathematik, der Physik, der Biologie, der Geschichte beginnen lässt, der setzt den Hebel gewissermaßen zu hoch an. Aber ebenso verfehlt derjenige den richtigen Ansatz, für den das Wissen nichts anderes als eine einfache Konstatierung dessen ist, was uns in den Elementen der Sinnesempfindung unmittelbar gegeben ist. Auch die psychologische Analyse lässt, sofern sie ohne erkenntnistheoretische Vorurteile getrieben wird, diesen Sachverhalt klar hervortreten. Denn sie zeigt uns, dass die Sprache durchaus nicht der einfache Abdruck von Inhalten und Beziehungen, die uns die Empfindung unmittelbar darbietet. Ihre Ideen sind keineswegs, wie es das sensualistische Dogma verlangt, die bloßen Kopien von Impressionen. Die Sprache ist vielmehr eine bestimmte Grundrichtung des geistigen Tuns: ein Inbegriff psychisch-geistiger Akte, und in diesen Akten erst schließt sich uns eine neue Seite der Wirklichkeit, der Aktualität der Dinge auf.

Achtung: … die uns die Empfindung unmittelbar darbietet… denke an „das Gewühl“ (Jaspers)

Das „Gewühl“

ZITAT (Texte zur Kulturtheorie … Seite 138f)

eine neue Seite der Wirklichkeit, der Aktualität der Dinge auf. Wilhelm von Humboldt, der zugleich der Schüler Herders und der Schüler Kants ist, hat für diesen Sachverhalt den Ausdruck geprägt, dass die Sprache Funktion, nicht Affektion sei. Sie ist kein einfaches Produkt, sondern ein kontinuierlicher, sich ständig erneuernder Prozess, und in dem Maße, als dieser Prozess fortschreitet, zeichnen sich für den Menschen die Umrisse seiner »Welt« immer klarer und bestimmter ab. Der Name wird somit nicht einfach an die fertige und vorhandene gegenständliche Anschauung, als ein äußeres Kennzeichen, angefügt, sondern in ihm drückt sich ein bestimmter Weg, eine Weise und Richtung des Kennen-L e r n e n s  aus.

Ein wenig zurück im Text…

ZITAT (Texte zur Kulturtheorie … Seite 137f)

Von der Vernunft, die in der Sprache investiert ist und die sich in ihren Begriffen ausdrückt, führt der Weg zur wissenschaftlichen Vernunft weiter. Die Sprache kann mit den ihr eigentümlichen Mitteln die wissenschatliche Erkenntnis nicht erzeugen oder auch nur erreichen. Aber sie ist eine notwendige Etappe auf dem Wege zu ihr; sie bildet das Medium, in dem allein das Wissen um die Dinge entstehen und sich fortschreitend ausbauen kann. Der Akt der Benennung ist die unentbehrliche Vorstufe und die Bedingung für jenen Akt der Bestimmung, in dem die eigentümliche Aufgabe der Wissenschaft besteht. Es ergibt sich hieraus, dass und warum die Sprachtheorie ein notwendiges und integrierendes Moment im Aufbau der Erkennnistheorie bildet. Wer die Kritik der Erkenntnis erst mit der Wissenschaftstheorie, mit der Analyse der Grundbegriffe und Prinzipien der Mathematik, der Physik, der Biologie, der Geschichte beginnen lässt, der setzt den Hebel gewissermaßen zu hoch an. [siehe oben]

(Fortsetzung folgt S.139 Kindersprache, Tier, Instinkt, Merkwelt, Wirkwelt, Bildwelt)

JR „Bos en Duin“ Texel 22.09.2024

Goebel – alte Texte wieder frisch

Oder: Ein Vermächtnis aus jungen Jahren, fortgesponnen

Wie soll man darüber reden? Der einst revolutionäre Griff nach der Alten Musik ist brisant geblieben, man staunt, dass wirklich Jahrzehnte vergangen sind, seit man sie – um Bachs und Monteverdis willen – insgesamt zur Kenntnis genommen hat. Und nicht nur dank Reinhard Goebel und in seinem unmittelbaren Umfeld. Es hat insgesamt – man kann sagen: weltweit – Schule gemacht. Man beachte, was allein die Heidelberger Schola – inspiriert durch die Neue Musik – an Projekten entwickelt hat, etwa zum Rätsel Gesualdo da Venosa („Eros und Gewalt“ ).

Zurück zu Reinhard Goebel, dem man heute vielleicht zum ersten Mal auf die Schliche kommen kann, ohne das Gesamtwerk in hundert Einzelaufnahmen und zahllosen verstreuten Quellen um sich versammeln zu müssen. Überhaupt: für seine glänzende Sprache braucht man kein Studium (das hat er selbst schon geleistet), sondern das gleiche unstillbare Interesse an lebendiger Musik, das ihn selber auszeichnet.

Geplant waren einige Anmerkungen, die ich während der Lektüre des Goebel-Buches besonders memorabel fand. So im ersten Text (Seite 15 ff) » Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…« die nicht weiter spezifizierte Quelle eines FAZ-Artikels aus dem Jahr 2009, der Goebel zu den Worten veranlasste: „Alles hier über Rezeption und Darstellung des Mittelalters Gesagte trifft auch den musikalischen Barock-Nagel mitten auf den Kopf.“ Schon ist der Goebel-Fan begierig, so detailliert wie möglich zu eruieren, worum es sich dabei handelt, und stößt dabei auf ein Buch, das in der  Anmerkung 1 des Vorwortes einen klärenden Weg zur Quelle anbietet.

¹Mittelalter-Symposion. Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. 24.09.2009−26.09.2009. Pädagogische Hochschule Freiburg. Vgl. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667 (Konferenzankündigung von Thomas Martin Buck); http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2835 (Tagungsbericht von Nicola Brauch). Siehe auch den Bericht von Maik NOLTE, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2009, Nr. 302, S. N3.

Das Werk lohnt sich insgesamt als Einübung in die Mediävistik, vorausgesetzt man lässt sich wirklich auf die echte Fährte ein: Hier ist das gesamte Vorwort und die Inhaltsangabe zu dem betreffenden Mittelalter-Symposion, das 2009 in Freiburg stattgefunden hat.

Aus fünf Kapiteln Fankreich von »Le Roi Danse« bis Spätbarock

Man definierte sich in Frankreich ganz einfach und rigoros neu, löste alle alten Bindungen und schuf neue Wege, die Musik optimal der Prosodie der französischen Sprache anzupassen. Selbst der Opern-Prolog diente nicht mehr dazu, die Götter als die das Schicksal bestimmenden Mächte einzuführen. Stattdessen sang man hier unverhohlen das Lob des Herrschers, und slbst des Göttern war es eine Ehre, dem Sonnenkönig zu huldigen: Selten wurd Musik so eindeutig zum Politikum.

Dem reinen, absoluten Gehalt der Sonate oder des Concerto jedoch standen die Franzosen weitgehend ratlos gegenüber. Frankreich geriet in Aufruhr, als nach mehr als 60jähriger Herrschaft des Sonnenkönigs mit Konzerten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« erstmals wieder unpolitische, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Musik zur Aufführung kam. (…) Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen

Nie aber ist sie intellektuelle Kunst, die um ihrer selbst willen existiert und wahrgenommen werden will. Das Absolute ist ihrem Wesen fremd. (Goebel Seite 27)

Im Jahr 1700 lag übrigens auch eine der Notenschrift im weitesten Sinne vergleichbare Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen vor, (…) basierend auf den Vorarbeiten des Monsieur Pierre Beauchamp, der 1635 geboren, noch mit allen Meistern der Frühzeit – Robert Cambert, Molière und Pierre Perrin – gearbeitet und sämtliche Opern und Ballette des königlichen Hofes bis 1686 choreographiert hatte.  (…)

Zum Debütstück für den ersten solistischen Auftritt dieser jungen Mädchen wurde nach 1715 das Werk »Les Caractéres de la Danse« des Lully-Schülers Jean-Féry Rebel, der zwanzig Jahre später mit seinem inzwischen wieder häufiger gespielten »Le Cahos« noch ein weiteres Mal Geschichte schreiben sollte. Die Tänze – sie basieren übrigens auf der Idee des Sonnenkönigs, dass alle Provinzen Frankreich[s] durch einen typischen Tanz am Hofe zu repräsentieren seien – haben alle neben einem charakteristischen Tempo ein klar bestimmtes Figuren- und Bewegungsprofil, und so wurde das Stück zum Prüfungsstück für die Tänzerinnen – nicht nur in Paris, sondern auch in London und Dresden – und obgleich man immer behauptet, dass »Les Caractéres« völlig neuartig gewesen seien, basiert das Werk dennoch auf dem Auftritt des Maître des Danse in der ersten Szene von Molières und Lullys »Bourgeois Gentilhomme«, wo der Tanzmeister dem einfältigen Bürger Jourdain einen kurzen Einblick in seine Kunst gewährt […]. (Goebel Seite 29)

Youtube-Beispiele, an dieser Stelle nicht durch das Buch autorisiert, sondern vom Abschreiber JR als Nachhilfe ausgewählt und eingefügt:

Erinnerung an die Aufnahme vom „Bourgeois Gentilhomme“ mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (1973):

Man höre sorgfältig die Ausführung der Ouvertüre, insbesondere die Punktierungen, um zu verstehen, was 10 Jahre später geschehen ist. Uns Mitspielern war oft selbst nicht recht klar, welche alten Schriften zur Überpunktierung „berechtigten“ oder warum und ab wann es doch wieder anders zu lesen oder zu interpretieren war. Der Name Neumann (Frederick) wurde genannt, ohne dass damals die leichte Internet-Orientierung von heute vorauszusetzen war, es blieb im ungefähren. Goebels Aufnahmen der Bachschen Ouvertüren entstanden in den Jahren 1982 und 1985, für mich ganz starke Eindrücke, – sie beruhten auf den neuen Überlegungen, die Goebel auch gewissenhaft dargelegt hat (Seite 150 ff). Heute könnte man das hier nacharbeiten: Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music, with Special Emphasis on J.S. Bach (Frederick Neumann 1978).

Goebel:

Diese Auffassung von den synchronisierten Überpunktierungen basiert eindeutig auf Fehlübersetzungen und -interpretationen der Flötenschule von Quantz (XVII. Hauptstück, VII. Abschnitt, § 58).

(…) Für den Tuttisten um 1720 galt genau die gleiche Regel wie für den Tuttisten des 20. Jahrhunderts: Kein rhythmischer Wert wird verändert. Wenn Quantz dennoch von scharfen Punktierungen redet, so im Zusammenhang von Tanzsätzen nach französischer Manier -aber die Ouvertüre ist nun einmal kein Tanzsatz. Quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Solisten aus augenblicklicher Caprice erlaubt ist, nämlich die Veränderung des vorgegebenen Notentextes, ist dem Tuttisten schlichtweg verboten. (a.a.O. Seite 152f)

Siehe auch hier. (=Blog-Artikel „Wie Goebel in Frankreich“.)

Neugierig geworden: Wer war „Fritz“, ein unbekannter Bach, wie klang seine Musik? Ein Anfang sei gemacht mit diesem Stück aus „Pygmalion“:

Alle Titel der Goebel-CD „Cantatas of the Bach family“ anspielen: hier

Dreißig Jahre lang stellte Johann Sebastian Bach die musikalische Speerspitze der Welt: Sie war immer genau dort, wo er war, in seinen Händen und auf seinem Schreibtisch. Um 1735 aber drängten ambitionierte Konkurrenten auf den Markt und zeigten Bach, wo das neue Vorne war: im galanten Stil, der sich ab 1715 von Neapel aus nach Norden verbreitete und der flamboyanten, religiös bedeutsam verschlüsselten und manchmal auch überlasteten Musik des Spätbarock etwas entgegen stellte – eine einfachere Musik mit leichter verstehbarer Harmonik und im weitesten Sinne singbaren Melodien mit weniger komplexer Polyphonie.

Bachs Söhne, ebenfalls gestandene Musiker, die zu einflussreichen Komponisten heranwuchsen, hatten das Handwerk bei ihrem Vater gelernt – aber bei aller Verwurzeltheit in der Tradition des großen Johann Sebastian sind diese modernen Einflüsse auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Wilhelm Friedemann Bach deutlich zu erkennen. Bei Carl Philipp ist der Prozess der musikalischen Emanzipation nur noch mittelbar nachvollziehbar, da er einen guten Teil seiner Kompositionen aus jener Umbruchzeit verbrannte – eine hier erstaufgenommene Sinfonie in F-Dur kann ihm mit der nötigen musikwissenschaftlichen Vorsicht zugeschrieben werden.

Ebenfalls eine Weltpremiere ist die Aufnahme der dreisätzigen Solo-Kantaten Carls »Ich bin vergnügt mit meinem Stande«. Eine gar dritte Erstaufführung erlebt hier die Sinfonie in B-Dur Wilhelm Friedemann Bachs. Abgerundet von Musik von Bachsohn Johann Christoph Friedrich und einer Kantate des Übervaters Johann Sebastian selbst macht diese grandiose neue Produktion der Berliner Barocksolisten und dem gefeierten Bariton Benjamin Appl unter Leitung von Reinhard Goebel die musikalische Metamorphose des 18ten Jahrhunderts akustisch erlebbar.

