Archiv für den Monat: September 2017

Vom Wert einer Zeitung

Um einmal einiges aufzuzählen…

Vielleicht ist es kein Tag wie jeder andere. Und es hätte auch eine andere Zeitung sein können, die Frankfurter Allgemeine, die Neue Zürcher Zeitung, die ich beide sporadisch im Internet lese, die ZEIT, die ich wöchentlich in Papierform auf dem Tisch ausbreite, beginnend mit dem Feuilleton, fortfahrend mit dem Teil Wissen, und zum vorläufigen Ende die ersten 3-4 Seiten. Heute aber ist es die Süddeutsche Zeitung, die per Ferien-Umleitung dank einer Freundin für zwei Wochen täglich bei uns hereinschaut. (Auch sonst ziemlich regelmäßig, aber immer verbunden mit einer Fahrradfahrt zur Bahnhofskiosk, also nicht „immer“.) Vorübergehend im Wechsel mit Claus Klebers sehr lesenswertem Büchlein „Rettet die Wahrheit“, das in meiner Buchhandlung Jahn an der Kasse lag und bei ZDF-Lanz mit dem Autor durchgesprochen worden war, als ich den neuen Fabiou abholte: „Philosophie des wahren Glücks“, weil mich sein „Versuch, die Jugend zu verderben“ seit Monaten (vor dem Einschlafen) beschäftigt hat.

Also die Süddeutsche heute, Freitag, den 29. September 2017. Endlich eine volle Seite über das Phänomen „Referendum in Katalonien“, und zwar derartig in Schwerpunkte aufgeteilt, dass man keinen auslässt. Und den Leser, der die Problematik aus der Ferne mit Befremden verfolgt hat, merkwürdig verändert daraus hervortauchen lässt.

Seite 13 Hirngespinste! Stierkämpfer und Kolonialherren die einen, Akrobaten und Händler die anderen. Über die historischen Wurzeln des Konflikts zwischen Spaniern und Katalanen. / Referendum in Katalonien 300 Jahre Streit, drei Schriftsteller, ein Abgrund. Von Thomas Urban.

Aber es ist auch die Konfrontation von zwei politischen Kulturen. Der Wohlstand der Katalanen beruhte auf Handwerk und Seehandel. In den Städten entwickelt sich ein selbstbewusstes Bürgertum, vergleichbar den Hansestädten und italienischen Stadtrepubliken. Eine Tradition des politischen Kompromisses und ein ausbalanciertes Machtsystem entstanden.

Spanien hingegen war eine Monarchie mit klarer Machthierarchie: König, Adel, Klerus und Bauern, die Frondienste leisten mussten. Nach der Entdeckung Amerikas beruhte die spanische Wirtschaft nicht auf Handel und Erfindergeist, so stellen es mit Vorliebe katalanische Historiker dar, sondern auf der Ausplünderung der Reiche der Azteken und Inkas. Die Gestaltung der Politik blieb bis in die Neuzeit einer kleinen Elite vorbehalten. Nach Meinung links-liberaler Politologen lebt dieses hierarchische Politikmodell in der PP fort.Dort sei, so sagen sie, die innerparteiliche Demokratie rudimentär ausgebildet. Auch gelte für sie die Devise: „Der Gewinner nimmt sich alles.“ Vor allem wenn es um die Verteilung von Posten und Haushaltsmitteln geht. Es ist kein Zufall, dass PP-Politiker in Korruptionsaffären verwickelt sind.

Nach katalanischer Ansicht verstehn die Spanier in Madrid Politik nur als Konfrontation. Symbolisch dafür stehe der Stierkampf. In Katalonien ist das Spektakel verboten, zum Ärger des Traditionalismus in Madrid. Stolz verweisen die Katalanen auf ihre (Gegen-) Tradition: die Castells. Türme aus Menschen, mehrere Etagen hoch, Ergebnis eines Höchstmaßes an Konzentration und Koordination. In Spanien aber amüsiert man sich über diesen „komischen“ Sport, bei dem es nicht um das unmittelbare Kräftemessen geht.

Lügen und Rechtsbruch Das Referendum ist illegal. Von Juan Cruz.

Spanien ist tot Wir müssen wählen dürfen. Von Albert Sanchez Pinol.

Ihr spinnt alle beide! Der Hass vergiftet uns. Von Almudena Grandes.

Seite 14 Rastlose Flucht nach vorn Vorbei? Seid euch da bloß nicht so sicher: Gerd Koenen erzählt die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung. „Die Farbe Rot“ ist ein unvollkommenes Meisterwerk der historischen Analyse. Von Jens Bisky.

ZITAT

Was war der Kommunismus? Laut Brecht das Einfache, das schwer zu machen ist. Gangchanzhuyi – die chinesische Umschreibung des höchsten Ideals und endgültigen Ziels der Partei, bedeutet etwa „die gemeinsame Wiedergeburt der Herrschaft der Gerechtigkeit“. Der Ökonom John Maynard Keynes vermutete, „die subtile, beinahe unwiderstehliche Verlockung des Kommunismus“ bestehe darin, „dass er verspreche, die Dinge schlimmer zu machen“. Es handele sich um einen „Protest gegen die Hohlheit des Wohlergehens“, also einen „Appell an den Asketen in uns“. Kommunisten in vielen Ländern sahen in ihrer Bewegung die Avantgarde einer „menschheitlichen Selbstbeauftragung“ zur vernünftigen Neuordnung aller Verhältnisse im Handstreich.

In Gerd Koenens monumentaler Studie über die „Ursprünge und die Geschichte des Kommunismus“ findet man all diese Bestimmungen, Aphorismen, Selbstbeschreibungen – und noch viele mehr. Ein Charakteristikum des Kommunismus sieht Koenen, angeregt vom Roman „Der stille Don“, für den Michael Scholochow den Literaturnobelpreis erhielt, in der „extremen Spannung zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten, zwischen Humanismus und Terror“. Aber auch das bleibt nicht das letzte Wort der analytischen Erzählung. Koenen misstraut der wohlfeilen, allzu oft mit liberaler Selbstzufriedenheit verbundenen Formel vom „Ende des Kommunismus“. Er schreibt im kritischen Handgemenge, widerspricht beliebten Deutungen, etwa denen von Ernst Nolte oder Eric Hobsbawm. Von der ersten Seite an enttäuscht er alle Erwartungen an ein Handbuch, einer konventionellen Darstellung in antiquarischer Absicht. (…)

Was war der Kommunismus?

Gewiss war er weder eine bizarre Idee deutscher Stubengelehrter noch eine große Utopie, die leider falsch umgesetzt wurde. Er lebte und lebt von kulturell tief verwurzelten Sehnsüchten. Religiöse und philosophische Erzählungen schildern das Heraustreten der Menschheit aus einem mythischen Urzustand als Schrecken eigener Art. „Schuld- und fluchbeladen“ erscheint der Verlust ursprünglicher Einheit, gleichviel ob man in deren Beschwörung Erinnerungen oder Fiktionen sehen will.

Koenen rekapituliert die Erzählungen von Gilgamesch, die biblische Schöpfungsgeschichte, Hesiods „Werke und Taten“, asiatische Lebenslehren, christliche Reichtumskritik. Er gewinnt der eindrücklichen Revue eine wichtige, Max-Weber-Lesern plausible Pointe ab: die Herkunft des modernen Sozialismus und Kommunismus aus der christlich-abendländischen Gedankenwelt sei leichter zu verstehen, als die Frage zu beantworten, warum in diesem neuzeitlichen Europa eine Wirtschafts- und Lebensweise entstand, die sich um Ursprünge, Gemeinschaft, Herkommen wenig schert, tradierte Bindungen sprengt und heute summarisch „Kapitalismus“ genannt wird.

Nachdem ich fleißig abgeschrieben habe, was mir persönlich behaltenswert erschien, entdecke ich beim Recherchieren des Wortes „Gangchanzhuyi“, dass dieser ganze Artikel im Internet auffindbar ist: Hier. Bitteschön, doppelte Empfehlung!

Seite 14 Wer sind eigentlich diese Deutschen? Seine Geschichte des Dritten Reiches ist ein Standardwerk. Ein Treffen mit dem britischen Historiker J. Evans, der an diesem Freitag siebzig wird. Von Alexander Menden.

Als er in den Sechzigerjahren begann, in Oxford Geschichte zu studieren, hatte der deutsche Historiker Fritz Fischer gerade eine Debatte über die Gründe für den Ersten Weltkrieg eröffnet. „Fischer war ein Held für mich“, sagte Evans. (…) Wie viele gleichaltrige Geschichtsstudenten fand Evans Fischers These aufregend, der Weltkrieg und auch der Nationalsozialismus seien ein Folge der gesellschaftlichen Entwicklung im deutschen Kaiserreich gewesen – zumal 1968 gerade eine Wiederbelebung neonazistischer Ideen in ganz Europa stattfand. (…)

Evans selbst studierte eingehend die Hamburger Archive, publizierte unter anderem über feministische Bewegung in Deutschland und über die „völlig in Vergessenheit geratene“ Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: „Deutschland war ja bis zum Wirtschaftswunder, das die berühmte nivellierte Mittelstandsgesellschaft hervorbrachte, eine zutiefst gespaltene Klassengesellschaft“ sagt er. Deshalb finde er die Generalisierung deprimierend, die immer wieder gerade von britischen Historikern vorgenommen werde, wo einfach von „den Deutschen“ die Rede sei: „Es gibt keine Differenzierung, die auf diese klassenbedingte Spaltung, auf den Dissens mit den Nazis eingeht.“ Er bezog auch Stellung gegen Daniel Goldhagen, der die nach Evans‘ Einschätzung unzulässig vereinfachende Behauptung aufstellte, „eliminatorischer“ Antisemitismus sei der deutschen Kultur eingeschrieben.

