Archiv für den Monat: Oktober 2019

„Musikfest der Zigeuner“

Darmstadt 1979

Es ist genau 40 Jahre her, dass dieses Musikfest in Darmstadt durchgeführt wurde, der WDR Köln war beteiligt, und es wurden Mitschnitte gesendet. Wir trafen uns dort mit Tom Schroeder, der wahrscheinlich sogar die treibende Kraft gewesen war (SWR Mainz).

 

Hier folgt ein Text von Mark Münzel aus dem Programmheft 13. und 14. Oktober 1979. Auf der zweiten Seite beginnt – leicht abgewandelt – das Märchen, das ich bei Rosemarie Tüpker wiedergefunden und zitiert habe. (Es stammt aus der Sammlung Wlislocki 1890, s.u.).

Ich hatte lebhaftes Interesse: im Mai 1979 war ich (mit Herman Vuylsteke BRT Brüssel) in Rumänien unterwegs gewesen, – als Ethnologe nannte man das „Feldaufnahmen“ -, viele Radiosendungen folgten, weitere Aufnahmereisen1980 in Mazedonien, 1984 beim Festival der Blasorchester im serbischen Guča (siehe hier). Im Blog habe ich hier darüber erzählt. Viele Musiker und Ensembles wurden im Laufe der Jahre nach Köln eingeladen, ostserbische Geiger z.B. zum WDR Violinfestival 1980. Wunderbare Aufnahmen wurden auf der World Network CD Romania veröffentlicht.

Da steht’s: Weil der Kölner Sender „hartnäckig“ darauf bestand, eine bestimmte Blaskapelle einzuladen, wurde sogar eine CD-Firma gegründet, die heute noch besteht: Asphalt-Tango. man kann es auf der nächsten Seite nachlesen:

Quellen 

Cartwright, Garth: Balkanblues und Blaskapellen / Unterwegs mit Gypsy-Musikern in Serbien, Mazedonien, Rumänien und Bulgarien / Aus dem Englischen von Jörg Gülden / Koch International / Hannibal  (2008)

Wlislocki, Heinrich von (1890): Vom wandernden Zigeunervolke. Bilder aus dem Leben der Siebenbürger Zigeuner ins Deutsche übersetzt. Hamburg: Hamburger Verlagsanstalt

Rosemarie Tüpker, die das Märchen „Die Erschaffung der Geige“ daraus zitiert (Musik im Märchen / Wiesbaden 2011 Seite 33), schreibt in der Anmerkung dazu: „Eine Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit den Forschungen Wlislockis findet sich bei Maria Sass (2007): Märchen und Sagen der transsilvanischen ‚Zigeuner‘ , gesammelt, übersetzt und herausgegeben von Dr. Heinrich von Wlislocki. Ein sinngleiches Märchen findet sich in der Sammlung polnischer Zigeunermärchen von Jerzy Ficowski (dt. von Karin Wolff 1985) unter dem Titel Der verzauberte Kasten“. In wesentlichen Zügen gleich, zeichnet es sich durch viele weiter schweifende Details und eine unterschiedliche Umgebung aus. Die Geige ist hier aus Buchenholz.

Nachtrag (5.11.2021) erst heute entdeckt: ein Dokument

Zigeunerfest Darmstad 1979 part 1
Document vidéo: archives Michel Lefort
With Bireli Lagrene, Tchavolo Schmitt, Martin Weiss, Hans’ch Weiss, Vadi Mettbach, Hot Club the Tzigan, la Romanderie, Markus Reinhardt…

Haltezeichen „Stolperstein“

Wie ich in Michelstadt nicht vom Fleck kam

         Fotos JR

Sie wohnten im Haus Nr.16, das nun prächtig restauriert ist. Von deutschen Meistern. In fürsorglicher Treue. Für andere Generationen. Eine Widmung in deutscher Schrift.

