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Eros (Thanatos) Gewalt

Eine phänomenale CD : genug Stoff zum Hören, Fühlen und Weiterdenken

Cover & Einführungstext aus dem Booklet

HIER vorweg der Link zum Gespräch „Eros und Gewalt – Gehirn, Gefühl, Gesang“ mit Hannah Monyer, Walter Nußbaum und J. Marc Reichow mit ausführlichem Themenindex.

Das Gespräch ergänzt und erweitert den kurzen Essay der Heidelberger Neurophysiologin Prof. Dr. Hannah Monyer im zweisprachigen Booklet der am 8. September 2023 beim Label Genuin (https://genuin.de) veröffentlichten neuen CD der SCHOLA HEIDELBERG unter Leitung von Walter Nußbaum.

Es berührt interdisziplinär folgende Themenkomplexe: 01:50 Madrigal: Musik und Sprache – Warum Rezitation? 04:30 „Psycho-Musik?“ und Einführungstext 05:00 Vorstellung Prof. Dr. Hannah Monyer 06:05 Psychologie der Aufmerksamkeit, Abwechslung und Dichte 07:42 Bernini und das Gewaltcover 10:09 Extreme Ausdrucksmittel 10:33 Warum Begriffe wie „Neuroökonomie“ ? 12:35 Eros UND Gewalt 14:00 Versuch der Objektivierung: Vertonung und Schlüsselbegriffe 16:00 Kontrollverlust, doch rationales Komponieren? 18:00 Gewalt in Biographien und Werk 19:10 Gesualdos „Beltà“ als Beispiel 21:00 Moment und Gegenwart 21:43 Zeitstil, Rhetorik und Besonderheiten 23:00 Gesualdos Dichte … 24:00 … und Verfeinerung 24:25 Gewalt als Gefangenschaft der Liebe 26:00 Manierismus 26:50 Rollenbilder und literarische Tradition 28:45 Gesualdo „nicht polyphon“? 29:40 Für welches Publikum? 30:15 Gesualdo, als szenische Musik gehört 30:34 … am Beispiel „Tu m’uccidi“ (1) 31:10 Phantastik und Diagnose von „Ideenflucht“ 33:25 Grenzsituationen und Eifer-Sucht 34:00 Gewalt und motorischer Handlungszwang 35:00 Gewalt bei Bernini (2) 35:23 „Tu m’uccidi“ im Detail (2) 39:00 Erotischer Subtext, Tod und Orgasmus 41:15 Verlust, Kontrolle, Melancholie und Humoralpathologie 44:18 Physiologie der Liebesempfindung 51:00 Kunst als Sublimation 53:00 Claude Viviers Text über „Chants“ 54:44 Schlüsselstelle aus „Chants“ 57:00 Trauma und spirituelle Musik 58:20 Liebe, Mutterliebe, Marienverehrung bei Vivier und Gesualdo 59:30 Bedeutung von Glenn Watkins für die Gesualdo-Forschung 1:00:20 Stravinsky, Gesualdo und die Folgen 1:00:40 KlangForum Heidelberg: Netzwerk Madrigal 1:01:10 Zitat (und Bedeutung) von Glenn Watkins 1:01:30 [Farbfehler] 1:01:42 Physiologische Nachbarschaft von Hirnarealen (Frage zum Text) 1:04:00 Akzeptanz und Umschreiben des Vergangenen im Gehirn 1:06:00 Trauma und Traum 1:07:30 Was ist mit Michelangelo Rossi? 1:09:50 Beispiel „O miseria d’amante“ (mit Fotos aus den CD-Aufnahmen) 1:13:47 Intonation, reine Intonation und verwandte Probleme 1:17:30 „… Reinheit nur, … wenn man ohne Vibrato singt“ 1:18:00 Vicentino und das Archicembalo 1:20:00 „So erklärt die Neurowissenschaft …“ ? 1:23:00 Weiteres Leben, Rückzug, Schuldkomplex von Gesualdo 1:24:00 Schlusswort und Hoffnung auf die Kunst

Anregung JMR:

Volker Beck: Weltrisikogesellschaft (dt. 2008) aber siehe hier

Die zwei Gesichter des Risikos – Chance und Gefahr – werden während der Industrialisierung, beginnend mit der internationalen Handelsschiffahrt, zum Thema. Das Risiko stellt die Wahrnehmungs- und Denkschablone der mobilisierenden Dynamik einer Gesellschaft dar, die mit der Offenheit, den Unsicherheiten und Blockaden einer selbsterzeugten Zukunft konfrontiert und mehr durch Religion, Tradition oder die Übermacht der Natur festgelegt ist, aber auchden Glauben an die Heilswirkungen der Utopien verloren hat.

Während sich zwischen Gott und dem Risiko eine Kluft auftut, ist der europäische Roman eine Verbindung mit dem Risiko eingegangen. Als das Risiko auf den Plan trat, mußste Gott seine Position als Weltenlenker räumen, mit allen umstürzlerischen Konsequenzen. Die »Kunst des Romans« (Milan Kundera 1986) hat gemäß ihrer eigenen Logik die vielen Gesdichter des Risikos entdeckt und seine existentielle Dimension erkundet und ausgemalt: In der Gestalt des Don Quichotte ist das Leben auf Erden, dessen Zukunft nicht der Macht der Götter oder Gottes Weisheit gehorcht, zu einem unabschließbaren Abenteuer geworden. Denn in der Abwesenheit Gottes entfaltet das Risiko seine verheißungsvolle  und schreckensvolle, schier unbegreifliche Ambiguität. Die Welt ist nicht, wie sie ist, sondern ihr Sein und ihre Zukunft setzen Entscheidungen voraus, Entscheidungen, die Nutzen und Schattenseiten gegeneinander abwägen, die Fortschritt und Verfall miteinander verbinden und, wie alles Menschliche, Irrtum, Nichtwissen, Hybris, Kontrollversprechen und am Ende gar den Keim der möglichen Selbstzerstörung in sich tragen.

Vor- und Nacharbeiten, Zettelsammlung JR

Verbindung zu „Dessiner les Passions“ bzw. Le Brun HIER

zu schön um wahr zu sein?

Hemmung in der Bildenden Kunst, die Leidenschaft hässlich darzustellen, mit verzerrtem Gesicht. Siehe Lessing: „Laokoon“. Dagegen Leonardos Fratzen (für Nahkampf-Darstellungen? aber auch das Gesicht bei seiner Zeichnung eines physiologischen Coitus-Querschnitts, hier). S.a. hier (Sütterlin: Fratzen, Monster / 2005) und hier (Haag: Porträtkarikatur im Barock / 2013)

https://www.ypsilon-psychoanalyse.de/01-2016-kreative-zerstoerung/das-todestriebkonzept hier

Weiter werde ich darauf zu sprechen kommen, […]wieso gerade bei den kulturschaffensten Menschen (KünstlerInnen, SchriftstellerInnen beispielsweise) oft ein hohes Maß an Leiden mitschwingt. Denn schließlich ist das Werk des Todestriebs nicht der Kurzschluss mit dem Tod, der Selbstmord etwa, sondern Produktivität schlechthin.

Freuds Streben nach Verwissenschaftlichung, sein Versuch, sich in den naturwissen­schaftlichen Diskurs einzureihen, erscheint nie so vergeblich wie hier und es ist auch oft kritisiert worden, worauf ich jetzt nicht weiter eingehen will [Birgit Meyer zum Wischen]. Die Biologie versagt die Unterstützung bei der Begründung der Konstruktion des Seelischen, was Freud aber nicht von seiner „Hypothese“ abbringen kann. Statt ein Scheitern zu konstatieren, kann man an dieser Stelle einen Wechsel auf die Ebene des Repräsentationsvermögens vollziehen.