Weiterlesen und -suchen:

http://www.musicweb-international.com/classrev/2020/Dec/Bachfamily-Cantatas-HC19081.htm hier

(Ensemble) Pygmalion interprète la Cantate „Es erhub sich ein Streit“ de Johann Christoph Bach sous la direction de Raphaël Pichon. Extrait du concert enregistré le 7 avril 2023 à la Chapelle Royale de Versailles.

Text verfolgen nach analytischer Abschrift ©Clemens Flämig August 2022 (Quelle: https://www.bachipedia.org/werke/bwv-19-es-erhub-sich-ein-streit/ hier)

Da ich die Goebel-CD seltsamerweise übers Internet nicht bestellen kann, habe ich einen Ersatz finden müssen (27.09.24), bemerkenswerterweise schon aufgenommen 1988:

Text: Hannsdieter Wohfahrt

ENTSCHULDIGUNG! Da ich von Goebels im Buch veröffentlichten Texten ausgehe, zu denen ich mich etwas frei „auslasse“, – auch ohne alle CDs besitzen, denen sie ihre Entstehung verdankten -, kann ich in einer gewissen Konfusion enden wie JETZT. Ich hatte gehofft, mehr über „Pygmalion“ und den Bückeburger Bach-Sohn zu erfahren, fand Goebels Ausführungen wie immer erhellend, ohne recht zu bemerken, dass er sich unvermerkt gänzlich auf das die CD abschließende Werk des alten Bach bezieht, die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, mit einigen Seitenblicken wiederum auf dessen rhetorische Prinzipien docere, movere & delectare. Für uferloses Staunen und Studieren sei auch der Youtube-Link wenigstens zu dieser Aufnahme beigesteuert: hier.

In Goebels Text blieb ich u.a. stecken bei der Bemerkung:

Zauberhaft unbeantwortet bleibt die Frage: »Hat er nun, hat er nicht?«

Erst allmählich fiel der Groschen: Diese Frage kann sich nur aus dem maßlosen Wunschziel des „Pygmalion“ ergeben, – wobei Goebel seinen Kopf dezent aus der Schlinge zieht, indem er von dem sinnlichen Begehren hinüberlenkt zu der Todesfreude des trunken in den Himmel tanzenden Simeon, und damit zur „Climax“ der Kantate „Ich habe genug“. Was mir an Reinhard Goebel von Anfang an auffiel, war sein eigenartiger Humor, eine zuweilen etwas drollige Respektlosigkeit. Bei den Aufnahmeprojekten unseres Lehrers Franzjosef Maier inmitten des Ensembles Collegium aureum erlebte ich ihn 1974 zum erstenmal als jungen Kollegen, witzig, wortgewandt, aufmüpfig, belesen. „Missa Salisburgensis“! Siehe alle Mitwirkenden…

1974

Kein Zweifel: man sollte auch seine „besserwissende“ Aufnahme kennen:

1989 (2024)

Parlamentarismus bei nur zwei Parteien?

Heute

erhielt ich wieder einmal willkommene Post vom Philosophie-Magazin, das oft die Themen trifft, die einen gerade am meisten bewegen:

Liebe Leserinnen und Leser,

nach dem Attentat auf Donald Trump ist die Sorge vor einer noch weiter zunehmenden Spaltung innerhalb der Bevölkerung in den USA groß. Bereits durch den Sturm aufs Kapitol, den Trump maßgeblich befeuert hatte, lag die Gefahr eines Bürgerkriegs in der Luft. Wird sie sich jetzt, da der Ex-Präsident selbst Opfer eines Anschlags wurde, potenzieren?

Es lohnt sich, vor diesem Hintergrund „Masse und Macht“ von Elias Canetti wiederzulesen. Im Kapitel über „Das Wesen des parlamentarischen Systems“ beleuchtet er, inwiefern der Bürgerkrieg in seiner psychologischen Struktur im Zwei-Parteien-System aufgehoben ist. So liegt für Canetti die Errungenschaft des Politischen gerade darin, dass – trotz harter verbaler Auseinandersetzungen – der Tod durch die Sublimationsleistung der Stimmabgabe überwunden und ausgeschlossen wird. Wird diese heilige Regel angetastet, besteht in der Tat großer Anlass zur Sorge, dass der Krieg zurückkehrt.

Unsere politisch hochnervösen Zeiten machen es schwer, in die Entspannung zu finden. Wie komme ich zur Ruhe? So lautet das Titeldossier der aktuellen Ausgabe des Philosophie Magazins, die jetzt – pünktlich zur Sommerpause – im Handel erhältlich ist. Meine Kollegin Theresa Schouwink stellt wegweisende philosophische Strategien von Seneca, Sextus Empiricus, Michel de Montaigne, Martin Heidegger und Simone Weil vor, die uns helfen, runterzukommen.

Ich werde mir gern zu sommerlicher Entspannung verhelfen, wenn das so einfach geht: zum Bahnhof fahren und in der Buch- bzw. Zeitschriftenhandlung nach der aktuellen Ausgabe fragen!

Mehr noch: vorher muss ich bei Elias Canetti nachgelesen haben, was es mit dem „Wesen des parlamentarischen Systems“ auf sich hat. (Ich bin stolz: meine recht zerlesene Ausgabe stammt aus dem Jahr 1982. Weniger stolz, dass ich kaum von selbst auf die Idee gekommen wäre, diese Seiten dort wieder aufzuschlagen.)

Quelle Elias Canetti: Masse und Macht / Fischer Frankfurt am Main 1982 – neu und schonend gescannt wie folgt:

17.07.24 15.00 Uhr. Ich war also am Bahnhof und in der Buchhandlung Jahn (neues Exemplar Canetti „Masse und Macht“  als Geschenk für Emi), – allerdings, was das Philosophie-Magazin angeht, erwies sich der Kauf als ein Fehlschlag: offenbar war der politische Dreh mit Trump und Weltpolitik im Zwei-Parteien-Parlamentarismus eine Irreführung aus aktuellen Gründen. Es gab plötzlich Wichtigeres als den Sommerurlaub und allgemeine Ruhefindung. Aber das Heft war halt schon fertig. Und es liest sich auch gut, erfüllt aber nicht die geweckten Erwartungen…

Inhaltsverzeichnis Philosophie-Magazin

Selbst Svenja Flaßpöhlers Editorial über das Einschlafen lese ich nun mit Widerspruch. Ihr mehrere 100 Jahre altes Haus in der Bretagne, mit den dicken Mauern und dem kleinen Fenster, das den Blick auf den mittelalterlichen Turm einer Stiftskirche freigibt, wirkt auf mich durchaus klaustrophobisch. Ich möchte meine völlig unphilosophische Einschlafmethode dagegensetzen, die sich auf das Atmen oder Nicht-Atmen stützt, also etwas Inneres, und dabei zwanglos einer methodisch einfachen, wiederholten  Zählpraxis von 1 bis 12 folgt.

(Fortsetzung folgt)

Nochmals: was ist mit dem Zwei-Parteien-System, dessen Schwachstelle doch in den USA offenzuliegen scheint? Die Spaltung der Gesellschaft scheint unheilbar, der Populismus hat leichtes Spiel. Selbst die Gefahr eines Bürgerkriegs ist offensichtlich, wie Canetti mit echten Toten statt mit Zahlen und Mehrheiten zu rechnen, scheint nicht absurd. Ich studiere wie immer zunächst, was Wikipedia über das Zwei-Parteien-System mitzuteilen hat: Hier.

Zudem sollte man sich über das Prinzip der Wahl überhaupt klar werden: Hier.

Auch z.B. über das in den USA geltende (problematische!) Wahlmännerverfahen.

Eine sehr hilfreiche Lektüre bietet der Wikipedia-Artikel über das „Politische Spektrum“, von dem man annehmen kann, dass es von der Überbewertung des Individuums bis zur Überbewertung der Masse als solcher reicht, von ganz rechts bis ganz links.  Natürlich ist es komplizierter.

Zum WIKIPEDIA-Artikel

Ein politisches Spektrum ist ein Ordnungssystem, das politische Ideologien mithilfe von geometrischen Achsen vergleicht. Ursprung und bis heute verbreitetste Anwendung ist die eindimensionale Unterscheidung in links und rechts. Zur genaueren Klassifikation politischer Ideologien werden heute aber auch verschiedene andere eindimensionale oder mehrdimensionale Klassifikationssysteme verwendet… (weiter a.a.O.)

(…)

Ein Hauptkritikpunkt ist die extreme Vereinfachung der politischen Landschaft durch die Projektion verschiedener programmatischer Unterschiede auf eine einzige Achse. Für den Philosophen Johannes Heinrichs ist zudem „[d]as Operieren auf der eindimensionalen Achse von Links und Rechts … heute nicht bloß überholt, auch nicht bloß untauglich, sondern friedensstörend und fortschrittsfeindlich.“  (weiter a.a.O.)

Charles Taylor

Eine Wiederbegegnung

Wenn Sie den zweiten Teil des folgenden Blog-Artikels aufsuchen, verstehen Sie, warum ich für jede unverhoffte Wiederbegegnung mit diesem Philosophen dankbar bin. Um es methodischer zu betreiben, dazu fehlt mir nicht der Bedarf, nur der direkte Anlass, – hier hat er sich plötzlich eingestellt. Gestern in der ZEIT. Zugleich die Rückbesinnung auf 2019 / 2020, jawohl die Jahre waren nicht umsonst. Vorweg etwas zur Biographie Charles Taylors (Wikipedia).

Verschwörung X

Bezwingen Sie Ihr Verlangen weiterzulesen, falls Sie noch nie von „Achsenzeit“ gehört haben…

Jaspers ! ⇒ ⇒ Wiki Achsenzeit

[Nebenbei: die Verwechslung der Philosophen Charles Taylor und Richard Taylor aufzuklären, wie in meiner Erinnerung an des letzteren eindrucksvollen Essay „Sisyphus und wir“ (Der Sinn des Lebens bzw. The Meaning of Life in: Good and Evil: A new Direction, New York 1970).]

(Fortsetzung folgt)

Romantik als Revolution

1961 2007

2024

Ich sollte hier innehalten und den Zusammenhang überdenken, allerdings werde ich beständig beim Lesen durch Assoziationen „belästigt“, die ich vorsortieren oder wenigstens erreichbar halten muss, auch wenn sie im Moment nichts Dringendes zum Thema beitragen. Z.B. lese ich in dem Jaspers-Buch (Thema Achsenzeit) hochinteressante Ausführungen zu Spengler (und Toynbee) und zu Portmann, die ich im Original nie aufschlage, ohne mich festzulesen. Oder z.B. aufgrund der folgenden Taylor-Bemerkung, die mich irritiert, obwohl ich dem Kanadier ohne zu zögern eine andere Meinung zugestehe, als Menschen, die im Bannkreis Kölns leben. (Ja, denke ich – wenn man eben Hölderlin assoziiert und nicht Kardinal Wölki!)

Und schon schlage ich ein in Schreibtischnähe positioniertes Buch auf, in dem ich triftige Sätze lese, rot unterstrichen, dazu den Hinweis auf Charles Taylor, – nämlich bei Daniel Martin Feige:

Quelle: Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Berlin 2022

(Fortsetzung folgt)

Trotzdem Wagner lieben?

Schwer zu beantworten

Mein Vater zeigte keine Gefühle, vor allem nicht gegenüber seinen Söhnen. Ich könnte nicht sagen, ob er mich geliebt hat. Es war wohl vier Jahre vor seinem frühen Tod, dass meine Mutter mir etwas erschüttert erzählte, er habe geweint. Richtig geweint, und zwar bei Musik aus dem Radio. Was war’s denn? fragte ich. Er hat gesagt, antwortete sie, dass es ausgerechnet Wagner war (von dem meine Mutter nicht viel hielt: „menschlich war er ein Schwein“, aber nicht etwa weil er ein schrecklicher Antisemit war, sondern „wegen der Frauengeschichten“). Wie hieß das Stück? wollte ich wissen. So etwas wie . . . „Wotans Abschied“. Ich glaube, wir alle wussten, dass Papa (vielleicht unheilbar) krank war, er selbst hätte nie darüber gesprochen (erst später, als er gemeinsam mit meiner Mutter Tolstoijs „Tod des Iwan Iljitsch“ las und bemerkt haben soll „das bin doch ich“.) Warum sollte er über eine Abschiedsszene weinen? Abschied von Brünnhilde?

Ein paar Jahre später begriff ich es, als ich in meiner Kölner Studentenbude unentwegt den Tonband-Mitschnitt der Walküre aus Bayreuth 1961 hörte, dieser unglaubliche Abschied, der in den finalen Feuerzauber führt. Und ich dachte an meinen Vater, der vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte Blut gespendet für ihn und glaubte, das könne ihn gesund machen. Die letzten zwei Nächte hatte ich in seinem Krankenzimmer auf Gilead (Bethel) im Sessel geschlafen, damit er nicht allein blieb. Dies ist sein Klavierauszug, wahrscheinlich hat er das Werk in seiner Kapellmeisterzeit auch dirigiert.

Und nun kamen die Erinnerungen zurück, bei einem sonst nicht sehr ergiebigen Gespräch (Irrtum!) mit Christian Thielemann und Igor Levit in der ZEIT.

DIE ZEIT 13. Juni 2024 Seite 46f Gespräch Thielemann / Levit / Christine Lemke-Matwey

Ich kam partout nicht drauf, welche Akkordfolgen Thielemann im Wotan-Monolog meinte, und ich gäbe viel darum, sie dingfest zu machen. Bitte um Nachhilfe!