Die nahgelegene Stadt Heppenheim als weiteres Beispiel (siehe Wikipedia):

In Heppenheim lebten Juden bereits im Mittelalter. Die Stadt gehörte von 1232 bis 1803 zum Erzstift Mainz. Die Schutzherren der Juden, die Mainzer Kurfürsten und Erzbischöfe, konnten allerdings nicht verhindern, dass es im Mittelalter zu Progromen kam. Bei der Judenverfolgung während der Pestzeit 1348/49 wurde das jüdische Leben in der Stadt vernichtet. Die Entstehung der neuzeitlichen Gemeinde geht in das 17. Jahrhundert zurück. Um 1900 lebten etwa 40 jüdische Familien mit 200 bis 300 Personen in der Stadt. Danach ging die Zahl durch Aus- und Abwanderung bis auf 113 Personen 1933 zurück. Martin Buber, Zionist und Honorarprofessor für Religionswissenschaft an der Frankfurter Universität, lebte ab 1916 in Heppenheim. Im Februar 1938 sah er sich zur Auswanderung gezwungen und emigrierte mit der Familie nach Jerusalem. Beim Novemberprogrom 1938 wurde sein Haus geplündert und dabei die 3000 Bücher umfassende Bibliothek zerstört. Im Mai 1939 lebten noch 37 jüdische Personen am Ort. Im September 1942 wurden die letzten jüdischen Einwohner Heppenheims in Vernichtungslager deportiert. Von den in Heppenheim geborenen oder längere Zeit hier lebenden Personen kamen 53 durch die NS-Gewaltherrschaft ums Leben. Am Standort der ehemaligen Synagoge (Gedenkstätte) befindet sich eine Metallplatte mit den Umrissen der 1938 zerstörten Synagoge. Sie trägt die Inschrift: Hier stand die 1900 erbaute und 1938 zerstörte Synagoge. Auf einer Zusatztafel „Im Gedenken an die Ermordeten“ werden 29 Namen ehemaliger Heppenheimer Juden genannt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Stolpersteine#Kritik

Bedenkenswert: statt „Stolperstein“ das Wort „Denkstein“ zu verwenden.  Es handelt sich um Messing, ich assoziiere Gold, vielleicht motiviert durch „Goldtombak“, wie bei Blechblasinstrumenten und Patronenhülsen.

 

Synagoge Michelstadt hier. Lichtigfeld-Museum hier.

Da uns das Thema Märchen hierherführte: Von Martin Buber gibt es eine Sammlung mit „Erzählungen“ , die man auch als „Chassidische Märchen“ bezeichnen kann. Im soeben angegebenen Link kann man das Vorwort nachlesen, z.B. diese beiden Abschnitte zur Form(losigkeit) der Geschichten :

Eine literarische Erzählungsform hat sich im Judentum der Diaspora, das in der volkstümlichen verharrt, erst in unserem Zeitalter auszubilden begonnen. Was sich die Chassidim zum Preis ihrer Meister erzählten, konnte sich an keine schon ausgebildete oder in der Bildung begriffene Form anschließen, aber auch den Anschluss an die Volksdichtung konnte die Legende hier nur teilweise vollziehen. Zumeist war ihr inneres Tempo zu überstürzt für die gelassene Form der Volkserzählung, sie wollte zu viel sagen, als dass sie an ihr hätte Genüge finden mögen. So ist sie formlos geblieben. (…)

Es gibt zwei Gattungen der Legende, die man nach zwei Gattungen der erzählenden Literatur bezeichnen kann, an die sie sich in ihrer Form lehnen: die legendäre Novelle und die legendäre Anekdote. Man vergleiche etwa die Legenda aurea mit den Fioretti di San Francesco oder die klassische Buddhalegende mit den Mönchsgeschichten der ostasiatischen Zen-Sekte. Auch das formlose chassidische Material tendiert zu diesen Formen. Zum größten Teil besteht es aus – angelegten – legendären Anekdoten. Novellen sind hier selten, es gibt auch eine trübe Zwischengattung. Das Überwiegen der Anekdote geht zunächst auf die allgemeine Tendenz des jüdischen Diaspora-Geistes zurück, Vorgänge der Geschichte und der Gegenwart «pointiert» zu fassen: Die Vorgänge werden so berichtet, ja bereits so erlebt, dass sie etwas «sagen», aber nicht dies allein, sondern der Vorgang wird so herausgeschält und angeordnet, dass er in etwas wirklich Gesagtem kulminiert. Das wird nun freilich im Chassidismus durch die Tatsachen selber begünstigt: Der Zaddik äußert die Lehre, unbewusst oder bewusst, in Handlungen, die als sinnbildlich wirken, und sie gehen oft in einen Spruch über, der sie ergänzt oder zu ihrer Deutung beiträgt. Novelle nenne ich die Erzählung eines Schicksals, das sich als eine einzige Begebenheit darstellt, Anekdote die Erzählung eines einzelnen Vorgangs, der ein ganzes Leben erleuchtet. Die legendäre Anekdote geht darüber hinaus: In dem einen Vorgang spricht sich der Sinn des Daseins aus. Ich kenne in der Weltliteratur keine andere Gruppe legendärer Anekdoten, in der dies in solchem Grade mannigfaltig und einheitlich zugleich geschähe wie in der chassidischen.

