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Iran: allein durch Shadjarians Stimme

Wie die iranische Kultur weiterlebt

„The Voice of Iran: Mohammad Reza Shajarian – The Copenhagen Concert 2002“

(World Premiere 18. August 2006 Kollektiv Film 2002 Judith Stage)

Ich komme darauf, weil ich kürzlich in der WDR3-Sendung „KlassikForum“ Navid Kermani als Gast gehört habe. Daraufhin habe ich einen großen Auftritt des Sängers Shadjarian in YouTube gesucht…

Anfangstext:

1:04:15 Zwischentext Shadjarian:

Unser Gesang ist nah verwandt mit dem Gesang der Nachtigall und des Kanarienvogels. Unsere Ornamente sind so wie die der Nachtigall in den Gebirgstälern. Wir benutzen dieselben Techniken, aber mit der Physik unserer Stimmbänder. Ich habe zum großen Teil  mit der Nachtigallen-Stimme gearbeitet, hatte auch viele Kanarienvögel. Sie sangen für mich, und ich behielt ihre Stimme in den Ohren. Wenn ich mich in der Natur erging, lauschte ich immer auf die Stimmen der Vögel. Unsere Musik ist eine melodische Sprache, welche eine Bedeutung hat. Ist aus Sätzen gemacht, die eine Bedeutung haben. Die Motive ähneln den Wörtern der persischen Sprache. Wenn wir improvisieren, behandeln wir die Musik als eine Sprache, singen oder spielen wir, indem wir diese Motive benutzen, und mit der Symmetrie der Improvisation erschaffen wir ein Ganzes. Ein musikalisches Bauwerk (Gipfel). Wenn jemand ernstlich diese Musik kennen (lernen) will, muss er von Kind an damit gelebt habe und sie lernen wie eine Sprache. Danach hat man viel Freude damit, sie hat soviel Ausdrucksweisen und so einzigartige Qualitäten. Je besser man sie kennt, desto mehr Freude hat man daran. Es ist wie mit Hafis‘ Gedichten: Hafis benutzt dieselben Worte wie die anderen, aber er ändert ihre Ordnung und kombiniert sie in einer neuen Weise, die ihnen eine Tiefe gibt, die Himmel und Erde zusammenfügt. Der Weg, auf dem man sie zusammenbringt, ruft eine neue Bedeutung ins Leben. Unsere Musik ist wie die Dichtung des Hafis. (1:06:30)

Und wer ist Navid Kermani? Siehe Wikipedia hier

Was ist der WDR? der Westdeutsche Rundfunk Köln, Fernsehen und Radio, außerdem Konzertveranstalter in Köln und im ganzen Land, und was ist WDR 3 ? Ein Beispiel vom 25.11.23:

nur zum Lesen anklicken, dann ⇓⇓⇓

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/klassik-forum/audio-leidenschaftlich-und-reflektiert—kermani-im-klassik-forum-100.html HIER ab 37:00 nach wunderschönem iranischen Gesang und Nay-Improvisation folgt ein Gespräch über JR und seine WDR-Arbeit. KEi: Moderatorin Katharina Eickhoff, NK: Navid Kermani als Gast, (Redakteurin: Susanne Ockelmann). Der Wortlaut:

KEi Ja, klassische, persische Musik mit Mohammed Reza Shadjarian, das war der Sänger, und die Nay, die persische Flöte, sie spielte Jamshid Andalibi, und das war ein Konzert, Herr Kermani, da waren Sie drin. NK Ja, dazu kam ich über Menschern… das war – glaube ich – das erste persische Konzert in Köln, damals organisiert vom WDR, der ja auch immer wieder über die Jahre tolle Sachen gemacht, das war Jan Reichow, der damalige Redakteur, der diese überhaupt diese Ethnomusik … ach, jetzt sage ich schon… Weltmusik! nach Köln gebracht hat, das war – soweit ich weiß – soweit ich mich erinnere – das erste Konzert einer ganzen Serie, die bis heute – wenn heute in der Philharmonie indische, persische Musik spielt, ich glaube, das haben wir alles dem Jan Reichow zu verdanken, der diesen Enthusiasmus hatte, der diese ganze Welt ins deutsche Radio gebracht hat, und das ist ja immer so, man kann … wenn man sich so begeistert für irgendwas, so Dinge macht und über Nacht telefoniert und Tage sich beschäftigt – das wird einem ja nicht in der Gegenwart gedankt, dass einem dann irgendjemand sagt: super, das haben Sie gut gemacht und ich weiß nicht, 20 Jahre später KEi da sitzt der Navid KermaniNK … und hören diese Musik und erinnern uns immer noch, was für ein Wahnsinn – ich kann mich erinnern, wie beglückt die Iraner in Köln waren, dass ihre Musik in so einem schönen, würdigen Rahmen gespielt wird – klar, das waren … meine Eltern … für mich – zum ersten Mal ich, als einer, der in Deutschland geboren ist, hab zum ersten Mal klassische Musik in Deutschland gehört, das war für viele, viele, und auch für Iraner in Deutschland absolut prägend, und es hat vielen Deutschen, Nur-Deutschen, wirklich die Ohren geöffnet, für die Welt! und heute ist das ja fast normal, dass man in der Philharmonie von Weltmusik hört (wie das so genannt wird). NK Ich wollte noch fragen: wie hat das eigentlich für Sie geklungen? KEi Für mich – sehr intensiv – ich hab mich gefragt, was der eigentlich singt, ich versteh ihn natürlich nicht, ist das eine Dichtung, die schon da war? NK …klassische persische Gedichte, so wie Hafis, die ganzen großen klassischen Dichter… KEi wovon hat er denn gesungen? NK oh das weiß ich auch auch nicht so, es ist nicht so, dass ich das sofort verstehe, klassische Dichtung 14. Jahrhundert, da muss ich schon sehr genau hinhören, aber wenn ich sage: da wird von der Sehnsucht gesprochen und von der Liebe, dann liege ich eigentlich immer richtig. (lacht) KEi Ja, könnte passen! Navid Kermani ist zu Gast hier im KlassikForum WDR3. (39:42)

1987 Köln und Bonn 2006

1987 im Gürzenich-Saal Köln (Vorgespräch)

v.l.n.r.:  iranischer Helfer, der Sänger Mohammad Reza Shadjarian, Kameramann und Initiator Ali Hedjrat, Tonmeister Martin Frobeen, Redakteur und Produzent Jan Reichow

Wikipedia:

Mohammad-Reza Shajarian (Persian:محمدرضا شجريان;Persian pronunciation:[mohæmːædɾeˈzɒːʃædʒæɾiˈɒːn], 23 September 1940 – 8 October 2020) was an Iranian singer and master (Ostad) of Persian traditional music. He was also known for his skills in Persian calligraphy and humanitarian activities. Shajarian started his singing career in 1959 at Radio Khorasan, rising to prominence in the 1960s with his distinct singing style. His main teachers were Ahmad Ebadi, Esmaeil Mehrtash, Abdollah Davami, and Nour-Ali Boroumand. He also learned the vocal styles of singers from previous generations, including Reza Gholi Mirza Zelli, Fariborz Manouchehri, Ghamar Molouk Vaziri, Eghbal Azar, and Taj Isfahani. He has cited legendary Persian tar soloist Jalil Shahnaz as highly influential to his development, indicating that he has often tried to mimic Shahnaz’s playing style in his singing.