Seite 16 Im Wellnesstempel der Könige Deutsche Archäologen restaurieren die Stätten von Meroe – einst Herz eines riesigen Reiches im Sudan. Von Hubert Filser.

(…) Die antike Stadt Meroe war mehr als 1000 Jahre die Hauptstdt eines großen Reichs im Mittleren Niltal, das sich von der Südgrenze des mächtigen Ägypten bei Assuan bis ins Herz Afrikas erstreckte. Die Könige von Meroe waren die Nachfolger der legendären „Schwarzen Pharaonen“, die im 7. Jahrhundert vor Christus in Ägypten geherrscht hatten. Am Königshaus herrschte offenbar ein ziemlich weltoffenes Klima, denn viel der Bauten vereinen verschiedene Kulturen der damaligen Zeit. Die Bilder im Bad zeigen ägyptische und einheimische Götter, der Flötenspieler belegt den griechischen Einfluss, er ist dem Kult um den griechischen Weingott Dionysos zugeordnet. „Auch die sprudelnde Säule ist ein Beleg für den Kulturtransfer“, sagt DAI-Forscherin Simone Wolf. „Solche Säulen standen zur gleichen Zeit auch in Pompeji“.

Sudan_Meroe_Pyramids_2001_numbered

Sudan Meroe Pyramiden, nummeriert (Foto: Francis Geius – Mission SFDAS 2001 Photographer: B N Chagny, hier nach Wikipedia).

Über nubische Pyramiden hier.

(Fortsetzung folgt)

Message zur indischen Geige

Charumathi Raghuraman

Ardanarishwaram d Ardanarishwaram e

Die Botschaft erreichte mich aus den Niederlanden:

Hi Jan,

Here’s – as promised – my mail. Via messenger I sent you a short message yesterday about a brilliant violinist I’d like to recommend, but perhaps you already know her: Charumathi Raghuraman (born in 1987). Here’s a short bio of her from 2008 (republished on the web in 2012):

http://srutimag.blogspot.nl/2012/09/generation-next_10.html

She’s a foremost disciple of legendary violin player T.N. Krishnan.

If I’m not mistaken, Jan, you play the violin yourself and with your great knowledge of raga music I wanted to share some information. I think Charumathis’s playing represents the best of what carnatic violin playing has to offer – indeed, she’s one of my great favourites. At the end of my latest edition of my Concertzender-programme ‚Wereldmineralen‘, this one

Pieter de Rooij HIER

(via the link you can listen to the programme). I included this very beautiful performance https://www.youtube.com/watch?v=DPBbO7qd1C4

I’d love to hear your opinion on her playing, in particular this performance. The video shows Charumathi Raghuraman on violin, her husband Anantha R. Krishnan on Mridangam and Anuradha Genrich on tanpura.

It’s a well recorded live performance at the Sargfabrik in Vienna, earlier this year. The wonderful composition „Ardhanarishwaram“ is from Muthuswami Dikshithar, it’s played in raga kumudakriya; the tala is rUpakam.
More of her playing in good quality can be found on her YouTubechannel. She accompanies many great carnatic artists, such as for instance Ranjani and Gayatri.
I’ve been an admirer of Charumathi’s playing since approximately 2010/2011, and I’m curious about your thoughts of her.

All the Best / Hartelijke Groeten,

Pieter de Rooij

***

Wie froh ich war über diesen Hinweis und die Anregung, mich endlich wieder intensiver der indischen Musik zuzuwenden, der südindischen wohlgemerkt, mit der im Kuckertz-Seminar 1967 alles anfing, als wir eine Krti im Raga Mayamalavagaula zu transkribieren hatten. Dazu gehörten endlose Wiederholungen kleiner Abschnitte, so oft, bis man jede Nuance einigermaßen klar erfasst hatte. Im Glücksfall konnte es folgendermaßen aussehen, aber so sah es nur bei Kuckertz selbst aus; die Niederschrift war am Ende zugleich der erste Schritt zur Analyse. Zeile für Zeile beobachtete man das sich allmähliche Aufwölben der Varianten und empfand am Ende beim Wiederhören all dieser Figuren auf dem Saiteninstrument Vina unweigerlich Vergnügen.

Mayamalavagaula Kuckertz Transkription

Quelle Josef Kuckertz: Form und Melodiebildung der karnatischen Musik Südindiens / Otto Harassowitz Wiesbaden 1970

Was tue ich also als erstes, wenn ich diese Musik höre? Es ist leicht, dem visuellen Zauber des Films zu entgehen, da die Interpreten ziemlich ins Dunkel getaucht sind, so dass man sich vollkommen auf die abstrakten Tonfolgen konzentrieren kann. Zunächst auf die Töne des Ragas KUMUDAKRIYA, um den es – wie ich lese – hier gehen wird. Also:  HIER. Zuerst den Grundton sicher erfassen, nicht irritieren lassen, dass die Geige auf der großen Terz beginnt; wenn wir den Grundton mit C gleichsetzen, handelt es sich also um den Ton E, angeschliffen vom Ton Des aus; über dem E wird ein Fis berührt, dann folgt der Abstieg über E – Des – C. Damit sind wir bei 0:17. Vom mehrfach wiederholten Ton C aus geht es abwärts, – aber auf welche Töne? Ich nenne sie As – Fis – E, – ob ich das As später als Gis hören will, lass ich einstweilen offen. Es geht über dieselben Töne wieder aufwärts zum C, wir sind bei 0:33.

Charumathi nach 0 33

Neuansatz auf tiefem E, aufwärts zum C, über As auf Des springend, vom C kurz zurückgleitend auf As. 0:47.

Charumathi bis 0 47

Von As über C und Des zum E (gehalten), Fis – Gis – Fis – E  – Fis – Gis – Fis – E – Des – C . 0:58.

Charumathi bis 0 58.

Von As über C und E nach Fis – Gis – Fis – etc. – E – Des … bis C (und absinkend zum As). 1:21.

Charumathi bis 1 21

Von As schnell zu C – und zurück – As- Des – C – As Sprung rauf zum Fis etc.      C. 1:42

Charumathi bis 1 42

Alapana geht in dieser Form bis 6:21; dann beginnt Kriti (+ Mrdangam-Trommel).

Pallavi 6:24 bis 7:50 / Anupallavi (?) bis 9:20 /  Carana (?) bis 10:24 / Ende 12:04

(Fortsetzung folgt)

Einige Zwischeninformationen: wer ist der Komponist dieses Werkes (das bei 6:24 beginnt)? Muthuswami Dikshitar – siehe dazu Wikipedia HIER

Wie wird seine Komposition, die mit den Stichworten  ardhanarishwaram (Textbeginn)  dikshitar (Komponist + Dichter) kumudakriya (Raga) zu finden ist, im Original gesungen? Siehe unten die Aufteilung (und die Wiederholungen) des Textes, der unter dem Video angegeben ist.

Pallavi

0:05 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ //  0:15 / 0:25 / 0:35 /

0:45 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

0:50 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

1:00 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

1:05 ardha nārīśvara u———– 1:13 — 1:23

Anupallavi

1:24 ardha yāma alaṃkāra / viśēṣa prabhāvaṃ // 1:34 / 1:44 / 1:54 /

2:04 ardha nārīśvarī priya-karaṃ abhaya karaṃ śivam

2:09 ardha nārīśvaraṃ —-

2:16 ardha nārīśvarī priya-karaṃ abhaya karaṃ śivam

2:21 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

2:31 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

2:36 ardha nārīśvaraṃ —-                    2:55

Charanam

2:56 nāgēndra maṇi bhūṣitaṃ nandi turagārōhitaṃ // 3:06 /

3:16 śrī guru guha pūjitaṃ kumuda kriyā rāga nutam // 3:26 /

3:36 āgamādi sannutaṃ ananta vēda ghōṣitaṃ // 3:41 /

3:45 amarēśādi sēvitaṃ ārakta varṇa śōbhitam

3:51 ardha nārīśvaraṃ —–

3:58 āgamādi sannutaṃ ananta vēda ghōṣitaṃ

4:03 amarēśādi sēvitaṃ ārakta varṇa śōbhitam

4:08 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

4:18 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

4:23 ardha nārīśvaraṃ —–

4:31 ya———————- 4:44 (Mrdangam) Tanpura //

Nicht so wichtig, wie man vielleicht denkt, ist es, diese Verse zu verstehen (eine Übersetzung soll andeutungsweise folgen), sondern sie als „Melodieträger“ zu verfolgen und die Gliederung zu verstehen; veränderte Silbenfolgen einem veränderten Linienverlauf zuzuordnen. Die vielmalige Wiederholung wird das Melodieverständnis wachsen lassen. Was den Text angeht: die Interpretation all dieser Gesänge auf Vina oder Violine wird ja allgemein akzeptiert. Und man muss nicht davon ausgehen, dass das Publikum dabei den Text im Stillen mitdenkt. Es ist reine Musik…

Wer Noten lesen kann, sollte unbedingt die Töne der Skala im Auf- und Abstieg zu singen versuchen, was nicht ganz leicht ist. Als Grundton (Sa) nimmt man in westlicher Notation immer den Ton C. Wobei die absolute Grundtonhöhe der indischen Interpretation unterschiedlich sein kann: Zum Beispiel steht die Version mit der Geigerin Charumathi Raghuraman auf dem Grundton F, die Version der zuletzt gehörten Sängerin auf G, aber nur wenn wir sie beide auf dem Grundton C notieren, sind die verschiedenen Versionen leicht miteinander vergleichbar.