Der Schritt vom Ursadismus zum ursprünglichen Sadismus kann nicht nur auf eine Angelegenheit des speziellen Organsystems der Muskulatur20 eingeschränkt werden. Er ist auf der Ebene einer Ab­fuhr durch Organsysteme nicht beschreibbar, da er nicht weniger „bewirkt“ als dass „überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts“. Der ursprüngliche Sadismus ist zu iden­tifizieren mit dem Repräsentationsvermögen, das die ontologische Konstitution von Welt erst ermöglicht.21 Im Unterschied zur Metaphysik „fundiert“ die Todestriebtheorie die­ses also im Gewaltakt der Umwendung des Ursadismus. Alles, was wir tun, ist Ableistung dieses ursprünglichen Sadismus (der prinzipiell jederzeit zum Sadismus als Perversion zusammenbrechen kann). Die gesamte menschliche Existenz, die sich im Vollzug des Repräsentationsvermögens manifestiert, tritt genau hier hervor: Wahrnehmen, Den­ken, Fühlen, Handeln, usw.

Die Freud’schen Todes- und Lebenstriebe können nun nicht länger als biologische In­stinkte angesehen werden. Denn der Mensch besitzt keine rein biologischen Instinkte und Bedürfnisse. Er befindet sich stattdessen immer schon in der Ordnung der Repräsentation oder der Ordnung des Begehrens. Wenn dann versucht wird, die Konstitution des Repräsenta­tionsvermögens selbst als biologische Genese zu beschreiben, kommt es zu derart para­doxen Gebilden wie den Freudschen „Ursprungs-Erzählungen“.

Mit dem Sadismusvokabular will Freud wohl darauf hinweisen, dass alles, was wir kulturell leisten, eine Angelegenheit von Gewalt ist, was wiederum auf die Hypothek unserer Sterblichkeit zurückfällt. In diesem Sinne ist jeder Wunsch nach Gewaltfreiheit illusorisch, insofern es aller Kulturarbeit zuwi­derläuft.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Sadismus hier

https://en.wikipedia.org/wiki/Claude_Vivier hier (die Umstände seines Todes!)

https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Gesualdo hier

https://www.kammermusikfuehrer.de/werke/4037 hier

https://www.perlentaucher.de/buch/glenn-watkins/carlo-gesualdo-da-venosa.html#reviews hier

https://klangforum-heidelberg.de/eros-und-gewalt hier

https://www.leopoldina.org/fileadmin/redaktion/Mitglieder/CV_Monyer_Hannah_D.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Temperamentenlehre hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Blutkreislauf_des_Menschen_und_der_S%C3%A4ugetiere hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Lokalisation_(Neurologie) hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Mesolimbisches_System hier

https://www.dasgehirn.info/denken/motivation/sucht-motivation-zu-schlechten-zielen hier

Bernini: https://de.wikipedia.org/wiki/Gian_Lorenzo_Bernini hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Verz%C3%BCckung_der_heiligen_Theresa hier

Borromini: https://de.wikipedia.org/wiki/Francesco_Borromini hier

Rivalität zwischen Bernini und Borromini hier

Zu untersuchen (Ideen zur Psychologie):

Notwendiger Zusammenhang 1 Liebe (Begehren) und 2 Verschmähte Liebe, die umschlägt in Gewalt (Hass)

1 zielt auf Ich-Erweiterung, Alleinbesitz 2 auf Isolation, Verminderung, Entbehrung, fühlbare Leerstelle

1 Euphorie (Überschuss) 2 Verlustängste (Herabminderung)

Unerwiderte Liebe?

Man leidet ohnehin vermehrt unter der Abhängigkeit, – wenn sie jedoch auf feindselige Ablehnung trifft, schlägt sie um in Gewaltbereitschaft (Rache).

Es hat mit Machtlosigkeit, Entmächtigung zu tun. Eros als „Wille zur Macht“?  Mit Sondermitteln. Wer am meisten liebt, ist am meisten ausgeliefert, zu demütigenden Konzessionen bereit. In der erfahrenen Hilflosigkeit aber auch zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen disponiert. Man macht kaputt, was einen kaputt macht.

Die Gewaltanwendung (bis hin zur planmäßigen, nicht nur jähzornigen Tötung), etwa im Krieg, auch präventiv, hat mit dem Bewusstsein des immer im Hintergrund drohenden eigenen Todes zu tun: mein Überleben ist ein sichtbares Zeichen, dass ich vom Gesetz des allgemeinen Sterbenmüssens ausgenommen bin. Canetti hat das beschrieben. (Masse und Macht: der Überlebende).

Ich hörte einmal das zynische Touristen-Wort: Es genügt nicht, reich zu sein. Die anderen müssen auch arm sein.

Umgekehrt geht die Logik der Liebe: wer leichtfertiger liebt, muss nicht die Gedankenlosigkeit des Partners fürchten. Wer sich immer wieder der Liebe des anderen versichern muss, – um zu glauben, dass jene/r wirklich liebt/treu ist/jeder Anfechtung widersteht -, sorgt für Fahrlässigkeit auf der anderen Seite. Die verbalen Liebesbeteuerungen (als lästige Pflicht) kosten wenig. Rilke: „Seht euch die Liebenden an: wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen.“

Wer einen anderen Menschen leiden lässt, – durch scherzhafte Andeutungen, durch gespielte Missverständnisse -, entgeht der Gefahr, selber leiden zu müssen.

Wer aus dem eigenen Leiden Gedichte (Romane oder Harmoniefolgen) machen kann, erlebt als Ausgleich kreativen Lustgewinn. Gedachte (benannte) Leiden verbinden sich leichter mit ihrer Verklärung. Das wirkliche Leiden blockiert oder lähmt.

Was ist Liebe? bei Erich Fromm https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kunst_des_Liebens hier

Vgl. Jose Ortega Y Gasset „Signale unserer Zeit“ (1963)

Erinnerung an die Lektüren 1962, 2007, 2007, 2015

Inhaltsverzeichnis (S.115 zu Proust S.138 zum Tango S.225 zu Amok)

Wolfgang Herrndorf lesen

Bio Herrndorf Wikipedia hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_und_Struktur hier

https://www.perlentaucher.de/buch/wolfgang-herrndorf/arbeit-und-struktur.html hier

Tobias Rüther !

DIE ZEIT 24.08.23 Seite 50 Ganz groß / Als Autor war Wolfgang Herrndorf schon vor seinem frühen Tod 2013 eine Legende. Jetzt deutet Tobias Rüther klug und detailversessen dieses Künstlerleben / Von Florian Eichel

Goethes Briefe 1823 – 1824

Umfeld „Trilogie der Leidenschaft“

Angefangen mit Martin Walsers „Ein liebender Mann“ … zunächst mit Aufmerksamkeit teilgenommen, erst nach der Marienbader Elegie (Goethes echter Text darin) die Geduld verloren und mit den folgenden Briefen an Ulrike (Walsers fingierter Text) endgültig aufgehört. Was  für eine Anmaßung, als derangierter Goethe auftreten zu wollen. Wie unglaubwürdig! – Stattdessen Neu-Bestellung (altes Exemplar verloren gegangen) des Buches „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann, mit einem wohl gelungenen „alternativen Goethe“.  Zu wiederholen wäre auch die Lektüre der ebenfalls verschwundenen, aber aus den 50er Jahren erinnerten „Sternstunden der Menschheit“. Noch kopieren: was neuerdings Safranski zur Interpretation der Elegie in seinem Goethe-Buch beigetragen hat.

