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Finsteres Mittelalter?

Eine Sternennacht – hellhörig

Quelle Peter Gülke: Mönche Bürger Minnesänger / Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters / Koehler & Amelang Leipzig 1975

Quen Boa Dona Querra

„So ist es mit der Erinnerung. Mit ihr leuchten wir hinunter in die Vergangenheit.“ Motto des Buches von Gombrich.

Quelle Ernst H. Gombrich: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser / Dumont Köln 1985, 2005

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick / Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte rororo Sachbuch Rowohlt Reinbeck bei Hamburg 1986

Gülke a.a.O.

Lauter Zitate, die Lust machen: zu lesen, aber auch zu hören. Und wer die Karten anschaut, findet Wizlaf wie auch Rügen (Rygen), und gleich unterhalb: Greifswald, meinen Geburtsort.

Damals gab es plötzlich eine neue Leitlinie (das kam von Benjamin Bagby oder Barbara Thornton), man musste Peter Dronke (dtv 1977) gelesen haben. Ich besorgte mir im Handumdrehen das Taschenbuch und – verpasste die Erleuchtung, obwohl mich schon das Kapitel vom „Tagelied“ hätte elektrisieren müssen („Tristan“!), ganz abgesehen von den „Jarchas“ (s.o. Cantigas El Sabio) und den beigegebenen Melodien im Schlussteil. Heute befeuert jede Seite mein Interesse, – nach wieviel Jahrzehnten? Warum erst heute?

Natürlich denke ich heute nicht nur an Pompeji, sondern auch an Paestum, an alles, was die alten Zeiten aus der Versteinerung löst, belebend, wie Mozart (hier). Aber wie dieser bedarf es der geistigen Arbeit. Auch um zwischendurch der dämpfenden, lähmenden Gedanken Herr zu werden. Haben diese alten Relikte überhaupt einen Wert???  Hat meine Zeit einen Wert?

Zunächst Peter Dronke, dann zum wiederholten Male: Heinz Schlaffer, ein absolut notwendiges Denkstück (s.a. hier):

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9

Und nun zu Dänemark CD I: Man muss sich darüber im Klaren sein – diese CDs legt man nicht auf und schwimmt im Vergnügen. Jedes Detail des Boooklets gehört dazu, vor allem auch die gesungenen Texte mit ihren schönen Übersetzungen, die einem vermitteln, wie man in diesen frühen Zeiten dachte, wie die politischen Verhältnisse einflossen, wie man Stellung nahm. Alles was heute durch die Medien geschieht. Ist es Ironie, Naivität, Mitleid, Agression? Lesen Sie die Texte, bevor Sie die Melodien und den Vortrag beurteilen. Vergrößern Sie sich die hier in Kopie wiedergegebenen Kommentare. Sie können alle Tracks passend anspielen oder durchgehend im Hintergrund hören: hier.

Die vollständigen Gesangstexte aber sind nur im Booklet zu haben. Hier also zunächst die lesegerecht gemachte, jedoch mit meinen Unterstreichungen verzierte Einführung:

Forts. s.u.

Einen Gesang über „die tenschen morder“ (Tr.7) von Meister Rumelant schreibe ich in deutscher Prosa ab (übersetzt von Holger Runow in „Rumelant von Sachsen, Edition-Übersetzung-Kommentar“ , Berlin / New York 2011 Hermaea N.F. 121):

 Die dänischen Mörder sind die besten. Niemand ist so geschickt, wenn es um Königsmord geht. Sie morden gerne und verstehen sich gut darauf. Den besten Mord soll man loben. Im Norden Jütlands, da wurde der schändliche Mord begangen. Sie weckten ihren König unsanft auf dem Bett, in dem er schlief. Mit sechsundfünfzig tiefen Wunden erstachen sie ihn, den stolzen Krieger. Tapfere Krieger sind es wohl, die es mit ihren Händen taten, das sieht man ihnen an. Ihre Farbe und ihr Benehmen sind dahin, ihr Sinn hat sich gewandelt. Diejenigen, die es mit ihnen zusammen geplant haben, wissen keinen anderen Rat. Sie wollen nun dem jungen König beistehen. Sie beteuern ihre Unschuld und berufen sich auf ihr dänisches Recht. Aber nein, es wird anders ausgehen. – Ihr Mörder, schaut euch eure Mordtat an: Welchen Fundus an mörderischen Sünden hortet ihr in eurer Kammer! Seht, euer König war euer Knecht; ihn, der euch Herrschaft und Recht gab, habt ihr ermordet. Dafür seid ihr für immer geächtet, fern von aller Gnade und Freude. Der Mord verwehrt euch alles Heil. Man macht das Kreuz über euch und erschlägt euch wie die Heiden.

Fortsetzung der Booklet-Einführung (am Rande die passenden Tracknummern):

(in Arbeit, Fortsetzung folgt)

Bücherbedarf

Warum gerade dies?

 .    .    .

Weil es die eigene Zeit verstehen (und verändern) hilft. Ich kam darauf durch die Präsenz der Autorin in der Lanz-Sendung 8. Oktober 2019 (mit N.Kampusch) HIER

Warum Peter Gülke? Man kann sicher sein, dass er diesen Gegenstand mit einem universalen (linken) Blick betrachtet, nicht als lebenslänglich eingeschränkter Archivar. Er schreibt (heute) eher etwas schwierig, aber was ich kenne (Brahms/Bruckner, Schubert, Schumann), möchte ich nicht missen. Dieses frühe Buch ist einfacher zu lesen, und wenn ich meine, man müsse zu diesem Thema unbedingt auch Salmen lesen („Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter“), oder Bachmann („Die Anfänge des Streichinstrumentenspiels“) oder Hammerstein („Die Musik der Engel“), er kannte das alles schon!

  Köhler & Amelang Leipzig 1975

285 Seiten, mit einer unbezahlbar schönen Bildauswahl, antiquarisch für 6,50 €

Antiquarisch, aus dem Besitz eines Rauchers (man riecht es), leicht vergilbt, aber ohne Lesespuren. Ich werde es mir durch viele Unterstreichungen aneignen.