Shajarian had collaborated with musicians such as Parviz Meshkatian, Mohammad Reza Lotfi, Hossein Alizadeh, Faramarz Payvar, Dariush Pirniakan, and Sohrab Pournazeri. He was recognized as a skilled singer in the challenging traditional Dastgah style. In 1999, UNESCO in France presented him with the Picasso Award and in 2006 with the UNESCO Mozart Medal. In 2017, Los Angeles Times cited him as the „Greatest living maestro of Persian classical music“.

His works also cover some songs of Iranian ethnic music, including Mazandarani music, Azeri music, Kurdish music and Lur music.

After coming out in support of the Iranian Green Movement and criticizing the Iranian government, he was banned from holding concerts and releasing music.

Was blieb?

https://www.elbphilharmonie.de/de/programm/homayoun-shajarian/20872 hier

(Zur Erinnerung, am 6.12.2023 JR)

Iranischer Protest

Man kann nicht die Augen zumachen!

https://www.deutschlandfunk.de/bekannter-rapper-salehi-wird-offenbar-gefoltert-100.html Hier

Das war gestern.

Und wieder kamen all die frühen, hoffnungsvollen Erinnerungen zurück. Die erste tiefsitzende, ausgelöst durch die Nachtmusik im WDR, eine der ersten von Alfred Krings eingeführten Nachtmusiken überhaupt, mit dem Orientalisten Prof.Dr. Eckhard Neubauer als Moderator, mein Jahrgang, und soviel weiter als ich, der ich gerade erst mit dem Studium abgeschlossen hatte und seit drei Jahren (frei) beim WDR arbeitete. Offenbar habe ich ihm meine frisch gedruckte Dissertation mitgegeben. Nie habe ich Khatereh Parvaneh vergessen.

←1972-1998 →

Übersetzt von Vinzenz Rosenzweig von Schwannau – aus heutiger Sicht: einfach nur hölzern. Deshalb hier nochmal das von Katereh Parvaneh damals im WDR aufgenommene, rätselhafte Ghasel von Hafis in der Übersetzung von Eckhard Neubauer

1 Wir sorglos Trunkenen, unsere Herzen haben wir uns rauben lassen,

Zum Vertrauten von Liebe und Weinpokal sind wir geworden.

2 Wieviel reinigende Bogenschüsse haben wir hinnehmen müssen,

Seit unser Leben von den Brauen unserer Liebsten abhängt.

3 Du, meine Rose, hast dir erst gestern Nacht mit dem Wein ein rotes Mal auf die Brust gebrannt,

Während wir, Pfingstrosen gleich, seit unserer Geburt dieses Mal auf der Brust tragen.

4 Alter Schankwirt, sollte dich unsere Reue auch befremdet haben:

Trübe den Wein nicht, halte ihn rein; dich um Verzeihung zu bitten stehen wir vor dir.

5 Und du, Wegweiser des rechten Wegs, deine Mühe ist beendet,

Doch habe ein Einsehen: zu tief sind wir gefallen,

6 Sieh nicht nur den tulpenfarbenen Wein und den Pokal, der vor uns steht,

Sieh auch das Mal in unseren blutenden Herzen.

7 Was sind das für Farben, was für Träume, Hafis!

Male kein falsches Bild – sind wir doch immer noch die alten Spießer!

Khatereh Parvaneh in den 1970er Jahren

Foto: Wikipedia hier

HEUTE: die ZEIT lesen (Navid Kermani und Fariba Vafi)

  DIE ZEIT 3. Nov.22

Kermani: Solidarität mit Iran! / Vafi: Schutz durch Anonymität in Teheran

 

P.S. 16.11.22 Lanz-Sendung von gestern (unbedingt hören!)

Screenshot Lanz-Sendung ZDF

HIER Iran-Expertin Gilda Sahebi ab 54:54 ML „Das Regime spricht zum erstenmal offen von Krieg!“ bis 1:14:31

Mit Original-Aufnahmen, Zeugnissen aus Teheran, etwa ein Beispiel, wie jemand als „Täter“ dingfest gemacht wird, wie Einschüchterung funktioniert, siehe 1:01:10 / Vorweg zur Info, was ein Basidischi ist, die Rolle der Milizen, siehe hier.

Eine Form des Protestes: den Mullahs im Vorübereilen die Turbane vom Kopf zu schlagen, siehe 01:02:33 „Geistliche sind Teil des Systems.“

8. Dezember 2022 Professionelle Analyse zum gegenwärtigen Stand der Proteste (→ Experte Ali Vaez, vorweg mehr über ihn und sein Umfeld hier)

Zitate

Zu Ali Chamenei

Seine Sicht ist es immer gewesen, dass es keine Zugeständnisse unter Druck geben sollte, denn das würde nur Anreize für noch mehr Druck schaffen. Das Problem mit ihm ist, dass er auch keine Zugeständnisse macht, nachdem der Druck nachgelassen hat. Daher hat sich die Islamische Republik nicht wirklich entwickelt, während sich die iranische Gesellschaft fundamental verändert hat. Das ist der Grund dafür, dass das Regime jetzt in einer Sackgasse steckt.

Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung besteht aus der Mittelschicht, die zunehmend auch mittleren Alters ist. Diese Menschen zögern, das wenige, das sie haben, auch noch zu verlieren, für eine unbekannte, unbestimmte Zukunft. Denn es gibt keine praktikable Alternative zum Regime, die Protestbewegung hat keine Struktur und keine Führung. Innerhalb des Landes ist jeder, der eine Führungsrolle in der Opposition übernehmen könnte, im Gefängnis. Und die Opposition im Exil ist zerstritten. Zur existenziellen Gefah für das System würden die gegenwärtigen Proteste erst werden, wenn die Mittelschicht sich anzuschließen begänne, mit Streiks oder Straßendemonstrationen.