Gerade dieses gelesen in „Faustkultur“ (über „Lotte in Weimar) hier :

Auch das ist in seinen Grundzügen von Goethe her gedacht; er nämlich, Goethe, holte die Welt ein, vereinnahmte sie, hielt sie besetzt vor dem Prägegrund abstreichender Vergänglichkeit; nur so, im Licht, das gegeben wird und empfangen, war ihm Selbstfindung und Selbstbestätigung möglich. „Am Abglanz haben wir das Leben”, wusste Goethe und wollte bis zuletzt nicht nachgeben und nicht unterliegen. Thomas Mann hat es ihm gleichgetan, er bleibt mit seinem Vorbild auf so vertrautem Fuße, dass er an seiner Seite noch einmal das Spiel zu Würden gebracht hat: Er macht sich den literarischen Spaß, Goethes Lotte in Weimar zu begleiten, eine alte Dame, die, da sie merkwürdig klug geworden ist und mit dem Vergänglichen keine Probleme mehr hat, eine Devise verkünden darf, die ihr wohl gleich von beiden Herren, vom Geheimen Rat Goethe und seinem Bewunderer Mann, eingeflüstert worden sein könnte: „Der Erinnerung zu leben, ist eine Sache des Alters und des Feierabends nach vollbrachtem Tagwerk. In der Jugend damit zu beginnen, das ist der Tod.“

(26.08.23)

  Goethes Sekretär Riemer (die Vorlage)

Thomas Mann (Zitat):

Charlotte Buff-Kestner Dr. Riemer erinnert sich (bei Thomas Mann): „Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar.“

Seite 64: «Die Augen», sagte Dr. Riemer, «die Augen sind mächtig bisweilen». Seine eigenen, glasig vortretenden, zwischen denen ein Kerbzeichen bemühten Grübelns stand, zeigten an, daß er schlecht zugehört und eigene Gedankengänge verfolgt hatte. Sich über das Kopfnicken der Matrone aufzuhalten, wäre ihm übrigens nicht zugekommen, denn wie der die große weiße Hand vom Stockknauf zu seinem Gesicht hob, um irgendein leichtes Jucken an der Nase nach Art des feinen Mannes durch eine zarte Berührung des Ringfingers zu beheben, sah man deutlich an, daß auch diese Hande zitterte.

Lotte in Weimar“  (das Buch)

*    *    *

Wann es für mich begann: seit ich die Aufnahme des „Faust“ mit Gründgens kannte. Danach, im September 1958 Klassenfahrt nach Berlin, großer Buchladen in der Karl-Marx-Allee, Ost-Berlin, Gespräche mit Goethe , „Eckermann“. Ausgabe 1956. Aufbau Verlag

Goethes Gespräche (nach Marienbad 1823)

Zur Marienbader Elegie:

Schon die ersten Strophen musste ich mir vor allem in meine Sprache übersetzen. Wie konnten die frühesten Leser (Zelter, Humboldt, Eckermann) diese fremd verschlungenen Sätze auf Anhieb verstehen?

https://www.deutschlandfunkkultur.de/goethe-im-dritten-fruehling-100.html hier (Jörg Magenau)

https://www.welt.de/kultur/article1740320/Martin-Walser-verhebt-sich-nun-an-Goethe.html hier (Tilman Krause)

Bilder (privat) aus Marienbad hier

Die Nußbäume im Werther:

Die Nussbäume bei Walser:

– – – – – – – – – – s.a. hier bei 2.2.2.

Zur weiteren „Vergegenwärtigungsarbeit“:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Briefe/1823 hier

http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Briefe/1824 hier

Marienbader Elegie – zur Interpretation

https://www.grin.com/document/47839 hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Marienbader_Elegie hier

https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/sternstu/chap007.html „Sternstunden der Menschheit“ (vorgelesen durch Jürgen Hentsch hier)

https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/159037/1/1871-1622-1-PB.pdf  Ulrike Zeuch:
Goethes Trilogie der Leidenschaft

Wahlverwandtschaften (Lebende Bilder)

Eine vergessene Kunst? Oder bloß ein Spiel?

Wie mein Interesse begann

Schubert und das lebende Bild

Eine andere Beschreibung, die ich durch Zufall in Goethes „Wahlverwandtschaften“ fand und für meine Entdeckung hielt:

Damals gab es doch schon Wikipedia…

https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant hier

Aber wohl noch nicht diese unvergleichliche Website (mit den Erläuterungen zu den lebenden Bildern ab dem Fünften Kapitel):

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Wahlverwandt/kultur.htm HIER

ZITAT aus dieser Arbeit:

Das Titelblatt der Erstausgabe

Die Aufmerksamkeit, die der Roman fand, war groß, das Urteil jedoch keineswegs nur positiv. Von den moralischen Bedenken abgesehen, wurde auch die nicht immer konsequente Erzählweise beanstandet. Wilhelm Grimm schrieb am 22. November 1809 an seinen Bruder: „Ich begreife auch, daß das ganze Verhältnis sehr langsam und sorgfältig mußte entwickelt werden, nur nicht langweilig, wie es mir durchaus ist. Ich erkläre mir es aus der Art der Entstehung des Buchs, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist.“

Goethe in seinem Arbeitszimmer

Auch wenn Goethe stehend und nicht sitzend diktierte, muss man wohl wirklich die oft umständliche Allgemeinheit der Aussagen auf diese Arbeitsweise zurückführen. Zur Besinnung auf plastische Einzelheiten wird man bei einem vorwärtsdrängenden Diktieren kaum veranlasst.

Zitat-Ende / der Autor:

SEILER Bernd W. Seiler, Januar 2015 hier

Zu Humboldts Kritik: Mir waren bei der Goethelektüre durchaus auch stilistische Schwächen aufgefallen, die sich aus der Praxis des Diktierens ergeben, z.B. die stereotype Verwendung des Wortes „entgegnen“ statt entsprechender Varianten. Andererseits: las er denn das Diktierte nachher nicht mehr durch? –  Mir fiel jedoch das Wort vielleicht nur deshalb auf, weil es heute so viel auffälliger klingt als  „antworten“, das ich nicht moniert hätte.

Ein anderes Thema dieses interessanten Autors:

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Lesmona/ hier

Blumenberg-Doppel

Zum textkritischen Vergleich

Aus verschiedenen Gründen ist es interessant, wenn ein Schriftsteller ein und dieselbe Episode zweimal verwendet, aber nicht als Fertigteil, sondern mehr oder weniger verändert. Er kann die Funktion den unterschiedlichen Zusammenhängen anpassen. Etwas unwahrscheinlicher ist, dass es in unfertigem Zustand demselben Zettelkasten entnommen wurde, der schon vormals als Quelle benutzt wurde. Und dieser Vorgang könnte in Vergessenheit geraten sein. Oder die Anpassung von ehedem könnte als unerheblich betrachtet worden sein. Es gibt – vermeintlich – noch keine verbindliche Formulierung. Man vergleiche etwa den Fall des Dritten Brandenburgischen Konzerts bei Bach (auch im weiteren: hier):

Bachs Kompositionspartitur ist – wie beim größten Teil seiner Konzerte – nicht erhalten. Nachdem er die daraus kopierte Widmungspartitur 1721 weggegeben hatte, griff er 1729 wieder auf sein Handexemplar zurück, um eine zweite Fassung als Einleitungssinfonia zu seiner Kantate BWV 174 Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte zu schreiben.

Der Vergleich der beiden erhaltenen Versionen zeigt immer wieder Unterschiede im Detail. Bach nutzte bei der Abschrift in die Widmungspartitur vor allem die Gelegenheit, die Celli im ersten Satz weiter zu individualisieren. Da die Sinfoniafassung zum Teil von einem Kopisten geschrieben wurde, folgt sie offenbar eng der Kompositionspartitur.

Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel Insel-Verlag 1999 Seite 79 f

*    *    *

Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß Suhrkamp 1987 Seite 175 f

IN WIEN

Bei seiner Ankunft in Wien schreibt Karl Friedrich Zelter am 12. August 1819 an den Altersfreund Goethe, sein Wunsch …

(Fortsetzung folgt)

Erinnerung an Albert Camus

Lektüre (und parallel Audio) der frühen 1960er Jahre

 

nach (unangenehmer) Musik: ab 1:59 spricht (liest) Albert Camus  (1954)

https://archive.org/details/LEtrangerLuParAlbertCamus hier ???