ZITAT

„Schritte zum mehrstimmigen Komponieren“ (Gülke a.a.O. Seite 79f)

Wo immer der erste Schritt getan wurde, ob er angeregt war durch Erinnerungen an die Heterophonie, das freie Umspielen einer gleichen Melodie durch verschiedene Instrumente in der Antike, oder dadurch, daß Sänger verschiedener Stimmlagen die gleiche Melodie in der jeweils bequemsten Lage sangen und so zu einer Parallelbewegung kamen – entscheidend war der Entschluß, die „wild“ improvisierte Mehrstimmigkeit theoretisch zu fassen und so als kompositorische Möglichkeit zu legitimieren. Im Rahmen improvisatorischen Musizierens hätte die Mehrstimmigkeit sich nicht so entwickeln können, wie es in Europa geschah. Eben hieran zeigt sich der Unterschied von Komposition und Improvisation in aller Deutlichkeit: Wohl ist der Improvisierende „frei“ insofern, als er nicht an die Vorgabe eines Notentextes gebunden ist, aber die Wahrnehmung seiner Freiheit, alle Ausflüge seiner Phantasie erscheinen sinnvoll nur in einem Rahmen, den ihm das Verständnis seiner Zuhörer und das Zusammenwirken mit seinen Mitspielern vorgeben, ganz abgesehen davon, daß er, befangen im Vollzug, von seinem musikalischen Gegenstande nur geringen Abstand hat; nur, wenn er ein den Zuhörern vertrautes musikalisches Material benutzt, werden sie ihn und seine Freiheiten verstehen, und nur, wenn er sich an vorgegebene melodische und harmonische Modelle hält, funktioniert das Zusammenspiel mit seinen Partnern. Anders der Komponierende, der bei der Auswahl der Mittel freiere: Er kann Auseinanderliegendes planvoll zusammendenken und so zu neuartigen Synthesen gelangen, kann ohne die Befangenheit und das unmittelbare Engagement eines Musizierenden die Einzelheit präziser kalkulieren und in ein Verhältnis zur Disposition des Ganzen setzen, er kann im Bereich des Unerwarteten, Neuen weiter ausschreiten, mit bislang unvereinbar erscheinenden Mitteln, bei den Anfängen des mehrstimmigen Komponierens.

Nicht möglich wäre dies gewesen, wenn nicht die Entwicklung der Notenschrift die Übersicht erleichtert hätte. Die schriftliche Fixierung, zunächst nicht mehr als eine Gedächtnishilfe und also ohne Weitergabe der Melodien von Mund zu Mund kaum brauchbar, half nicht nur, die Einheitlichkeit des Repertoires in weit auseinanderliegenden Gebieten zu sichern, sie entlastete nicht nur die durch das Memorieren der Musikalischen Liturgie arg strapazierten Hirne, sie muß darüber hinaus die Einstellung zur Musik grundlegend verändert haben.

Abschreiben, um Arbeit zu sparen?

Oder weil es an Einfällen mangelt?

Man könnte sagen, dass die Reprise des Kopfsatzes einer großen Sinfonie dem Komponisten manche Arbeit erspart. Er lässt das Werk so enden, wie es begonnen hat, indem er den Ablauf der Exposition nachher wieder übernimmt oder nur leicht abwandelt. Varianten können sich ergeben, wenn Tonarten geändert werden müssen, damit sich das Werk zum Schluss hin in Richtung Tonika abrundet.

Nehmen wir die größte Sinfonie von Schubert, also die in C-dur, und konstatieren, dass in der Reprise des ersten Satzes im Komplex des ersten Themas von 76 Takten 60 die Exposition genau wiederholen, im Komplex des zweiten 54 von 72, im dritten 50 von 52; insgesamt also brauchte Schubert von 200 Takten 164 nur „abzuschreiben“.

Habe ich hier etwas Triftiges ausgesagt? Sicher, aber viel zu wenig. Keinesfalls dürfte gemeint sein, dass Schubert sich selbst plagiiert (das ist sein gutes Recht, wenn es ihm geboten scheint): aber ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die entscheidende Taktzahl fehlt? Die Taktzahl des ganzen Satzes, wir wissen doch bisher nichts über die Anzahl der Takte zwischen dem Ende der Exposition und dem Anfang der Reprise, – erst danach könnten wir abwägen, ob er es sich „zu leicht“ gemacht hat.

Aber es ist in mehrfacher Hinsicht Unsinn.

Vor allem bin ich selbst der Plagiator: im zweiten Absatz oben habe ich den Satzteil von „in der Reprise“ bis „abzuschreiben“ einfach von Peter Gülke abgeschrieben, und könnte damit ein bisschen brillieren, auch wenn ich sonst nichts verstanden habe. Ich könnte sogar noch zugeben, dass ich das von Gülke habe und nur verschweigen, was er damit sagen wollte oder was die Aussage in seinem Kontext bedeutete.

Und dabei belasse ich es für heute und kläre gar nichts. Erwähnen könnte ich nur noch, dass es doch bekannt sei, dass Schubert nach Modellen von Haydn, Mozart und Beethoven gearbeitet hat, ohne dass dies zu seinem Nachteil ausgelegt wird.

Da muss nicht erst ich kommen, oder?

***

In allen Fragen zu Schubert weiß ich keinen besseren Anwalt als Peter Gülke. Gerade weil in seiner großen Monographie (Laaber-Verlag 1991) auch ein Kapitel vorkommt mit der Überschrift „Verlegenheiten ums Dörfchen und der ‚mittelgute‘ Schubert“. In diesem Sinne kritisch aufklärend ist auch der abschließende Beitrag in Rudolf Bockholdts Sammelband „Über das Klassische“ (Suhrkamp 1987, Seite 299), nämlich: „Klassik als Erbe / Fragen an den ‚plagiierenden‘ Schubert.“ Ich zitiere den Anfang:

Die Unbefangenheit, mit der Schubert, ganz und gar der junge, mit den Traditionen umgeht, die er vorfand, er scheint bestenfalls mit der des jungen Mozart vergleichbar – oft nahezu rätselhaft in der Arglosigkeit, mit der er Modelle kopiert und, ohne – modern gesprochen – einen Identitätsverlust zu fürchten, ausgiebig tut, was anderen als Epigonentum und Plagiat angekreidet werden müßte. Gerät er dabei in diejenigen Bereiche des Komponierens, die diskursiven Verfahrungsweisen am nächsten stehen, so schlägt die Verwunderung der Betrachter zumeist in Kritik um; daß Schubert keine Durchführung zu schreiben imstande gewesen sei, wurde lange genug fast als communis opinio gehandelt; darüber hinaus aber tadelt z.B. Charles Rosen, daß „the structures of most of his large forms are mechanical in a way that is absolutely foreign to his models“. Hier freilich muß man gegenfragen, ob „Struktur“ dabei nicht allzu eng gefaßt sei, und im weiteren: inwiefern der Tadel vom Betrachteten auf die Betrachtung zu wenden wäre, zum Beispiel als Zweifel hinsichtlich der Angemessenheit von Maßgaben der diskursiven Logik, welche fast unausweichlich bei der Erörterung klassischer Formen mitspielen.