Es besteht auch die Gefahr, dass ein belagertes Regime Vorteile in einer Eskalation von Spannungen in der Region sehen könnte – und für die eigene Bevölkerung gewissermaßen ein anderes Thema zu setzen.

Was der Westen tun könnte, ist begrenzt, besonders wenn es um Druck geht. Aber es ist wichtig, Solidarität mit dem iranischen Volk auszudrücken. Die Brutalität ans Licht zu bringen, mit der das iranische Regime gegen sein eigenes Volk vorgeht – um den Preis dafür zu erhöhen. Es ist wichtig, in internationalen Foren Iran verantwortlich zu machen. Und man muss sicherstellen, dass das iranische Volk Zugang zur Informationstechnologie hat, um sich zu optimieren und die internationale öffentliche Meinung zu mobilisieren.

QUELLE DIE ZEIT 8. Dez.22 Seite 11 »Das Regime hat noch den Willen zu kämpfen« Erst wenn im Iran die Mittelschicht rebellieren würde, könnte die Diktatur stürzem. Ein Gespräch mit dem Mittelost-Kenner Ali Vaez / Interview: Jan Roß / ONLINE: HIER

ZDF HEUTE JOURNAL 8. Dez.2022

https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/iran-proteste-hinrichtung-102.html HIER

Bericht der Deutschen Welle https://www.dw.com/de/iran-demonstrant-wegen-krieges-gegen-gott-hingerichtet/a-64031520 HIER

DIE ZEIT 15. Dez. 2022

Online HIER Ein solcher Artikel sollte nicht hinter einer Zahlschranke stehen!!!

Die Männer marschieren mit!

LANZ Jahresrückblick 2022 HIER Anfang bis 23:00 Thema IRAN heute

Stand 8. Juli 2023 HIER t-online Nachrichten:

„Sie schießen absichtlich auf die Augen“

Politisch-historische Recherche

Heute (24.02.2022) ZEIT-Lektüre

Navid Kermani ist für mich ein Mann des Vertrauens, aber es sind Tage, in denen alles, was gesagt wird oder zu lesen ist, auf schwankendem Boden zu stehen scheint. Fast: nicht wahr sein kann. Vergangene Nacht hatte ich schon Markus Lanz mit Gregor Gysi und Alexander Graf Lambsdorff zum selben Thema gehört. Ich versuche, das eine mit dem anderen zu korrigieren.

DIE ZEIT Feuilleton Seite 47 / folgender Text auf Seite 48

abrufbar HIER

Abschrift JR (nach Gehör):

LAMBSDORFF 14:58 Das Märchen von diesem angeblichen Versprechen, das hat es nie gegeben. (Gysi: Oh doch) 1990, das muss man sich mal vor Augen führen, wenn man 1990 der damals ja noch existierenden Sowjetunion versprochen hätte, die NATO würde sich nicht nach Osten ausdehnen, konnte sich das nur, und darum ging es, auf das Gebiet der damaligen DDR beziehen, denn: der Warschauer Pakt existierte ja noch! Warum sollte man in Moskau denn glauben, (da sehn wir die Karte), Länder wie Lettland, die sogar noch Teil der Sowjetunion – Estland, Lettland, Litauen – Polen, die Tschechoslowakei waren noch Teil des Warschauer Pakts, in Moskau war man fest davon überzeugt, man würde einen reformierten Warschauer Pakt organisiert bekommen, es konnte gar keine Diskussion darüber geben, und alle, die an dieser Diskussion damals beteiligt waren, sagen ganz klar, dieses Versprechen hat es nicht gegeben. Was es gegeben hat, und was bis heute eingehalten wird: es wird keine ausländischen Truppen geben, und es wird keine NATO-Einrichtung geben in den neuen Bundesländern, und die gibt es bis heute nicht, das heißt: der Westen hat hier sein Versprechen gehalten, und dieses Märchen, wir hören es immer wieder, ist einfach unwahr. (…….)

GYSI Zwei Beweise: erstens gibt es dieses Video, wo Genscher 1990, er steht neben Baker, sagt: weder die DDR noch ein anderes Land im Osten wird Mitglied der NATO werden, also nicht nur die DDR, das bezog sich auf den ganzen … (das war doch völlig unerheblich!).

Das zweite (ML ganz ganz kurz: das Argument – wir haben das Video letzte Woche gezeigt, (-unerheblich!-) ein Interview, das kann man sich ankucken), GYSI: auch als Teil dieser Sendung das habe keine Bedeutung, weils nicht im Vertrag steht, na, dann müssen sich Außenminister gar nicht mehr äußern, wenn es sowieso keine Bedeutung hat, was sie sagen. Aber das zweite ist noch was anderes: es ist jetzt ein Vermerk gefunden – übrigens veröffentlicht im SPIEGEL, und zwar gab es eine Sitzung der vier Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritannien, Frankreichs und Deutschlands, und damals gab es ein Ersuchen, schon von Ungarn und von Polen, in die NATO gehen zu dürfen, 1991, nach Herstellung der deutschen Einheit, und alle vier Direktoren haben gesagt, das geht nicht, weil die Sowjetunion als Preis für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit versichert haben, dass der Osten nicht in die NATO aufgenommen wird. Das ist nicht von mir, das ist von den vier Direktoren dieser vier Außenminister, daran haben sie sich nicht gehalten, übrigens: und dann diese 14 Staaten aufgenommen. Nun (Gorbatschow!) dieses Dokument hat Jelzin kritisiert, und das hat Putin kritisiert, nur der Westen ist nicht darauf eingegangen. Ich hoffe, ich habe noch die Chance zu sagen, was meines Erachtens jetzt falsch gemacht wurde, wie man hätte anders reagieren müssen, um genau das zu verhindern, was Sie jetzt beschreiben, wir stehen ja tatsächlich kurz vor einem Krieg, was natürlich eine Katastrophe wäre, wenn das passierte.

LANZ Dieses Dokument [17:50] Graf Lambsdorff, wie ist das einzuordnen? Sie als Historiker, das ist son ganz interessanter Punkt, wird natürlich häufig jetzt herangezogen: die Kollegen der WELT warens glaube ich, die dieser Tage nochmal was dazu veröffentlicht haben, ein längeres Stück, in dem es sinngemäß heißt: das ist ein Papier, das in Historikerkreisen längst bekannt war.