Götterdämmerung Anfang gute Theateratmosphäre (Musik ab 4:38) https://www.youtube.com/watch?v=kLly5R4gDiM hier

Mahler VI, 3 https://www.youtube.com/watch?v=Xxd-h3eW8xA hier

Ob jemand, der Jeremy Eichlers Buch „Echo der Zeit“ gelesen hat, auch eine solche Antwort gelten lassen könnte? Ich habe an meinen Vater gedacht, der im Krieg auch manches geglaubt hat, was die Nazis ihm erzählt hatten. Nach dem Krieg: kein apologetisches Wort von seiner Seite! – Freispruch?

Im Vertrauen auf den deutschen Geist?

Keine Kontroverse – Lanz & Precht

Einfach nur ZUHÖREN ?

Natürlich erwartet man an dieser Stelle, dass die Fetzen fliegen. Aber kann man denn nicht wirklich einfach nur zuhören, wenn lediglich zwei das Wort haben und die öffentliche Meinung sich an anderen Wortwechseln entzündet hat, die so nicht angelegt waren: die Diskussion ist natürlich offen, muss jedoch nicht besonders rabiat sein, nur weil die beiden Kontrahenten auf dem erleuchteten Podium sitzen und wir im Halbdunkel davor. Kurz: ich könnte in meinem Wohnzimmer soviel schimpfen, wie wie ich will, aber nicht einmal dort andere Zuhörer*innen behindern, irritieren oder in ihrer Meinungsbildung beeinflussen. Hinterher kann ich versuchen, eine eigene, faire Diskussion zu führen (?) oder zuzulassen, aber nicht auf der Grundlage von Stimmungen, wie z.B. – das sind mir zuviel Worte, der Lanz labert sowieso endlos und unterbricht notorisch, er will nur mit seinem naseweisen Bescheidwissen prunken. Tut er es auch hier (wenn er keinen Politiker vor sich hat) oder geschieht es etwa nur zugunsten spontaner Einfälle, die keinen Aufschub dulden und nun einmal zu einem lebendigen Gespräch gehören? Im letzten Podcast, der zur Diskussion steht, habe ich jedenfalls offensichtlich etwas gelernt, wollte jedoch auch noch einigen Namen und Begriffen nachgehen, die mir neu waren oder mich gereizt haben, das Handy als Lexikon hinzuzuziehen, was die Konzentration auf den Gesprächsverlauf mindert. Weder Lanz noch Precht hegt die Absicht, die Zuhörenden absichtlich zu verwirren, das darf man ihnen zugestehen. Und wir: sind halt gutwillig und tolerant, – das ist keine Schande. (Wenn Sie die Sendung schon gut genug kennen, – vermeiden Sie doch einfach diesen Zeitverlust im Blog. Ich will damit nicht glänzen, sondern einfach meine Zeit nutzen.)

Mich interessiert vor allem das Thema „westliche Werte“ – kann man diese Werte wirklich so dem Westen zuordnen? Sind es nicht menschliche Werte schlechthin? Wir neigen – in vorauseilender Selbstkritik – instinktiv dazu, die Werte – ähnlich wie Geschmacksunterschiede -als relativ zu betrachten, – andere Kulturen, andere Werte. Oder aber nein, das ist falsch verstandene Toleranz: zum Beispiel weibliche Genitalverstümmlung darf in keiner Kultur der Welt etwa „aus einer ehrwürdigen Tradition“ heraus als gültiger Brauch, als Wert gelten. Dennoch muss ich diese Auffassung begründen können, ohne als logikversessener „weißer alter Mann“ diffamiert zu werden…

Stichworte:

21:20 Timothy Garton Ash siehe Wikipedia hier

s.a. hier Vortrag: Timothy Garton Ash, ist Europa noch Vorreiter der Freiheit? | EuropaCamp 2021 ( bis 15:33, dann Diskussion)

42:43 Westliche Werte gemeint als MENSCHENRECHTE (gelten nach Kant immer und universell)

49:38 https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moskau-Connection hier

51:38 … alles Gedanken aus der Aufklärung Montesquieu etc. , „Gewaltenteilung“ Wiki hier Kant 52:04

(Fortsetzung folgt)

Julian Prégardien

Zwei Sternstunden: Schubert, Müller, die Geschichte, der Film, der Liederzyklus, der Gesang

Sendung 9. Juni 2024 (W bis 2029)

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNjE5NzA HIER

Der Film begleitet Julian Prégardien auf seiner Reise zu den Ursprüngen des Liederzyklus und beim Austausch mit verschiedenen Persönlichkeiten. Ein Psychiater erklärt das Phänomen der unerfüllten Liebe, eine Gender-Expertin gibt Einblicke in die Perspektive der angebeteten Frau und ein Schubert-Kenner vermittelt die Künstlerwelt des Komponisten zwischen Genie und Wahnsinn. Neben den Pianisten Kristian Bezuidenhout und Daniel Heide verzaubert die Puppenspielerin Manuela Linshalm das Publikum mit ihrer zeitbasierten Interpretation der romantischen Erzählung. Es ist eine Suche nach einer immer neuer Inspiration für ein Werk, das Julian Prégardien als Sänger besonders viel bedeutet und für das er seine Freude mit vielen Menschen teilen möchte. Ein Film von Nanna Schmidt.

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„Die schöne Müllerin“ Gesamtaufnahme SWR

Der Film zeigt auch, dass man den Dichter genauso ernst nehmen muss, wie Schubert es tat.

Siehe auch Christian Gerhaher zum gleichen Thema hier im Blog

Zu Julian Prégardien siehe auch hier im Blog

Quo vadis, Klassik? die Stoff-Sammlung

Improvisationen zur aktuellen Krise

von Jan Reichow (Langfassung des hier zuerst veröffentlichten Essays)

Motive, Motivationen

1 zu wenig Nachfrage

2 nur für die Elite

3 das Konzert zuhaus

4 Paradiesvögel

5 notwendige Bildung

6 schwache Philosophie

7 Vermittlung durch gute Worte

8 Licht aus Osten und Präsenz

9 Surplus statt Überfluss

10 einige Ideen für gelungenes Surplus

X Ausklang: Wachwerden

24.02.2024 JR (angesichts schlimmerer Krisen)

*     *     *

Was ist los? „Richard Wagner brummt nicht mehr“, lese ich, und: „weshalb den Bayreuther Festspielen schwierige Zeiten bevorstehen“ (RP, 5.1.24) und dann: „Spender ziehen sich zurück, die Politik mahnt Visionen an“. Wie? Ausgerechnet die Politik, – galt denn nicht gerade der Mythos außerhalb von Politik als Garant einer visionären Kraft. Exklusiv für alle, die Ohren hatten zu hören, gerade auch jenseits der engeren Musikzirkel. Anders gesagt: man hatte erlernt, „die Festspiele als Inbegriff des Elitären (…), der geschlossenen Gesellschaft“ zu sehen, und paradoxerweise sorgte das auch weit draußen für ein zugkräftiges Image. Das Volk schaute auf.

Niemand hatte so wie Wagner mit den Mitteln der Musik außermusikalische Sehnsüchte bedient. Ohne sie zu analysieren. Ohne sie als Illusion zu entlarven. Erlösung dem Erlöser und nun für alle! Sobald man begann, Bayreuth durch moderne Regie-Dialektik zu entmythologisieren, hieß das für die Welt: Aus der Traum! Viel zu spitzfindig. Für wessen Bedarf? Wir brauchen doch die Affirmation der Nibelungentuben.

Beides zugleich geht nicht. Oder? Wird man im Zeitalter der Kirchenaustritte etwa auch dazu übergehen, Bach-Passionen ironisch aufzuführen?

Man verweist auf das fatale Corona-Jahr, das die Publikumsfrequenz halbiert und neue Gewohnheiten geschaffen habe. Die Kultur stehe auf dem Prüfstand. Nicht der Computer und das Handy und die digitale Bequemlichkeit, – wir selbst. Wir müssen neu durchdenken, was wir wirklich brauchen und was verzichtbar ist. Beziehungsweise, was uns nicht fehlen wird.

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Das klingt viel einfacher als es ist. Corona hat nur ins Bewusstsein gehoben, wonach wir jetzt nicht mehr wie früher realiter verlangen. Zugleich haben sich noch mehr online-(Aus-)Wege aufgetan.

Was bedeutet es denn, wenn Musik – ideenreich angeboten – überall abrufbar ist, jederzeit für alle verfügbar? Der Einstieg und die Verweildauer wären entscheidend. Vielleicht ist es nur die Pop-Mentalität, die immer alles will, und das sofort. (Notfalls nach einem kurzen Intro.)

Aber auch auf der „seriösen“ Seite gilt: Das Klick-Publikum ist fluide, ich kann risikofrei abbrechen und wieder einsteigen. Ob wir wollen oder nicht, – wir lernen: es ist kein Hauptanliegen mehr, die Kontinuität des zeitlich umgrenzten Klang-Ereignisses zu sichern. Auch hier äußert sich die Mentalität der Wegwerfgesellschaft, man kann jederzeit austauschen, wieder neu ansetzen, warten bis es passt, und reklamieren, wenn die Wirkung ausbleibt. Die Kostbarkeit des „echten“ Erlebnisses ist kein schützenswertes Gut mehr, – aber sind wir denn bereit, es überhaupt als solches wahrzunehmen?

Warum spricht man von einem „Klassismus“-Problem? Nach Klassik (in doppelter Bedeutung) und Klassizismus (mit pejorativem Beigeschmack) nur eine andere unglückliche Wortwahl.

In diesem Sinn argumentierte vor fast 25 Jahren ein Buch, das scheinbar auf eine unerhörte Fülle antwortete: „Soviel Musik war nie“ von Klaus Peter Richter. Am Schluss mündete es in ein Lamento, das vielleicht zugleicht jegliche Diskussion über die Zukunft dieser Analyse unterminiert hat: Es sah „Historische Wahrheitssuche als Marktdynamik“, „Weltkultur als Vitalspritze“, und die „Karriere des Entertainment“, was am Ende nur bedeutete: „U“ schlägt „E“. Und was wird aus dem Projekt der Moderne? „Die Tonwelten der Avantgarde“, falls überhaupt beachtet, „haben den Fluchtbewegungen in Historismus, Universalismus und Popmusik, dem Eskapismus der Vermarktung und Vervielfältigung wenig Eigenes entgegengesetzt: Sie treffen den Menschen nicht mehr.“ (S.211) Der Buchweisheit letzter Schluss: „Die Musik hat keine Wahl. Sie muss mitspielen im neuen Szenario.“ Und dann fast flehentlich:

„In dieser Metamorphose jenen musikalischen Sinn zu bewahren, durch den sich der Mensch als Seelenwesen definiert, darauf wird es ankommen. Sonst wird womöglich die Fülle zum Verdikt: So wenig Musik war nie.“ (S.226 a.a.O. Schluss)

Ein erfahrener Orchestermusiker, den ich dazu befragte, schüttelte den Kopf zu dem Ausdruck „Mensch als Seelenwesen“ und entgegnete etwas spitz: „Wir sprechen nicht von so kostbaren Wesen, sondern vom zahlenden Publikum. Es gibt nicht zu wenig Leute, es gibt zuviel Musik. Das Angebot ist viel höher als die Nachfrage!“

Andererseits steht fest: „Kammermusik“ muss keine Halle füllen. Es mindert ihren Wert nicht, wenn wirklich nur eine Minderheit angesprochen wird. Im Gegenteil: sie gedeiht in einer Sphäre der Privatheit, in Wohnzimmer, Salon, kleinem Festsaal, – nennen wir es „Nische“. Dort wo man auch Fachgespräche unter Freunden führt, wenn die Instrumente beiseitegelegt sind; wo der Solo-Pianist aufsteht, sich unter die Leute mischt. Musik, die nicht der wogenden und bewegten Menge bedarf, sondern vieler versammelter Einzelner. Und nehmen wir ruhig auch die Kneipen dazu, den Pub, den Jazzclub, selbst die Hotel-Bar mit dem Mann am Klimperkasten, sprechen wir von „Szene“, „Kleinkunst“, Folk, Jazz, Blues, Evergreens, kurz: Musik, die zur Not auch im Hintergrund oder zum Schwoofen funktioniert.

Wobei vermerkt sei, dass auch die gemütliche Eckkneipe („raus aus der Welt“ und doch drin) unter Besucherschwund leidet, – vielleicht sind es die Kosten? Oder das Rauchverbot? Ich erinnere mich an ein Refugium, über dessen Eingang der Werbespruch stand: „Runter vom Sofa, rein in die Mausefalle!“ (So hieß der Laden.) Drinnen lief permanent Musik, man war damit aber gar nicht mehr „aus der Welt“, der Raucherclub stand vor der Tür, in wechselnder Besetzung. Es sah gesellig aus, nur war die Kneipe bald pleite. Und aus die Maus.

Aber: Kann man etwa irgendeine Musik ad acta legen, mit dem Argument, sie repräsentiere bloß eine Nische des öffentlichen Musiklebens? Sollen wir abstimmen lassen, und ihr erst wie einer Partei ab 5 % Stimmenanteil Aufmerksamkeit oder gar Förderung zubilligen?