Kumadakriya Skala

Dies ist die Skala, die üblicherweise für den Raga Kumudakriya angegeben wird, – meist mit indischen Tonnamen oder anhand einer abgebildeten Klaviertastatur, die mit den entsprechenden Buchstaben versehen ist. Man sieht, dass der Abstieg sich in einem Ton vom Aufstieg unterscheidet, was sehr häufig bei Ragas der Fall ist (sonst auch mit Tonvarianten).

Das Diksitar-„Thema“, das gesungen wird, klingt als sei es die Demonstration der Skala mit Vertauschung von Auf- und Abstieg. Trotz der wenigen Töne, braucht man einige Zeit, um sich der Identifizierung zu vergewissern. Ich habe zudem Fis und As etwas willkürlich ausgewechselt (es handelt sich einfach um denselben Ton). Mit dem Blick auf dieses „Thema“, ob korrekt notiert oder nicht, kann man leicht feststellen, wie im weiteren Verlauf statt wörtlicher Wiederholungen melodische Verwandlungen erfolgen. (Nicht zu vergessen: ich schreibe hier keine wissenschaftliche Arbeit, für die ich enorm viel mehr Aufwand treiben müsste, sondern ??? – ICH ÜBE NUR, wenn auch mit ein wenig Vorwissen und einer gewissen Erfahrung. Nur deshalb erlaube ich mir, auch anderen Leuten meine Übungen vorzuschlagen…)

Kumadakriya Skala & Thema

Übrigens können Sie jetzt auch leicht von 1 bis 12 mitzählen und haben dann unterschwellig eine Vorstellung von der – durch die Mrdangam-Trommel markierten -TALA-Periode, in diesem Fall RUPAKA. Und wenn Sie das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben, so versuchen Sie doch (zurück zum Anfang!) den gleichen musikalischen Vorgang bei der Geigerin Charumathi Raghuraman mitzuvollziehen. Ich beende hiermit diesen Artikel, bin aber in Wahrheit noch lange nicht fertig!

DANK AN PIETER DE ROOIJ !

Altes Klavier neu

MEGLIO pianoforte Cover a MEGLIO 1826 pianoforte Cover b

Um es gleich zu sagen: ich kannte nichts davon, – nicht die Plattenfirma, nicht den Namen des Pianoforte-Erbauers de Meglio, nicht den des Pianisten, und ein Ferrari unter den Komponisten der Klassik war mir auch bisher entgangen. Weshalb ich diese CD unbedingt haben musste, verrate ich gern: es war die Mozart-Sonate KV 533 (494) F-dur, die ich über alles liebe. Sie stand im Mozart-Band meines Vaters seltsamerweise an erster Stelle, und ich habe mich früh über diese seltsame Kontrapunktik bei Mozart gewundert, über das sperrige Thema und die Tatsache, dass die Figur der Alberti-Bässe (begleitende Dreiklangsbrechungen) schon ziemlich zu Anfang in die Oberstimme (Rechte Hand) wandern. Es wurde eine meiner Lieblingssonaten, besonders als ich sie zum erstenmal (außer in meiner eigenen unvollkommenen Interpretation) von Alexander Lonquich im Radio gehört hatte. Am Steinway vermutlich.

Und dann war noch ausschlaggebend die Empfehlung eines Hammerklavierspielers, den ich über alle anderen stelle; ich glaube nicht, dass er so etwas schreibt, nur weil er der Mentor des jungen Mannes war:

 Ich begleite seit einigen Jahren Antonio Piricones musikalische Wege. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für die rhetorische Struktur der Musik, er lässt sie singen, tanzen, argumentieren. Er ist ein echter Künstler. 

Andreas Staier (aus der Booklet-Einleitung)

Informationen über den Klavierbauer del Meglio suche ich in meinem „Buch vom Klavier“ von Andreas Beurmann, „dem“ BEURMANN, vergeblich, ich halte mich zunächst an die Google-Hinweise, wobei man des Italienischen oder des Französischen kundig sein muss, jedenfalls einer gewissen linguistischen Ratetechnik: HIER. Mit Englisch kommt man auch im CD-Booklet gut weiter.

Aber – ehrlich gesagt, ich interessiere mich wenig für die Details der einzelnen historischen Fabrikate und ihre Unterschiede, mir persönlich wäre auch die Instandhaltung eines solchen Flügels viel zu aufwendig. Aber der Klang interessiert mich und ebenso (fast) jede Mutmaßung über die Imagination der Komponisten.

Beim Stöbern im Internet-Zugang zum Label Ayros stieß ich übrigens gleich zu Anfang auf die verrückte CD „Telemann’s Poland“ ; Telemanns Äußerungen über polnische Musik (in seiner Autobiographie) fand ich immer schon höchst erstaunlich. Hier ist der Versuch, etwas davon umzusetzen. (Beispiel im angegebenen Link auf Sound Cloud.)

Ich erinnere mich an die 90er Jahre, als die Hammerklavier-Renaissance im WDR vom Kollegen Wilhelm Matejka propagiert wurde, und in einem Radio-Interview sagte ihm der Pianist Malcolm Bilson, der zu einem Konzert eingeladen war:

Bedenken Sie nur: wenn Sie einen starken Akkord am Steinway anschlagen, – der Klang bleibt stehen wie ein mächtiger Orgelklang. Niemals hat Beethoven das gemeint, wenn er z.B. den ersten Akkord der Pathétique als Sforzato angeschlagen haben wollte. Aber er verlangte auch keine künstliche Prozedur, um diese Wirkung zu erreichen, der Sf-Klang war nach dem Anschlag sofort weg, so war das Instrument, und so arbeitete er mit dem Instrument.

Das hat mir sofort eingeleuchtet. Da die Töne des Instrumentes so schnell verschwanden, konnte man anders mit ihnen arbeiten, gestochen scharf einerseits, andererseits auch „gefahrlos“ nach Bedarf viel mehr Pedal einsetzen.

1997 brachte Bilson mit seinen Studenten eine Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten heraus (wohl dank der kräftigen Mithilfe aus dem Umfeld seiner Schweizer Schülerin Ursula Dütschler. (Ich habe das Paket damals in der CD-Sendung „Abgehört! Neue Schallplatten“ vorgestellt!). Im Beiheft erläuterte Bilson den erwähnten Sachverhalt folgendermaßen:

Malcolm Bilson sagt Malcolm Bilson über Beethovens Klavierklang, insbesondere über die Dämpfung. Die Gesamtaufnahme 1997:

Bilson Beethoven Gesamt a Bilson Beethoven Gesamt b

Derjenige Bilson-Schüler, der jeweils für die Sonate(n) zuständig war, schrieb auch den Text dazu, im Fall der Sonate op.54 in F-dur also Andrew Willis. (Was ist aus ihm geworden? siehe hier.) Das sah z.B. so aus:

Beethoven WILLIS Text bitte anklicken

Was für ein Fest, von dieser Aufnahme aus direkt zur 20 Jahre späteren mit Antonio Piricone zu springen und beide zu vergleichen. Jedoch: nichts dergleichen von meiner Seite!!! Natürlich sind beide vollständig unterschiedlich, die eine flüssig, die andere stockend, und ein Urteil ist allzu schnell gefasst, schließlich ärgert man sich über die Tücken der Instrumente, das leise Klappern der Hölzer. Man fängt vielleicht an, über das schlackenfreie Spiel auf modernen Instrumenten zu sinnieren. Das Problem dieser Sonate aber löst sich nicht in Luft auf. Ich finde, niemand kann sich heranwagen, der nicht ernsthaft darüber nachgedacht hat, warum sie wohl seit ihrer Entstehung mehr oder weniger als ein Ärgernis betrachtet worden ist. Zwischen „Waldstein“ und „Appassionata“, fast gleichzeitig mit der „Eroica“ – was ist das für ein widerspenstiges Werklein? Zwei Sätze nur, niemandem gewidmet… Mutig jeder Pianist, der sie aufs Programm setzt!

* * *

Und nun bringt ein Blick in die eigenen Noten alte Zeiten zurück. JMR als Jungstudent bei Eckart Sellheim, – war es Anfang der 80er Jahre? Da ist Sellheims Handschrift: „Linien! keine Akzente!“, und Marcs Akribie oben links, was die Berücksichtigung anderer Ausgaben anging. Henle-Urtext, Cotta-Ausgabe (H.v. Bülow). Korrektur des ganzen Notentextes, der von meinem Vater stammt (Ausgabe Peters: Louis Köhler / Adolf Ruthardt um 1900).

Beethoven 54 JMR

JMR, – der Sohn überarbeitete die Noten meines Vaters (Sellheim kannte ich gut aus Hochschulzeiten in Köln, er war damals der hoffnungsvolle Starpianist gewesen). Ich habe im eigenen Haus intensive Übe-Wochen und eindrückliche Wiedergaben dieser Sonate erlebt. Den interessanten Bemerkungen Hans von Bülows bin ich noch nirgendwo in der Sekundärliteratur zu dieser Sonate begegnet.