LAMBSDORFF: So ist es! Genau (das ist kein großes Geheimnis!) es war eine interne Notiz, LANZ und der Verweis darauf, dass einzige Dokument, das relevant ist, für all diese Themen ist „Vier plus zwei“ (sic!).

LAMBSDORFF: So ist es! Also: man darf ja eins nicht vergessen: russische Diplomatie über Jahrhunderte, sowjetische Diplomatie über 70 Jahre, – hochprofessionale Leute! Also das sind ja keine Amateure, ja, man kann sagen, ich finde Ihre Entscheidung falsch oder richtig, aber das sind keine Amateure – im Zwei-plus-Vier-Vertrag, den die Sowjetunion ja mitverhandelt hat, steht nichts von einem Versprechen, dass die NATO nicht ausgeweitet wird, und dieser eine Gesprächsvermerk, Jürgen Krobock [??? gemeint ist wohl Dieter Kastrup ], der damalige politische Direktor, hat das ja selber ganz klar gesagt, das hat überhaupt nichts zu bedeuten, sei eine interne Unterhaltung gewesen, es ging um die Frage: gibt’s n NATO-Beitritt, ja oder nein, und wir haben das untereinander besprochen, es ist kein Dokument von irgendeiner rechtlichen Bindewirkung, er hat das sogar gesagt, das sind Fragen, die entscheiden wir nicht als Staatssekretäre oder politische Direktoren, das entscheiden ganze Regierungen. Damit … das Dokument ist wirklich so eine aus dem Zusammenhang gerissene… ein Schnipsel, der aber wirklich nichts zu tun hat mit dem, was damals wirklich politisch beschlossen worden ist. [19:03] GYSI etc.

Zur Ergänzung:

Sendung ARD Weltspiegel 9.3.2014

Artikel abrufbar hier

Der Phoenix-Film „Poker um die deutsche Einheit“ hier (noch 1 Tag verfügbar!!!)

Als ich gestern begann, mir die Vorgeschichte des Ukraine-„Konflikts“ zu erklären und mich zugleich dem unbegreiflichen aktuellen Geschehen zu verweigern, wusste ich noch nicht, dass abends das Wort „fassungslos“ zu den am meisten gebrauchten des Tages gehören würde. Ich werde die entsprechende LANZ-Sendung verlinken. Nicht weil ich Lanz bewundere, sondern: obwohl er als Moderator oft seine Gäste nur stört; sie werden trotzdem all das sagen, was notwendig ist. Was kann man tun, ohne sich auf das Wort „fassungslos“ zurückzuziehen? Ich übe also Bach und Chopin, insbesondere die Mazurka h-moll (siehe Artur Rubinstein hier), wohl wissend, was sie bedeutet: dass sie wie überhaupt alle Mazurken Chopins auch als Mahnmale gegen die russische Herrschaft in Polen zu lesen sind, – auch wenn nicht extra „Mesto“ drübersteht.

Titelbild ZDF LANZ Screenshot

LANZ ZDF 24.02.2022 HIER Zu Gast: Politiker Robert Habeck, Politiker Norbert Röttgen, Diplomat Andrij Melnyk, Politiker Gerhart Baum und Journalistin Alice Bota.

Die Szene („wie sehr dieser Mann das Land im Griff hat“…) 1:16:22 mit dem Spionagechef Naryschkin – Putin „zwingt seine Clique, sich dazu zu bekennen.“ (Bota)

  Man könnte meinen: einer oben, einer unten. In Wahrheit deckungsgleich, unter ihresgleichen!

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Wie es bei LANZ am nächsten Tag weiterging: (Gäste: Politiker Jürgen Trittin, Soziologe Gerald Knaus, Journalistin Claudia Kade und Politologin Gwendolyn Sasse) am 25.02.22 hier

Gendern wird nichts ändern

Ist es erlaubt, inkorrekt zu sein?

Solinger Tageblatt 8. Januar 2022

Es ist natürlich nicht unsere Solinger Zeitung, die so regelkonform gendert, sondern höchstwahrscheinlich die Pressestelle der Düsseldorfer Tonhalle. Ich würde mich ohnehin nicht beschweren, ich stolpere nur, denke über Solingen und die Vorbildfunktion der nächstgelegenen Großstadt nach, eher wohlwollend auch über die zunehmende Zahl der Dirigentinnen im internationalen Kulturbusiness. Als ich kürzlich den Namen einer griechischen Dirigentin las, schloss ich messerscharf, dass sie womöglich im Schlepptau des männlichen Stars Currentzis aufgetaucht und/oder bemerkenswert hübsch sei. Selbstverständlich schäme ich mich dafür und würde das nie schriftlich von mir geben. Neulich habe ich allerdings in einer anderen Sache an das Tageblatt geschrieben und mich über den täglichen Abdruck von (zumeist alttestamentarischen) Bibelversen aus der copyrightgeschützten Sammlung der Herrnhuter Brüdergemeinde beschwert. Sie schienen (scheinen) mir wild zusammengewürfelt  und ohne jeden geistigen oder geistlichen Nährwert. Ich blieb ohne Antwort und schäme mich nun meiner versehentlich bekundeten Intoleranz. So muss ich höllisch aufpassen, wenn ich einen ZEIT-Artikel von Navid Kermani hervorhebe, der sich kritisch mit dem Gendern befasst und mit dem Koran beginnt. „Mann, Frau, völlig egal“, hier leider nur hinter Bezahlschranke zugänglich.