Vollständiger französischer Text:

Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.
J’ai reçu un télégramme de l’asile : « Mère décédée. Enterrement de-
main. Sentiments distingués. » Cela ne veut rien dire. C’était peut-
être hier.
L’asile de vieillards est à Marengo, à quatre-vingts kilomètres
d’Alger. Je prendrai l’autobus à deux heures et j’arriverai dans
l’après-midi. Ainsi, je pourrai veiller et je rentrerai demain soir. J’ai
demandé deux jours de congé à mon patron et il ne pouvait pas me les
refuser avec une excuse [10] pareille. Mais il n’avait pas l’air content.
Je lui ai même dit : « Ce n’est pas de ma faute. » Il n’a pas répondu.
J’ai pensé alors que je n’aurais pas dû lui dire cela. En somme, je
n’avais pas à m’excuser. C’était plutôt à lui de me présenter ses
condoléances. Mais il le fera sans doute après-demain, quand il me ver-
ra en deuil. Pour le moment, c’est un peu comme si maman n’était pas
morte. Après l’enterrement, au contraire, ce sera une affaire classée
et tout aura revêtu une allure plus officielle.

Weiter im folgenden Link:

https://www.anthropomada.com/bibliotheque/CAMUS-Letranger.pdf HIER

Vollständiger deutscher Text (dieselbe Version, die ich damals gelesen habe)

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es
nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: «Mutter
verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.»
Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.
Das Altersheim liegt in Marengo, vierzig Kilometer von Algier
entfernt. Ich nehme den Zwei-Uhr-Omnibus und komme am
Nachmittag an. So kann ich alles erledigen, und morgen abend
bin ich wieder zurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage
Urlaub gebeten; bei einem solchen Anlaß konnte er ihn mir
nicht abschlagen. Aber einverstanden war er nicht, das sah
man. Ich sagte sogar: «Ich kann nichts dafür.» Er gab keine
Antwort. Da fiel mir ein, daß ich das nicht hätte sagen sollen.
Ich brauchte mich ja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er
mir kondolieren müssen. Aber das tut er sicher erst
übermorgen, wenn er mich in Trauer sieht. Einstweilen ist es
fast noch so, als wäre Mama nicht tot. Nach der Beerdigung
aber wird alles seine Richtigkeit haben und einen offizielleren
Anstrich bekommen.

Aufzufinden im folgenden Link: HIER

(https://machtderpolitentscheidung.files.wordpress.com/2014/01/albert-camus-der-fremde.pdf)

Albert Camus‘ Rede, gehalten nach Empfang des Nobelpreises, den er im Jahre 1957 erhielt. (Untertitelt mit englischer Übersetzung):

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos Wikipedia hier

(Fortsetzung folgt)

Die ernste Geschichte der Figura

Im Mittelpunkt: Flaubert

FIGURA: Seit Tagen verfolgt mich aufs Neue dieser Begriff, ich überlege, lese hier, lese dort, auch im eigenen Blog, aber wenn ich es nicht auf meine der Gegenwart angepasste Art notiere und repetiere, wird alles, was ich daraus gelernt habe, wieder verschwinden. In alle Winde zerstreut. Wie schon früher einmal. Hätte ich etwa unter dem Namen Stendhal (Kap. XVIII) nachgeschaut? Also los. Zunächst: Nichts als dies Stückchen Text. Mögliche Überschrift: „Die einsame Frau“. Und sucht man Aufklärung über den beiläufig erwähnten französischen Ort „Tostes“, so findet man hier etwas, – aber nötig ist das nicht.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Uberzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Die Übersetzung – so steht es am Ende dieser Ausgabe im Projekt Gutenberg – stammt von Arthur Schurig. Ich lasse es dabei bewenden. „Frau Bovary“ (sic!) von Gustave Flaubert.

Und hier der Sekundär-Text, der mich immer wieder in Bewegung setzt, man schaue noch einmal auf den Mittelteil der oben wiedergegebenen deutschen Übersetzung: er entspricht dem französischen Zitat, das jetzt in der fünften Zeile zu lesen ist: Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß… 

Quelle Erich Auerbach: MIMESIS Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur / Vierte Auflage Francke Verlag Bern und München 1946 (4.1967)

Dies Werk besaß ich seit April 1969, ohne es in allen Kapiteln durchzuarbeiten, aber wohl ahnend, welche Bedeutung es haben könnte. Angesichts der vielen Anregungen von außen, versäumte ich die Welt in wesentlichen Zügen. Schon 1962 hatte ich – dank Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ – Flauberts „Trois Contes“ bzw. „Drei Erzählungen“ gelesen, mich aber dummerweise über die zweite („Saint Julien L’Hospitalier“) so geärgert, dass ich ihren Wert nicht erkennen konnte. Die dritte aber las ich nur noch, weil ich sie auf „Salome“ bezog, die Strauss-Oper, die ich bis zur Besinnungslosigkeit hörte (LP Gesamtaufnahme mit Nilsson & Solti bei einem Bielefelder Freund). Ich hätte mir die abschreckende, übertriebene Heiligengeschichte als einen magischen Film vorstellen müssen, etwa wie Jean Cocteaus „Orphée“, den ich in Berlin -zigmal gesehen hatte (auch die Fortsetzung).

Damals hat mich „Jesus Christus“ geschockt, – der Freigeist Flaubert vorm Kreuz eingeknickt? – heute habe ich mich sofort an Wikipedia gehalten, um den Wahrheitsgehalt des letzten Satzes zu eruieren, der mir damals aus der Luft gegriffen schien. (Ich hätte auch das lehrreiche Nachwort von Walter Boehlich wirklich lesen sollen, so wäre ich klüger geworden. Es ist nie zu spät:)

Der zweisprachige Flaubert-Band war damals als Nr. 44  in der Reihe Die Fischer-Bibliothek der hundert Bücher erschienen, heute nur noch antiquarisch aufzufinden. Grund genug für mich, 2017 die neue deutsche Ausgabe im Hanser-Verlag zu erwerben, neue Übersetzung von Elisabeth Edl, die auch ein lesenswertes Nachwort beiträgt; wunderbar der Anhang mit den Briefen des Autors aus der Entstehungszeit der Drei Geschichten sowie (Vorsicht!) aus seiner Reise in den Orient.

Den Covertext zu lesen, ist nicht ersprießlicher als eine Schein-Kritik zweier Berliner Aufführungen der „Neunten“ (Barenboim, Jurowski). Wir haben Thielemann erlebt (Semper-Oper) und uns geprüft. Zur Gänze. Der Kritiker aber ließ durchschimmern, man könne sich vorstellen, wie Beethovens Sinfonie nach dem langsamen Satz abbräche, gleich der „Unvollendeten“ von Schubert. Mein Gott, warum denn nicht, wenn einem zu lang wird. Auch von dem gendergerechten Prolog sprach er, „Schwestern, überm Sternenzelt“? Und er fände es besser ohne… Wie recht er hat. Salome, die tanzt, bis sie Johannes‘ des Täufers Kopf bekommt – fünf Jahre nach ihrer gefeierten Neuübersetzung der Madame Bovary / usw. usw. – ja, gerade höchstes Lob kann verletzen. Ich bin kein Maßstab, ich habe 60 Jahre gebraucht, ehe ich es neu lesen kann.

*    *    *

Doch zurück zum Auerbach-Titel: handelt es sich bei den Flaubert-Texten um „dargestellte Wirklichkeit“ ? Es ist doch bloße Fiktion? Eine dumme Frage, die man aber doch für sich selbst einmal klären muss. Auch fiktive Wirklichkeit wird nicht anders dargestellt als reale Wirklichkeit. Mit denselben Mitteln, wie denn sonst?!

(Fortsetzung folgt)

Künstliche Intelligenz – nur keine Panik!