[„…das Metrum ist trochäisch, nicht jambisch, d.h. die kurze Note darf nicht, wie es gemeiniglich geschieht, als Auftakt gespielt werden.“ Hans von Bülow] bezieht sich auf die ten. der linken Hand. JR

Beethoven 54 JMR f

Bemerkenswert die Beziehung auf den späten Beethoven:

[* „Die Noteneintheilung, wie sie der Autor aufgezeichnet, ist mit peinlichster rhythmischer Gewissenheit einzuüben, bis sie ‚zur anderen Natur‘ geworden. Jeder Verstoß gegen den Buchstaben ist auch ein Verstoß wider den Geist und wer sich an ein dilettantisches Verfahren in diesem Punkte gewöhnt hat, wird gänzlich unfähig sein, namentlich die letzten Werke Beethovens correckt wiederzugeben.“ Hans v. Bülow]

Beethoven 54 JMR ff

Über all diese Fiorituren hinweg arbeitet sich der Satz vor bis zum eigentlichen Ergebnis, der schlichten Wiederkehr des „Menuett“-Themas in der Coda mit ihrem gewaltigen Beschwörungsfortissimo auf den Dissonanz-Triolen:

Beethoven 54 JMR fff

Wie so oft findet man entscheidende Hinweise zur Deutung des Satzes bei Jürgen Uhde:

Schnell tritt wieder ein Decrescendo ein. Die letzten Akkorde schauen noch einmal , beruhigt und verlangend, zurück. Gibt es musikalisch einen „langen Blick“? Hier wäre er, mit den letzten beiden Tönen der Coda-Melodie: (Noten Oberstimme und Bass)

Natürlich ist die Interpretation, die Variierung des Hauptthemas als wesentlichsten Vorgang anzusehen und den Kontrastteil nur als Anstoß oder Katalysator dieses Entfernungs oder Sublimierungsprozesses (der ja in der Coda rückgängig gemacht wird) gelten zu lassen, nicht die einzige Deutung dieses Satzes*. Ebensogut könnte man wohl von der Gleichberechtigung der beiden Kontrahenten (Menuett-Thema und Kontrastteil) ausgehen, denn es ist ja offenbar, daß nicht der ursprünglichj „stärkere“ Kontrastteil das letzte Wort behält (trotz der ff-Akkorde T. 148 ff.), sondern gerade das unaufdringliche Menuett-Thema. Während es mehr und mehr erblüht, sich geradezu pflanzenhaft entwickelt, erstarkt, nimmt der Kontrastteil immer mehr ab, bis er, in der Coda, dem Menuett-Thema buchstäblich „zu Füßen liegt“. Wir denken hier an Bert Brechts Gedichtzeile: „Du verstehst, das Harte unterliegt!“

[Beim Sternchen* Hinweis auf Analyse von Erwin Ratz „Einführung in die musikalische Formenlehre“ (Wien 1951). – Zur letzten Anspielung siehe hier und hier]

Quelle Jürgen Uhde: Beethovens Klaviermusik III Sonaten 16-32 Reclam Stuttgart 1991 (Seite 180 f)

(Fortsetzung folgt) siehe HIER

Beethoven wieder mal neu denken?

Beethoven Geck das neue Buch

So lange ich zurückdenken kann, hat mich Beethoven nicht nur Stück für Stück beeindruckt, sondern veranlasst, immer mehr über seine Werke erfahren zu wollen: durch Lesen. Durch die Deutungshoheit anderer, sekundärer Gestalten, – womit ich sie nicht abwerten will. Aber warum habe ich nicht auf die Primärquellen gepocht? Auf das klingende Œuvre, sämtliche Klaviersonaten mit Gulda, Pollini, Brendel? Sämtliche Streichquartette mit dem Alban-Berg-Quartett und anderen, alle Sinfonien usw., es fehlte doch an nichts? Immer war es die Lektüre, die einen Wendepunkt bezeichnete, nur dass ich damals nicht wusste, dass es bei einer Beethoven-Bibel nicht bleiben würde: als ich im Bücherschrank meines Vaters Walter Riezlers „Beethoven“ (1936) entdeckt hatte, auch Heinrich Schenkers Monographie über „Beethovens Neunte Sinfonie / Eine Darstellung des musikalischen Inhalts“ (1912), in späteren Jahren:  Maynard Solomon (1977), Dahlhaus (1987), Geck/Schleuning  über die Eroica (1989), Adorno (1993), die „Interpretationen seiner Werke“ in zwei Bänden (1996), – um nur einige zu nennen, die ich bis heute frequentiere. Der Fall lag anders als bei Bach, Mozart, Schubert, Schumann, Wagner – aber inwiefern? Gab es ein Ziel? Ja. Um es nicht aus den Augen zu verlieren, musste jetzt auch dieses Buch auf den Tisch, sobald ich in meinem Bücherladen die Inhaltsangabe  gelesen und einiges angeblättert hatte.

Beethoven Geck Inhalt 1 Beethoven Geck Inhalt 2 (bitte anklicken)

Ich wusste es in dem Moment, als ich unter den Namen des Inhaltsverzeichnisses Lydia Goehr (Gender!) gelesen hatte, Rousseau natürlich (der mir wider die Natur geht), Johann Sebastian Bach (muss sein!), Jean Paul (weil ich seine Phantastik nie schätzen lernte), Caspar David Friedrich (weil ich seine Transzendenz prekär finde), Tintoretto (weil Kia Vahland heute in der SZ die Restauration der „großen Beweinung“ 1812  so gut analysiert hat), Hölderlin (eine direkte Verbindung würde mich faszinieren), Hegel (Weltgeist etc….),  Hanns Eisler (Utopie?), Elly Ney (Horror), Gilles Deleuze (die schwierigen Franzosen). Ach, und das Wort „sein Universum“ im Titel (weil es wahrhaftig angemessen ist).

Und damit bin ich für heute fertig. Ich habe zu tun.

***

Es war nicht sinnvoll, mit dem Hölderlin-Kapitel zu beginnen. Der Vergleich der „Sturm-Sonate“ Beethovens mit der Patmos-Hymne Hölderlins erscheint mir (auf den ersten Blick) nicht überzeugend. Unverzüglich beginne ich mit endlos scheinenden Präliminarien, wie immer Wikipedia zum Thema , dann die entsprechende Originaltexte (in den dort angegebenen Weblinks), Hölderlin-Interpretationen in verschiedenen Lyrik-Bänden (Geck beruft sich vor allem auf Jürgen Link). Dann muss ich zurück ins Rousseau-Kapitel, weil dort die Sturm-Sonate bereits behandelt wurde. Also: Widerstand gegen Rousseau überwinden, in der damaligen Zeit hatte er Schlüsselfunktion. Ins Schwarze (in mehrfachem Sinne) trifft Geck für mich dort, wo er Goethe heranzieht (im folgenden Zitat lasse ich die Zahlen der Zitiernachweise weg):

Im Fall der Sonate op. 31,2 geht es dabei um kein erzählbares Programm, sondern um Denkformen musikalischer Gestaltung, die zum Anthropologischen und damit auch zum Philosophischen tendieren. Wo es um Dialektik von Ordnung und Freiheit, von naturwüchsiger und geformter Gestalt geht, scheint es angemessen, sich bei Rousseau zu vergewissern. In weiterem Sinne wäre auch Goethes Verständnis von der ebenso produktiven wie unberechenbaren Kraft des Dämonischen zu denken, das er in einem vermutlich an den Sohn August gerichteten Briefkonzept als spezielles Urwort von den Urworten des „Absoluten“, der „moralischen Weltordnung“ sowie der „Systole und Diastole“ – das heißt des beständigen Wechsels von Ein- und Ausatmen – abhebt. Dass er unter dem Dämonischen ein gesetzmäßig nicht zu erfassendes Seinsmoment versteht, erläutert er in Dichtung und Wahrheit: Es handele sich um „eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag [der Kugel in die Scheibenkarte] könnte gelten lassen. Ein starker Vergleich, der sich mit der nötigen Phantasie auf die Situation im ersten Satz der Sturm-Sonate anwenden läßt: Der Scheibenkarte mit den vorgedruckten Ringen entspricht das Schema des Sonatensatzes; die vom Schützen produzierten Einschläge stehen für die spontanen körpersprachlichen Impulse. Das Tertium Comparationis sind die zeitliche und räumliche Unberechenbarkeit sowie die Vehemenz des „Einschlags“. Ansonsten hinkt der Vergleich; denn das Notenbild von Beethovens Sonate erinnert an alles andere als an eine schlichte Scheibenkarte mit verstreuten Einschusslöchern: Sie gleicht vielmehr einer aufwendigen Textur, deren Kompliziertheit einem Hörer, der vor allem auf die narrativen Züge der Musik, also auch auf die „Einschläge“ achtet, freilich gar nicht bewusst wird. Dieser Hörer fragt eher wie Anton Schindler und viele Beethoven-Deuter nach ihm nach der „poetischen Idee“. Wobei das Grandiose an Beethovens Musik und speziell an diesem Sonatensatz ist, dass man sich über die poetische Idee zwar Gedanken machen kann und diese auch aussprechen darf, dass der eigenen Denk- und Erlebnishorizont jedoch keineswegs mit demjenigen der in Noten niedergelegten Komposition verschmilzt: In den Kategorien der Romantik gedacht, bleibt – gottlob – die Distanz zwischen unseren endlichen Vorstellungen und dem unendlichen Deutungsspielraum, den große Musik bietet.

Quelle Martin Geck: Beethoven Der Schöpfer und sein Universum / Siedler Verlag München 2017 (Seite 87 f)

CHORAL & Hymnus

Von Quart, Quinte etc.