Ich habe gegoogelt, um einige  vielleicht abweichende Positionen kennenzulernen (Toleranzgebot). Zum Beispiel die folgende im Archiv des Deutschlandfunks, vorgetragen immerhin aus einer – so vermute ich – professionell gläubigen Perspektive hier. Ich hatte an sich den Verdacht, dass die Frauen in der betreffenden Sure nicht deswegen ausdrücklich benannt sind, weil Gerechtigkeit geübt wird, sondern gerade weil sie in der betreffenden Quelle als das andere Geschlecht thematisiert werden sollen. Ich recherchiere also im Gesamttext, durchaus unter Vorbehalt, da ich die Korrektheit der Übersetzungen nicht beurteilen kann. In jedem Fall werde ich dann vor allem den Artikel von Navid Kermani vorurteilslos studieren, zumal ich seine schöne, im Parlament vorgetragene Rede auf unser Grundgesetz gelesen und mir dieses spontan angeschafft habe (siehe hier). Jetzt schaue ich in meine (wissenschaftliche) Koran-Ausgabe, ohne zu prüfen, ob diese Ausgabe (Rudi Paret 1962) wirklich noch dem neuen theologischen Stand entspricht. Also: offen für alle Vorbehalte, es ist nur ein erster Leitfaden, der mir etwas über das Umfeld der Aussagen mitteilt. Die zu vergleichende Stelle beginnt bei Vers 35, aber schon vorher wurden „die Frauen“ gesondert angesprochen:

Vielleicht war ich wohl etwas voreilig, ich muss keine eigenen Interpretationen versuchen, Navid Kermani stellt selbst gegen Ende seines ZEIT-Artikels die Frage: „Aber verwirft nicht bereits der Koran das generische Maskulinum?“ und antwortet:

Nein, er ignoriert es in einem spezifischen Kontext zu einem bestimmten Zweck, in diesem und vielen anderen Versen, die von der feministischen Exegese deshalb zu Recht hervorgehoben werden. Soweit bekannt, ist der Koran der erste arabische Text überhaupt, der Frauen direkt anspricht, und die Überlieferung berichtet von männlichen Hörern, die deswegen überaus irritiert waren. In der Regel jedoch, also dort, wo das Geschlecht der Hörer nicht eigens herausgestellt werden soll, belässt es der Koran bei der männlichen Form. Anders gesagt: Wie in jeder Dichtung setzt der Bruch die Regel voraus.

Gut, wir – als Bürger, als Staatsbürger – können es dabei bewenden lassen. Zurück ins Hier und Heute, in die Argumente des ZEIT-Artikels! Kermani sagt einiges Bedenkenswertes über den komplexen Gottesbegriff in allen Religionen, über die Sprachwissenschaft, über biologische und psychische Wirklichkeit, die sich „aus unterschiedlichen und eben auch widersprüchlichen Elementen zusammensetzt“. Ich zitiere nur einen Ansatz, der die Kunst betrifft und den ich unbedingt herauslösen und in Erinnerung halten möchte:

Keine Sprache der Welt nennt jedes Mal alle Geschlechter, wenn von einer gemischten Personengruppe die Rede ist, das wäre für die Alltagssprache zu umständlich und für die Poesie zu sperrig. Das brauchen die Sprachen auch nicht, weil sie das Gesagte nicht eins zu eins codieren. Sie sind, so formuliert es der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein, »tendenziell ökonomische Kommunikationssysteme«, die durch Implizitheit gekennzeichnet sind: Jeder Hörer versteht, was gemeint ist, obwohl es so eindeutig keineswegs gesagt ist. Sprache funktioniert also auch und gerade durch das, was nicht gesagt, aber von den Hörern mitgedacht wird. Um Eindeutigkeit herzustellen, ist ihr Zweck zu pragmatisch und sind ihre Mittel allzu begrenzt.

Neben allen sprachlichen und ästhetischen Gründen ist das auch der Grund, warum ich das Gendern nicht etwa als emanzipatorisch wahrnehme, sondern als eine geistige wie politische Regression. Geschlechtszuschreibungen gehen nicht in zwei, sie gehen aber auch nicht in 27 Kategorien auf. Zu meinen, man könne mittels der Sprache jederzeit jedem Angesprochenen gerecht werden, verkennt nicht nur ihr Wesen; er legt die Angesprochenen überhaupt erst fest auf eine Identität. Die Vielfalt, die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur und ihrer Wahrnehmung auszudrücken ist nicht Aufgabe unserer Alltagssprache, und schon gar nicht ist es die Aufgabe irgendeiner behördlichen oder akademischen Instanz – das ist Aufgabe und sogar Daseinszweck der Literatur, der Musik, der Kunst: eine Unmöglichkeit, die auf erstaunlichste Weise dennoch immer wieder gelingt. Ein Schriftsteller wie Proust vermag alle Schattierungen und Paradoxien menschlichen Begehrens auf einer einzigen Seite zu fassen. Kleist setzt Liebe und Hass in eins, Beckett findet für das Verstummen Worte, Simone Weil denkt bei Gott zugleich an das Nichts. Literatur breitet nicht lang und breit aus, was in der Alltagssprache bündig formuliert werden könnte. Im Gegenteil, sie schafft bewusst Lücken, durch die die Einbildungskraft des Lesers ins Werk gezogen wird.

Quelle DIE ZEIT 5. Januar 2022 Seite 46 / Mann, Frau, völlig egal Das generische Maskulinum wird immer seltener benutzt und verstanden, bald wird es ganz verschwunden sein. Das ist schade, denn es erlaubt sehr viel sprachliche Differenzierung. Seine Abschaffung wird die Gleichberechtigung keinen Schritt voranbringen. Von Navid Kermani.

P.S. Die Zeitungsnotiz zu Anfang dieses Blog-Artikels finde ich übrigens ganz in Ordnung, zumal sie mit der Genderfrage leichtfüßig umgeht. Wäre es noch besser, wenn das Foto eine Frau zeigen würde? Stünde dann auch drüber: Dirigentinnenporträt? Ich weiß von Komponistinnen, die auf keinen Fall bei expliziten Frauenfestivals gespielt werden wollen. Sie wollen unter dem generischen Maskulinum ernstgenommen werden, und gerade ohne dieses Faktum zum Thema machen zu wollen…

P.P.S. Zu dem FAZ-Artikel von Olav Hackstein finde ich im Moment keinen Link. Zur Sicherung zunächst nur diese Erinnerung: hier.

Reden Wählen

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

Dies ist fast der Titel eines berühmten Essays von Heinrich von Kleist, woraus ich allerdings gar nichts zitieren will. (Auch dürfte ihm getrost widersprochen werden.) Eher aus einer Talkshow, die mir bei der Verfertigung von Gedanken wirklich hilft. So wie kürzlich Navid Kermani hier (4 Minuten Empörung).

ZITAT (aus diesem Text hier )

Während am Mittelmeer die Wälder brennen, unsere Außenpolitik in Afghanistan zertrümmert wird und die Corona-Zahlen steigen, scheint der Personen-Wahlkampf wie eine intellektuelle Zumutung.

Es gäbe so viel zu diskutieren. So macht sich zum Beispiel die Linke in ihrem Programm ausführlich Gedanken darüber, wie die Energiewende sozialverträglich gestaltet werden kann. Liest man gleiches Thema bei der SPD, so scheint Energiewende kein Sozialthema zu sein. Über solche Unterschiede sollten wir mehr sprechen.