Mehr Komik! Ein paar ungelöste Fragen

Es liegt was in der Luft, KI – und mit Vorliebe wird in der Kunst herumgestochert, als sei es die letzte Bastion der Menschlichkeit, deren Verschwinden nun bald zu beklagen sein wird. Dabei gab es doch schon die künstlich erschaffene Zehnte von Beethoven in Bonn, ein Desaster erster Güte, das nur nicht heilsam wirkte, weil es doch genug Offizielle gab, die bestätigten, dass es irgendwie nach Beethoven klang; was ja kein Wunder ist, wenn man ausreichend „echten“ Stoff reingemischt hat. Kein Wort darüber. Es wird auch nicht richtiger, wenn es vom Philosophen Precht stammt, der sich wohl in KI auskennt, aber nicht in MUSIK.

Ich weiß nicht, ob der verdienstvolle Journalist Ulrich Schnabel nun die passenden Akzente setzt, wenn es um KI in Literatur, Prosa oder Lyrik geht.

DIE ZEIT 15. Dezember 2022

Ich erlaube mir aber, einen Abschnitt daraus zu zitieren, in dem es u.a. um Gedichte von Rilke oder Celan geht, vielmehr um deren Surrogat aus dem Ideen-Räderwerk der Künstlichen Intelligenz.

Lassen Sie es auf sich wirken!

Welcher Lyrikkenner würde denn im Traum glauben, dass eine so schwache Metapher („Berge wie Riesen“) von Rilke stammen könnte, der auch noch „die Kraft der Erde“ unter seinen Füßen fühlt. Gewiss, wer den Namen Celan und das Wort schwarz hört, denkt im gleichen Moment an die „schwarze Milch“ der Todesfuge, aber schon dieses Titelwort könnte die KI nur von Celan selbst abgeluchst haben und dürfte es übrigens kein zweites Mal verwenden. (Um nochmal auf Beethoven zurückzukommen: es ist völlig unrealistisch, dass er ein neues Opus aus Elementen vorheriger Werke zusammenbaut. Sein Geist war unberechenbar, von Werk zu Werk ebenso wie innerhalb eines Werkes.)

Wer sind denn die Versuchspersonen, die nur noch raten können, ob es sich um ein Original oder ein Maschinen-Gedicht handelt? Raten statt urteilen??? Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Poet, wenn er sein Handwerk versteht, schreibt wie ein Roboter, aber unwahrscheinlich, dass diesem eine Strophe gelänge, die mit einer von Rilke austauschbar wäre.

Und etwas weiter im Text findet man die Sätze:

Eine weitere Kritik an den Sprachprogrammen lautet, dass sie häufig vorhersehbare, formelhafte Texte hervorbringen; zu echter Fantasie oder literarisch wertvollen Beiträgen sei der Algorithmus hingegen nicht in der Lage. Das stimmt. Die Sache ist nur die: Dasselbe gilt für uns Menschen. Auch der Großteil jener Texte, die wir tagtäglich produzieren, ist formelhaft und folgt vorhersehbaren Mustern – das gilt für die Hausaufgaben wir für Behördentexte, für Sprachnachrichten wie Politikerreden. Das eröffnet den Sprachprogrammen einen enormen Anwendungsbereich.

Aber wer will sich im Ernst darüber wundern, dass wir uns im täglichen Leben unzähliger Formeln und Redensarten bedienen?  Es ist schlicht unnötig, sich permanent origineller oder preziöser Ausdrucksweisen zu bedienen. Daraus wird sich kein entspanntes (und inspiriertes) Gespräch entwickeln, wie es „normale“ Menschen lieben, die z.B. nicht miteinander im Wettkampf stehen, sondern – sich unterhalten.

Auch das Philosophie Magazin vom 14. Dezember 2022 beschäftigt sich mit diesem Thema und sieht gerade in dieser Normalität ein Problem:

ChatGPT – wenn Algorithmen fabulieren

Ein neues Sprachprogramm der Firma Openai sorgt im Netz seit einigen Wochen für Aufsehen. Der Grund ist, dass es eine Fähigkeit beherrscht, die bislang Menschen vorbehalten war: Das Erzählen von Geschichten.

Und nun heißt es:

Sogar die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die man lange als rein menschliche annahm, scheint die KI zu beherrschen. Einer jener Denker, der das Erzählen von Geschichten zum Vorrecht des Menschen erklärten, war Henri Bergson. In seinem 1932 erschienenen Werk Die beiden Quellen der Moral und der Religion erklärt der Philosoph, dass die Fähigkeit zu „fabulieren“ notwendigerweise mit der menschlichen Intelligenz verbunden und unerlässlich ist, um uns gesund und guten Mutes zu halten. Sie erfüllt in der Tat eine lebenswichtige Funktion, indem sie uns als potentes Werkzeug im Kampf gegen eine Niedergeschlagenheit zur Verfügung steht, die uns in unterschiedlicher Ausprägung jedoch schlussendlich alle betreffen wird.

(…)

Daran darf zum jetzigen Zeitpunkt mit Fug und Recht gezweifelt werden. Bergson erinnert uns nämlich auch daran, dass es nur möglich ist, den Nebenwirkungen unserer Vernunftbegabung mit Geschichten entgegenzuwirken, wenn die Geschichten von sich aus „vital“ sind. Also eine Kraft besitzen, die jenen Texten abgeht, die lediglich aus einer Vielzahl neu arrangierter, jedoch bekannter literarischer Gemeinplätze bestehen. (…)

Im Gegensatz dazu zeichnet sich das menschliche Fabulieren durch das Charakteristikum aus, mit Erwartungen zu brechen, im ersten Moment verwirrende Geschichten zu konstruieren, die sich schließlich doch zu einem Ganzen zusammenfügen.

Richtig! Niemand zweifelt aber auch, dass nette Kindergeschichten, wie ich sie einst für meine Enkelin erfand, ebenso von einem Computer stammen könnten. Die Kleine gab mir sogar zwischendurch Anweisung, wie es weitergehen sollte. Auf keinen Fall sollte der Hauptfigur etwas zustoßen. Niemals hätte sie protestiert, wenn der Inhalt allzu schematisch aufgebaut war. Die Geschichten sollten ja gewissermaßen einem heimlichen Muster folgen. Es war nicht schlimm, wenn es ausging wie am Abend zuvor. Andererseits gab es genügend Erfahrungen, dass ein Film oder eine geschriebene Geschichte, anders verläuft, als vom Kind gewünscht, ja, sogar mit Tränen endet. Lebenserfahrung, die auch dazu verleiten kann, endlich selbst den Weltlauf mitlenken zu wollen. Und wissen, was ein Scheitern bedeutet.

Heute würde Henri Bergson sich wahrscheinlich angesichts der Leistungen der KI etwas anders fassen. Aber im Prinzip lohnt es sich, vom „vitalen“ Kern auszugehen, der die Geschichte trägt. Und normalerweise beeinflusst kein Rezipient den Verlauf, die live erzählende Person allerdings ist ein Seismograph, der durchaus die Kräfte spürt, die wachgerufen werden.

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Eine andere Idee, der nachzugehen wäre, hat mit dem Witz zu tun, bzw. unserer Fähigkeit, einen Witz zu verstehen oder gar wirkungsvoll (auf die Pointe hin) zu konstruieren. Das oft geradezu explosive Lachen über einen Witz wird ja in einem winzigen Moment ausgelöst, der einem Kurzschluss gleicht oder vielmehr dem Gegenteil: ein Kontakt schließt sich, ein Zusammenhang blitzt auf, ein Netz ist geschaltet. Auf einfachste Weise, wenn es sich um einen Wortwitz handelt, ein absichtlich herbeigeführtes Missverständnis, um eine Doppeldeutigkeit, die sich auflöst, und zwar durch die aktive Rück- oder Umdeutung. Es handelt sich nicht einfach um 2 Wörter, sondern um Bedeutungszusammenhänge, die aufgerufen werden. Eine allzulange Leitung vernichtet den Witz, nötige Erklärungen müssten „undercover“ vorausgeschickt werden. Denn der Funken der Pointe muss unmittelbar zünden. Ein Spiel mit dem Fassungsvermögen und dem aktiven Erlebnishorizont der beteiligten Menschen.