Ein Artikel über Intervalle und was sie bedeuten? Der Beitrag droht langweilig zu werden! Aber keine Angst, sie sollen nicht „erschöpfend“ behandelt werden, nicht anders, als sie mich auf einigen Berg- und Waldwanderungen in Südtirol beschäftigt haben. Ein Choral und ein Hymnus reduzierten sich beim inneren Gesang auf die erste Zeile und schließlich auf das allererste Intervall, die aufsteigende oder auch einfach „eintretende“ Quinte, wie man sie aus Bruckners Vierter kennt. Im steten Kontrast zur Quarten-Attacke, wie sie einem aus zahlreichen Jagdliedern und Jagdfanfaren entgegenschallt. Man denke auch an den Anfang des Fliegenden Holländers. Nein, es war kein strahlender Tag, der gesamte Talgrund unter Villanders bis hinab zur Etsch mit Nebel gefüllt. Aber auch ein blau glänzender Himmel hätte die gleichen Notizen ergeben:

Villanders Nebeltal 170914 Blick vom Prackfied 14.09.2017

Quinte u Quart Quinten plus Quarte 2

Notizbuch f „Die beste Zeit“: siehe Notenbeispiel hier

Was sagt das Quint-Intervall (aufwärts steigend oder im Abstand vom Grundton auftretend) als Eröffnung: es sagt etwas völlig anderes als der (üblichere) Quartsprung. Es sagt ELEVATION. Es ist kein Fanfarenstoß, der den Aufbruch signalisiert wie die Quarte, – die nach Aufstieg verlangt, früher oder später… Die Quinte aber evoziert einen Schwebezustand, sie braucht eine geistige Vorstellung, eine präzise Ton-Imagination, die vorgeschaltet werden muss. (Man mache den Versuch und lasse einen Laiensänger unvorbereitet eine aufsteigende Quinte singen: so einfach es scheint, er wird – innerlich, „zur Sicherheit“ – die Terz des Dreiklangs einfügen!)

Die Quarte aber bedeutet: ich verlasse mit Wucht den Ausgangston, und wenn es ein zarter Auftakt ist, doch mit einer latenten Entschlossenheit, – ich will über den Zielton hinaus. Wenn ich aber vom Grundton zur Quinte aufsteige, behalte ich ihn als Basis im Sinn, nehme die Tendenz wahr, zu ihm zurückzukehren, werde zumindest eine Wendung abwärts erwarten und bevorzugen (statt einer erneuten Anstrengung, die mit einem weiteren Aufstieg z.B. zur Sext oder gar zur Sept verbunden wäre). Natürlich wäre es denkbar und möglich, die Spannung zu halten und weiterzutreiben, etwa wie in dem Lied „Die beste Zeit im Jahr“ (siehe obigen Link), was aber nur die Rückkehr, die als Tendenz innewohnt, etwas verzögert: durch neuerliches Verweilen auf der Quint, Absinken auf den nächsttieferen Ton oder weiter in Richtung Grundton.

Langer Einleitung kurzer Sinn (um hier die Katze aus dem Sack zu lassen):

Ich will darauf hinaus, das die beiden Anfangszeilen (Choral / Hymnus) melodisch in etwa „dasselbe“ sagen, – bei Luther allerdings schroff zusammengefasst, bei Monteverdi melismatisch vermittelt. Die überschüssige Kraft wird aufgefangen in einer Zwischenkadenz, die sich auf die Quinte konzentriert.

Choral & Hymnus Zeile Mit Fried LutherChoral & Hymnus Zeile AVE MARIS STELLA Monteverdi

Luther ist sich seiner Kühnheit bewusst, er verlässt den Rahmen der anfangs gesetzten aufsteigenden Quinte nur, um sie mit einer zweiten Quinte, die den Grundton in der hohen Oktave erreicht, zu überbieten. Der kadenzierende Halbsatz danach ist so lapidar, dass er eine zweite Zeile mit dessen Besänftigung dranhängt: „In Gottes Willen“ (während Monteverdi, der den zweiten Quintabstand mit melodischen Zwischenstufen ausgefüllt hatte, in weichem Schwung zum Grundton zurückkehrt).

Choral & Hymnus Luther 2 Zeilen Fortsetzung Luther

Choral & Hymnus Monteverdi 2 Zeilen Fortsetzung Monteverdi

Die Zeile aber, die bei Monteverdi als Antwort auf die Zwischenkadenz der Zeile I folgt, die geschwungene Rückführung zum Grundton E in Zeile II, findet bei Luther ihre Entsprechung in Zeile 3. Wunderbar ist die Asymmetrie der Zeilenordnung, die Dehnung im zweiten Takt der Zeile 3 auf „Herz“, die man ja leicht hätte vermeiden können. Stattdessen wird diese Dehnung noch weiter getrieben, indem die Zeile 4 daran anknüpft und den Abstieg erst unter dem Grundton, auf D, zur Ruhe kommen lässt, „sanft und stille“. Das ist unbeschreiblich.

Dies ist mein Schlüsselerlebnis beim Vergleich der beiden Melodien: immer schon habe ich bei Monteverdi auf dieses „Unterbieten“ des Grundtones gewartet, das bei ihm in Zeile III stattfindet. Und in Zeile IV ganz sanft und stille zurückgenommen wird, indem der Grundton E das Ruhekissen bereitet.

Was macht Luther stattdessen in den Zeilen 5 und 6 ?

Choral & Hymnus Übersicht neu bitte anklicken und vergleichen!

Luthers Zeile 5 ist ein „Klingklang“, ein Läuten der Glocken, fast etwas leichtfertig, der Schwebeton H spielt die Hauptrolle, gewissermaßen als Parenthese: „Wie Gott mir (bekanntlich) verheißen hat“. Und dann kommt der ungeheure Abschluss, die Logik der beiden letzten Monteverdi-Zeilen (deren vorletzte auch mit einem „Klingklang“ begann: G-Fis-A-H, – bevor sie mit dem Ton E „zur Sache“ kommt) wird in Luthers Zeile 6 auf eine große, integrierende Formel gebracht, Zielton D und Zielton E, jedoch paradoxerweise so, dass man es nur als ein sanftes Verklingen auffassen kann: „der Tod ist mein Schlaf worden“…

HÖREN ! !

Monteverdi HIER als Gesamtwerk oder direkt: 1:11:01 Ave maris stella (Melodie beim ersten Mal in den Chorsatz „eingesenkt“, später auch solistisch, unterschiedliche Tempi, Text dazu siehe hier bei XII)

Bach HIER

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Wenn man Melodien in dieser Art zu erfassen sucht, so beschäftigt man sich mit ihrer Einstimmigkeit und darf keinen Augenblick damit rechnen, dass sich derselbe Eindruck ergibt, wenn man sie im harmonischen Kontext bei Monteverdi oder Bach erlebt. Wenn wir etwa die oben hervorgehobene Zeile 5 mit ihrem bewegenden Zielton D in Bachs Kantate 125 anschauen: dort kommt er gerade beim Ton H (auf „sanft“) in seiner Grundtonart e-moll an, beim Zielton D aber wechselt er nach h-moll, im nächsten Takt (immer noch Melodieton D) erscheint g-moll (im Chor: „stille“), das ist ungeheuer ausdrucksvoll, – aber es entspricht keineswegs dem, was wir uns bei der bloßen Melodiebetrachtung gedacht hatten…

BWV 125 sanft und stillle Choral 6. Zeile (2 Töne tiefer lesen!)

Noch eindringlicher deutet Bach die vorgegebene Melodie am Schluss des ganzen Chorsatzes um, – und niemand würde im Ernst die Rechte eines sakrosankten Chorales gegen diese harmonische Vertiefung verteidigen wollen: „der Tod ist mein Schlaf worden“.

BWV 125 Tod Schlaf

Wenn hier die Choral-Melodie am Ende chromatisch in das musikalische Geschehen einbezogen wird, so ist in dem verwandten Anfangschor der Matthäus-Passion die Wirkung des Chorals „O Lamm Gottes unschuldig“, ja, schon der Eintritt des ersten Quintsprungs, so erschütternd, weil er monolithisch-zeichenhaft aus einem unübersichtlichen „Klage-Getümmel“ herausragt, als komme er direkt aus einer anderen Welt (in Bachs Handschrift durch rote Tinte gekennzeichnet) . Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass der ganze Satz in e-moll, der Choral jedoch in G-dur (mixolydisch) steht, wodurch sich – subkutan – ein ähnlicher perspektivischer Abstand zwischen Chor und Choral ergibt wie hier in Kantate BWV 125 „Mit Fried und Freud“. Peter Wollny hat in seinem erhellenden MGG-Beitrag „Choralbearbeitung“ (Sachteil 2 Sp. 836) auf diese Besonderheiten aufmerksam gemacht:

Wollny Bach Choralsätze MGG Art. Choralbearbeitung

Villanders 170911 Blick vom Prackfied 11.09.2017

CHORAL

Mit Fried und Freud ich fahr dahin

Mich fasziniert die Bach-Kantate als Ganzes und im Detail. Gerade auch ihr Choral; ihn auswendig zu lernen und über ihn zu reflektieren, wäre ein erster Schritt, die Bach-Werke zu erschließen, die um ihn kreisen, allen voran die Kantate BWV 125.

Zu Luthers Original HIER

(Das im Wikipedia-Artikel gegebene Musikbeispiel ist ein Exempel, wie man die Melodie grotesk missverstehen kann.)