Die musikalische Welt, in die der junge Schubert komponierend eintrast, war ausabonniert, die Terrains verteilt, die Genres definiert. Wenn im Kanon der gegebenen Mittel und Formen noch Neues herauszuschaffen war, dann im Bereich des Liedes – eine Aussage, die dem Verdacht ausgesetzt ist, bequem von der Kenntnis auszugehen, was Schubert danach leistete. Eine Definition der Bresche indessen, in die er sprang – sensationell genug mit der „Initialzündung“ am 19. Oktober 1814 -, wäre eine lohnende Aufgabe, wichtig auch für die Klärung der Frage, inwieweit hier individuelle Begabung und musikgeschichtliche Konstellation zusammentrafen. (Peter Gülke)

Schuberts „musikgeschichtliche Konstellation“ nach Thr. Georgiades

Georgiades Schubert Schema

Quelle Thrasybulos Georgiades: SCHUBERT Musik und Lyrik / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1967 / 2. Auflage 1979

Das hier wiedergegebene Schema (Schubert als Angelpunkt der Musikgeschichte) bedarf zweifellos ausführlicher Erläuterung, und Georgiades bleibt sie nicht schuldig. Ich frage mich jedoch, warum Georgiades gewissermaßen in der Versenkung verschwunden ist, so bedeutend seine Funde und Forschungen auch sind (oder mir scheinen). Möglicherweise entbehren seine Schriften jeder auftrumpfenden Brillanz, und nur sein Buch „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ wird immer wieder herbeigerufen (s.a. hier), weniger weil es tatsächlich einzigartig ist, sondern auch weil es ihn in seiner Rolle als Grieche und Außenseiter zu bestätigen scheint. Man hütet sich, auf ihn zu verweisen.

Peter Gülke ist zweifellos erhaben über Verdächtigungen aller Art, dennoch interessiert mich, wer eigentlich die verborgenen strukturellen Bezüge bei Schubert – über die völlig offensichtlichen hinaus – als erster zum Thema genommen hat:

Derlei Bezüge begegnen bis zuletzt bei Schubert, u.a. zwischen dem Finale der späten A-Dur-Sonate D 959 und denjenigen von Beethovens Sonate op. 31/I oder, zuvor schon, zwischen dem h-Moll-Rondo für Violine und Klavier D 895 und Beethovens Kreutzersonate; und der Beginn des C-Dur-Quintetts D 956 mutet an wie eine Radikalisierung des Introduktionshaften in der Eröffnung von Haydns erster Londoner Sinfonie (=Nr.97 in C-Dur). Der Nachweis solcher Bezüge müßte fast den Beigeschmack des Denunziatorischen bekommen, führte er nicht auf zentrale Fragen, wenn nicht auf Rätsel – abgesehen davon, daß Schuberts Musik im befürchteten Sinne nicht denunzierbar ist; weder steht er in derlei Verfahrungsweisen als Epigone da, noch sind sie ihm als einem über alles begreifbare Maß hinaus Naiven versehentlich passiert.

Quelle Peter Gülke a.a.O. (1987) Seite 302

Die Jahreszahlen sagen genug über die Prioriät der Entdeckung, noch mehr sagt die erhellende Behandlung der Ähnlichkeit durch Georgiades auf den diesem Beispiel folgenden Seiten.

Georgiades Schubert Haydn Vergleich Georgiades a.a.O. S.158

Siehe auch den Blog-Artikel „Musik lesen und erfassen“ HIER.

Nun könnte ich – quasi aus freien Stücken – hinzusetzen, dass Schubert durchaus nicht erfreut war, wenn Freunde ihn auf eine Beethoven-Parallele aufmerksam machten, so als sei ich es, der das in in den dokumentierten Zeugnissen der Freunde entdeckt hat. Nein, auch diesen Hinweis verdanke ich der Schubert-Literatur, genauer: dem genannten Gülke-Aufsatz. Es geht um ein paar Takte in dem Lied „Die Forelle“ – „und ehe es gedacht, so zuckte seine Rute, das Fischlein, das Fischlein zappelt‘ dran“ – , die Freunde fühlten sich an ein Motiv aus Beethovens Coriolan-Ouvertüre erinnert. Und – so heißt es – Schubert habe sich geärgert. Wir als seine viel besseren Freunde hätten sofort hinzugefügt: aber das macht doch nichts, es ist ein völlig anderer Ausdruck, niemand wird je bei der einen Stelle an die andere denken. Es könnte auch ganz anders gewesen sein: denken wir uns eine Schubertiade, man sang und spielte verschiedenste Stücke, Lieder und auch Klavier vierhändig, darunter eine Bearbeitung der Coriolan-Ouvertüre, die Stelle mit dem Unruhe-Motiv (ca. 2 Minuten nach Beginn) misslingt, muss ein bisschen geübt werden, die Schuldfrage ist schwer zu klären, und dann sagt einer: das ist doch genau wie vorhin in Deiner Forelle, wenn die Angelrute zuckt. Plötzlich ist es ein Faux-pas, der junge Meister fühlt sich veranlasst, etwas zu sagen. Und für die anderen klingt es wie eine Ausrede. Sie werden später erzählen, Schubert habe sich geärgert.

Das ist meine beiläufige Deutung, bitte nie zitieren, ohne mich als Urheber zu nennen!

P.S.

Wenn es mir aber nun gar keine Ruhe lässt und ich nach einer Quelle suche, die ganz nahe bei Schuberts Freundeskreis angesiedelt ist, habe ich bei Walther Dürr eine ganz unfehlbare Adresse:

Dürr Schubert Forelle

Quelle: Reclams Musikführer / Walther Dürr und Arnold Feil:Franz Schubert / Philipp Reclam jun. Stuttgart 1991 (Seite 70)

Dieser Holzapfel hatte wohl einen Ohrwurm, aber so schwach war der Anklang nun auch wieder nicht, dass man nicht wüsste, worauf er anspielte…

Anlässlich der Gülke-Lektüre

Zur Bratschen-Melodie am Anfang der Zehnten von Mahler

Eine Übung

Ich folge einer spontanen Idee: anknüpfend an meine frühe Mahler-Begeisterung möchte ich genau verstehen, was Peter Gülke zum Beginn der Zehnten Sinfonie schreibt. Ich weiß, jeder Satz hat Hand und Fuß, aber es fällt mir doch schwer, Wort für Wort zu verstehen, – was Note für Note gemeint ist; ich möchte den Weg über den Notentext zur deutlich imaginierten Melodie abkürzen. Ich bezeichne daher jeden Ton der Melodie mit einer Zahl und vermerke diese in roter Farbe an der jeweiligen Stelle des Gülke-Textes Seite 325 f.