Die entscheidende Frage ist: Was wählen wir denn eigentlich am 26. September? Klar wählen wir indirekt auch den künftigen Kanzler bzw. die künftige Kanzlerin, die das Land ein Stück weit prägen. Aber zunächst einmal wählen wir die neuen Abgeordneten des Bundestags. Menschen, die unsere Interessen in politische Handlungen münden lassen sollen. Die Hälfte von ihnen wird deshalb direkt gewählt, die andere Hälfte über Listen. Den Parteien kommt bei der Wahl eine dreifache Aufgabe zu: Sie kümmern sich zunächst – neudeutsch gesprochen – ums Personalrecruting. Sie bündeln dann politische Inhalte zu Wahlprogrammen. Und sie helfen nach der Wahl dabei, im Bundestag eine Regierung zu bilden. Erst ganz am Ende wird ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin gewählt.

Quelle der beiden Zitate siehe oben (Link in Klammern)

Dann „Markus Lanz“, egal wie Sie – liebe Leser/innen – ihn finden, oft erlebt man Sternstunden einzelner Menschen. Große Inspirationen und Ausblicke. Oder einfache und ehrliche Statements. Ich empfehle etwa bestimmte Einstiege, sie finden das zum Beispiel hier (bis 1.9.2022), beginnend mit dem Journalisten Ulf Poschardt ab 1:02:45 , dann gleich anschließend die Juristin Homaira Hakimi  ab 1:10:17 oder auch jederzeit vorher (z.B. ab 48:40).

*     *     *

Zum Schluss eine Erinnerung an WDR-Freund Klaus Bednarz, der mir 1985 den Weg nach Georgien erschloss (Aufnahmereisen 1986 und 1988), unvergesslich, wie hier in seiner Sendung MONITOR am 8.11.2001 betr. Afghanistan das Gedicht von Theodor von Fontane, bestürzende Daten: 2001 und – 1859.

Dank für den Hinweis an das Ehepaar Hütten.

Kulturradio

Quo vadis?

Navid Kermani hat in WDR 3 über das Kulturradio gesprochen. Jan Brachmann kommentierte in der FAZ. Mit Recht kann man fragen, was ist der Anlass für die besorgten Töne? Höchste Zeit, es nachzulesen.

hier

Ich sage nichts dazu, denn es handelt sich um meinen Heimatsender. Allerdings beschäftige ich mich seit 15 Jahren mit anderen Schwerpunkten. Jedenfalls nicht mehr mit Vermittlung von Musik im Hörfunk. Und ich habe keine Neigung, mich „draußen“ zu engagieren, ich habe zuviel zu tun. (Die übliche Ausrede, wenn einem die Hände gebunden sind.) Allerdings: man darf sich weiterhin gründlich informieren.

Dabei erinnere ich mich auch an einen Vorgänger-Artikel, der noch zu bedenken wäre:

hier leider nicht kostenfrei; aber die Leserreaktionen sind ebenfalls aufschlussreich: hier. Früher … wurde soetwas immer sehr ernst genommen.

Heute ist es vielleicht anders, man glaubt, in Coronazeiten sei alles anders. Weit gefehlt!

Eine schöne Erinnerung hängt an meiner Zimmerwand, oder auch ein Mahnbild, sie möge sich nicht verflüchtigen:

Haben Sie vergessen, den im ersten Link eingebundenen Bartók-Beitrag zu hören und zu sehen??? Sehr anrührend als Erinnerung an das, was in WDR 3 wichtig ist oder war. Natürlich nicht nur Pentatonik und erst recht nicht nur in 7 Minuten: alles, was Musikkultur bedeutet.

Nicht von dieser Welt, doch greifbar

(Ins Unreine, ab Samstag 8. November)

Francisco de Zurbarán

Es wird soviel von Stoffen und Stofflichkeit geredet, von der Kostbarkeit der Materialien, der Greif- und Tastbarkeit der Oberflächen, Kleider-Mode (?), der Vater war Stoffhändler, das Sackleinen des Heiligen Franciscus, das voluminöse Lendentuch Christi, und wenn man das Kreuzigungsbildnis in einen matt erleuchteten Altarraum stelle, könne man es nicht von einem realen Kruzifix unterscheiden. Im Film entbrennt eine Betrachtung zwischen dem Kurator Beat Wismer und einem spanischen Zurbarán-Kenner mit folgendem Verlauf:

„Wir wissen nicht, ob das der Maler der Kreuzigung ist. Steht der Maler vor einer Skulptur? Steht er vor einer realen Kreuzigung? Und dann gibt es noch ein sehr interessantes Detail: Hier sieht man eine Landschaft, oder zumindest einen Teil der Landschaft.“

„Da stimme ich Ihnen zu. Es ist in der Tat ein Konzept-Gemälde. Für mich gibt es ein entscheidendes Element in diesem Bild. Das Element des Maßstabs. Die Christusfigur ist nur ein wenig kleiner als die Figur des Malers. Dadurch suggeriert es uns, weil es das im Unklaren lässt, dass die Figur auf der rechten Seite, der Maler, auf ein Abbild von etwas schaut. Es ist möglicherweise eine Skulptur – wie Sie sagen -, es könnte aber auch ein gemaltes Bild sein. Es könnte aber auch das Gemälde einer Skulptur sein!? Möglicherweise auf den heiligen Lukas, der traditionell als Maler dargestellt wurde.“

„Oder eine Vision?“

„Oder eine Vision! In der Tat. Es ist oft gesagt worden, – und ich denke, dass etwas Wahres daran ist -, dass es sich hierbei um ein Selbstportrait des Künstlers handelt. Nicht unbedingt um ein normales Portrait. Es kann sich dabei auch um ein konzeptuelles Portrait handeln. Eine Selbstprojektion des Künstlers auf das Bild des Malers. Wir sehen also den hl. Lukas, der den gekreuzigten Christus betrachtet.“

Zurbarán Selbst Screenshot 2015-11-08 11.16.01 Screenshot aus der DVD (s.u.)