In dem Exemplar der ZEIT (15.Dezember) mit dem Schnabel-Artikel gibt es tatsächlich auf Seite 57 ein kleine Kolumne von Lars Weisbrod, wie hilflos das ChatGPT mit Humor umgeht, bei der Erfindung von Witzen etwa.

Anregend auf jeden Fall: hier. Man kann aber auch mal bei heise online vorbeischauen und den Schlussabsatz zum Ausgangspunkt nehmen:

ChatGPT stellt auch keine Nachfragen, wie der Nutzer etwas gemeint haben könnte – selbst wenn mehr Informationen seitens des Nutzers die Antwort stark verbessern würden. Die KI plappert einfach drauf los und versucht die aus Sicht der Maschine bestmögliche Antwort zu geben.

Schließlich hat der aktuelle Prototyp nur Daten bis 2021. Aktuelle Fragen kann er damit nicht beantworten.

(Ende der vorläufigen Recherche)

P.S. Einer Anregung folge ich jedenfalls: ich untersuche, inwiefern ich bei Henri Bergson fündig werde, was das Wesen des Witzes ausmacht.

Siehe auch hier im Blog u.a. : http://s128739886.online.de/lachen-worueber / http://s128739886.online.de/nicht-lachen-wollen / http://s128739886.online.de/lachen-mit-schopenhauer / http://s128739886.online.de/wieso-und-worueber-lachte-immanuel-kant / http://s128739886.online.de/comedians /

Zudem sollte ich im Fall der Lyrik überprüfen, warum die Interpretation aus kundiger Hand wesentlich ist. Allein wenn es um einen Satz geht wie diesen:  „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ Mörike. (Scheint es so oder scheint letztlich doch die Lampe?) Und dann, wenn man das ganze Gedicht liest: wie harmlos dürfte es denn aufgefasst werden?

Sollen wir uns aus dem gleichen Stoff von ChatGPT etwa ein tiefsinnigeres Gedicht verfertigen lassen?

Wenn man sich Sorge macht, dass die KI eines Tages das Leben (des Geistes) vollständig simulieren kann, aber wohl kaum die lebendige Situation, in der ein Mensch oder die Gruppe explosionsartig – ohne Sinn und Verstand – in Lachen ausbricht: so kann man bei Bergson anknüpfen dort, wo er darstellt, dass die  Komik immer aus der Erfahrung einer Mechanisierung resultiert. Woraus man folgern könnte, dass die KI (als eine Form der Mechanisierung) gerade auf diesem Auge blind ist.

Ich zitiere im folgenden ohne weitere Erläuterung einfach das, was mir genügend Anregung zu bieten scheint. Ohne damit eine ausreichende Zusammenfassung der Gedankengänge Bergsons geliefert zu haben.

Bergson Seite 36f

Und nun zur Gesellschaft. Da wir in ihr und durch sie leben, können wir sie nicht anders denn als lebendes Wesen behandeln. Komisch ist folglich ein Bild, wenn es uns an eine verkleidete Gesellschaft, eine soziale Maskerade denken läßt. Ein solches Bild entsteht, sobald wir an der bewegten Oberfläche der Gesellschaft etwas Lebloses, Fixfertiges, Fabriziertes bemerken. Wieder diese Steifheit, die so gar nicht zu der dem Leben innewohnenden geschmeidigen Grazie paßt. Im formellen Teil des Gesellschaftslebens muß demnach eine latente Komik stecken, die nur auf eine Gelegenheit zum Ausdruck wartet. Man kann sagen, das Zeremoniell sei für das soziale Gefüge, was das Kleid für den individuellen Körper: Es wirkt feierlich, solange es sich mit dem ernsthaften Zweck, dem es nach überliefertem Brauch zu dienen hat, zu identifizieren scheint; es verliert seine Feierlichkeit in dem Augenblick, da unsere Phantasie es von diesem Zweck trennt. Damit eine Zeremonie komisch werde, muß sich also unsere Aufmerksamkeit nur auf das richten, was zeremoniell an ihr ist. Wir sollen nicht an ihre Materie, wie die Philosophen sagen, sondern nur an ihre Form denken. (…)

Auch hier steigert sich die Komik, je mehr sie sich ihrer Quelle nähert. Wir müssen von der abgeleiteten zur ursprünglichen Vorstellung, von der Maskerade zum Mechanismus zurückkehren. Ein solches Bild vermittelt uns schon allein die abgezirkelte Form jedes Zeremoniells. Vom Augenblick an, da wir den ernsten Sinn einer Feierlichkeit oder Zeremonie vergessen, haben wir den Eindruck, die Teilnehmer bewegen sich wie Marionetten. Ihre Beweglichkeit ist auf die Unbeweglichkeit einer Formel abgestimmt. Es ist Automatismus. Vollkommen aber ist der Automatismus eines Beamten, der wie eine Maschine funktioniert, oder die Seelenlosigkeit eines Verwaltungsreglements. das mit unerbittlichems Zwang angewendet wird und das sich für ein Naturgesetz hält. Vor einigen Jahren ging ein großer Postdampfer bei Dieppe unter. Einige Passagiere retteten sich mit letzter Not in ein Boot. Die Zollbeamten, die ihnen mutig zu Hilfe geeilt waren, fragten sie als erstes, ob sie nichts zu verzollen hätten… Ähnlich, wenn auch subtiler, wirkt auf mich der Satz eines Abgeordneten, der nach einem in der Eisenbahn begangenen Verbrechen beim Minister interpellierte: «Nachdem der Mörder sein Opfer umgebracht hatte, muß er entgegen den geltenden Vorschriften rückwärts vom Zug abgesprungen sein.»

Seite 38

(Molière) Soweit hier übrigens die komische Phantasie zu gehen scheint, die Wirklichkeit bringt es zuweilen fertig, sie zu übertreffen. Einem zeitgenössischen, äußerst streitbaren  Philosophen wurde vorgehalten, seine makellos gezogenen Schlüsse hätten die Erfahrung gegen sich, worauf er die Diskussion kurzerhand mit dem Satz beendete: «Die Erfahrung hat unrecht.» Die Idee, daß man das Leben durch Vorschriften regeln könne, ist weiter verbreitet, als man denkt. Sie ist in ihrer Art natürlich, wiewohl wir sie zuvor künstlich zerlegt und wieder zusammengesetzt haben. Sie liefert uns gewissermaßen die Quintessenz der Pedanterie, und diese ist im Grunde nichts anderes als Kunst, die klüger sein will als die Natur.

So verfeinert sich der gleiche Effekt immer mehr – vom Eindruck einer künstlichen Mechanisierung des menschlichen Körpers bis zur Vorstellung von einer Verdrängung des Natürlichen durch das Künstliche. (…)

Seite 39

Quelle Henri Bergson: Das Lachen / Ein Essay über die Bedeutung des Komischen / Im Verlag der Arche in Zürich 1972 / Aus dem Französischen übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter

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Nachtrag

Sehr empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang der aktuelle Blogbeitrag von Arno Lücker: HIER. Und auch da kommt das Lachen nicht zu kurz. Zitat:

Seit wenigen Wochen haben viele Menschen Spaß an „ChatGPT“. Ein Chat-Roboter, der scheinbar auf alles eine Antwort hat – und mehr noch: selbst Gedichte, kleine Geschichten, Geburtstagsreden, Rätsel und so weiter verfassen kann. Damit lässt sich durchaus mal zwei Stunden Spaß haben (verbringt aber dadurch weitere zwei Stunden seines Tages vor einem Bildschirm). Dabei funktioniert das Ganze nicht nur auf Englisch, sondern auch beispielsweise (allerdings wesentlich fehleranfälliger) auf Deutsch. Man gibt einfach eine „Arbeitsanweisung“ in ein Eingabefeld – und relativ schnell erscheint ein Text; grafisch wie „getippt“ gestaltet, vermutlich, damit dieses Spielzeug ganz typisch den Anschein von (genial schneller) Menschlichkeit vermittelt.