Mahler X Bratsche

Zur vergleichenden orthographischen Orientierung sei hier die Mahlersche Handschrift eingefügt (per Screenshot dem Petrucci-Faksimile entnommen, siehe hier):

Mahler Adagio Handschrift Anfang

ZITAT Gülke (mit Einfügung der roten Ton-Nummerierung laut Notenbeispiel oben)

Dem einleitenden, 15-taktigen Solo der Bratschen schreibt er „Andante“ und „pp“, sonst außer drei Akzenten nichts vor; danach hingegen begegnen detaillierte Anweisungen zuhauf. Gewiss in seinem Sinn ist das „pp“ in der Einrichtung für Orchester von Deryck Cooke zu „teneramente, pp e sotto voce“ erweitert worden. Damit wird fast Unmögliches verlangt – Enthaltsamkeit beim Vortrag einer von rhetorischer Gestik, thematischer Potenzialität und Expressivität berstenden Melodie, die zugleich sich den Anschein frei schweifender Beliebigkeit gibt.

Dreimal in ähnlichen Wendungen holt sie in einer Ab-auf-Kurve Schwung, um die Höhe der Töne g‘ (4), dann h‘ (10), endlich cis“ (14) zu gewinnen – Letzteres in einer abgeflachten Schleife. Dort kommt es im Crescendo (?) zu einem durch die spröde Lage der Bratschen betonten Energiestau, der sich zum d“ (15) als höchstem Melodieton hin entlädt. Es lässt sich nicht halten; so folgt ein Abstieg in Vierteln (15-21), der das vom vorgezeichneten Fis-Dur abweichende, als harmonischer Bezugspunkt hinterlegte h-Moll bestätigt – mit Ausnahme der letzten Note im siebten Takt (22). Dort erwartet man nach einer kleinen Terz ( 20-21) [den Ton] h, wonach die bis zur vollstimmigen Harmonie der Takte 16 ff. verbleibende Strecke diatonisch plausibel einen Halbton höher erklänge, ausgenommen der letzte Takt (34), dessen ais zum eintretenden Fis-Dur (Adagio) gehören würde. Mahler jedoch lenkt unsere Wahrnehmung mit dem statt h eintretenden b (22) in einen als nach unten gedrücktes Fis empfundenen F-Bereich und befestigt dies in zweimal vier Takten (23-28, 29-34) und je paarweise in rhythmisch-melodischen Entsprechungen. Nach der Hinführung f-g-a (31-33-34) in den Takten 13 bis 15 erwartet man den Adagio-Beginn auf B. [Der Autor meint nicht den Ton ais, der ja mit b identisch wäre, sondern den Akkord auf B.] Jedoch tritt Fis ein (Bass-Ton des Adagiobeginns), die vorgezeichnete, bislang gemiedene Grundtonart als Mediante des Erwarteten!

Was dieser Trugschluss – im Sinne der klassischen Harmonielehre – an Befestigung schuldig bleibt, besorgt der Eintritt des vollstimmigen, durch Posaunen und sonore tiefe Streicher geprägten Satzes. Dies verschafft dem Fis-Dur, weiab von der Selbstverständlichkeit einer etablierten Grundtonart, ein den gesamten Satz überstrahlendes Charisma, an den Gravitationspunkten erklingt das Thema, insofern einer sonatenhaften Verarbeitung halb entrückt, stets in Fis. Die unverhohlen Bruckner’sche Dreiklängigkeit ist die einzige satzbestimmende Prägung, die im Unisono der Bratschen, und sei’s kryptisch, nicht aufscheint. Immerhin ergibt sich ein komplementäres Verhältnis insofern, als die Bettung im Klang weit ausgreifende Intervallschritte und enormen Ambitus ermöglicht, den das Unisono zuvor in meist kleinen Schritten ausmessen musste – nicht ohne Mühe, wie die erst über mehrere Impulse erreichte, in den langen Tönen h‘-cis“-d“ (10-14-15) knapp gehaltene Höhe verdeutlicht. Zwar kommt die Melodie nach dem Abstieg zur Ruhe, jedoch am „falschen“ Ort (23). Als Verweil- und Haltepunkte finden die drei hohen Töne eine Entsprechung im ebenfalls aufsteigenden f‘-g‘-a‘ (31-33-34) der Takte 13-15, welches seinerseits dem absteigenden Chroma a‘-as‘-g‘ (23-26-29) der Takte 8 bis 12 antwortet.

Derlei die Machart der Musik betreffende Auskünfte erscheinen hilflos abstrakt in Bezug auf das, was die Musik ist und sagt, etwa, wieviel Suche, wo nicht Sehnsucht nach einer auffangenden Harmonie in ihr mitarbeitet. So bleibt das anfangs implizierte h-Moll tatsächlich hinterlegt, gibt kaum Halt. Noch mehr treten harmonische Verbindlichkeiten zurück, wenn Mahler am Ende des siebten Taktes das erwartete h‘ zu b‘ (22) alteriert und damit das Folgende um einen Halbton nach unten drückt. Nach Maßgabe des Quintenzirkels ergibt das einen riesigen Abstand, doch nimmt man ihn kaum wahr, weil eine Halbtondifferenz in der Linie vergleichsweise geing wiegt. Inddem das Unisono der Bratschen scheinbar ungestützt herumhangelt, umschreibt es die Leerstelle der vorenthaltenen Bettung nachdrücklich. Wenn diese eintritt, wird das, verstärkt durch den Trugschluss, zum Ereignis, zu großer Ankunft. Das vor allem, erst in zweiter Linie die am Choral orientierte Setzweise, nährt sein Charisma, die Aura einer je neu herabkommenden Epiphanie.

Nun, da sie gefunden ist, gebiert und trägt die Harmonie die Melodie ebenso sehr, wie sie sie begleitet, weshalb große Intervallschritte leicht genommen werden, die im Unisono Mühe gemacht hatten, und eine in Bezug auf die Linie eingreifende Veränderung wie die Umkehrung die Prägung fast identisch lässt (Takte 20, 63, 133, 213 etc.).

Ab hier wird bereits eine weiterreichende Partiturkenntnis vorausgesetzt. Aber auch ohne sie bleibt die Lektüre nicht ohne Gewinn. Es geht um die Kollision zwischen Leben und Werk, um einen „Lernprozess, zu dem Mahler verurteilt war, ein Ineinander von Werkstruktur und „document humain“, wie man es zuvor selbst bei ihm nicht kannte, an dessen Authentizität jegliche Abwehr biografischer Trübungen der ästhetischen Autonomie scheitert.“ (S. 328)  Es war offenbar der Moment, als Mahler von der Liebschaft seiner Frau Alma erfuhr und er verzweifelte verbale Ausbrüche in die Skizzen seiner Partitur kritzelte. Sein Tod war nahe.

