Weiter mit Bach

BWV 864 A-dur in Arbeit

Dieser Artikelbeginn ist nichts anderes als eine Ermutigung, es nicht beim bloßen Üben bewenden zu lassen, sondern – was? Begriffe zu bilden, zu notieren, welche „Absichten“ Bach verfolgt usw. Oder fangen wir so an: das Praeludium ist einfach großartig, ermutigend in sich, mit dem Aufschwung der großen Sexte, dem chromatisch-absteigenden Kontrapunkt dazu, einem Leidens-Topos, der mir sagt, dass der Aufschwung sich des dunklen Untergrundes bewusst ist. Technisch kein Problem, man kann „gestalten“. Gut, ein erster Ansatz. Aber zugleich sehe ich die Fuge, die ich fürchte: schwer in die Finger zu bekommen, aber auch in den Kopf, – ist sie nicht nur bizarr? Das heißt auch gewollt, gegen die Natur, ich weiß, was für ein Sechzehntel-Gewirr mir droht, wenn ich umblättere. Und wie so oft droht zugleich das Prinzip Perpetuum mobile. Schön spielen ist Nebensache, es muss erstmal alles da sein!

… Platz für den Rest der Fuge …

Nein, Sechzehntel bedeuten Freude (auch Wut, siehe „Sind Blitze, sind Donner“, aber das können wir hier vernachlässigen), zugleich kommt eine Mail, die mich auf ein Choralvorspiel (?) aufmerksam macht, das überquillt, ja, verrückt ist, nicht endenwollend. Schwer zu erkennen, die Choralmelodie, ich habe sie auch nie besonders gemocht, zu schwächlich, dieses „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Will es der Zufall, dass das TRIO meinem Praeludium ähnelt, das ich liebe, und zwar nicht nur in der Nummer des Werkverzeichnisses? BWV 664, es gibt sogar einen Link dazu:

Zur Entstehung siehe auch Wikipedia Leipziger Orgelchoräle hier. Malcolm Boyd schreibt: „Länge und musikalische Qualität scheinen die Hauptkriterien bei der Auswahl gewesen zu sein; während Bach sich im „Orgelbüchlein“ als einen (sic!) poetischen Miniaturisten im Komponieren von Orgelchorälen zeigt, so tritt er in den „Leipziger Chorälen“ hervor als ein Meister der Choralbearbeitungen von großartigsten Ausmaßen.“ Und später:

Im Trio „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ (Nr.5; BWV 655) entwickelt Bach einen klangvollen, fließenden Kontrapunkt, der überhaupt viele der „Leipziger Choräle“ auszeichnet. Seine Motivik stammt hier aus der ersten Melodiezeile, die allerdings zunächst nie vollständig gespielt wird; erst am Schluß läßt Bach im Pedal die ganze Choralmelodie als Cantus firmus erklingen. Ähnlich im Aufbau und vielleicht noch origineller in der Anwendung dieser Paraphrasentechnik ist der vierzehnte Choral, die letzte von drei hervorragenden Bearbeitungen von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (BWV 664).

Quelle Malcolm Boyd: Johann Sebastian Bach / Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1984 (Seite 84f)

Zurück zu BWV 864 – bemerkenswert die Wortwahl bei Alfred Dürr:

Insgesamt fällt diese Fuge in mancherlei Hinsicht aus dem gewohnten Rahmen, und wenn nicht das Thema in seiner barocken Exzentrizität – es gehört zu den eigenwilligsten Themen des WK – eher als „Charakterthema“ (Besseler) denn als „normales Thema nach Art älterer Fugenmeister anzusprechen wäre, so läge es wohl nahe, in dieser Fuge die Überarbeitung eines Frühwerkes zu sehen. / Schon am Thema selbst muß die Sorglosigkeit auffallen, mit der Bach seine Gestalt verändert. Das beginnt mit dem durch 3 Achtelpausen voneinander getrennten Intervall zwischen 1. und 2. Themennote. (… Irregularitäten…)

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc. 1998 (Zitat S. 204f)

Nicht minder bezeichnend äußerte sich schon Hermann Keller zu dieser Fuge:

Ihr Thema ist wohl das seltsamste in beiden Teilen des W.Kl.: ein einzelstehendes Achtel, drei Pausen, nach denen Quarten geschäftig in die Höhe klettern und am Schluß in die Dominante umgeborgen werden. (…) Im zweiten Teil führt der Sechzehntel-Kontrapunkt der Fuge neues Leben zu und erlöst uns von der unaufhörlichen Quartenbewegung. (…)

Die Fuge ist von den Interpreten sehr verschieden aufgefaßt worden: Czerny versah die erste Note mit einem ff, als Startschuß vor einem Rennen, Riemann findet sie „von der innigsten Empfindung und einer fast rührenden Naivität“ , Tovey faßt sie als „zartes und kompliziertes Scherzo“ auf. Wenn auch der erste Teil nicht ganz ernst ist, so doch der zweite, und der Schluß krönt „dieses komplizierte Scherzo“ , wie es Tovey richtig nennt.