Der kürzlich verstorbene SWR-Moderator Tom Schroeder hat sich zeitlebens für den Blues eingesetzt, der anderen längst nicht mehr zeitgemäß dünkte, gerade gut genug als Nischenfüller, was ihn nicht im geringsten beeindruckte:

„Es ist eine Nische wie beispielsweise die Musik von Helene Fischer … oder die Musik von Beethoven … oder die Musik von den Rolling Stones – ich geh davon aus, dass wir alle miteinander viele Nischen haben mit unterschiedlich großen Anhängergruppen!“

Recht hat er, oft sind es Einzel-Initiativen, die im Schneeball-System lokale Traditionen bedeutend machen, z.B. „sein“ Lahnstein-Festival.

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Natürlich kann man es nicht bei dieser Argumentation bewenden lassen, man denkt durchaus in bescheidenen Größenordnungen, aber die Bezahlbarkeit sollte gewährleistet sein, und es müssen einfach mehr Leute im Saale sitzen als auf der Bühne. Ob 300 oder 2000 macht für die Gemeinschaft Künstler/in + Publikum kaum einen Unterschied.

Nach Ansicht des Cellisten und Intendanten Jan Vogler braucht die Klassikbranche allerdings ein viel engeres Verhältnis zum Publikum. „Die Klassik ruht noch zu sehr in sich selbst und muss sich bewegen“, sagte der 58-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. In anderen Sparten sei die Musiker-Fan-Beziehung völlig normal, in der klassischen Musik fehle sie häufig.

Man spricht aber auch speziell vom E-Musik-Problem, wahrscheinlich weil man mit ihr keine Stadien füllt, füllen will, nach dem Vorbild der Großnischen-Hauptfigur Helene Fischer, in Erinnerung an die ehedem durchaus raumfüllenden drei Tenöre, oder an die auf Pop-Format getrimmten Klassik-Highlight-Folgen à la Waldbühne Berlin.

Also: um welche Sparte von E-Musik geht es? Und um welche Darbietung – und wo? Im Saal oder in den Medien? Mir ging ein Licht auf, als mein WDR-Kollege aus der Alten Musik von dem Erfolg der King’s Singer in jedem ihrer Konzerte erzählte (ich hatte es im Saal der Musikhochschule Köln miterlebt) und dann hinzufügte: Merkwürdig, dass die Radio-Sendungen ohne jedes Echo bleiben. Wahrscheinlich ist unabdingbar, die Personen zu sehen, die Gesichter der Sänger, die Mimik jedes Einzelnen mitzulesen.

Das klassische Image der Musik bleibt (zu) streng, wenn man die Interpreten nicht sieht, auch wenn man hier und da das Publikum lachen hört. Es könnte das Lachen der Insider sein, die mich ausschließen.

Das Klassismus-Problem ist ein Klassenproblem.

Nun genügt es aber nicht, den Bedeutungsverlust der Musik in der Medienwelt hinzunehmen (oder zu beklagen), als sei er bedeutungslos für das Konzertleben. Wer die Mahler-Sinfonie oder die Johannes-Passion im Fernsehen erlebt, glaubt vielleicht dem Erlebnis ausreichend beizuwohnen. Von Konzertabstinenzlern hört man oft: „Gut, dass es Arte gibt“! Es kann tatsächlich sein, dass es als ausreichend empfunden wird, weil genügend Erinnerungen an echte Aufführungen einer Passion aufgerufen werden. Das wirkt nach, auch über TV. (Zur ungefähren Relation: ZDF 16%, Arte 1,5%).

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Es ist aber auch die Stunde der Wahrheit, – unleugbar ist da ja noch das andere große Plus, das zweischneidige: man kann die eigene Zeit in genauer Dosierung einem bestimmten Programmplatz zumessen. Man spart die Mühe der Hin- und Rückreise, kann liegen oder sitzen, im Zimmer auf- und abgehen, etwas aus dem Kühlschrank holen, man kann in der Programmzeitung blättern, aus dem Handy zusätzliche Infos über das Werk suchen, vielleicht ganz schnell die Mails und Whatsapps checken. Ein Telefonanruf lässt sich nicht ignorieren, er könnte wichtig sein. Ich muss aufs Klo, – in der Philharmonie hätte ichs vorher erledigt. Die Ablenkungen sind vielfältig, und in aller Gemütlichkeit ist der Augenblick nicht fern, wo es heißt: mir ist langweilig. Ich drücke wenigstens den Aufnahmeknopf, schneide den Rest mit, und alles ist vergessen.

Wir stehen allenthalben vor den vielfältigen Relikten einer hochdifferenzierten Musikkultur, können uns jederzeit vorgaukeln, wir seien von ihr eingehüllt, in ungestörtem Kontakt zu allen Enklaven des Lebens und spüren zugleich, wie sie sich auflösen und in der federleichten (fingerfertigen) Abrufbarkeit dahindämmern, sich unserer Wahrnehmung entziehen und eine täuschende Kulisse zurücklassen, absolut beherrschbar und alles beherrschend. Zimmerlautstärke ist ein dehnbarer Begriff, die rabiateste Musik stört nicht mehr. Das kann ich in meinen vier Wänden verlangen, allerdings: wir selbst verändern uns und nicht gerade zu unserem Vorteil. Denn unsere Neugier ist nicht unbedingt größer als das Verlangen nach Bequemlichkeit, die Vielfalt, die Bandbreite reduziert sich still und heimlich.

Möglicherweise regt sich eine Spur schlechten Gewissens, und dessen Einspruch beschäftigt uns unterschwellig: ist es überhaupt nötig, nach wie vor auf Realpräsenz zu bestehen, wenn ich das klangliche Endprodukt jederzeit greifbar im privaten Raum, im Handy, in meinen Kopfhörern habe?

Im Konzert hatte ich doch ein Umfeld, das mich, auf ein Erlebnis fixiert, in Spannung hielt (vielleicht auch ernüchterte), einen Programmtext (den man ignoriert, aber hinterher konsultiert, falls das Konzert nachwirkt). Und in alten Zeiten hatte man die LP, die das Unwiederholbare konservierte. Sie bot dank der Größe des Albums den Anreiz, es in die Hand zu nehmen, sinnend zu betrachten, selber aktiv zu werden, zu lesen, wenn der Text attraktiv genug war. Die CDs führten diesen Brauch noch ein Jahrzehnt und länger weiter, zu Zeiten des Alban-Berg-Quartetts erwarb ich pro Saison alle neuen Tonträger, sie winkten nach den Konzerten aus den Vitrinen. Viele Kunden brauchten wie ich das physische Symbol des Geistigen, das Haptische. Selbst die Vinyl-Schallplatte kam zurück, auch äußerlich, visuell ein Kunstprodukt, sie wurde zum Ausweis elitärer Kennerschaft.

Heute aber – außerhalb der Philharmonien, der langen und engen Sitzreihen, der Zirkel, der Kreise, der Nischen – da gibt es die Menge der himmlischen Heerscharen, die rein digital bewaffnet sind, die Masse der Konsumenten, die mit Kopfhörern und 3D-Brillen (ausgerechnet Bayreuth geht hier „mit der Zeit“) ausgestattet sind und die sich mit Künstlicher Intelligenz auskennen, jegliche Kunst für machbar halten, oder was das gleiche bedeutet: für virtuell darstellbar.

Alles ist sinnlich greifbar, was ehedem gefesselt war an reale Präsenz und ortsgebundene Konzerte. Oder: scheint es nur so, ist es die perfekte Simulation?

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In den 80er Jahren waren die Entdeckungsreisen von Nikolaus Harnoncourt und Franzjosef Maier u.a. ins barocke Neuland der Alten Musik noch längst nicht beendet, – es ging weiter mit Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert -, da rumorte es schon in der jungen Generation. Nicht nur der radikale Ansatz der Kuijken-Brüder brachte fruchtbare Irritationen, die den immer wieder aufflammenden Vorwurf eines musealen Historismus noch einmal ad absurdum führten, auch der britische Geiger Nigel Kennedy erregte die Gemüter nicht nur durch Punkfrisur und Showelemente. Er hatte begonnen mit Elgar, Bruch und Sibelius, aber erst die respektlose Präsentation der „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi wirbelte soviel Staub auf, dass sie zum meistverkauften Klassik-Album der Jahrzehnte vor 2000 wurde. Vorbei waren die Zeiten, in denen Alte Musik gleichbedeutend war mit Langeweile und Laienkunst, es musste mehr passieren, als in den Noten zu sehen ist, dies wiederum auf ganz andere Weise bei Reinhard Goebel, dem ruhelosen Geist unter den Maier-Schülern: er studierte sämtliche erreichbaren Quellen und mischte ein stupendes Wissen mit künstlerisch-praktischer Phantasie, vor allem auch mit brisanten Tempovorstellungen, das dritte Brandenburgische – unerhört! Weltrekord! Maßstabsetzend seine Telemannsche „Wassermusik“ (1984), unvergesslich seine Lamento-CD mit Magdalena Kožená (2005). Und so weiter. Als Nachfolger von Harnoncourt ins Salzburg wurde er ein einflussreicher Lehrer und sein Stimme wurde weithin beachtet, auch als er 2016 seinen Überdruss an der Situation zum Ausdruck brachte. Sein Wort von der „Paradiesvogelscheiße“ machte die Runde. Im Magazin „das Orchester“ (1/2017) las man schon bald darauf die Titelzeile „Alte Musik – Spezialisten in der Sackgasse?“, Fragezeichen, wohlgemerkt, es gab noch keine Corona-Krise, man konnte im Editorial gleich hinzufügen, dass die Alte Musik „in Form der historisch informierten Aufführungspraxis so überaus lebendig daherkommt“. Und im Heft heißt es, ihre Erfolge seien „oftmals beneidenswert, künstlerisch innovativ, gejubelt, gefeiert und auch finanziell ertragreich, da insbesondere der Tonträgermarkt im Segment Barockmusik und Alte Musik für die althergebrachte Compact Disc nach wie vor gute Verkaufszahlen hergibt“. Über mangelndes Publikumsinteresse gibt es nichts zu klagen, der Aufreger kommt also aus den eigenen Reihen, von ganz oben. Besonders wenn er sich über das „Weiterdudeln“ mokiert.

Und auch Gottfried von der Goltz vom Freiburger Barockorchester ist in Alter Musik kein unbeschriebenes Blatt, wenn er entgegnet: „Es gab in der 1970er Jahren keinen größeren Paradiesvogel als Reinhard Goebel“, solche gebe es auch heute wieder, er nennt Patricia Kopatschinskaja, zum Beispiel mit den Rumänischen Volkstänzen, wo „quasi kein Ton mit dem Bartók’schen Notentext übereinstimmt, aber es so durchdrungen ist von einem künstlerischen Gespür und Empfinden. Für mich ist das genauso wohltuend abseits vom Mainstream, wie Reinhard Goebel es damals war.“

Ganz im Gegenteil, würde ich sagen, es ist zum Fremdschämen, ein Imitat dessen, was man früher „zigeunerisch“ nannte, und selbst wo es fein dosiert angebracht scheint, in Bartóks „Contrasts“, in Ravels Sonate („Blues“) oder in der Einleitung zu „Tzigane“, wird es ins Unerträgliche übertrieben. Eine wenig angenehme Show. Da mag man auch andere Argumente nicht ernstnehmen: „Denkt doch bitte an die Aufnahme mit den Heinichen-Konzerten; das war doch wirklich erfrischende Paradiesvogel-Scheiße.“ Antwort: „Wie, erfrischende Scheiße? Ich finde es [ist] grandiose Musik.“ – „Aber muss man deswegen eine Doppel-CD machen mit diesen Konzerten, die alle sehr ähnlich klingen?“

Auch da kann man anderer Meinung sein und z.B. die Doppel-CD eben nicht wie ein pausenloses Konzert hören. Um Gottes willen. Ich bin besonders dankbar für das Vivace ganz zu Anfang, das sich an den dritten Satz des ersten Brandenburgischen anlehnt (oder umgekehrt), wenn ich zwischendurch Goebels Booklet-Bemerkungen zur Funktion des Jagdwesens in Moritzburg lesen kann. Soll er doch heute räsonieren über das besinnungslose „Weiterdudeln“ auf dem Podium!

Zweischneidig ist jedenfalls das darauf bezogene Statement von Petra Müllejans, zumal wenn sie auf die eigenen Zweifel anspielt: „… und trotzdem bin ich froh, wenn ich dann einfach ‚weiterdudle‘, weil ich so gerne Geige spiele und dankbar bin, dass mein Körper mir das noch gestattet. Da kann man natürlich auch viel Pech haben. Solange ich es gerne und leidenschaftlich tue und es jemanden gibt, der mir gerne zuhört, werde ich das auch weiter machen.“ Und ein Kollege sagt: „Ich stimme dir zu, dass das Publikum auch ein sehr wichtiger Faktor ist. Man kann nicht behaupten, dass es uns wegbleibt.“

Gewiss, das Publikum. Es bleibt erst weg, vielleicht, nach dem Corona-Jahr. Es hat sich zuviel mit den Medien zuhaus beschäftigt, und der Nachwuchs ist ohnehin längst mit Pop zufrieden, es sei denn, die Eltern haben privat investiert in Instrumentalunterricht.