Quelle Peter Gülke: Musik und Abschied / Bärenreiter Kassel Basel london NewYork Praha 2015 (Seite 325 ff)

Schumann-Projekt, dritter Teil

Streichquartett op. 41 Nr. 3

Zu Beginn der Frust: es macht keinen Spaß, diese zweite Geigenstimme zu üben. Man muss also wohl das Gesamtergebnis im Ohr haben. Ich habe es noch nie in meinem Leben gehört. Eine riesige Chance! Ich betrete also Neuland, wenn ich mit dieser Aufnahme beginne, und der Botticelli im Hintergrund stimmt mich froh.

Info über das Quatuor Ebène HIER.

Ich markiere die formalen Angelpunkte: Einleitung, die fallende Quinte 0:08 bis 0:52 / Haupttempo (Thema beginnt mit fallender Quinte) ABA 0:53 – 1:23, ab 1:23 heftiger Neuansatz, Entschluss nicht zu „zerfließen“, dennoch Thema – mit Bratsche – auf neuer Ebene, verebbt in 1:34, ab hier neuer Charakter, synkopisch-nervös, bzw. alle schlagen nach , nur die 1. Geige spinnt motivisch geradlinig weiter: bis 2:17, hier im pp innehaltend, bis 2:30 bereits epilogisch ausklingend. Abschlussgedanke bis 2:41. Wiederkehr des Anfangsmotivs als letzter Gruß bis 2:46. Wiederholung dieser ganzen Exposition (ohne Einleitung) bis 4:42. Und noch einmal scheint der Anfang wiederzukehren, wird aber abrupt unterbrochen bei 4:49. Eine heftige „Suche“ beginnt. Wer in den Schemata der Formenlehre denkt, wird dies als „Durchführung“ erkennen und als Ziel eine Reprise erwarten, – die aber aus bleibt oder nur zögerlich eingelöst wird, ab 5:28. Stattdessen nachdenkliches Innehalten. Und das Cello führt nun unmittelbar in den zweiten Abschnitt, der in der Exposition ab 1:34 auf den Plan trat und dort als „neuer Charakter“ bezeichnet wurde. Im weiteren verläuft nun alles nach dem Muster der Exposition, wenn auch in anderer Tonart. Bis 6:48 (oben „epilogisch ausklingend“). Der „Abschlussgedanke“ – er fungiert hier wie eine nachgelieferte „korrekte“ Reprise –  führt jetzt zu einer kleinen Climax, „künstlich“ ins piano gedehnt, fallende Quinte im Cello als Ausklang. 7:20 Ende des ersten Satzes.

So etwa würde ich den Verlauf des ersten Satzes mit Worten begleiten, nur um auf das aufmerksam zu machen, was geschieht, was also „eigentlich“ sowieso von jedem zu hören ist. Aber erst wenn das ganz klar ist, könnte man zu deuten beginnen. (Aber im Grunde gehörte oben das Wort „Suche“ schon in den Bereich der Deutung.)

Ich schaue, was der schon mehrfach zitierte Arnfried Edler zu diesem Satz zu sagen hat. Er hebt im Vergleich zu den beiden anderen Kopfsätzen des op. 41 diesen hervor:

Einzig die Durchführung des A-Dur-Quartetts Nr. 3 macht eine Ausnahme: in diesem Stück, wo sich Schumann der klassischen Thematik am nächsten befindet, schrumpft die Durchführung auf eine einzige kurze Sektion mit den beiden kontrastierenden Motiven des Hauptthemas zusammen, dessen Wiedererscheinen in der Reprise dafür gestrichen ist, so daß die gesamte Durchführung (TT 102-145) gewissermaßen den Hauptthemenkomplex in der Reprise vertritt. Doch stellt diese Konzentration der Form einen absoluten Sonderfall dar; sie erinnert an Schuberts Finale des d-Moll-Streichquartetts. Zu bemerken ist, daß das kontrapunktische Element, das auch schon in der Exposition hervortrat, in der Durchführung eine erhöhte Bedeutung gewinnt, jedoch zumeist in Gestalt isolierter Episoden, als eine besonders hervorgehobene Transformation des Materials unter anderen.

Quelle Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber-Verlag 1982  (Seite 167)

(Fortsetzung folgt in einem späteren Beitrag, z.B. hier)

Ein lastender Termin vorüber. Ein guter Tag. Ein neues Buch:

Gülke Musik und Abschied a Gülke Musik und Abschied b  Seite 178:

Klassische Formen nehmen unsere Wahrnehmung bei der Hand, nur zu gern lassen wir sie gewähren. Sie bestimmen die Grade der Aufmerksamkeit – hier ein wichtiges Thema, das uns ganz und gar einfordert, dort eine modulierende Passage, bei der es nicht vonnöten ist etc. – insgesamt eine freundlich- sachbezogene Bevormundung, polemisch gesehen: Herrschaftsmittel eines Systems, welches vorschreibt, was wichtig und was nicht wichtig ist, und der Unbefangenheit des Hörens, dem radikal offenen Ohr entgegenarbeitet.

Dessen aber bedarf neue Musik, heute zumal angesichts permanent und meist falsch beanspruchter Ohren. „Daß nur ein Hören, das sich dem individuellen Stück mit Haut und Haar ausliefert und es nicht nur ohne Vorurteile, sondern ohne Erwartungen einer bestimmten Form von Sinn aufnimmt, zur Tiefendimension der sich ereignenden Musik vordringt“ – dessen ist sich Hans Zender sicher und versteht „Ereignis“ durchaus im emphatischen, von Heidegger und in George Steiners „Realer Gegenwart“ gemeinten Sinn. Nur allzu sehr im Recht, lässt er beiseite, dass Erwartungen – erfüllte, enttäuschte, im Verlauf vorgegebene – beim Hören allemal dabei, wir darauf angewiesen sind, zwischen mehr und weniger wichtig zu entscheiden, dass selbst dumpfe Vorahnungen von sinnvoll Gestaltetem von Erwartungen irgendeines roten Fadens grundiert sind. Jegliches Neue muss sich zu schon Vorhandenem verhalten, auch sich dagegen definieren – und ist, so sehr es den Blick abwenden will, auf den Bezug angewiesen.