Über die von Bach vorgefundenen und bearbeiteten Melodie-Versionen HIER
Wikipedia-Artikel über Bachs Kantate BWV 125 HIER

Noten- (und Ton-) Beispiele zur Kantate bei Julian Mincham HIER

Youtube-Aufnahme (Herreweghe) mit Partitur (Alte Bach-Ausgabe), Einzelsätze anklickbar HIER

00:05 – 1. Chorus: ‚Mit Fried und Freud‘ 06:07 – 2. Aria: ‚Ich will auch mit gebrochnen Augen‘ (A) 15:08 – 3. Recitative and Chorale: ‚O Wunder, dass ein Herz‘ (B) 17:30 – 4. Aria (Duet): ‚Ein unbegreiflich Licht‘ (TB) 23:19 – 5. Recitative: ‚O unerschöpfter Schatz der Güte‘ (A) 24:02 – 6. Chorale: ‚Er ist das Heil und selig Licht‘.

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Bereits an dieser Stelle sei eine Merkwürdigkeit festgehalten, die – den Choral betreffend – in einer anderen Kantate auffällt, jedoch, soweit ich sehe, in der Literatur keinen besonderen Anlass zur Verwunderung gegeben hat: BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats“ Satz 4 Choral. Duetto / Satz 7 (Schluss) Choral:

Satz 4 „Verzage nicht, o Häuflein klein“

Die Worte haben als Grundlage den Vers eines Lieds aus dem 17. Jahrhundert von Jakob Fabricius (ca. 1635). Bach läßt in den Stimmparten des Continuos sowie denen des Tenors flüchtig und subtil diese Stamm-Melodie anklingen.

So im Booklet zur Herreweghe-CD der Autor Nicholas Anderson. Ich erkenne die Anklänge nicht (zumal ich auch die besagte Melodie nicht kenne).

Recherche bei Wikipedia:

Das Lied Verzage nicht, du Häuflein klein entstand unter dem Eindruck der Schlacht bei Lützen. Am Morgen der entscheidenden Schlacht verteilte Fabricius zum Feldgottesdienst ein Liedblatt dieses Textes. Später nannte man dieses Lied auch den „Schwanengesang Gustav Adolfs“.

MELODIE (unter Vorbehalt) hier – auch jetzt erkenne ich keine Verwandtschaft mit Motiven bei Bach. Allerdings denke ich bei den in die Tiefe fahrenden Cello-Figuren – wenn ich sie mir verlangsamt vorstelle – an die berühmte Sarabande der Cello-Suite V c-moll.

Satz 7 „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und „Gib unserm Fürsten und der Obrigkeit“. Es handelt sich offenbar um 2 völlig verschiedene Melodien, die wie zwei Strophen eines Chorals unmittelbar aneinandergesetzt sind.

Die Kantate schließt mit einem vierstimmigen Choral unter Begleitung des vollen Orchesters. Der erste Vers enthält Luthers deutsche Übersetzung der lateinischen Antiphon „Da pacem, Dominemit seiner Melodie unbekannten Ursprungs. Der zweite, ein Vers von Johann Walther, ist ein Gebet um Frieden und „gut Regiment“ aller Obrigkeit, der Tradition nach mit Luthers Übersetzung verbunden; auch seine Melodie ist anonymer Herkunft, und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Bach hatte diese Verse gerade einige Wochen zuvor in seiner Sexagesima-Kantate, BWV 126, verwendet, doch hat er sie für beide Anlässe neu vertont. (orig.: „set them differently“)

Quelle Nicholas Anderson (Wie zuvor) im Booklet zur Herreweghe-CD.

s.a. hier

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Das Interessante ist beim Choral: die Kräftefluktuation im rein melodischen Verlauf wahrzunehmen, die auch bei jedem starken Cantus Firmus erhalten bleibt, und dann die Verschiebung, die dank der harmonischen oder satztechnischen Behandlung stattfindet. Ich (nur als Beispiel) habe Melodien in meiner Kindheit wie etwas Naturgegebenes gesehen, nicht Korrigibles, aber dann im Harmonielehreunterricht bei Eberhard Eßrich gestaunt, dass man parallel dazu nicht Akkord nach Akkord erfindet, sondern als erstes zur Melodie eine gelungene Basslinie entwirft. Für mich ein Aha-Effekt (so geht also Kontrapunkt!). Und seither versuche ich jeden ausgesetzten Choral vom Bass her zu hören (und die Melodie von vornherein zu kennen).

Aber wie erfasse ich die Melodie an und für sich? Ich versuche, ihrem Verlauf von Ton zu Ton, von Phrase zu Phrase zu folgen. Wie ich es an der arabischen Musik geübt habe, später auch weiter an der indischen. Dann durch Anregungen im Werk von Victor Zuckerkandl. Warum nicht gleich beginnen mit dem Beispiel dieser Luther-Melodie, die alles andere als schematisch gebaut ist? Der Zufall will es, dass mir kein Scanner zur Verfügung steht und ein Foto meiner Skizze doch recht provisorisch aussieht. Zum Nachdenken wird es reichen!

Choral Mit Fried und Freud

Das Nachdenken auf der Bergwanderung hat eine bestimmte motivische Beziehung immer wahrscheinlicher gemacht, ansetzend bei einer Bemerkung im Wikipedia-Artikel über „Luthers Original“ (Link s.o.):

Die dorische Melodie folgt dem Text der ersten Strophe intensiv ausdeutend. Quintaufschwünge, Punktierungen und Melismen drücken die „Freude“ aus, die Molltönung den „Frieden“. Eindrücklich und für musikalische Bearbeiter aller Zeiten inspirierend ist der Abstieg unter den Grundton auf die Textwendung „sanft und stille“.

Auch mir ging genau diese Wendung (Zeile 4) nicht mehr aus dem Kopf. Die Unruhe begleitete mich den ganzen Weg lang, irgendwo und irgendwann ist mir schon ganz Ähnliches begegnet.  Und endlich: Heureka! Immer wieder ließ ich beide Melodien nacheinander an meinem inneren Ohr vorüberziehen, bis mir die eine als Variante der anderen erschien. Sie begannen sich zu vermischen. Ich musste sie nicht nur wiederhören, sondern im Schriftbild vor mir sehen: Ton für Ton, Phrase für Phrase miteinander vergleichen. Und dann hören und nochmal hören und prüfen, ob ich nicht hineinlege, was sie gar nicht sagen will. Hauptbeweisstück könnte der Anfang sein, bei Luther die beiden Quintsprünge nach oben, dann die kadenzartige Wendung über cis zum (Zwischen-) Grundton-Ton H und dessen Verstärkung durch die Extra-Zeile 2. Ich breche für heute ab und weiß, dass ein weiterer Tag sich um diese Phrasen drehen wird.

Siehe HIER.

Kein Witz für Kinder (warum?)

Das Märchen vom Froschkönig

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön. Aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich wunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. In der Nähe des Königsschlosses lag ein großer dunkler Wald, und in dem Wald unter einer alten Linde war ein Brunnen. Wenn nun der Tag recht heiß war, ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens. Und wenn es Langeweile hatte, so nahm es eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder: Das war sein liebstes Spielzeug.

Einmal fiel die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen, sondern vorbei auf die Erde und rollte geradezu ins Wasser hinein. Die Königstochter blickte ihr erschrocken nach, aber der Brunnen war tief, so tief, dass man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter. Da rief ihr jemand zu: „Was ist mit dir, Königstochter?” Sie sah sich um, woher die Stimme käme. Da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, hässlichen Kopf aus dem Wasser streckte. Sie sagte: „Ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinab gefallen ist.” – „Sei still und weine nicht”, antwortete der Frosch, „ich kann dir helfen, aber was gibst du mir, wenn ich deine Kugel wieder heraufhole?”

(Fortsetzung siehe hier)

Was ich in dieser Version des Märchens vermisse? Ich kenne es sozusagen auswendig, mit der Stimme von Mathias Wiemann, von dem ich als Kind eine 78er Schallplatte besaß. Und da antwortete das Mädchen, als es die Stimme hörte und den Frosch erblickte: „Ach, du bist’s, alter Wasserpatscher!“ Darauf möchte ich nicht verzichten, und ich würde normalerweise weitersuchen, bis ich die Wasserpatscher-Version gefunden hätte. Aber wenn ich das Märchen selbst erzähle, habe ich natürlich freie Hand, es abzuwandeln, nur ein Kind erlaubt das nicht. (Ich bin weiterhin ein Kind.) An dieser Stelle aber rechne ich nur damit, dass jeder den Schluss schon kennt, wo das Mädchen den angeblich so garstigen Frosch an die Wand wirft. Und als er herunterfällt, steht da stattdessen ein wunderschöner Prinz. Das versteht jedes Kind, reagiert mit Erleichterung, vielleicht mit leisem Kopfschütteln über die Undankbarkeit des Mädchens, da ihm das Tierchen ja nichts zuleide getan hat, im Gegenteil.

Was mich noch interessieren würde, ab wann wohl ein Kind heutzutage den Witz verstehen würde, der gedanklich an das Märchen anknüpft. Ich vermute, ein Kind unter fünf Jahren würde überhaupt nicht lachen:

Der Frosch, den das Mädchen vom Brunnen mit nach Hause genommen hatte, sagte: Ich bin ein verzauberter Prinz, du musst mich an die Wand werfen, dann bin ich erlöst! Da steckte das Mädchen ihn zurück in die Tasche und meinte: Ein sprechender Frosch ist mir lieber als ein Prinz.

Für uns ist es völlig klar, aber auch nicht leicht zu erklären. (Umschlag der Erwartung.) Das kleine Kind wird nicht lachen, sondern auf dem korrekten Ablauf des Märchens beharren.