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Wenn man in die Feuilletons schaut, ist tatsächlich nicht die Alte Musik nach all den unleugbaren, ja spektakulären Erfolgen plötzlich zum Problem geworden, sondern die klassische Musik überhaupt: schuld sind zum einen ihre unangemessenen Rahmenbedingungen. Auf der Seite des Publikums die womöglich dramatisch abgesunkene musikalische Sachkenntnis der Bevölkerung, aber auch die spröde (noch schlimmer: anbiedernde) konventionelle Programmierung und Absolvierung der Abonnementskonzerte, der faule Entertainment-Kompromiss, die durchschaubaren Tricks beim ungeliebten Angebot wirklich Neuer Musik, die eingestreut wird, wo niemand fliehen kann. Selbst gut einstudierte Einführungen des Dirigenten mit gutwilligen Mitspielern wirken kontraproduktiv, allein durch die Tatsache, dass der „General“ vom Podium herunter spricht, und damit unwillkürlich das eigentliche Ziel verwässert, die reale, unersetzbare Aufführung eines wirklich wirkenden Werkes. Er hinterlässt eine Glaswand.

Apropos: Die Publikumsferne der Neuen Musik wird in den maßgeblichen Zentren meist nicht gesehen, es gibt öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, es gibt erfolgreiche Einzelkonzerte und ganze Festivals mit langer Traditions. Björn Gottstein, ehedem Leiter der Donaueschinger Musiktage, antwortete auf die Frage nach der angeblichen „Krise der E-Musik“ (VAN 10.01.24):

„Ich sehe eigentlich keine Krise, weil ich unglaublich viele gelungene, gute, glückliche Momente im Kontext Neuer Musik erlebe. Ich hatte gerade schon das Konzert mit Petrenko und den Berliner Philharmonikern angesprochen. Das war hier in der Isarphilharmonie ausverkauft, mit 1.800 Besuchern. Die standen bei jedem der vier Werke Kopf, obwohl es keine einfache Musik war. Und trotzdem wurde die Musik gefeiert, wie man früher vielleicht nur Bruckners vierte Symphonie gefeiert hat. Wenn man das erlebt und dann sagt: ›Wir sind in einer Krise!‹, dann muss ich sagen: Wenn es eine Krise gibt, dann liegt die vielleicht woanders. Was man schon feststellt, ist, dass es Auflösungserscheinungen gibt. Aber das ist auch kein Phänomen des letzten Jahres oder der letzten drei Jahre. Ich würde sagen, im ganzen 20. Jahrhundert ist die Neue Musik von Grenzüberschreitungen, Auflösungserscheinungen, Aufweichungen der Begrifflichkeiten betroffen gewesen. Das ist aber keine Krise. Das ist ein Verwandlungsprozess, in dem die Neue Musik steckt. Das ist eigentlich ein ganz toller Prozess. Und dabei ist viel tolle Musik entstanden.“

Der Konzertmanager und hellsichtige Autor Berthold Seliger hatte in Berlin eine begeisterte Kritik (28.09.23) über ein Konzert mit Neuer Musik geschrieben, – schließt allerdings nicht ohne Grund mit einer Bemerkung, in der sich trotzdem die Krise spiegelt (Hervorhebung im Druck von mir):

„Die Aufführungen moderner und modernster Musik beim Musikfest waren Höhepunkte des Berliner Konzertlebens. Würden diese Avantgarde-Werke auch jungen Leuten oder prekär lebenden Menschen ohne musikalische Vorkenntnisse etwas sagen? Es käme auf einen Versuch an. Wie wäre es denn, wenn das Musikfest 2024 ein paar Wochen oder Monate vorab versierte Musikpädagogen zum Beispiel nach Neukölln oder in den Wedding schickt, dort Menschen mit dieser Musik bekannt macht und sie zu den Konzerten in die Philharmonie einlädt? Ohne eine aufsuchende musikalische Bildungsarbeit wird es nicht gehen. Und es wäre doch schön, wenn bei diesen wunderbaren Konzerten auch eine größere Bandbreite der Gesellschaft in den Konzerten anwesend sein könnte als bisher.“

Aus Berlin kommt übrigens auch das folgende Statement:

„Um in ein Konzert zu gehen, braucht man kein Vorwissen. Die physische Kraft eines Symphonieorchesters im Konzertsaal zu erleben – das ist eine unfassbare Erfahrung.“

Joana Mallwitz, Dirigentin (SWR „Klassik entdecken“ mit J.M.)

Der Satz wird wohl gern zitiert werden in den Rundfunkanstalten, die den Wortanteil in Musiksendungen auf ein Minimum drücken wollen. Es ist aber wohlgemerkt vom Erlebnis „im Konzertsaal“ die Rede. Grundvoraussetzung: die Leute wissen schon, warum sie da sind.

Denn anderswo in Berlin wird durchaus, die Kulturstätten betreffend, relativiert und problematisiert, und auf die Frage: „weshalb bleiben auch nach Corona die Besucher weg?“ antwortet Thomas Renz von der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung:

„Langfristig zeichnet sich eine Entwöhnung ab, die wir noch nicht empirisch fassen können. Es ist nur ein Phänomen, das uns begegnet, scheint das Leben ohne Kultureinrichtungen doch auch für einige Menschen funktioniert zu haben. Und entsprechend weniger Besucher und Besucherinnen haben wir da.“

Renz‘ Wissensgebiet ist – die Nicht-Besucherforschung – also die Frage, warum Menschen nicht ins Museum, ins Theater oder ins Konzerthaus gehen.

Dass die Museumshallen und Theaterränge hierzulande nach der Corona-Pandemie nicht überrannt werden von kulturell und sozial ausgehungerten Zuschauern, überrascht ihn nicht. Denn den Besucherschwund der traditionellen Häuser beobachtet Renz schon länger:

„Schon 2019, aber auch schon 20 Jahre vorher war es problematisch, was die kulturelle Teilhabe betraf. Der langfristige Grund fürs Wegbleiben ist im Grunde genommen: kein Interesse. Wenn das Kulturangebot nicht Teil der eigenen Lebenswelt, Teil des eigenen sozialen Umfelds ist, dann finden Besuche auch nicht statt. Es sind bestimmte soziale Gruppen, bei denen dieses Interesse sehr groß ist, auch in sehr vielen Diskussionen mit Einrichtungen selbst. Da kann man ganz klar sagen: Eine gesellschaftliche Elite. Das sind Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen, in der Regel auch entsprechenden Haushaltseinkommen. Der Kulturbetrieb hatte schon immer ein ziemlich großes Klassismusproblem, was sich jetzt durch die Pandemie noch verstärkt hat.“

Das Klassismusproblem hatten wir schon, – es hat mich ein halbes Leben lang im Rundfunk begleitet, ohne dass ich das Wort kannte, – und ich weiß keine Patentlösung.

Es stellt sich übrigens in besonders heikler Weise, wenn wir andere Musikkulturen einbeziehen wollen; denn es ist eine Frage der Höflichkeit und Toleranz ist, nicht einfach zu behaupten, diese Musik brauche keinen Lernprozess, sie verstünde sich von selbst.

6

Seltsamerweise ist die Alte Musik zum Prügelknaben geworden, nicht etwa die Neue Musik, von der man kaum weiß, wo sie ohne die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geblieben wäre. Aber von dieser Seite kamen ja gerade die Prügel, als die Alte Musik dank der historisch informierten Aufführungspraxis einen ungeahnten Boom erlebte; das hatte mit Adorno angefangen und hörte mit Clytus Gottwald nicht auf.

Im April 2023 behandelt der Philosoph Gunnar Hindrichs „Alte Musik als Problem“, als sei darüberhinaus nichts Bedenkliches geschehen. Für ihn ist alte Musik ein Konglomerat bestimmter methodisch-historisch erschlossener Richtungen, die eine ganze Region des Kulturlebens bilden und über die er pauschal verhandeln kann; er zählt auf:

„Barockoper, Gregorianik, Concerti grossi, Lautenklänge, Musik der Reformation, isorhythmische Motetten, frühneuzeitliches Lied“, – eine riesengroße Schublade, deren Wirrwarr man keinem denkenden Menschen als höhere Einheit zumuten möchte. Der Autor dekretiert vorsorglich, wodurch sie unbegreiflicherweise solche Beachtung gefunden hat, denn (Zitat Hindrichs) „das alles und noch viel mehr schließt sich unter ihrem Titel zu einem Komplex zusammen, der sowohl Popularität als auch kulturelle Anerkennung besitzt: mit der Drehleier auf dem Mittelaltermarkt und der Entzifferung karolingischer Einstimmigkeit als seinen Extremen. Er verquickt sich mit dem Ökonomischen. Entstanden ist ein fester Absatzmarkt aus Veranstaltungen, Aufführungen, Einspielungen: Alte Musik bildet eine Marke mit eigener Distribution. Aber all das und noch viel mehr ist auch nur der Komplex von kulturellen, emotionalen, ökonomischen Privatinteressen. Bedeutung hingegen erhält die alte Musik allein durch ihre Verknüpfung mit der neuen Musik. Denn ihre ästhetische Bestimmtheit, die in jenen Interessen nur Beiwerk ist, bezieht sich auf den Stand des Materials, der von der neuen Musik markiert wird. Nur dadurch gewinnt die alte Musik ihren künstlerischen Belang; nur dadurch aber auch gerät sie zum Problem.“ (Musik & Ästhetik 2/2023 Seite 40)

Ein Komplex von Privatinteressen? Eine Marke mit eigener Distribution? Und dagegen soll nun der imaginäre „Stand des Materials“ zur Geltung gebracht werden, während er sich in der Neuen Musik längst als Fetisch entpuppt hat? Adorno war es durchaus bewusst, dass z.B. der verminderte Septakkord, der in der Salonmusik zum schäbigen Effekt abstieg, bei Beethoven auf wunderbarem Wege seine Wirkung bewahrte. Andererseits reflektierte er früh genug das „Altern der Neuen Musik“ (1954).

Hindrichs Kritik bezieht sich auf den Boom der Alten Musik der 70er bis 90er Jahre, knüpft aber in der Tat bei Adornos Argumentation der 50er Jahre an, als sei sonst nicht viel geschehen, – „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“ (1951), „Kritik des Musikanten“ (1957): Adornos Kritik am Ressentimenthören der alten Musik sei berechtigt gewesen, wenn auch ein Wandel stattgefunden habe: „In unseren Tagen sehen sich die Liebhaber alter Musik gerne als Mitglieder einer Art Gegenkultur“, ihre Abkehr vom klassisch-romantischen Repertoire und vom Konzertbetrieb erscheine „als Anti-Establishment und Zug zum Bunten: alte Musik als musikalische Diversität.“

„In unseren Tagen“ – wann soll das denn gewesen sein? „Liebhaber alter Musik“? Das Repertoire ist längst bis Berlioz, Brahms, Wagner, Ravel vorgedrungen. (Jeder weiß auch, dass die Neue Musik über ihre eigenen maßgebenden Ensembles verfügt, Interpretations- und Notationsexperten wie andere in der Musik des Mittelalters.) Und Hindrichs hat gar nicht bemerkt, was aus Monteverdis Marienvesper, den Passionen und Kantaten Bachs, aus den Klavierkonzerten Mozarts, den Klarinettenwerken von Mozart bis Brahms im Laufe von 50 Jahren geworden ist, auf welch unerhörtem Niveau in der informierten Aufführungspraxis gespielt und gehört wird.

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Ich habe in den 90er Jahren als WDR-Redakteur noch fest an die Kraft der Vermittlung geglaubt. Im Booklet einer CD sind es kontinuierliche Hinweise, Suggestionen, Assoziationen, die für Aufmerksamkeit, Hinwendung, Mitdenken sorgen; im Radio die Wort- und Ton-Kombinationen, die nebenbei eine angemessene Höreinstellung bewirken, auch Abwechslung, Unterhaltung. Die Nähe dieses Mediums, so schien mir, die von den Rezipienten zugelassene und gewollte „Privatheit“ des gesprochenen Wortes sei ideal, um dann zu rechter Zeit jeweils der Kommunikationsform Musik allein das Feld zu überlassen.

Der Boom der indischen Musik hatte seit den 60er Jahren u.a. dank des Interesses der Beatles, sowie durch das Zusammenwirken von Ravi Shankar und Yehudi Menuhin unversehens die Ohren für andere Musikkulturen aufgeschlossen. Die Schallplattenfirma Harmonia Mundi erprobte nach unzähligen Coproduktionen mit der „Alten Musik“ des WDR auch die Begegnung mit alten Traditionen des Orients: iranische, arabische und indonesische Konzerte waren Publikumsmagneten in Berlin und Köln, Hunderte von Sendungen und Konzerten (auch live übertragen) spiegelten das, 35 Jahre lang, der Start einer erfolgreichen CD-Reihe „World Network“ 1991 – 1997, Nr.1 India, Nr. 28 Afghanistan, Nr.33 Iran/Kurdistan, Nr.35 Bali, Nr. 49 Japan. Eine lange glanzvolle Ära hätte folgen können.

Eine kulturelle Medienblüte jedoch blieb aus.

Was kam, sehe ich als eine intern erzeugte Krise des öffentlich-rechtlichen Radios, beste Traditionen wurden in Frage gestellt und abgebrochen, das verheerende TV-Denken in Einschaltquoten griff um sich, auch dort, wo eigentlich der Kultursender unbeirrt anderen Koordinaten, einer geistbezogenen Werteskala hätte folgen können. (Im TV gilt der Quotenunterschied etwa zwischen ZDF 15 % zu Arte 1,5 % nicht als katastrophal).