Quelle Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter Kassel etc. 1965 (Seite 98ff)

Unbegreiflich, wie manche Sachen aus dem Gedächtnis verschwinden, andere nie. Auch dafür schreibt man im Blog, um sich selbst auf die Schliche zu kommen: auch viele eigene Einträge von einst sind mir neu und fremd, und dann kommen sie wieder und regen aufs neue die alten Gedankengänge an, so dass sie sich wie die eines Fremden weiterspinnen lassen. Hier nun die Übe-Noten mit der Erinnerung 1992 und 1994, habe ich die Fuge damals wirklich ernst genommen? Keinerlei Eintrag zur formalen Gliederung, selbst die Problematik des zweiten Themeneinatzes ist mir nicht aufgefallen (er kommt zu früh, – ein Engführung zu Beginn? – oder ein Scherz? wo genau endet das Thema überhaupt?).

s.a.oben

Und doch: beim bloßen Hören erscheint alles so leicht und übersichtlich… wie oft muss mans wohl hören, um einen Begriff von der Form der Fuge zu bekommen? Ludwig Czackes, der immer recht hat, sagt, sie „baut sich aus 5 Durchführungen auf, die zu 2 und 3 gruppiert zwei Teile bilden. Der II. Teil zeigt in der Anordnung des thematischen Materials die gleiche Reihenfolge wie der I. Teil.“ (Seite 188) Alles klar? Ja, die Frage ist klar: was bedeutet es, dies zu wissen oder zu ignorieren?

Zumindest die Hälftung sollte ich als erstes eintragen, z.B. in Blau, dann die Durchführungen in Rot, in Grün die Zwischenspiele, alles im blinden Vertrauen auf Czaczkes. Der Beginn der zweiten Hälfte ist völlig plausibel, er beginnt mit dem Einsatz der Sechzehntelläufe. Danach folge ich also der Studienpartitur, während ich die Aufnahme (klicken: „Ansehen auf Youtube“) im Hintergrund dazu ablaufen lasse. Wissend, dass es zum Prinzip gehört, keine Einschnitte hervorzukehren, aber – gibt es in dieser Interpretation, so glatt sie ist, nicht eine Temposchwankung? (Soll sie etwa zeigen, dass es sich um keine Computer-Simulation handelt?)

Seltsamerweise macht Czaczkes kein Aufhebens davon, dass die V. Durchführung offenbar nur 4 Takte umfassen soll; in Wahrheit kann seine Wortwahl „Binnenzwischenspiel“ für den Rest nichts anderes bedeuten, als dass die letzten Takte eben auch eindeutig zur Durchführung V gehören, nicht etwa eine Coda darstellen: was eindeutig fehlt, ist nur noch ein unmissverständliches Themenzitat, stattdessen eben die Überbietung alles Thematischen in der rechten Hand, jenseits allen Fugenprinzips, während die linke Hand die Sechzehntelkaskaden „überborden“ lässt, auf den Gipfel bzw. bis zum kaum unterbietbaren Tiefpunkt treibt, dem CIS, das einzig in den Takten 39 und 41 bereits markiert wurde. Allumfassend wie jede Fuge von Bach. Daher auch der doppelte Bezug auf die Takte 17 – 19, also das Zwischenspiel, dem dort auch schließlich das „Thematische“ folgte, am Ende des ersten Teils, – bis hin zu einer neuen Durchführung, die uns jetzt für den Rest der Fuge noch als Aufputschmittel die motivische Arbeit mit Sechzehntelketten bescherte. Alldies kehrt also am Ende auf anderer Ebene wieder, nur mit dem Schlusspunkt statt einer weiteren Durchführung. Alles ist gesagt. In aller Eile.

Exkurs

À propos: auf verzwicktem Wege kommt man von hier aus zu Mozart (dies nur zur Erholung – – –  auch, um anzuknüpfen an einen anderen Blogbeitrag, der in Mozarts „Figaro“ kurz die Fandango-Szene thematisierte, deren von Gluck stammende Melodie Feruccio Busoni als „Bolero“ mit der seltsamen Gigue KV 574 verknüpft, die Mozart aus Bachs Largo-Fuge h-moll (BWV 893) abgeleitet und vor allen im Tempo so modifiziert hat, dass man sie vom Charakter her wohl eher mit Bachs bizarrer Fuga in A-dur (BWV 864) verknüpfen würde. Vielleicht hat er sich aber von beiden Fugen gleichzeitig faszinieren lassen. Hören Sie doch einfach, was Busoni in Gestalt einer weiteren Metamorphose („Variazione“) und mit ihm der letztendlich real gestaltende Pianist Anatol Ugorski daraus gemacht hat: „An die Jugend“, eine Short Story hier.

Einfach bloß hören? Für die Verächter jeglicher Analyse sollte man noch hinzufügen: wie anders als mit intensivem Notenstudium kann man den Geheimnissen solcher Metamorphose auf den Grund gehen?