Quelle: das oben abgebildete Buch von Peter Gülke. ISBN 978-3-7618-2401-6

Nachtrag (einige Tage später)

Der Wert dieses Buches ist in Worten gar nicht auszudrücken. Zu bedauern bleibt nur, dass der Text zur Musik oft so schwierig ist, dass Nicht-Musiker, die Ähnliches erlebt und gefühlt haben wie der Autor, nämlich den Tod eines geliebten Menschen, nicht auf die Idee kämen, intensiver hineinzuschauen. Ich würde es auch an Freunde verschenken, die eine ganz andere Musik lieben als die, die darin behandelt wird. Vielleicht mit dem Hinweis, nur die kursiv gedruckten Texte zu lesen: Am Abend zuvor, die Selbstgespräche I bis V und Ad finem, dann etwa den Text „Todes-Erfahrung“ auf Rilke, die Totenrede „Vox humana“ auf Dietrich Fischer-Dieskau. Man wird dies alles ein Leben lang nicht vergessen. Es gibt kein zweites Buch von diesem musikalischen und menschlichen Rang. Man kann nicht umhin, schließlich auch in die Musiktexte abzudriften und eine ernsthafte Neigung zu entwickeln, all diese Erfahrungen nachzuvollziehen. Bis auf die eine, unausweichliche.

Schuberts Singularität

Der Schwer-zu-Deutende, den alle verstehen 

Vetter Schubert Quartett G

Walther Vetter: Franz Schubert / Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion Potsdam 1934

Natürlich war ich gestern erschöpft (nach der Probe dieses Quartetts) und weit entfernt, ihn klarer als früher vor Augen zu sehen. Aber eins ist sicher, der massiv grüne Bücken-Band aus der Nazi-Zeit verfehlt ihn mehr als alle Werke, die in jüngerer Zeit entstanden sind. Was man schwer erträgt, sind die wohlfeilen Vergleiche mit Beethoven und der Ausblick auf Bruckner. Schubert ist Schubert.

Im Fall des Streichquintetts C-dur liest man zum langsamen Satz, der vielleicht alles in den Schatten stellt, was je geschrieben wurde:

Im Adagio mag man die Differenziertheit der Rhythmik und die unkontrapunktische, aber sehr obligate Stimmführung als Beethovensche Art empfinden: im Kern hat diese Musik mit Beethoven keine Berührung.

Was sie stattdessen berührt, wird mit ein paar Platitüden bedacht. („So wird die Form von innen her aufgebrochen“.) Und zum Trio des Scherzos, das unvermittelt die Tür zu ungeheuerlichen Räumen aufstößt, für die man keine Worte findet, fällt dem Autor ein:

Im Scherzotrio häufen sich die Des-Dur-Ganzschlüsse, aber der Komponist zögert, die angeschlagenen Gedanken zu Ende zu denken. Nirgend ist in Schuberts Lebenswerk der Weg zu Bruckner entschiedener betreten als hier.

Dort wo Schubert am größten ist, windet sich der Musikwissenschaftler, verweist ohne sich zu schämen auf andere Komponisten, die offenbar imstande waren, „angeschlagene Gedanken zu Ende zu denken“, und verrät in schrecklichen Allgemeinplätzen, was ihm dieses „Musikertum“ bedeutet. So im oben wiedergegebenen Abschnitt zum G-dur-Streichquartett:

 In allen seinen wesentlichen Teilen ist dieses Quartett jedoch Dokument eines von jeder gedanklichen und sinnlich-stofflichen Zielsetzung losgelösten Musikertums, für welches alle Melodik im herkömmlichen Sinn lediglich die materialisierte Erscheinungsform gewisser tiefer geschichteter musikalischer Vorgänge ist.

So hat man ihn vom Hals. Unter Berufung auf Ernst Kurth darf man noch verweisen auf „die völlige Zersetzung der tonalen Klangverhältnisse, die einem … labileren und farbenreicheren Prinzip weichen“. Und zum Abschluss hebt man noch die Wirkungen hervor (Tremoli), „deren sich von jeher die Romantik bemächtigte und die deren Grenzregion zwischen Träumen und Wachen, ihrem eigentlichsten Kunstgebiet“ entsprechen.

Kurz: Ein Komponist, der seine Gedanken nicht zu Ende denkt, der die Zersetzung tonaler Klangverhältnisse in Kauf nimmt, um einem labileren Prinzip zu folgen und letztlich in einer Grenzregion zwischen Träumen und Wachen zu verweilen.

Diese Art von Schubert-Exegese gibt es heute nicht mehr. Das Buch stammt aus dem Jahre 1934 und ist natürlich nicht geschrieben worden, um den Komponisten herabzusetzen. Aber gerade die Tatsache, dass ein solcher Eindruck quasi aus Versehen entsteht, sagt etwas über das Klima jener  Zeit: der Weg zu Schubert war verschüttet (er war in einer „Grenzregion“ zu Hause).

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Um eine Vorstellung zu geben, was wirklich in dieser Musik geschieht (wenn man es schon in Worten und eher technisch anzudeuten versucht), sei hier Werner Aderhold zitiert, der allerdings auf jede Poetisierung verzichtet und natürlich auch bei dem Dur-Moll-Wechsel der ersten Akkorde ansetzt:

Der Prozeß, aus widerstreitenden Ansätzen zu Gestalten zu kommen, hat teil an der Konstitution des Satzbaus und verbindet als übergreifendes Moment alle vier Sätze. Dafür sinnfällig ist der, vor allem den Ecksätzen eigene, Wechsel von Dur- und Moll-Terz. Schubert stützt sich im ersten und letzten Satz auf die Sonatenanlage, handhabt diese jedoch nicht im Sinne eines Wettstreits gegensätzlicher Charaktere, sondern als Nebeneinander sich ergänzender Aktionsräume. Darin reiht sich Block auf Block einander ablösender Varianten. Variierte Reihung kennzeichnet auch den zweiten Satz, dessen ausgedehnt singende Cello-Melodien wohl Beruhigung, gar Frieden auszustrahlen vermöchten, wäre ihnen nicht der Affekt der Ruhelosigkeit in den Oberstimmenfiguren beigegeben. Mit den zweimaligen Ausbrüchen der Mittelteile – Affektentladungen in einer Chromatik, die jeder „geregelten“ Modulation spottet – gerät alles aus den Fugen. Ähnliche Stürme hat Schubert nur noch im zweiten Satz der späten A-Dur-Klaviersonate (D 959) entfacht. Beide Erfindungen sind nicht einfach des Kontrastes wegen erdacht, sie sollen vielmehr die äußersten Zeichen der Bedrohung dort setzen, wo die Kunst, über dem Vorschein eines im Gesang vorgestellten Glücks, menschliche Not zu verraten in der Lage ist.

Quelle Reclams Kammermusikführer FRANZ SCHUBERT von Walther Dürr und Arnold Feil / Philipp Reclam jun. Stuttgart 1991 (Seite 253) – grüne Hervorhebung JR

Die Gefahr, die ich heute bei Schubert sehe, ist die des uneingeschränkten Wohlgefühls, ungeachtet aller Zeichen äußerster Bedrohung.  (Ob nicht diese Wortfolge im obigen Text gemeint ist?)