Für die E-Musik (Hörfunk) ist den führenden Köpfen dabei am schwersten zu erklären, dass sie eben nicht wie Pop funktioniert, nicht nur aus Musik und gutgelaunter Ansage besteht, sondern des klugen Wortes und der fühlbar gemachten Präsenz eines „Überbaus“ bedarf.

Das heißt nicht, dass dadurch die Quote dramatisch anstiege. Die Grundlage der „Bildung“, die zur Klassik gehört, müsste ja in Kindheit und Jugend geschaffen sein.

Folglich kommt an dieser Stelle immer der Ruf nach der Schule. Oder aber (beim nicht kultur-affinen Management) die programmatische Gleichsetzung von Klassik und Unterhaltung, und zwar auf dem einfachsten Wege: durch rigorose Umverteilung, Durchmischung und Umbenennung.

In Vergessenheit gerät, dass Bildung nicht Ausschaltung und Abstumpfung bedeutet, sondern Anregung, Wachheit und Differenzierung.

Der Bildungsausgleich gelingt nicht. Jedenfalls nicht ruckartig. Er muss mit Geduld und latentem pädagogischen Eifer getrieben werden.

So wie die Originalinstrumente mit ihrem manchmal nicht unbedingt süffigen Klang der Eingewöhnung des Publikums bedurften, so auch die nicht immer klimatisierten Originalräume. Schlösser und Burgen schienen ideal, der Zedernsaal in Kirchheim, die Romanischen Kirchen in Köln. Ich hatte mein Schlüsselerlebnis mit dem Deller Consort, alte Madrigale im Freien, unter Platanen im provencalischen St. Maximin, das war Ende der 60er Jahre. Erst viel später kam auch der perfekte Kontrast in Mode: das Industriemuseum, die Ravensberger Spinnerei, die urige Pumpstation Haan, die Maschinenhalle der Feilenfabrik, das alte Kraftwerk Heimbach, alldas konnte als Ambiente die edelsten Klänge zu erhöhter Wirkung bringen.

Indische Musik im (alten) Rautenstrauch-Joest-Museum am Ubier-Platz, mit Ram Narayan (Klarenz Barlow kam mit Familie), – niemand nahm Anstoß – noch fehlte der Begriff „wokeness“, um zu monieren, dass die Sarangi-Hochkultur etwa zur Völkerkunde geschlagen werde, statt zur „Weltmusik“, oder zur ganz großen E-Musik. Yehudi Menuhin war ein glaubwürdiger Vorreiter.

Andersherum: damals wunderten sich die Indischen Meister, dass man im Funkhauskonzert so leise war, als sei gar kein Publikum anwesend, da fehle der Response. Bei Konzerten in Indien gehe es turbulenter zu, nein-nein, die Andacht in Deutschland sei schon honorabel…

Da war viel guter Wille im Spiel, der westliche Traum von der ekstatischen Meditation, die tönende Ergänzung zum Yoga-Kurs, besonders mit Bansuri-Flöte. „Und lasst die Tabla ruhig weg!“

In Indischen Nächten lernte man, dass der bloße Reiz des Fremden schnell nachließ, wenn man ohne Vorkenntnisse in schier endlosen Konzerten landete. Allmählich lernte man, dass es lohnte, die Charakteristik indischer Ragas oder iranischer Dastgahs nachzufühlen. Gibt es denn das große, übergreifende, integrativ aufgeschlossene Publikum?

Immerhin: Tatsache ist, dass ein 7-Minuten-Satz aus Bachs Cembalokonzert mit Jean Rondeau und Ensemble auf YouTube (2017) bald 5 Millionen Klicks verzeichnet. Nicht weniger erstaunlich die 20 Millionen für das einstündige indische Flötensolo mit Tabla (!) in Krakow 2015 (Rakesh Chaurasia mit Zakir Hussain): Es wirkt! Allerdings vielleicht auch nur auf diesem Weg, in diesem Medium: audiovisuell. Und mit einem Klick-Auditorium.

Zwei „Nischen“ also mit Massenpublikum bestehend aus Einzelnen – weltweit. Könnte man sie wohl etwas zusammenrücken lassen? Nicht nötig. Warum auch? Um was zu beweisen?

Je mehr Kulturbegegnungen wir im engeren Raum planen, desto mehr müssen wir mit Missverständnissen rechnen. Bei unsern Weltmusikfestivals haben wir bisweilen festgestellt, dass Mitwirkende von vornherein glaubten, es sei eine Art Wettbewerb.

Und wir tun uns schwer in der anderen Kultur, wenn wir die von uns gesuchte E-Musik von Volksmusik oder U-Musik zu unterscheiden suchen. Wir könnten versehentlich ein Bündnis mit fremden Koryphäen des Genres von Helene Fischer oder David Garrett schließen (nichts gegen die beiden, an ihrem Ort!). Aber wie steht es zum Beispiel mit „Arabesk“-Musik?

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Das Beispiel türkischer Musik also.

Als wir (im WDR) mit Blick auf das große türkische Publikum den Sänger Ibrahim Tatlises verpflichteten, wurde der Domplatz von Kleinbussen und einer begeistertem Menschenmenge belagert, beängstigend, der Platz zum Platzen voll. Keine andere Gruppe hatte da im Vorfeld eine Chance. Und wohlmeinende gebildete Türken räsonierten: das ist genauso, wie wenn wir in Istanbul für ein sinfonisches Open Air, um ein größtmögliches, seriöses Publikum anzulocken, vorweg den populären Sänger Heino als Appetizer anbieten würden…

Ich war konsterniert, obwohl ich seit meiner Wendung zum Orient (Goethe-Tournee 1967) gelernt hatte, mit schwer lösbaren interkulturellen Problemen umzugehen. Das Verständnis der arabischen Musik zu vertiefen, ohne mich durch die gängigen spöttischen Bemerkungen entmutigen zu lassen; eine frühe Radiosendung im Klassiksender WDR 3 (1.Juli 1974) behandelte das Dilemma nicht ohne Grund apologetisch: „Trivialität und Finesse“. Der arabische Modus mit seiner tonalen Einheit, seinem „Einerlei“, verträgt sich nicht mit der klassischen Dur-Moll-Harmonik und ihrer Logik der Modulation, selbst wenn der ägyptische Komponist Mohammed Abdel Wahab das als Referenz für Beethoven inszeniert. Und Schönbergs Wiederholungsverbot vermag nichts gegen den Sog der Sequenzen melismatischer Melodien. Andererseits: Was in der westlichen Kultur banal geworden ist, erscheint im exotischen Umfeld durchaus nicht automatisch wieder frisch: genau wie die poetischen Schlüsselwörter orientalischer Dichtung, etwa Nachtigall und Rose, die in der Übersetzung genau so verbraucht wirken wie unser Herz-Schmerz-Klischee. Der Puls der Darbuka-Trommel – an sich faszinierend – unterminiert jede Strukturwirkung à la „Kunst der Fuge“.

Es sind auch pure Äußerlichkeiten die uns trennen: beim Lautenkongress in Bagdad 1978 gab es zwei demonstrative, aber misslungene Begegnungen: zwischen arabischer und barocker Laute (Pseudo-Sieg der orientalischen Wendigkeit und Improvisationskunst), zwischen arabischer Laute und Flamencogitarre (Pseudo-Sieg der andalusischen Harmonik und Akkordwucht).

Ein Treffen zwischen einem arabisch-andalusischen Nouba-Ensemble Fez und dem Mittelalter-Ensemble Sequentia in Casablanca (1981) drohte zu scheitern, weil die Marokkaner im akustisch prächtigen Palast nicht auf ihre heftige Beschallung verzichten wollten, deren sie wiederum bedurften, weil ihr Publikum gewohnt war, während der Konzerte miteinander zu plaudern und zu scherzen.

Vor kurzem hörte ich im Radio den Hinweisbeitrag auf ein Konzert im (neuen) Rautenstrauch-Joest-Museum (Köln Neumarkt) mit der Gruppe „Lantana Camara“, zu deutsch: „Wandelröschen“. Da wurde vor allem eins klar: immer noch funktionieren barocke Missverständnisse vergnüglicher (Telemann, Kapsberger) als die scheinbare Verständigung: etwa Bachs C-moll-Praeludium auf der Laute in Kontrast zu einem klagenden Kemencheh-Solo, das zwar von der Möglichkeit der harmonischen Mollskala (mit übermäßiger Sekunde) profitiert, aber auch die spartanisch gedachte harmonische Logik ins Abseits befördert. Streng genommen eine reizvolle Mogelpackung: Ein Dominanzproblem, nicht anders als bei Gounods Sieg im Fall des C-dur-Praeludiums „Singende Engel“.

Keine Kritik: das Konzert wird (auch dank entsprechender Moderation der Musikethnologin Sara Beimdiecke) vor dem „Hintergrund wichtiger aktueller postkolonialer Debatten um Eurozentrismus und kulturelle Aneignung“ mit alten Missverständnissen aufräumen.

Das erklärende Wort wird eine entscheidende Rolle spielen, und es geht auf Kosten und zu Lasten des barocken Anteils, dessen Auswahl bereits das kuriose Moment hervorhebt. Und es fehlt die „echte“ türkische oder arabische Musik. Wäre also ein Konzert denkbar, in dem authentische syrische Gesänge mit Präludien oder Fugen aus Bachs unendlich farbenreichen Wohltemperiertem Klavier alternieren? Gäbe es eine wechselseitige Erhellung, – obwohl doch keine der beiden Seiten der anderen wirklich bedarf? Warum denn nicht? Es wäre zumindest ein neuer Aspekt, – ohne die Sicherheit, dass man damit „Schule“ macht. Entscheidend ist eine vergnügliche Vermittlung, da die zugehörige Gedankenarbeit nicht dem Publikum „auf die Schnelle“ überlassen oder zugemutet werden kann.

Möglicherweise muss im Angebot dieser alten Musiken viel mehr stecken als die Aussicht auf konventionelle Klänge, heute noch mehr als in früheren Zeiten.

Der Überdruss am Altbekannten, Längstgeläufigen könnte ein guter Ratgeber sein. Es muss mehr passieren, als in den Noten zu sehen ist, – aber auch in den Köpfen. Zum Beispiel ein umfassender Assoziationsbereich mit wechselnden Inhalten: aus Geschichte und Gegenwart, ich möchte ihn „Surplus“ taufen, – einen je nach Gesellschaft und auch nach Individuum wechselnden Überbau.

Mit dem Wort Surplus meine ich einen speziellen Mehrwert: ein Netz der kulturellen Beziehungen, die über das ephemere Erscheinungsbild des Erklingenden hinausgehen und sich der Aufmerksamkeit der Rezipienten anbieten. Es erfasst zum einen den Bereich, der heute unter Performance verstanden wird, ebenso wie das darin Mitgedachte. Die Kunst der (bewussten) Auf-Führung ebenso wie den Hintergrund, der nicht jedesmal neu entwickelt wird.

Wobei auch das unscheinbare Wort Aufmerksamkeit eine Schlüsselrolle spielen könnte (und das ziemlich abgenutzte der Achtsamkeit vermeiden hilft). Auch das Wort Präsenz ist gut, es sollte ohnehin in der Präsentation fein dosiert enthalten sei, hat aber auch mit unserer „breiten Gegenwart“ zu tun, die Gumbrecht in einem bedenkenswerten Buch beschrieben hat.

Wenn aber der präsentierte ästhetische Gegenstand an Reiz verliert, seine Ausstrahlung, die Selbstverständlichkeit seiner herausgehobenen Bedeutung einbüßt, ohne dass eine Kompensierung zuhilfe kommt, so erleben wir eben trotzdem einen Verlust an Orientierung, eine Krise.

Die Strahlkraft der ehemals prestigeträchtigen Begriffe von der historischen Authentizität, den Originalinstrumenten, der angemessenen Aufführungspraxis hat offenbar rapide nachgelassen, wenn ihr namhaftester Repräsentant vieles von dem, was daraus geworden ist, als „Paradiesvogelscheiße“ bezeichnet und selbst inzwischen vorwiegend mit „normalen“ Orchestern arbeitet, die lernbegierig sind.

Und doch: es geht auch anders. Lange vor Corona – damals, als mich die hundertmal mitgespielte oder im Konzert gehörte Johannespassion aufs neue ergriffen hat, als erlebte ich sie zum ersten Mal: im Fernsehen, unter Peter Dijkstra – zuerst der Chor: da erheben sich Einzelgruppen von ihren Sitzen, mit ihrem jeweiligen Ruf „Lasst ihn kreuzigen!“, – leidenschaftlich, aber zum Glück noch nicht ganz wie eine wild demonstrierende Masse. Am tiefsten prägt sich ein, wie der Sänger Tareq Nazmi sich verhält, wenn er schweigt: er hört aufmerksam und freundlich zu. Er schaute (verwundert?) auf den, der vorträgt „Gebt mir meinen Jesum wieder“. Das soll nicht heißen, dass er selbst weniger bemerkenswert singt, im Gegenteil, gerade durch seine darüber hinausreichende geistige Präsenz steigert sich auch die Wirkung der zurückgenommen-ausdrucksstark gesungenen Christus-Worte, jeder Ton triff ins Herz. Und die Präsenz hält an, wenn er „gestorben“ ist: die Gambe hebt an mit „Es ist vollbracht“, er aber verharrt an der Seite sitzend, vornübergebeugt (nicht so pathetisch wie Rodins Denker, eher sanft, vielleicht etwas resignativ), und er bleibt für die anderen Interpreten zentraler Blickpunkt.