Nicht nur im Frühling

Was aufs neue zu lesen und zu hören wäre …

Was war denn im April 1968? – „Die Amsel“

Ging es überhaupt um das Tier? Oder um einen mystischen Zustand?

http://www.janreichow.de/sdg_abgehoert_vogelstimmen_1992.htm

Die CDs sind hier im Regal immer noch greifbar, und viele andere sind dazugekommen. Aber im Radio war es wohl in einer Musikreihe die erste Vogelstimmensendung dieses Umfangs.

dies aber ist wirklich neu: 14.10.22

oder eine Hoffnung auf Erneuerung. Wie im folgenden Hörspiel, der alten Erzählung, kennengelernt im April 1968 – jetzt: HIER

Hörspiel „Die Amsel“ Von Robert Musil

Und als Ausklang – selber lesen:

https://taz.de/Was-singen-die-Amseln/!764970/ hier (Autor: Cord Riechelmann) oder Vinciane Despret:

Der Ethnologe Daniel Fabre sagte über seinen Beruf, er interessiere sich für das, was die Menschen am Schlafen hindere. Der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro gibt eine ähnliche Definition von der Anthroplogie: Sie sei das Studium varierender Dringlichkeiten. Weiter schreibt er, »[w]enn es etwas gibt, das der Anthropologie von Rechts wegen zukommt, dann ist es nicht die Aufgabe, die Welt des anderen zu erklären, das heißt zu explizieren, sondern die, unsere Welt zu vervielfachen«. Die Verhaltensforscher, die Tiere beobachten und analysieren, wie es vor ihnen die Naturforscher getan haben, verfolgen meiner Meinung nach meist ein vergleichbares Vorhaben: Sie wollen dokumentieren und die Seinsweisen vermehren, sprich »die Weisen zu empfinden, zu fühlen, Sinn zu geben und den Dingen eine Dringlichkeit zu verleihen«. Wenn der Verhaltensforscher Marc Bekoff sagt, jedes Tier sei für sich genommen eine Art, die Welt zu erfahren, meint er nichts anderes. Natürlich können die Wissenschaftler nicht auf Erklärungen verzichten, doch das Erklären kann darin bestehen, komplexe Geschichten, wahre Abenteuererzählungen über das Leben und die hartnäckig von ihm erprobten Möglichkeiten zu ersinnen; es kann die Probleme zu erhellen versuchen, für die dieses oder jenes Tier eine Lösung gefunden hat, oder aber nach einer allgemeingültigen Patenttheorie streben. Kurzum, es gibt Erklärungen, die die Welten vervielfachen und unzählige Seinsweisen berücksichtigen, und es gibt solche, die sie bändigen und auf ein paar Grundprinzipien beschränken.

Die Amsel hatte zu singen begonnen. Etwas Dringliches beschäftigte sie, und in diesem Moment zählte nichts anderes als das, was sie um jeden Preis zu Gehör bringen wollte.

Quelle Vinciane Despret: Wie der Vogel wohnt (aus dem Französ. von Nivola Denis) Matthes & Seitz Berlin 2022 (Zitat Seite 14f)

Elisabeth von Thadden schrieb darüber (ZEIT Literatur Oktober 2022 Seite 34) :

Die Biologie ist hier nur ein Bezugspunkt unter anderem. Vinciane Desprez sucht nicht nach universellen Gesetzmäßigkeiten des Vogelverhaltens, sie möchte wissen, wie Vögel durch Menschen verstanden wurden: Warum setzt sich der Begriff des Territoriums von Vögeln erst im 17. Jahrhundert durch, im Zuge der Entstehung des Eigentum-Begriffs in England? Warum entwickelt Darwin ein Faible für des dramatische Potenzial des männlichen Vogel-Wettkampfs um ein Revier, und warum wundert ihn der Gesang kaum? Wie kommt es, dass der Soziologe Zygmunt Bauman starke Thesen zur Gesellschaftlichkeit der Vögel hatte, aber keine beobachtende Neugier für deren faktisches Verhalten? Umd warum verknüpft der Philosoph Michel Serres das Verhalten der Tiere mit dem Naturrecht, um die Vögel wie kleinbürgerliche Besitzfetischisten erscheinen zu lassen?

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Heute 16.10.22 – Gehört / gesehen: MAHLER (ziemlich kritisch) danach gefesselt von A bis Z durch: WESTART (warum ist eine solche Sendung um so viel packender als ein Mahler-Film oder ein abgefilmtes Orchester? Oder gar ein „Lied von der Erde“ mit Klaus Florian Vogt???) siehe HIER Westart 15.10.2022 29:39 Min.,erfügbar bis 15.10.2023 WDRu Besuch im Von der Heydt-Museum „Die erste der drei aktuellen Ausstellungen mit dem Titel ‚ZERO, Pop und Minimal‘ zeigt provokative Kunst der 60er und 70er Jahre. Die zweite Ausstellung ‚Fremd sind wir uns selbst‘ visualisiert anhand von Porträts aus über 100 Jahren die Spannung zwischen Außen- und Selbstwahrnehmung. Und die gerade eröffnete Ausstellung ‚Eine neue Kunst‘ stellt Fotografie und impressionistische Malerei nebeneinander – zwei Genres, die sich nah und doch erstaunlich fremd sind.“

Kennen Sie Stéphane Mandelbaum? Da wir gerade bei der Kunst sind, möchte ich eine tolle Empfehlung von Berthold Seliger festhalten, die einer wichtigen Frankfurter Ausstellung gilt. In seinem Artikel macht ein Link auch das Booklet zugänglich; darin wiederum findet man u.a. einen lesenswerter Artikel von Diedrich Diederichsen. Alldies also auf diesem Wege online:

https://www.jungewelt.de/artikel/436713.kunst-wimmelbilder-der-halbwelt.html

Memorandum zweier Filme zur Moderne

Oder: was ich aus ARTE memorieren will

Kalter Sandsturm

Ich liebe es, Heterogenes in Zusammenhang zu bringen oder einfach nebeneinander zu setzen. Das muss nicht mit langen Kommentaren verbunden sein, es geschieht im Kopf und spielt im täglichen Leben eine permanente Rolle. Man hört eine Musik, die durch Leichtigkeit bezaubert, oder auch durch feierliche Gedankenentwicklung, man genießt einen „sinnfreien“ Urlaub und liest zugleich eine Analyse der Pest und des Krieges, geschrieben vor 2450 Jahren und denkt dabei unwillkürlich an die gegenwärtigen Krisen, die ähnlich ins Leere laufen. Oder auch nicht. Man kann und soll sich nicht „adäquat“ verhalten (als ob das möglich wäre!), sondern (vielleicht) die eigenen Gedanken entwickeln oder schärfen. Der Kampf gegen eine irregeleitete Spiritualität in Indien ist uns so nah oder fern wie die fatale Rolle der Kirche in Irland, wenn man James Joyce glauben will – und ernsthaft seiner grandiosen Mystik einer neuen „Odyssee“ durch die Straßen Dublins folgt. Wenn dann von Nationalimus die Rede ist. Zugleich von der Moderne, entwickelt im fremdartig mondänen Milieu der Weltstadt Triest. Oder: in Indien ein mittelalterlicher, betrügerisch ausgenutzter Aberglauben – im Kontrast zur Idee des Rationalismus, angewandt in abgelegenen Dörfern ebenso wie in den Slums von Mumbai. Dieser Artikel entsteht also im Kopf und betrifft a) Indischen Rationalismus in der heutigen Lebenspraxis und b) Irisch-europäische Moderne nach 100 Jahren.