Eine andere Gefahr ist die, – um ihn ja nicht zu bagatellisieren – überall und in jedem freundlichen Lied eine latente Katastrophe zu wittern. Die Fremdheit dieser Welt und das Fremdsein in dieser Welt ist allerdings eine Sache, mit der nicht nur Schubert zu tun hatte, sondern jeder von uns, heute mehr denn je, – was uns nicht hindert, hier und da Glück zu empfinden. Auch bei Schubert und genau wie Schubert, „über dem Vorschein eines im Gesang vorgestellten Glücks .“

Ich habe vor Jahren einmal versucht, dieses Gefühl der Fremdheit zu erkunden und mit grundlegenden Fremd-Erfahrungen zu verbinden. Ich glaube, ein wenig zum Befremden meiner Zuhörerschaft, die klein war, aber zweifellos aus Schubert-Freunden bestand, die keinesfalls gekommen waren, um indische Musik zu hören. Egal, wie fremd  sie ist und welche Erfahrungen sie erlaubt…

Der Vortrag ist HIER zu finden.

Hinter der Überschrift des heutigen Blogs („Singularität“) steht die hier nicht weiter hervorgehobene Behandlung des Themas bei Thr. Georgiades.

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Nachtrag Peter Gülke über die letzten Quartette:

In dem Brief vom 31. März 1824, den er vermutlich nach Beendigung des d-Moll-Quartetts geschrieben hat, dem das in a-Moll knapp vorausging, spricht Schubert von drei Quartetten. Nun begegnet in dem mit der Datierung „20.-30. Juni 1826“ überlieferte G-Dur-Quartett D 887 vielerlei beim d-Moll-Quartett Beobachtetes wieder – der schroffe Beginn, der Passus duriusculus (T. 15ff.), das in Terzgängen kreisende zweite Thema (der am konsequentesten in sich kreisende Charakter, den er je komponiert hat), noch deutlicher als im d-Moll-Quartett als Thema des Trios, der „delirierende“ Sechsachtel-Wirbel eines riesig dimensionierten Finalsatzes, dessen Hauptthema fast wie eine Umkehrung des entsprechenden d-Moll-Themas beginnt, und gleicherweise ein dem fortreißenden Wirbel blockhaft entgegengesetztes Seitenthema; am Beginn des zweiten Satzes skandiert Schubert ebenfalls die Frage nach der „schönen Welt“*, und in dessen dramatischen Passagen verschärft er fast ins Unerträgliche die Verzweiflungsschreien ähnelnden Terzaufschläge der  Marcia funebre sulla morte d’un Eroe aus Beethovens Klaviersonate op. 26. Hat er den Tod und das Mädchen, hindurchgegangen durch die Erfahrungen des d-moll-Quartetts, ein zweites Mal komponiert – extremer und ohne direkten motivischen Bezug? War dieses Quartett, nur in der endgültigen Ausarbeitung auf später vertagt, das dritte?

Quelle Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit / Laaber Verlag 1991 (Seite 211 f) / *bezieht sich auf auf das Zitat des Liedes „Schöne Welt, wo bist du?“ („Die Götter Griechenlands“) im Menuett des „Rosamunde“-Quartetts.

PS.

Natürlich nehme ich, wenn ich Gülke lese, meine Anfangsworte über die wohlfeilen Vergleiche mit Beethoven und Bruckner gern zurück. Höchst interessant, wenn er im Zusammenhang mit Der Tod und das Mädchen darauf hinweist, dass sich „von den Seufzerfiguren der ersten Variation der Kontext flehender Gebärde kaum wegdenken“ lässt, und dazu die Anmerkung gibt:

Auch, wenn Beethoven der Seufzer-Topos nicht neu nahgebracht werden mußte, erscheint nicht ausgeschlossen, daß er von hierher angeregt wurde für die im Folgejahr komponierte Cavatina im Streichquartett op. 130; Schuppanzigh könnte der Mittler gewesen sein.

A.a.O. Seite 208 und Anm. 107 auf Seite 215 / Dort auch die Anmerkung (bezogen auf die Ausführungen auf Seite 210) zur Situation des Dialogs von Tod und Mädchen (Schluss des ersten Satzes):

Von diesem Satzschluß könnte Bruckner bei der Revision seiner Achten Sinfonie zur Totenuhr angeregt worden sein.

Musikbeispiel

siehe (und höre) Brandis Quartet /  https://www.youtube.com/watch?v=vnAoj_4rji4           (Achtung: am Anfang erscheint im Schriftbild fälschlicherweise „Rosamunde-Quartett“). der eben erwähnte Schluss des ersten Satzes ab 15:21 bis 16:05 (Satzende).

Das Staunen über die unglaubliche Meisterschaft eines so jung verstorbenen Komponisten regte Hans-Klaus Jungheinrich in seinem lesenswerten Buch „Der Musikroman“ (Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1998) zu interessanten Gedankengängen an (Seite 114f):

 Das Pensum, das Schubert in seinem kurzen Leben absolvierte, ist so groß, daß es kaum vorstellbar ist, wie dieser Mann mit gleicher Intensität noch dreißig, vierzig Jahre hätte weiterkomponieren können. Womöglich gibt es, mit einer großen Schwankungsbreite zwischen den einzelnen kreativen Potenzen, nur ein begrenzte Menge von künstlerisch hochrangigem Output einer Person, ein endliches Quantum von Triebenergie, und wenn das schon in jungen Jahren mobilisiert wurde (Rossini, Sibelius), bleibt fürs Alter nichts übrig. Oder umgekehrt: produktive Alterswildheit zeigt sich nur da, wo früher haushalterische Zurückhaltung herrschte (Janáček, Brian). Doch ist es auch müßig, über eventuelle Gesetzlichkeitenzu spekulieren, wo sich alles immer wieder als unvorgersehbar, rätselhaft und geheimnisvoll erweist. Schuberts jugendliches Oeuvre ist so unüberbietbar wundervoll, daß das, was einige Jahrzehnte zusätzlicher Meisterschaft noch hätten hinzufügen können, eher den ganzen musikgeschichtlichen Kontext verändert hätte als das Bild dieses Musikers, dessen letzte Klaviersonaten oder Große C-Dur-Symphonie Ausdruck einer Reife sind, die man nicht durch beliebige biographische Schritte hinter sich hätte lassen können. Hugo Wolfs hektische Kompositionsweise deutet auch darauf hin, daß extreme Kunstleistung mit „Ernstfall“ und „Gefahr“ enger liiert ist und Tod und Wahnsinn näher steht als der Gemütlichkeit und Wohlversichertheit eines Heinzelmännchenfleißes. So dürfen wir annehmen, daß Schubert, ohne begründetes existentielles Bangen, seine Große C-Dur-Symphonie mit sechzig statt mit dreißig geschrieben hätte – in jedem Fall eine Summe und ein Abschied. 1860 hätte sie dann aber wie Brahms, Bruckner und Liszt geklungen – vielmehr wie „Schubert“, der um diese Zeit vielleicht wie ein altersweise-eisgrauer Mahler geklungen hätte.