Eine ganz andere Frage: Warum lachen wir über ein Kind? Schopenhauers Witztheorie (Stichwort „Inkongruenz“). Natürlich lachen wir es nicht aus, wir lachen ja mit Rührung. Hoffentlich.

Kleines Kind, große Welt

(Foto: E.Reichow 2010)

Reisenotiz zu Bach privat

Eine neue CD in SWR2

Ich nenne den Sender, weil ich dankbar bin: gute Präsentation (Katharina Eickhoff), viele und ausführliche Musikbeispiele, sachkundige Beurteilung von Stimmen; was erzählt wird, kann man auch wirklich hören, kein Sachverständigen-Geschwätz, in der Tat: einzigartige Bach-Interpretationen in einer Compilation, die unwiderstehliches Verlangen erzeugt, genau diese Musikfolge oft zu hören. (Die CD werde ich zuhaus vorfinden!) Man kann auf jpc einen Eindruck davon gewinnen: HIER.

Übrigens war auch der Rest der Sendung von A – Z hörenswert, dank der Auswahl und dank der ohrenöffnenden Moderation, und vor allem: ZEIT, ZEIT, ZEIT, – nichts erinnerte an die heute üblichen Kurz-Rezensionen mit den grässlichen Qualifizierungsklischees unglaubwürdiger „Fachleute“. Natürlich gefällt nicht jedem jedes Wort (die Sofa-Assoziation kann ich entbehren), aber der Text ist perfekt individualisiert: ich nehme alles wohlwollend auf. Ein Lernen ohne Vorsatz. Hier der Moderationsbeginn (zum Namenmerken!):

Bei Bachs unterm Sofa hätte man ja gern mal Mäuschen gespielt. Die CD „Bach privat“ bietet zwar keine neuen Erkenntnisse über das geheime Leben der Bachs, aber sonst ist sie ziemlich schön. Vorneweg hat sie schon mal ein optisch originelles und inhaltlich feinsinniges Cover mit lauter Klingelknöpfen aus Messing, darunter polierte Namensschilder, die obersten zwei zeigen ein vertrautes Wappen: Es ist das Familienwappen der Familie Bach, darunter, auf den weiteren Schildern, die Namen der Musiker, die sich da sozusagen bei Bachs aufs Sofa gesetzt haben: Die Sänger Anna Lucia Richter und Georg Nigl, die Geigerin Petra Müllejans, der Cellist Roel Dieltiens, und der spiritus rector des Ganzen am Cembalo: Andreas Staier.

(zur Fortsetzung HIER)

Man kann übrigens die ganze Sendung (auch der Rest lohnt sich!) nachhören: HIER. Besonders hörenswert die „Behandlung“ der Sängerin der Mahler-Lieder, gerade weil auch die vorsichtige Distanzierung völlig nachvollziehbar ist.

Kein Personenkult, – aber man kann sich auch über die Moderatorin Katharina Eickhoff per google in SWR2 kundig machen: sie erzählt – ohne Selbstbeweihräucherung – wie es dazu kam, dass sie sich auf Stimmen „kaprizierte“. Zunächst also ganz allgemein vormerken: SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs 08.09.2017. Und in diesem Sinne weiter so, Neues erkunden: hier.

Südtirol Ausblick Prackfiederer 170913 Foto JR Ausblick Prackfied 13. Sept. 2017

18.09.2017 

Nach der Rückkehr aus Südtirol finde ich tatsächlich, wie erhofft (und bestellt), die CD vor, die ich auf der Hinreise im Auto kennengelernt habe:

Bach privat cover BACH PRIVAT bei ALPHA CLASSICS 2017

Und entdecke, dank eines Berichtes im Solinger Tageblatt vom September 2014, dass die mir unbekannte Sängerin sich – zumindest damals gerade – in Solingen niedergelassen hatte, von mir aus gesehen gewissermaßen auf dem Nachbarhügel: im Stadtteil „Aufderhöhe“. Den Cembalisten Andreas Staier kenne und schätze ich aus seiner Zeit bei Musica Antiqua Köln, wo ich in den 80er Jahren als Geiger mitwirkte. Später begegnete ich ihm wieder, als er mit unserem Collegium Aureum als Fortepiano-Solist Mozart spielte, – eine unglaubliche Rubatopraxis, die ich nie mehr vergaß.  Andreas Staier ist hier für das Gesamtkonzept des BACH PRIVAT – Programms verantwortlich. Des weiteren möchte ich hervorheben, dass auch das Booklet der CD, – das in der SWR-Sendung, wie in solchen Fällen weithin üblich, gar nicht erwähnt wird -, dem überragenden Niveau der Interpretation entspricht: der Autor ist Prof. Dr. Peter Wollny.  Einen Eindruck vom Umfang und Ziel seiner Arbeit in Leipzig erhält man am eindrucksvollsten anhand der Interviews des Projektes L.I.S.A., dokumentiert →  HIER

BEISPIEL zur Behandlung von „Privatangelegenheiten“ in Bachs Zeit (Abschrift aus Episode 10):

Warum wissen wir so wenig über die Person J.S. Bach?

Peter Wollny antwortet (a.a.O. ab 4:40 bis 6:23):

Im frühen 18. Jahrhundert waren die Leute insgesamt viel privater als wir das heute sind. Die haben davor zurückgeschreckt, Privates mitzuteilen, etwas aus ihrem Denken und Fühlen unmittelbar preiszugeben. Das ändert sich dann: im späten 18. Jahrhundert hat man ja diese wirklich endlosen Folgen von Tagebuchaufzeichnungen und wirklichen Privatbriefen. Aber zur Zeit J.S. Bachs ist es noch anders. Das ist der eine Grund, also die generelle Reserviertheit. Ich glaube, jemand wie Bach würde die Hände überm Kopf zusammenschlagen, wenn er sähe, wie heute mit Reality Soaps und den sozialen Medien, also mit Privatem umgegangen wird, also das war alles ne ganz andere Zeit. Und das zweite ist, dass Bach speziell anscheinend überhaupt sehr ungern Briefe geschrieben hat, sehr ungern Persönliches notiert hat, und nur ganz selten erfahren wir mal so zwischen den Zeilen, was ihn bewegt hat. Und das dritte ist, dass es eine Überlieferungssituation [gibt], dass eben aus dem frühen 18. Jahrhundert überhaupt nur amtliche Schriftzeugnisse erhalten geblieben sind, Schriftstücke mit offiziellem Charakter, in denen man ja ohnehin wenig oder gar nichts Privates preisgibt.

Peter Wollny LISA Projekt

Wir neigen ja dazu, uns Bach – wenn nicht droben auf der Orgelempore – als einsamen Mann in seinem Komponierstübchen vorzustellen, wo er gewaltige Werke konzipierte. In Wahrheit begegnete er unzähligen Menschen, er wirkte im Zentrum einer Messestadt, in der es seit 1701 – nach Amsterdamer Vorbild – Straßenbeleuchtung gab.

Ich liebe den Hinweis, den sein Sohn Carl Philipp Emanuel in einem Brief vom 13.1.1774 an den Biographen J. N. Forkel gab:

Bey seinen vielen Beschäftigungen hatte er kaum zu der nöthigsten Correspondenz Zeit, folglich weitläuftige schriftliche Unterhaltungen konnte er nicht abwarten. Desto mehr hatte er Gelegenheit mit braven Leuten sich mündlich zu unterhalten, weil sein Haus einem Taubenhause u. deßen Lebhaftigkeit vollkommen gliche.

(Hervorhebung JR)

Sehnsucht nach Südtirol

Zur Frage, ob eine Wiederholung möglich sei

Wie Szendy mit Kiekegaards Hilfe Verwirrung stiftet

Südtirol 2011 Blick aus der Ferne 110805 Wo ich einmal saß (Prackfied in der Ferne)

Südtirol 2011 Abendstimmung 110804 Die Wolke, die nichts bedeutete

Ich beziehe mich auf Kierkegaard, dessen „Wiederholung“ ich vor Jahren immer mal wieder vorgenommen und ebenso oft aufgegeben habe. Ehrlich gesagt: aus Langeweile, gegen besseres Wissen. Und auf Szendy, der – wenn ich mich nicht irre – einen Aspekt der Wiederholung herauslas, der für K. überhaupt kein Hauptmotiv darstellte. Mir ging es ähnlich: was mich interessierte, war die Wiederholung in Ritual und Musik. Auch das Wiederholungsverbot in der Neuen Musik, dessen Sinn mir letztlich nie eingeleuchtet hat. Gewiss, eine Hauptrolle spielte dabei die Aversion gegen das Banale, das bloß Rhetorische, und dessen Vermeidung war weitgehend eine Maxime des vorauseilenden Gehorsams. Vorauseilend auch dem eigenen Denkvermögen, bzw. dem Dilemma, dass die sich wiederholenden Tätigkeiten trotzdem weiterhin den Blick auf jegliches Geschehen interpunktieren.