Soll ich sagen: das steckt an? Der Funken springt über. Das kommt aber nicht von selbst, durch den Interpretationswillen einzelner Sänger:innen, sondern nur durch ein stimmiges Gesamtkonzept (hier: Regie Folkert Uhde).

Leicht vorstellbar jedoch, wie man durch Übertreibung auch das Gegenteil bewirken kann. Zum Beispiel wenn die ausgezeichnete Geigerin Midori Seiler in ein Bachprogramm „Inside Partita“ verstrickt wird, wobei Tanz und interaktive Klanginstallation die Hauptrolle spielen. Während die Performance in den Mittelpunkt rückt, verflüchtigt sich der Geist Bachs.

Die gleiche Gefahr zeigt sich (wie im Fall überdrehter Opern-Regie), sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten grundsätzlich einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man nur gut aufgestellt sein muss. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit kleinen Eingriffen ihre Zeit verplempern. Fehlgeleitet suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall der Goldberg-Variationen Igor Levit und Marina Abramović. Das kann nicht „Schule machen“.

Ebensowenig wie die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentat, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke waren zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Hilft uns etwa die Nähe wirklichen Wassers, ein Wunderwerk wie Ravels „Ondine“ adäquat zu verstehen?

Angemessener scheint mir, wenn das Assoziationsnetz der äußeren Realität von vornherein enger verknüpft ist mit dem Inneren der Musik, ob sie nun unserer Zeit angehört, sich am „zufällig“ aktuellen „Stand des Materials“ orientiert, oder an dem einer anderen Epoche oder – einer anderen Kultur.

Das müsste allerdings zwanglos, – nicht schulmäßig – vermittelt werden, wie es einst Andreas Staier mit dem hinreißenden Programm „Fandango“ gelungen ist, und neuerdings – ebenfalls bis ins Booklet vorbildlich – dem Cembalisten Andreas Gilger, dessen CD unmittelbar nach der Corona-Zeit herauskam: „Dessiner les passions“, anspielend auf den berühmen Traktat des Hofmalers von Versailles, Charles le Brun, dessen Personifikationen verschiedener Emotionen uns vielleicht sogar herausfordern. Wie bitte: das steckt auch noch in der gleichmäßig schönen Musik?

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Es geht also um das erwünschte Surplus der Alten Musik, das vielleicht früher selbstverständlich war (bevor man einfach so „weiterdudeln“ konnte). Vielleicht angereichert durch die Verbindung mit der ebenfalls alten Musik des Orients. Gleichermaßen mit der Neuen Musik, nicht weil sie sich herablässt (von ihrem Stand des Materials), sondern weil sie dazugehört. Aber nicht zwingend in die Zukunft weisend, – die Gegenwart reicht, wenn man sie in Gumbrechts Sinn ungeheuer „breit“ fasst.

Der Zeit „voraus“ sein, war immer schon ein angeberisches Eigenlob, ebenso der vorauseilende Anspruch, zur Avantgarde zu gehören, womöglich nicht nur vorne zu stehen, sondern auf jeden Fall noch davor. Wo allerdings bereits ein Adorno darauf wartet, einen Essay über das Altern der neuen Musik zu schreiben. Das gab es schon 1957. Und 50 Jahre später, als man allenthalben wieder von Krise sprach, bis Corona an ihre Stelle trat, konnte auch der anhaltende Erfolg der historisch informierten Praxis Alter Musik die wachsende Skepsis der Experten gegenüber ihrem „Paradiesvogel“-Status nicht mindern.

Letztlich ist schwer zu sagen, ob die kritische Selbstbefragung wirklich die Klassische Musik allgemein betraf, oder ob man nur geblendet war vom Massenerfolg der Popmusik und der Überbewertung einer Kompromiss-Klassik, die sich den Kategorien der Massenkultur nähert und letzlich auch nur am Prestige des Klassik-Begriffs teilhaben will.

Es wäre ganz falsch, sich an Erfolgsmodellen der Bildenden Kunst zu orientieren, um ein „Surplus“ zu realisieren. Man spricht dort von „immersiven Ausstellungen“, die womöglich den konventionellen Museen die Besucherscharen entziehen. Ein entscheidender Faktor ist die Einbeziehung architektonischer, musikalischer und technologischer Momente. Zudem geht es meist um bereits sehr bekannte Einzelkünstler (da Vinci, Monet, Dali), die ins Gigantische projiziert werden. Und darüber wird mit entsprechenden Worten berichtet:

Ein Bilderrausch ohne Originale: Kunst zum Eintauchen liegt im Trend. Die Werke werden „in riesigen Ausstellungshallen als Farbenspiel an die Wände projiziert. In den aufwendig inszenierten Shows zu Musik wird manchmal auch die Biografie der Künstler filmisch erzählt. Die Besucher und Besucherinnen von sogenannten immersiven Ausstellungen sollen Teil der Inszenierung werden und sich ganz dem Rausche der Bilder hingeben. Ist dies Entertainment oder ein neuer Zugang zur Kunst?“

„Eine Million Menschen sind dem Produzenten zufolge bereits in ‚Monets Garten‘ eingetaucht (…). Die Besucherinnen und Besucher können sich per Selfie in ein Monet-Bild versetzen, selbst Seerosen zeichnen oder über die Brücke in den Garten 1926 gestorbenen Malers gehen. Die Blumen sind aus Plastik, dennoch wird in diesem Bereich Rosenduft verströmt.“

Man muss kein gewiefter Ästhetiker sein, um zu verstehen, dass die Publicity-Effekte dieser Shows, aber auch der Bildenden Kunst an sich (die mit Musik und Architektur zwanglos zusammengeht) nach völlig anderen Gesetzen funktioniert, als die „ernste Musik“, deren Grundbedingung ist, dass das Publikum in Ruheposition für längere Zeit verharren und die Ohren keinesfalls (wie die Augen) verschließen oder anderen Hörobjekten zuwenden kann und soll.

Dafür hat es das Privileg, dass ihm sein Hörobjekt eine kontinuierliche gedankliche Reise (Bewegung) vermittelt, die zudem fortwährend aus seinem Innern mit Gedanken und Assoziationen gespeist wird.

Es ist nicht ausgeschlossen (aber unwahrscheinlich), dass jemand vor einem Bild im Museum Ähnliches produziert. Entfernt vergleichbar wäre vielleicht, dass man dem Maler (wie in einem Picasso-Film dokumentiert) bei der allmählichen Realisierung einer Stier-Zeichnung zuschaut und die Entstehung der Linien und der ganzen Figur miterlebt. Aber tatsächlich wird die Aufmerksamkeit dabei vollkommen von dem technischen Vorgang aufgesogen, nicht auf die künstlerische Deutung des Endproduktes gelenkt.

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Ich rede also nicht von Überfluss, der tatsächlich als Überschuss geboten wird, auf den man verzichten könnte, sondern von einem inhärenten Surplus, kaum wahrnehmbar als Überbau, eher als Sinnzusammenhang, jenseits jeder didaktischen Absicht eines Regisseurs. Bei Wagner könnte das „Surplus“ sogar als Einsparung (Verknappung) erscheinen, indem das Gesamtkunstwerk von einem Zuviel befreit wird, wie man es z.B. anhand der bekannten, ohrenöffnenden Version „Wagner ohne Text“ erleben konnte. Der revolutionäre Neubeginn des Regisseurs Siegfried Wagner nach dem Krieg bestand in einer auffälligen Reduktion des Bühnenbildes, – ohne spätromantische Schnörkel. Das Gegenteil – die Herausforderung durch Überbefrachtung mithilfe moderner Medien – könnte ein Weg ad absurdum sein, der sich schon deshalb als wenig tragfähig erweist, weil er nicht auf dem bedeutendsten Anteil des „Gesamtkunstwerkes“ aufbaut, die Musik. Den Rest besorgt die durch die Regie vorweggenommene Deutung im Sinne einer desillusionierenden Modernität.

Was für ein Surplus kann man von der Alten Musik erwarten? Ebenso von der alten Musik anderer Kulturen bei uns? Sofern der innere Abstand reflektiert und nicht weggelächelt wird.

Ich meine damit ein Geflecht der kulturellen Assoziationen, die über das ephemere Erscheinungsbild des Erklingenden hinausgehen und sich der Aufmerksamkeit der Rezipienten anbieten. Es erfasst zum einen den Bereich, der heute unter Performance verstanden wird, ebenso das darin Mitgedachte. Die Kunst der (bewussten) Aufführung ebenso wie den Hintergrund, der nicht jedesmal neu entwickelt werden muss.

Ich halte mich an einige Beispiele, die mir in jüngster Zeit aufgefallen sind. Sie sind in Konzerten oder Festivals zu finden, aber auch in Gestalt der zusätzlich veröffentlichten DVDs, CDs oder der Druckwerke, die darüber berichten, – Programm-Begleitung, Pressetext, Analysen.

a) „Dessiner les Passions“ – (Geschichtsbewusstsein und „zeitlose“ Gefühle) – Cembalomusik des französischen 17. Jahrhunderts (ich hüte mich zu betonen: vor Bach), also scheinbar „sehr“ alt. Zum wichtigsten Surplus-Aspekt gehören die Illustrationen auf dem Cover „La Ravissement“ oder im Booklet: „Haine ou Jalousie“, „Veneration“ und „L’Effroy“, sofern man den Text von Andreas Gilger verinnerlicht hat und wahrnimmt, dass diese Musik unsere Sprache spricht. Nur redete man früher über Affekte statt über Emotionen. Man hatte sie gewissermaßen vor Augen. Wir befinden uns in Frankreich: Der Hofmaler Ludwig XIV., Charles le Brun, hinterließ mit seiner Méthode pour apprendre à dessiner les passions ein Werk über solche auch visuell fassbaren Affekte, das bis weit ins 19. Jahrhundert unerhört nachwirkte. Gilger: „Den Affekten wurde eine weitaus aktivere Rolle zugeschrieben, als wir es heutzutage den Emotionen bescheinigen. Wie René Descartes beschreibt, ging man von sogenannten ‚Lebensgeistern‘ aus, welche in unserem Körper sitzen und die Affekte auslösen. Sobald ein Stimulus diese Lebensgeister erreicht – so der Gedanke – bewegen diese sich in unseren Gliedmaßen und lösen dort physiologische Reaktionen aus.“ Diese Vorstellung hat unmittelbar Einfluss auf die Musik: „Wenn wir die Zeichnungen und Gemälde le Bruns mit den verhaltenen Aufführungen vergleichen, die in der Alten Musik über Jahrzehnte usus waren, entdecken wir eine Inkongruenz, welche die Musizierweise, die ich und etliche Kolleg:innen propagieren, zu beseitigen sucht. Le Brun verlangt, dass die Affekte in all ihrer Schönheit, all ihrer Weichheit, all ihrer Gewalt gemalt werden. Zwar ist mein Werkzeug kein Pinsel, sondern ein Cembalo, doch dies bleibt auch mein Ziel. Sollten Sie, geneigte Leser:innen, beim Hören diese CD also versehentlich schmunzeln, sich eine Träne wegwischen oder mit den Zähnen knirschen, ist mir dies gelungen. Nichts würde mich glücklicher machen!“

Das klingt anders als früher, wenn jemand hinter dem Cembalo saß und in doppeltem Sinn schlechte Stimmung verbreitete! Andreas Gilger kommt uns Heutigen im Handumdrehen näher durch die Tatsache, dass er mit wenig Worten alle Faktoren ins Bewusstsein rückt, die sein Konzert ausmachen: die „Lebensgeister“ und ihr immens erweitertetes Organ, das neueste, getreueste alte Cembalo, das „wundervolle Instrument“, eine exakte Kopie des Originals, das 1681 in Paris erklang, ein „atemberaubend schönes, meisterhaftes gefertigtes Exemplar“, nebenbei: zum Zeitpunkt der Aufnahme das einzige in der Welt. Kein Wunder, dass er sich auch Gedanken gemacht hat, in welchem Saal der Klang eines solchen Klangkörpers heute auf CD gebannt wird, wobei klar ist: „Selbst wenn wir in der Lage wären, sämtliche Umstände exakt zu rekonstruieren, könnte das Publikum nie mit den Ohren des 17. Jahrhunderts hören.“

Auch der Spieler ist keine Simulation, sondern ein Mensch wie wir, ein Interpret, der in vielen Welten (Werken) zuhaus ist und den Zugang zu anderen Hörweisen gelernt und – geübt hat.

b) „In Freundschaft“. Festival Potsdam Sanssouci. (Geschichte, Gegenwart, Sinnlichkeit)

Nach verschiedenen Pressetexten:

Angesichts sozialer Spannungen und politischer Blockbildung scheint es an der Zeit, wieder neu über das nachzudenken, was für Philosophen wie Aristoteles die Keimzelle der Gesellschaft bildete. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci wollten sich 2023 „In Freundschaft“ den frei gewählten zwischenmenschlichen Beziehungen widmen und dem Einfluss, den so ein starkes geistiges Band und gemeinsame Interessen auf die Musik nehmen können. Und so konnte das Festival von einem einzigen Bild beflügelt werden, das Folkert Uhde in den Mittelpunkt des Konzertes stellt. „Ein Gemälde von 1674, das dessen Schöpfer, den niederländischen Maler Johannes Voorhout, in freundschaftlicher und sinnenfroher Gesellschaft mit den Komponisten Dietrich Buxtehude, Johann Adam Reincken und Johann Theile zeigt. Musik dieser drei Herren prägte das kurzweilige Programm.“ Innerhalb der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, in denen die Freundschaft überhaupt gefeiert wurde, – wobei einzelne Konzerte in den historischen Räumen noch die Jahrhunderte überspannte: „Wie im Konzert von Festvalleiterin Dorothee Oberlinger : Gemeinsam mit dem Ausnahme-Bratscher Nils Mönkemeyer ging sie von der Musik Hildegard von Bingens attacca zu Konstantia Gourzis Messages between trees über und sprang vom 12. ins 21. Jahrhundert, von archaischen Bordun-Loops zu heutigem Spiritualismus. Oberlingers erstaunliche Blockflötenvielfalt fühlt sich in zwei Jahrtausenden zu Hause, im schottischen Folk ebenso wie bei Bach und bei Gourzi.“ Der Bericht von Frauke Adrian („das Orchester“ 1/2024) beginnt übrigens – wie so oft, wenn im Hintergrund „die Krise“ schwelt – mit dem Hinweis auf das Publikumsinteresse: umfassend genug für die Räume, in denen die Musik gespielt wird.

c) „Eros und Gewalt“ – (Gesualdo, Vivier, Rossi – 16. und 20. Jahrhundert)

Nach dem CD-Booklet: Die psychologischen Implikationen von Leben, Werk und „Welt“ erschöpfen sich nicht in einer alten und zugleich modernen Affektenlehre. Es beginnt mit Carlo Gesualdo, der singulären Gestalt des frühen 16. Jahrhunderts. Aus dem Booklet: „Neben Rossi (aber auch neben Claude Vivier) könnte sich Gesualdos affektgeladene und chromatisíerte Harmonik (…) als gar nicht so solitär erweisen – und gemeinsam mit Rossi heute zuallererst eine vermeintliche Gewissheit unserer Musikpraxis in Frage stellen: das allzu schwarz-weiße Tastenbild gleichstufig temperierter Stimmung und exakt gleicher Stimmungsverhälnisse, Grau in Grau, Akkord für Akkord. In der farbigen Chromatik dieser Madrigale aber gleicht kein Akkord dem anderen. Wie kein Affekt, kein Mensch, kein Leben und kein Tod. Weder Viviers noch Gesualdos Musik fordern eine direkte biografische Zuordnung. Ihre Ebenen bilden und bleiben ein großes Beziehungsfeld: Als Biotop, als Soziotop, als Topographie von Gehirnarealen und umschrieben rein von Klängen und Sprache.“

Schola Heidelberg, Leitung Walter Nußbaum, unter Mitwirkung der Neurobiologin Hannah Monyer. Parallel zur CD wurde auf Youtube ein Gespräch über die musikalischen und psychologischen Querverbindungen großer, expressiver Werke veröffentlicht. In dieser Form einzigartig und beispielhaft für den Heidelberger Musikhorizont.

d) „Prima Materia“ – (Mittelalter und Morgenland, mittels modaler Wahlverwandtschaft)

Nach dem CD-Booklet:

Die Kölner Sängerin Maria Jonas und der irakische Musiker Bassem Hawar (Djoze) treffen sich 2014 im Kölner Zentrum für Alte Musik ZAMUS und beschließen ein Ensemble zu gründen: Sanstierce – ohne Terz. Beide ausgewiesene Spezialisten der modalen Musik: die Kölnerin versucht die Musik des europäischen Mittelalters, die kaum notiert wurde, wieder zum Leben zu erwecken. Das Anliegen des Irakers ist es, dass die bislang von Ohr zu Ohr, von Generation zu Generation tradierte Arabische Musik – ebenso mit Wurzeln im Mittelalter, Zentrum Bagdad – der Welt nicht abhanden kommt. (…) Es entsteht eine Musik, in der die verschiedenen Überlieferungen aufeinandertreffen. Beide musizieren auf der Basis ihrer jeweiligen modalen Musik-Kultur und führen sie weiter ins Heute, lateinische Texte von Hildegard von Bingen im Wechsel mit arabischen Versen des palästinensischen Dichters Khaled Shomali.

e) „Trio Joolaee“ (Verbindung Orient-Okzident auf virtuosen Grundlagen)

Nach einem Pressetext:

Die Arbeit (das ernste Spiel) dieser drei Musikbesessenen fasziniert durch ihre Meisterschaft in fast unvereinbaren Einzelbereichen, die gleichwohl auf einer Bühne zusammenfinden oder zusammengedacht werden, ergibt ein menschliches Gesamtkunstwerk, das durch drei Begriffe anzudeuten wäre: Kunst der Fuge (Konzertpianistin Schaghjati Nosrati), iranische Melismatik (Misagh Joolaee) und rhythmische Struktur (Sebastian Flaig).

Weltmusik als Kunstmusik. Die drei kommen aus der europäischen und der persischen Klassik, aus dem Jazz und der zeitgenössischen Musik. Doch die Unterscheidung von westlicher und östlicher Musik finden sie künstlich: Misagh Joolaee, Meister der Kamancheh, der persischen Stachelgeige, Schaghajegh Nosrati, die als Bach-Expertin international Erfolge feiert, und Sebastian Flaig, Spezialist für ethnische und Jazz-Perkussion. Im Joolaee Trio haben die preisgekrönten Virtuosen, die auch komponieren, einen einzigartigen Stil und eigene Stücke entwickelt – als kunstvolles Amalgam ihrer Kulturen. In ihrem Programm tarieren sie Freiheit und Strenge aus, verbinden Komposition mit Improvisation, in vielem inspiriert vom historischen Beispiel Bach, mal lyrisch und melodisch mäandernd, mal sprühend virtuos oder kraftvoll explosiv.

f) „Gamelan Java“ (Fernöstliches Orchester-Denken ohne virtuoses Ziel) Gamelan als Ensemblefach, erschlossen von dem Barock-Geiger (!) Martin Ehrhardt (Leverkusen). Seine Leitgedanken:

Abgesehen von etwas Geschicklichkeit und Musikalität sind keinerlei Vorkenntnisse erforderlich. Für Gamelan spricht nicht nur der einzigartige Wohlklang des hochwertigen Bronzeorchesters, die Erfahrung exotischer Tonskalen und der uneingeschränkte Spass am gemeinsamen Musizieren. Aber das Gamelanspiel bietet weitaus mehr Vorteile:
Gamelan setzt keine Notation voraus, sodass die gesamte Aufmerksamkeit der jungen Musiker für das aufeinander Hören und Reagieren zur Verfügung steht. Es gibt keinen Dirigenten. Man spitzt ganz einfach die Ohren und hört auf die Trommel. Diese führt alle wesentlichen Tempo- und Dynamikwechsel an.
Jeder Gamelanmusiker erlernt alle Orchesterinstrumente und ihre jeweilige Aufgabe und Bedeutung im Zusammenspiel. So gibt es melodietragende, umspielende, strukturbildende Instrumente und die Trommeln. Die Schüler erarbeiten selbständig ihre jeweilige Stimme in Abhängigkeit von der musikalischen Form (Lancaran, Ketawang, Ladrang…) und der traditionell javanischen Grundmelodie.
Gamelan schult das Gehör, fördert das Reaktionsvermögen, die Flexibilität, die Einfühlsamkeit, das Sozialverhalten und regt darüber hinaus die musikalische Kreativität der Mitwirkenden an. Unterschiedliche Lernniveaus können problemlos zusammengeführt werden.

Ausklang

Musik als Wellness-Artikel (ein überflüssiges Surplus)

Im Rittersaal des Mannheimer Barockschlosses wird seit 2015 eine Reihe mit „Traumkonzerten“ angeboten, bei denen das Auditorium am Boden liegt (jeweils ca. 90 Leute) ; tunlichst auf dem Rücken, – für Matratzen, Kopfkissen und Decken ist gesorgt -, denn es gibt zugleich ein Deckenfresco mythischen Inhalts zu bewundern. (Das Mahl der olympischen Götter bei der Hochzeit des Peleus und der Thetis.) Und das Kurpfälzische Kammerorchester spielt „Musik zum Träumen“, Kompositionen, „die jeweils so gewählt sind, dass der Zuhörer quasi von Stück zu Stück heruntergedimmt wird. Dazu passend hat unser Lichtdesigner Wolfgang Philipp eine Lichtinstallation entworfen, die ebenfalls zur Entspannung beiträgt“. Weitere Stichworte: „den Stress des Tages vergessen“, „eine wohlige Phase der Entspannung“, „ein nicht alltägliches Konzert tiefenentspannt genießen“.

All das erinnert an die Fama, dass die Goldberg-Variationen als Heilmittel gedacht waren für jemanden, der unter Schlafstörungen litt. Eine Taktlosigkeit sondergleichen, denn er hätte die aufgeweckteste Musik erhalten, die man je als wacher Mensch erleben kann. Aber – wie alle große Musik – besser nicht im Liegen. Und erst recht nicht mit einem unpassenden Fresco vor der Nase . . .

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LITERATUR Quellen-Verzeichnis

Theodor W. Adorno: Dissonanzen / Musik in der verwalteten Welt / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1956; 1958 (darin u.a.: Kritik des Musikanten, Das Altern der Neuen Musik)

Theodor W. Adorno: Bach gegen seine Liebhaber verteidigt / in: Prismen / Kulturkritik und Gesellschaft / dtv München 1963

Theodor W. Adorno: Schwierigkeiten I. Beim Komponieren II. In der Auffassung neuer Musik / in: Impromptus / Suhrkamp Frankfurt am Main 1968

Klaus Peter Richter: Soviel Musik war nie / Von Mozart zum digitalen Sound / Eine musikalische Kulturgeschichte / Luchterhand München 1997

Gunnar Hindrichs: Alte Musik als Problem / Musik & Ästhetik / Heft 106 April 2023 Seite 40-57

Rheinische Post 5.1.2024 Richard Wagner brummt nicht mehr / Weshalb den Bayreuther Festspielen schwierige Zeiten bevorstehen / Spender ziehen sich zurück, die Politik mahnen Visionen an / Von Wolfram Goertz

Jan Vogler: Klassikbranche braucht frische Konzepte und Nähe zu Fans / NMZ (dpa) 18.01.2023 https://www.nmz.de/politik-betrieb/veranstaltungen/jan-vogler-klassikbranche-braucht-frische-konzepte-und-naehe-zu

Das Orchester Januar 2017 Alte Musik / Spezialisten in der Sackgasse / Experten des Alten / von Sven Scherz-Schade / Eine Frage der Leidenschaft / Musiker des Freiburger Barockorchesters sehen in der Barockszene klare Qualitätsunterschiede – aber keine Krise

Das Orchester Januar 2024 Klingende Verbindung / Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci feierten die Künstlerfreundschaft / von Frauke Adrians

Das Orchester Februar 2024 / Mannheim / Musik im Liegen genießen / Kurpfälzisches Kammerorchester begeistert / Lars-Erik Gerth

VAN Magazin 10.01.2024 „Wenn es eine Krise gibt, dann liegt die vielleicht woanders“. Björn Gottstein (Ernst von Siemens Musikstiftung) im Interview / von Arno Lücker

Thomas Renz (Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung Berlin) lt. BR Kulturstätten – „deshalb bleiben auch nach Corona die Besucher weg“ 24.01.2023

Berthold Seliger: „Es ist ein Ende der Welt.“ Kann man diese Werke leicht verstehen? Man kann! Ein Rückblick auf die Avantgarde beim Musikfest Berlin / Zeitung nd 28.09.2023

ARD Mediathek „Musikwissen inspiriert. Klassik entdecken & verstehen“ mit Joana Mallwitz / Januar 2024

Solinger Tageblatt 08.02.2024 Ein Bilderrausch ohne Originale / Sind immersive Ausstellungen eine Konkurrenz für Museen? / von Christina Sticht

WDR 3 1.7.74 22.00 – 23.00 Uhr Musik des Orients „Trivialität oder Finesse?“ Zum Verständnis der arabischen Musik / Eine Sendung von Jan Reichow

Lantana Camara https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-tonart/audio-barockensemble-lantana-camara-bei-zamus-unlimited-100.html

Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart / Suhrkamp Berlin 2010

CD Bach: Bach Brandenburgische Konzerte (und Orchestersuiten) / Musica Antiqua Köln Reinhard Goebel / Archiv Produktion Deutsche Grammophon 1986/1987

CD Johann David Heinichen / Dresden Concerti / Musica Antiqua Köln Reinhard Goebel / Archiv Produktion Deutsche Grammophon 1993

Andreas Gilger: Dessiner les passions / CD GENUIN Classics Leipzig 2022 https://www.andreas-gilger.de/

Eros & Gewalt / Gehirn, Gefühl und Gesang / Gesualdo, Vivier, Rossi / Gespräch über die CD der Schola Heidelberg / https://klangforum-heidelberg.de/eros-und-gewalt 2023

Prima Materia / Sanstierce, Ars Choralis Coeln, Nouruz Ensemble / Heaven & Earth Birgit Ellinghaus 2022 www.albakultur.de

Trio Joolae / https://www.joolaeetrio.com/

Gamelan Java / https://www.gamelanmusik.de/ensemble.html