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Indien ist das Land der Spiritualität – doch es gibt Widerstand gegen gefährlichen Aberglauben. Gefahren reichen von harmlosen Trickbetrügereien bis zu schweren seelischen Misshandlungen und ruinöser Abhängigkeit. Die Rationalisten, eine Organisation von fast 10.000 Mitgliedern, fahren deshalb mit ihrem Science-Van im Dienst der Wissenschaft durch das ganze Land und klären auf. Indien – Geburtsland des Hinduismus und Buddhismus, das Land der Spiritualität. Heiler und Gurus, sogenannte Babas, Tausende im ganzen Land und einige berühmt und reich, berufen sich auf höhere Mächte. Doch es gibt Widerstand gegen den gefährlichen Aberglauben – und die Geschäftemacherei mit der Hoffnung. Die Rationalisten haben sich zusammengeschlossen, mit ihrem Science-Van fahren sie im Dienst der Wissenschaft durch das ganze Land und klären auf. Rationalist zu sein ist eine Weltanschauung, eine Haltung zum Leben. Rationalisten glauben nicht an Götter und Geister, sondern an Vernunft und Wissenschaft. Die Organisation hat fast 10.000 Mitglieder, alle arbeiten ehrenamtlich, sind aufgeklärt und arbeiten als Anwälte, Lehrer, Handwerker oder Hochschulprofessoren. Von harmlosen Trickbetrügereien bis zu schweren seelischen Misshandlungen und ruinöser Abhängigkeit reicht das Spektrum der Opfer. Frauen sind durch ihre minderwertige Position in der Familie und auch im gesellschaftlichen Leben dankbare Opfer, mangelnde Bildung ist fast immer der Grund dafür, dass die Menschen den Vorführungen oder Sitzungen der Gurus blind vertrauen. Das Roadmovie zeigt eine beeindruckende Reise mit mehreren Rationalisten, das Kamerateam ist mit ihnen in den Slums von Mumbai sowie auf dem Land unterwegs, sieht Erschreckendes und auch Positives. Reportage von Holger Riedel (D/F 2022, 32 Min)

Video auf Youtube verfügbar bis zum 16/12/2022 / ODER (danach?) https://www.fernsehserien.de/arte-360grad-reportage/folgen/599-der-science-van-on-tour-indien-kampf-den-scharlatanen-1581860 hier

Nachtrag 15. Juni 2023 DIE ZEIT Seite 29 BLINDER GLAUBE In Indien ist Okkultismus weitverbreitet – und Mittel zur Ausbeutung. Unterwegs mit einer Gruppe, die dagegen kämpft / Von Sonia Phalnikar

s.a. hierIndian Rationalist Association“

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ARTE FILM

100 Jahre Ulysses / James Joyce’ Meisterwerk

Vor 100 Jahren wurde James Joyce‘ „Ulysses“ erstmals in einer kleinen Buchhandlung in Paris veröffentlicht. Das Werk, an dem Joyce sieben Jahre lang schrieb, sollte für die Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts neue Maßstäbe setzen. Zunächst aufgrund seines Schockfaktors in Amerika und Großbritannien verboten, hat kein anderer Roman dieser Epoche eine ähnliche Tragweite.

Kein anderer Roman des 20. Jahrhunderts hat eine ähnlich imposante Tragweite: Joyce‘ „Ulysses“. Inspiriert von Homers „Odyssee“ beschreibt Joyce detailreich einen Tag von Leopold Bloom im verarmten Dublin. Seine „Odyssee der Gosse“ ist ein offener Angriff auf den göttlichen Anstand, geprägt von Chaos und Obszönität. Weltweit als Meisterwerk des Modernismus gefeiert, wurde „Ulysses“ in Amerika und Großbritannien wegen seines Schockfaktors zunächst verboten.
In Irland wird Joyce des Verrats beschuldigt, weil er mit tief verankerten Traditionen der irisch-katholischen Kirche bricht. Dabei geht aus jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen hervor, dass sein Krieg gegen die Kirche durch ein tiefes Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Volk und seiner Kultur motiviert war. „Ulysses“ kann durchaus als prophetischer Text gelten, der eine bessere Zukunft nicht nur für Irland, sondern auch für Europa und die Welt vorzeichnen wollte. Joyces beispielloses Genie inspirierte seither Künstler und Künstlerinnen wie Eileen Gray, Sergej Eisenstein, Man Ray und Bob Dylan.
Nach der Vorlage des Historikers und Joyce-Experten Frank Callanan und unter Regie von Ruán Magan bringt „100 Jahre Ulysses“, uns eines der fesselndsten und brisantesten Bücher der literarischen Moderne näher. Interviews mit Schriftstellern und Wissenschaftlern wie Eimear McBride, Paul Muldoon, John McCourt und Margaret O’Callaghan sowie aufschlussreiches Archivmaterial und Werke von Jess Tobin, Brian Lalor und Holly Pereira bereichern die Dokumentation. In Kombination mit einem eindrücklichen Soundrack von Natasa Paulberg wird „100 Jahre Ulysses“ zu einer erkenntnisreichen Reise in das Herz dieses maßgeblichen und überaus aktuellen Romans.

Regie : Ruán Magan / Land : Irland / Jahr : 2022 / Herkunft : ARTE / RTE

Abrufbar bis 19.12.2022 HIER

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Wie geht’s weiter? Fang an mit Wikipedia hier / Text lesen hier beginnen / auch den folgenden Film (1967) beachten hier bzw. auf Youtube ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=h7xAM_eXuuk hier Kapitel I ? bis etwa 8:00  /  ab 11:39 Schule Kapitel „Nestor“ im Buch Seite 35 / dann Kapitel II ? (Katze) im Buch Seite 77  Kapitel „Kalypso“ / Briefe Seite 87 / ab 21:35 Kutschfahrt Buch Seite 123 „Hades“  25:50 Ankunft Friedhof Sarg 27:38 / Setzerei  Redaktion 27:58 Buch Seite 164ff  – – –  neue Leseerfahrung: Lästrygonen (hier) Buch Seite 210 und weiter in „Scylla und Charybdis“ National-Bibliothek Buch Seite 259 du musst schnell und wach lesen (zum Gedankenstrom werden) hatte ich mir gesagt, / ACHTUNG: zur Motivation Wollschläger lesen hören! hier! / aber in diesem Skakespeare-Kapitel verstehe ich gar nichts. Vielleicht mehr im nächsten: „Simplegaden“ – „Irrfelsen“, Zitat: „In 19 Episoden werden Erlebnisse unterschiedlicher Bürger von Dublin erzählt, teilweise überschneiden und durchdringen sich diese Begebenheiten wie auch die Bewusstseinsströme der Protagonisten.“ Aha! Buch Seite 305. „Das Kapitel widmet sich den anderen Bürgern Dublins und ihrem Alltag.“ – – –  SIRENEN-Kapitel Buch Seite 355. „Bloom speist mit Stephens Onkel Richie Goulding im Ormond-Hotel, während Blazes Boylan, der gerade auf dem Weg zu Molly ist, vorbeigeht. Blooms Gedanken sind von seiner Eifersucht geprägt, weshalb er seine Umwelt und auch die Reize der Bardamen Miss Douce und Miss Kennedys nur bedingt wahrnimmt. – In diesem Kapitel steht die Musik im Vorder- und Hintergrund…“

Oder ein anderer (Film-)Ansatz: „Ulysses“ (1987)

Written and adapted by Nigel Wattis / Gillian Greenwood / Leopold Bloom – David Suchet / Stephen Dedalus – John Lynch / Molly Bloom – Sorcha Cusack / James Joyce – Bryan Murray / Citizen – T.P. McKenna / Narrator – Tony Doyle / Joe Hynes – Dermot Crowley /  Frank Budgen – James Aubrey / Bella Cohen – Patricia Quinn / Mey Dedalus – Patricia Mort / Nora Joyce – Deirdra Morris / Zoe Higgins – Francesca Folan with ANTHONy BURGESS  Novelist / CLIVVE HART Professor of English, Essex University / Music ALAN BENSON / Soprano MARY HEGARTY / Produce and directed by NIGEL WATTIS

Die deutschen Untertitel sind haarsträubend.