Wenn man sich an Navid Kermanis Beschreibung desselben Bildes erinnert, wird schnell klar, wie naiv sie ist:

Jesus im selben Saal des Prado noch auf einem weiteren Bild gekreuzigt zu sehen, jetzt mit einem Maler zu seinen Füßen, entweder Lukas, so heißt es auf der Tafel neben dem Gemälde, oder in bitterer Selbsterkenntnis Zurbarán selbst, der begeistert darüber, ein so spannendes, ausdrucksstarkes und noch dazu lebendes Modell gefunden zu haben, am Kreuz hochblickt, die Palette bereits in der Hand, statt dem Gemarterten zu helfen, ihm Wasser zu reichen, Hilfe zu rufen, damit jemand die Nägel aus seinen Händen und Füßen zieht, und wenn es keine Hilfe gibt, wenn Gott auf Erden nicht einmal seinem eigenen Sohn hilft, dann die Hände vor Verzweiflung in den Himmel zu strecken oder auf den eigenen Kopf zu schlagen, weil Gott dann auf Erden vermutlich niemandem hilft. Oder straft er etwa nur diejenigen, die ihm am nächsten stehen, läßt zynisch den Amtsträger, den Reichen, den Künstler triumphieren? „This work subtly refers to the idea that art’s greatest merit is its potential for use in the service of religion“, heißt es auf der Tafel weiter, die ein anderes Gemälde meinen muß.

Quelle Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum / C.H.Beck München 2015 (Seite 161 f)

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ZITAT

Zurbaráns Zeit war zutiefst geprägt von der spanischen Mystik. Das zuweilen Erstarrte seiner Bilder, vor allem im Frühwerk, ist wohl auch jenen Formeln geschuldet, mit denen die katholische Kirche die Macht über die anmaßenden Körper und Geister zurückerobert: durch Dekrete zur religiösen Malerei, die sie in der Folge des gegenreformatorischen Konzils in Trient 1563 erlässt.

(…)

Ein einziges Mal scheint Zurbarán sich selbst gemalt zu haben, um 1655/60, in dem „Gekreuzigten mit einem Maler“. Gewiss ist es nicht und doch offensichtlich: Der alte Maler steht, in tiefe Kontemplation versunken, zu Füßen des verstorbenen Gekreuzigten und hebt seinen Blick zu Christus. Die rechte Hand hat er ans Herz gelegt, in der linken hält er eine Palette mit Pinseln. Er trägt eine malvenfarbene Tunika, was manch einen veranlasste, darin die Figur des Apostels Lukas zu sehen, den Patron der Maler. Schemenhaft dunkel hinter dem Kreuz schimmert ein Berg, vielleicht Golgatha. Und hier ist es wieder, dieses Verrätselte, das Spiel, das Zurbarán treibt. Aber ob Selbstbildnis oder nicht, interessant ist vielmehr, dass er hier wortlos sagt: Ich habe das gemalt. Und dass man darüber spekulieren kann, ob Zurbarán hier nicht auch seine eigene Fähigkeit als Maler göttlich beglaubigen lässt.

Quelle Ingrid Berner: Drama und Erleuchtung Göttliche Verklärung bedeutete bei Francisco de Zurbarán immer auch tiefe Menschlichkeit. Jetzt ist der faszinierende Maler in Düsseldorf zu erleben. In: WELTKUNST Eine Sonderveröffentlichung des ZEIT Kunstverlags Hamburg Herbst 2015 www.weltkunst.de

Schließlich sieht man sogar ein, dass die schönsten Bilder vielleicht doch nicht im Museum zum wahren Leben erwachen, sondern dort, wo sie am zugedachten Platz verblieben sind. Hier zum Beispiel:

Zurbarán Guadelupe 1 Screenshot 2015-11-08 09.46.46  Zurbarán Guadelupe 3 Screenshot 2015-11-08 09.47.21

Zurbarán & Musik Screenshot 2015-11-08 10.48.47

Der Heilige Hieronymus wehrt sich hier gegen die schönen Frauen und die Verführungskraft ihrer Musik. Wohl doch kein Engelskonzert?

Es ist ein Wunder, wie eine bloße Ausstellung von Bildern Menschen in Bewegung setzen kann, wie sie neue Ansprüche an sich selbst stellen, um diesen Ansprüchen durch Bilder gerecht zu werden. Vielleicht auch mit leiser Empörung zu reagieren – wie ich, bei all den Bildern von der Maria Immaculata, die nicht auf dem Boden steht, sondern auf Wolken, aus denen Kinderköpfe hervorlugen, – an der Wand zu lesen wie es zu dieser Serie kam (auch vom Vorschriften-Kanon zu erfahren, der auflistet, wie eine Immaculata-Visualisierung beschaffen zu sein hat), zu lernen, dass die ganze absurde Geschichte von der Unbefleckten Empfängnis auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes zurückgeht, im Sinn zu haben, was gerade in der ZEIT anlässlich der zu uns flüchtenden Männer aus dem Osten zu lesen war: wie der Blick des Mannes auf alleinstehende (auch: „allein flüchtende“!) Frau unweigerlich beschaffen ist (Quellenangabe folgt). Frage nach dem „Trompe-l’œil“, Frage nach dem senkrecht hängenden Petrus, der nicht in Düsseldorf, wohl aber in diesem Film vorkommt (und – wo er mir zum erstenmal begegnete – in Navid Kermanis Buch Seite 157 ff) usw. Nachlesen in meinem alten Lieblingsbuch: „Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol“ herausgegeben von Reinhard Brand, der erste Essay darin von Robert Suckale über Rogier van der Weydens Kreuzabnahme, die „Leserichtung“ bei der Bildbetrachtung, hochinteressant der Zusammenhang mit der Rhetorik des Quintilian, eine in christlichem Sinne gefilterte: durch Augustinus). Auch noch anwendbar auf Bachs musikalisch-rhetorisches Verfahren.

Die Ausstellung in Düsseldorf: HIER  (dort auch runterscrollen: man sieht einen kurzen Ausschnitt aus der DVD)

Wikipedia-Artikel zu Zurbarán, auch zahlreiche Werke des Meisters (vergrößerbar!), als viertes Der Heilige Lukas, dargestellt als Maler der KreuzigungsszeneHIER

DIE ZEIT 30.01.2014  Nicht von dieser Welt. Das großartig stille Werk des spanischen Malers Francisco de Zurbarán – eine Wiederentdeckung in Brüssel. Von Hanno Rauterberg. HIER

FAZ 23.10.2015 Ein Evergreen für die Augen Glühende Askese und mystische Versunkenheit:
Francisco de Zurbarán malte mit dem Pinsel Caravaggios und den Augen eines Inquisitors.
Eine Düsseldorfer Ausstellung entdeckt den spanischen Barockmaler. Von Andreas Kilb. HIER