Wie gesagt: ein sehr lesenswertes, kenntnisreiches und anregendes Buch.

Kunst als Übung

Vergeistigung durch Streichquartett?

Freund Klaus G., dem ich als Dank für den ganzen Beethoven mit dem Belcea-Quartett das Bärenreiter-Taschenbuch über gerade diese Werke schickte, machte mich auf das bemerkenswerte Motto aufmerksam und, dass er den einleitenden Gülke-Essay gelesen habe. Ich wusste nicht, was er sich da zugemutet hatte, las nach und war ein bisschen beschämt. Tatsächlich bin ich nicht verpflichtet, alles auswendig zu kennen, was ich verschenke. Trotzdem fühle ich die Verpflichtung, das zu beherzigen, was ihm nun zum Thema wird. Natürlich das Motto von Auguste Rodin, ich würde es sofort unterschreiben (oder etwa nicht?).

Kunst ist Vergeistigung. Sie bedeutet höchste Freude des Geistes, der die Natur durchdringt und in ihr den gleichen Geist ahnt, von dem auch sie beseelt ist. Die Kunst ist die erhabenste Aufgabe des Menschen, weil sie eine Übung des Denkens ist, das die Welt zu verstehen und sie verständlich zu machen sucht.

Mein Gott! Unterschreiben würde ich nur, dass sie (unter anderem) eine Übung des Denkens ist, gewiss, und dann wohl meist auch eine Freude des Geistes. Vielleicht auch eine Erfahrung des eigenen Ungenügens? Aber die Sache mit der Natur – ist das nicht typisch Bildhauer, kann man diesen Idealismus heute noch teilen? Irgendwo muss sich eine nähere Begründung finden, und schon stecke ich in Peter Gülkes Text, vielmehr, ich bleibe stecken. Ein Beispiel: was für eine Nebenarbeit habe ich zu leisten, um allein einen Passus, den ich gleich folgen lasse, zu verstehen?! Und die andern Leser alle, sind die mit jedem kurz genannten Streichquartett oder mit bestimmten Motiven daraus so vertraut, dass sie lächelnd zustimmen: Jaja, der alte Gülke, recht hat er, wenn er recht hat! Aber ich habe den Satz von der Übung des Denkens nicht umsonst gelesen, – bevor ich Beethoven übe, werde ich Gülke üben müssen: „Beethoven – Musik der anderen Zeit“. Er meint sicher nicht die Zeit – sagen wir – in den Jahrzehnten vor und nach 1815, auch nicht die um 2015, die ich gern in Beziehung setzen würde. Dies ist nur ein Baustein:

Zeitbezug und Historizität vermitteln sich dem Musiker, nicht notwendig als solche reflektiert, im Material, mit dem er umgeht. Beethoven komponiert das dritte der Quartette op. 59, in C-Dur stehend und das Opus abschließend, selbstverständlich bezogen auf kanonische Vorbilder. Mozarts Streichquartett 465 und die „Jupiter“-Sinfonie KV 551. C-Dur hält zwischen dem subdominantischen F-Dur und der Dominantparallele e-Moll ähnlich eine harmonische Mitte wie in Mozarts letzten Sinfonien zwischen Es-Dur und g-Moll; die Introduktion, ohne sichernden Gleichschritt der Achtel und noch chromatischer, radikalisiert diejenige von KV 465; der melodische Gestus der das Allegro eröffnenden Violine erscheint wie eine verkürzte Erinnerung an den melodischen Gestus an entsprechender Stelle bei Mozart, und der liegt nicht weitab von der archetypischen Viertonfolge c-d-f-e aus Mozarts Sinfonie, welche ihrerseits Beethovens Menuett-Thema hinterlegt erscheint – wie dem Andante cantabile in Mozarts Quartett; und wie dessen Sinfonie beendet Beethovens Quartett offenkundig summativ, nicht nur das Werk, sondern die Werkgruppe krönend, eine einzigartige – bei Mozart souveräne, bei Beethoven angestrengte – Verbindung von Kontrapunkt und dialektischer Großform. Eingeweihten bietet Beethoven einen zusätzlichen Hinweis auf den Mozart-Bezug: Mit dem kleinen Schönheitsfehler paralleler Quinten im Übergang vom dritten zum vierten Takt passt sein Finalthema als sechster Kontrapunkt zu den fünfen des „Jupiter“-Finales (dort ab T. 372 übereinander), man könnte jeweils in Ganzen in Beethovens Takten 1-4 g-a-c-h, in den Takten 11ff. d-e-g-f, in den Takten 21ff. g-a-c-h unterlegen usw. und seinen Satz dergestalt verlängernd denken als das in den Wind der Beschleunigung geratene Mozart-Finale.

Quelle Ludwig van Beethoven Die Streichquartette (Gülke, Indorf, Korfmacher, Moosdorf, Platen) Bärenreiter-Verlag Kassel 2007 ISBN 978-3-7618-2108-4  (Seite 11)

Nur wenn ich das als Übung betrachte, für die ich alle Partituren bereitlege, kann mir der Text etwas sagen, so dass ich eventuell antworten kann: nein, das geht mir zu weit, ich will gar kein „Eingeweihter“ sein, der versteht, dass Gülkes (unnötige) gedankliche Prozedur Quinten-Parallelen ergibt. Schon das Wort von der „kanonischen“ Vorbildern hatte ich falsch verstanden und auf die kontrapunktischen Gebilde am Ende des Beethoven-Quartetts und der „Jupiter“-Sinfonie bezogen.

Nicht einmal an die Verwandtschaft des Beethovenschen Menuett-Themas mit der „archetypischen Viertonfolge“ mag ich glauben, auch nicht an die subkutane Bedeutung der Tonarten-Relation in den Dreiergruppen der genannten Werke von Beethoven und Mozart. C-Dur lässt sich immer mit C-Dur in Verbindung setzen, finde ich…

Obwohl ich hier steckengeblieben bin, weiß ich, dass das Ergebnis der Gülke-Lektüre die ganze Übung wert ist. Die „Zeit“ ist das Thema, und ich werde am Ende beherzigen, was ich darüber Neues gelernt habe, – schon im Blick auf Beethovens Widmungsbrief zur Klaviersonate op.109 … (übrigens auch am Anfang einer Dreiergruppe stehend, deren Tonarten- und Motivbeziehungen vielsagend sind).

(Fortsetzung folgt)