Mein heutiger Rat an mich selbst: wenigstens kursorisch die Einleitung von Hans Rocholl zu Kierkegaards Schrift zu lesen und insbesondere die Stellen zu bedenken, die sich (aus meiner Sicht) konkret greifbaren Inhalten nähern: technische Beispiele, etwa Druck und Gegendruck, Raketen-Antrieb, Reise-Malessen, Posthorn-Töne, der Reim, schließlich auch der Witz im Anschluss an Schopenhauers Definition. Und plötzlich dämmert einem die Möglichkeit, dass auch Peter Szendy – von Kierkegaard aus – vielleicht doch keine absurden Verbindungen knüpft, etwa zum Refrain eines Chansons…

JR Hopfensee 170908 Am Hopfensee/Allgäu

(Fotos: E.Reichow)

Zu den wichtigsten Dingen, die aber in diesen Überlegungen fehlen, gehört die Wiederholung als Einübung. Zumindest in der Musik ist das ein wichtiger Aspekt, auch in der Diskussion über das Wiederholungszeichen: gilt es nur der besseren Einprägung (darf also wegfallen, wenn man das Werk als ziemlich bekannt voraussetzen kann?) oder der Balance (die man sich nicht als latent vorhanden einfach nur denken kann). Die Wiederholung im „Ohrwurm“ dient nicht der Einübung, sondern der Einhämmerung. Ich soll den eigenen Gedanken aufgeben und mich fügen. Dagegen die Rolle des Chorals (den damals jeder kannte) in den zwei Bach-Kantaten, die ich höre, BWV 125 „In Fried und Freud ich fahr dahin“ und BWV 138 „Warum betrübst du dich, mein Herz“: die Choräle sind als Melodien so komplex, dass ich sie – für sich genommen, kaum ausschöpfen kann. Und nun erst in der Zitierweise Bachs, insbesondere wenn er einzelne Zeilen innerhalb eines Rezitativs herausstellt. – Dann in den Haydn-Quartetten, op. 74, 1-3, deren Originalität ich beim wiederholten (bloßen) Hören immer mehr bewunderte, während mir beim Studium der Noten manches gewollt originell erschien (was mir bei Mozart nie in den Sinn käme). Ich irre mich. Die weiteren Wiederholungen müssten der weiteren Aufklärung dienen.

Niemals hieße eine solche Wiederholung, dass nur das erste Mal als authentisch zu betrachten und zu restituieren sei. Gerade nicht! (Daher wirkt auch die „Wiederholung“ der Berlin-Reise oder gar der Verlobung bei Kierkegaard so befremdlich.) Wandelbares Material, konfrontiert mit wandelbarer Psyche, zu einem unwandelbar gültigen Ergebnis führen zu wollen. Genau dafür ist es nicht angelegt.

Eins wäre noch zu erwähnen: Keineswegs hege ich die Absicht, mich mit diesen Andeutungen nach außen verständlich zu machen. Sie dienen nur dem Zweck, mir (und einigen Interessenten) den Zusammenhang in Erinnerung zu halten. Jedes Foto beweist mir, dass Innen und Aussen nur in den seltensten Fällen zusammenstimmen. Und so kann man die Ungeklärtheit frohen Sinnes hinnehmen.

Regentropfen ER Regentropfen JR

Am Weg zur Marzuner Schupfe 11.09.2017 (ER & JR)

Scherzverwandtschaft

Worüber lacht man im Senegal und warum?

Nachdem ich einmal angefangen habe zu beobachten, inwiefern die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen stimmen müssen, damit Witze funktionieren (siehe über Ciceros Witz hier), muss ich auch diesen schönen Artikel der aktuellen ZEIT (31. August 2017 Seite 7) aktenkundig machen, der glücklicherweise zugleich schon im Internet abrufbar ist. Es begann damit, dass ich nicht lachen konnte, obwohl es eindeutig als Scherz gemeint oder angekündigt war, dieser Einstieg in den Artikel. Gewiss, – ein Scherz ist nicht dasselbe wie ein Witz, trotzdem:

Scherze kennen kein Tabu im Senegal. „Pass auf, morgen schlachte ich dir ein Schwein! Das koche ich dir, das isst du, und du wirst Christin“, sagt der Christ zur Muslimin. „Dein Schwein kannst du selber essen“, schießt die Muslima zurück.

„Ihr wart die Sklaven, wir waren die Könige“, sagt ein Mann aus der Diola-Ethnie zu einem Serer. „Ach was, versklavt wurdet doch ihr!“

Man bespöttelt die angeblich mangelnde Intelligenz des anderen oder sein unvorteilhaftes Aussehen, lacht über religiöse und ethnische Klischees. Jeder im Senegal verspottet irgendeinen anderen. Eigentlich müssten die Menschen hier einander die Köpfe einschlagen. Genau das tun sie aber nicht.

„Eigentlich“? Das Phänomen ist bekannt: mal wirkt es wie eine Neckerei, mal wie eine höhnische Provokation. Die unreflektierte, von Kind an vorgeprägte Einordnung der Äußerungen ist entscheidend. Jeder von uns hat schon mal bemerkt, dass man wissen muss, wie ein Scherz gemeint ist, was dabei mitgedacht wird. Nicht jeder kann jeden Witz erzählen, – der eine wirkt dabei wie ein böser Zyniker, der andere wie ein erwachsener Lausbube (dem man „nichts übelnehmen“ kann). Der Knalleffekt, der zu einem Witz zu gehören scheint, kann ausbleiben. Stattdessen peinliche Stille…

Hätte mein Bruder den Witz erzählt, hätte ich ihn vielleicht nicht auflaufen lassen, aber wenn mein ungeliebter Vorgesetzter ihn eingeflochten hätte, – was wäre wohl meine Reaktion gewesen? Es kommt auf die Konventionen an. Auch auf die Konvention, sich an Konventionen anzupassen oder ihnen, wo immer man sie vermutet, wenigstens zögerlich (prüfend) zu begegnen. Etwa mit der vorsichtigen Distanzierung: … ist mir leider schon bekannt, oder mit der strengen Frage: soll das ein Witz sein? – Der Bruder stand in diesem Beispiel für „Scherzverwandtschaft“: ich weiß intuitiv, ob er es flapsig oder zielbewusst verletzend gemeint hat. Und er weiß, dass ich es weiß. Aber den Fachbegriff gibt es wirklich!  Frz. cousinage à plaisanterie – das Wort (auch paranté plaisantante) kann man googeln:

Outre les groupes ethniques, cette relation peut aussi s’exercer entre clans familiaux, par exemple entre les familles Diarra et Traoré, ou Ndiaye et Diop. Ainsi, un membre de la famille Ndiaye peut-il croiser un Diop en le traitant de voleur ou de mangeur d’arachide sans que personne ne soit choqué, alors que parfois les deux individus ne se connaissent même pas. Il n’est d’ailleurs pas permis de se vexer. Cette impolitesse rituelle donne lieu à des scènes très pittoresques, où les gens rivalisent d’inventivité pour trouver des insultes originales et comiques.

Siehe französische Wikipedia HIER.

Auch die im ZEIT-Artikel gegebenen Beispiele (oder ähnliche) findet man wieder, z.B. hier.

« Il y a toujours un problème de possession en tous cas ! Chacun veut que l’autre soit esclave ! ».

Bref chacun est l’esclave de l’autre, ce qui concilie le sentiment de supériorité et la réciprocité. La hiérarchie proclamée par l’autre groupe est simplement inversée. L’individu ou le groupe ethnique peut toujours se considérer comme le noyau central, l’ego-centre ou l’ethno-centre autour duquel l’autre ne fait que « tourner » : chacun est au centre de son propre point de vue, alors que, par définition, personne ne l’est.

De fait, le cousinage de plaisanterie semble créer un sentiment de « communauté », paradoxalement basé sur la reconnaissance de la différence.

Quelle 

Im ZEIT-Artikel wird eine historische Herleitung gegeben, die an die mittelalterliche Funktion des Hofnarren in Europa denken lässt:

Besuch bei Raphaël Ndiaye, Ethnolinguist, Philosoph und Direktor des Léopold-Senghor-Kulturinstituts in Dakar. Die Scherzverwandtschaft, sagt Ndiaye, gehe auf Soundiata Keïta zurück, den Gründer des legendären Mali-Reiches.

Im Jahr 1235 bestellte dieser anlässlich der Verabschiedung der Reichsverfassung seine Clanchefs ein und beschwor sie, von jetzt an friedlich zusammenzuleben. Vor den versammelten Honoratioren befahl er dem Griot, seinem Hofsänger, ihn zu beleidigen. Der Griot wagte es nicht, alle Anwesenden glaubten, der König wolle seinen Kopf. Keïta aber sagte: „Was kann es meiner Würde anhaben, wenn mich dieser Griot beleidigt, der doch wie ein Verwandter für mich ist?“ Und er forderte seine Gefolgsleute auf, sich als Verwandte zu begreifen, die einander necken, ja sogar beleidigen dürften, ohne dass das zu Streit oder Krieg führe.

„Auch wenn sie die Form des Humors annimmt, hat die Scherzverwandtschaft doch einen ernsten Kern“, sagt Ndiaye. Sie sollte schon damals Schutz bieten vor Krieg, Familienfehde oder gegenseitiger Versklavung. „Wann immer Familien oder Ethnien Frieden miteinander schlossen, erklärten sie sich zu Scherzverwandten“, sagt Ndiaye. „Und das bedeutete: Es soll nie Krieg geben zwischen unseren Nachfahren.“

Quelle DIE ZEIT 31. August 2017 Seite 7 Angela Köckritz: Witz oder Krieg Der Senegal ist stabiler als seine Nachbarländer. Das hat mit einer besonderen Form des Islams und mit Humor zu tun. / Online HIER

Im Wikipedia-Artikel siehe Stichwort „Hofnarr“ HIER unter 3 Hofnarren in Mittelalter und Neuzeit und 4 Narren außerhalb Europas.

Aber wohlgemerkt: der Griot in Westafrika ist alles andere als ein Hofnarr… siehe (außer in Wikipedia) auch beim GOETHE-Institut hier.