Wolkenlektüre

Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

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Das Buch hatte ich dabei, weil mich die SZ-Rezension neugierig gemacht hatte (ohne dass mir bewusst war, dass sie von einem Kirchenmann stammte): „Wünschelrute der Sinnlichkeit“ (23.08.2015), – und weil ich nun einmal verbale Bilderdeutungen liebe. Ich sehe dann besser. Hier also in Gestalt der Auseinandersetzung eines Moslems mit dem Christentum, vielleicht preiswürdig, für mich allerdings von sekundärer Bedeutung: Warum soll ich dergleichen in 100 Stichworten aufs neue durchdenken, dabei auf Bilder schauend, die eindrucksvoll genug sind, aber keine theologische oder philosophische Autorität haben? Zumal mir weder das Thema Islam noch das Thema Christentum persönlich auf der Seele brennt. Gut, der Autor interessiert mich seit Ende der 90er Jahre. Der Vertrauensvorschuss schwand hier allerdings schon mit der gespielt naiven Schmähung des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, während immer mehr in den Vordergrund trat, was der Kirchenmann in seiner Rezension als Vorwurf zu entkräften suchte: es handelt sich nicht so sehr um neue Aspekte der Ästhetik als um ein Stück „Erbauungsliteratur“. Deren Zeiten aber sind doch wohl vorbei. Einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller? Mit Märtyrerlegenden? Ehrlich gesagt ist mir die Sprache der Wolken lieber als solche Überdehnung des Didaktischen. Und gerade die herausgekehrte Sinnlichkeit ist mir suspekt. Sie hat keine Sprengkraft, außer in jugendbewegten Arbeitskreisen eines Kirchentags. Unbedingt zeigen zu müssen, dass es sich bei den Heiligen um Menschen aus Fleisch und Blut oder gar wie Du und ich handelt. Dass die Andacht bei der Bildbetrachtung flöten geht, wenn man Druck auf der Blase hat. Dass der ekstatische Gesichtsausdruck durchaus irdischer Natur sein kann, nun auch die Verzückung des Heiligen Franziscus wie schon länger die Verzückung der Heiligen Theresa triebhaften Ursprungs, wir wissen es, aber wie eindringlich hat uns z.B. Johann Sebastian Bach versichert: „Wir aber sind nicht fleischlich, sondern …“ – nun? – geistig oder geistlich? – jedenfalls „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“!

Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für den Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal für die Henker gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an genau dem sich die Kritiker früher stießen: Er wolle nur beweisen, schimpfte Jacob Burckhardt, „daß es bei allen heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei“. Das stimmt natürlich, denn es geht außerhalb von Heilsgeschichten und Romanzen immer ordinär zu; man könnte sogar sagen, daß das Ordinäre als ein Kontrast gerade dort am stärksten hervortritt, wo sich das Heilige oder die Liebe tatsächlich ereignen. Bei der Kreuzigung Christi hat es schließlich auch keine Filmmusik gegeben, sondern werden Jugendliche wie auf dem Ballermann gejohlt und fahrende Händler ihre Äpfel angepriesen haben. Der Vorwurf kehrt sich gegen seinen Urheber, denn er zeigt, wieviel mehr Caravaggio vom Heiligen begriffen hat als Jacob Burckhardt. (Seite 124)

Falls wir’s hier noch nicht begriffen haben, dann wenn wir die kopfüber hängende Lage des Petrus bei der Kreuzigung recht bedenken: „die Schmerzen müssen ihn jetzt schon zerreißen, ihm schwindelt, wie an den Augen zu erkennen ist, und gleich schießt ihm auch noch alles Blut in den Kopf. Wahrscheinlich wird er sich übergeben müssen, Herr Burckhardt.“ (Seite 127)

Vielleicht kann man über Märtyrer so reden, damit wir begreifen, dass es schlimm war, was sie erduldeten, aber einen genialen Kunsthistoriker wie Jacob Burckhardt muss man doch so nicht abkanzeln… (allenfalls … so wie hier, unter dem Punkt „Kritik“).

Im Namen Sigmund Freuds: Ich will nicht der Prüderie und dem Duckmäusertum das Wort reden, ich habe John Bergers Buch über das Sehen („Das Bild der Welt in der Bilderwelt“) im Sinn, auch Christina von Brauns großes Werk „Versuch über den Schwindel“, Untertitel: „Religion, Schrift, Bild, Geschlecht“, – kurz: mir fehlt das Aufklärerische, der kühne philosophische und wissenschaftliche Gedanke. Und mich stört immer noch, was Kermani so schwergefallen sein musss zu akzeptieren, das Kreuz im allgemeinen, und im besonderen das stählerne, das er sich in Rom auf seinen Schreibtisch gestellt hat. (Seite 53)

(Handyfotos JR)

Nachtrag 21. Oktober 2015

Navid Kermani sagt:

Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.

Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben.

Ich höre nachträglich die Rede Navid Kermanis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und empfehle sie weiter: man kann sie hier in voller Länge hören. Und hier nachlesen. Ein guter Ansatz zur unumgänglichen Selbstkritik des Islam? Die Kritik kann noch weiter gehen… Aber der richtige Nerv ist getroffen.

Übrigens: Auch die Rezensionen zu dem haltlosen Buch von Hamed Abdel-Samad sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man sich von unwissenschaftlichen Suggestionen und Verzerrungen hinreißen lässt: hier. Und auch hier.

Das Foto in der Süddeutschen, das Kermani beim Tee mit Martin Mosebach zeigt, bei dem es sich wohl um den vielzitierten „katholischen Freund“ handelt, erinnert mich an eine Lektüre Ende 2007, „Das Beben“ von MM, das ich begann, weil es in Rajasthan spielt, und vorzeitig beendete, indem ich an den Rand schrieb: „preziöse Prosa“. Und mir fällt ein Buch ein, das ich im Jahre 1987 nach wenigen Seiten beendete, es hieß „Das Leben Muhammads“ und war mir mit einem netten Begleitbrief von einem Dr. Djavad Kermani übersandt worden:

Kermani Muhammad Brief

Offenbar hat er sich auf Sendungen mit Aufnahmen der Konzerte bezogen, die Moh. Reza Shadjarian damals für den WDR gegeben hatte: siehe das Foto hier. Es war die letzte Zeit der Khomeini-Ära, und ich habe, glaube ich, auf den Brief nicht im erwarteten Sinne reagiert, weil es mir wirklich „nur“ um iranische Musik, Kultur und Poesie ging. Werde ich jetzt das Buch lesen? Ich glaube nicht.

Kermani Muhammad Titel