Soweit Martin Buber selbst im Vorwort der Chassidischen Märchen. Über sein Buch wiederum hat Stefana Sabin einen klugen Text geschrieben; man findet ihn im Online-Magazin Faustkultur hier.

Basilika und wunderwirkende Knochen

 

 Unsere Pilgerspuren im Sand

 Ausweg

Wer war der Bauherr Einhard? Siehe hier.

ZITAT

Da Einhard befürchtete, ohne eigenen Sohn zu sterben, der nach seinem Tod für ihn beten konnte, hatte er schon 819 das Kloster Lorsch als Erben der Mark Michelstadt eingesetzt, denn den Gebeten der Mönche maß er die größte Kraft vor Gott und seinen Märtyrern zu. Bei seiner Suche nach einem Heiligen wandte sich Einhard an einen Römer namens Deusdona, der sich gerade in Aachen aufhielt und ihm die gewünschten Reliquien versprach. Doch kaum war Deusdona zusammen mit Ratleik, Einhards Vertrautem, in Rom angekommen, da vertröstete er diesen ein um das andere Mal, bis Ratleik selbst eines Nachts in die Katakomben unterhalb der Kirche „inter duos lauros“ an der antiken Gräberstraße Via Labicana eindrang und von dort aus dem mit einer Steinplatte verschlossenen Grab der Heiligen Marcellinus und Petrus die Gebeine des Marcellinus entnahm. Marcellinus und Petrus waren unter Kaiser Diocletian Anfang des 4. Jahrhunderts ihres Glaubens wegen enthauptet worden: Marcellinus hatte als Diakon das Wort Christi gepredigt und die Taufe gespendet, Petrus hatte als Exorzist die vom Teufel Besessenen geheilt. Schon bald nach ihrem Tod waren sie als Heilige verehrt worden, ihr Ruhm war mit der Verbreitung der römischen Liturgie im gesamten Frankenreich unter Karl dem Großen gewachsen und ihre Grabstätten das Ziel zahlreicher Pilger geworden.

Ratleik überkamen schon bald Bedenken wegen seines Handelns, jedoch nicht etwa wegen seines Raubes, sondern weil er die Heiligen voneinander getrennt hatte, die gemeinsam den Märtyrertod erlitten und fünfhundert Jahre lang ihr Grab geteilt hatten. So kehrte er einige Nächte später an ihre Gedenkstätte zurück, um auch die Gebeine des Heiligen Petrus zu entnehmen. Dieses Mal ließ sich die Steinplatte leicht abheben, woraus Ratleik schloss, dass der Heilige sein Handeln billige.

In aller Stille und in Angst um sein Leben verließ Ratleik Rom, denn schon zweihundert Jahre zuvor hatte Papst Gregor der Große bei Todesstrafe verboten, Reliquien ohne päpstliche Erlaubnis aus Rom zu entfernen, und mit Höllenstrafen im Fall eines Vergehens gedroht. Erst nördlich der Alpen ließ Ratleik die Reliquien offen vor sich hertragen, und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung erreichten sie im Oktober oder November 827 Michelstadt.

Doch in bedrohlichen Träumen ihrer Bewacher ließen die Heiligen wissen, dass sie hier nicht bleiben wollten, sie forderten, Seligenstadt solle ihre letzte Ruhestätte werden. Nach einigem Zögern gab Einhard ihrem Drängen nach, und nicht einmal drei Monate nach ihrer Ankunft brachte er sie im Januar 828 dorthin. Dieser Entschluss wird ihm nicht leicht gefallen sein, musste er doch alle Pläne für seinen Alterssitz aufgeben, die ihn seit einem Jahrzehnt beschäftigt hatten. In Seligenstadt begannen die Heiligen unverzüglich Wunder zu wirken: Lahme konnten wieder gehen, Blinde wieder sehen, Verirrten wiesen sie den rechten Weg. Ihre Wunder, die man auch als Gleichnis für die Bekehrung der abergläubischen Bevölkerung zum Christentum verstehen kann, waren für Einhand der endgültige Beweis, dass seine Heiligen ihre Übertragungen in das Frankenreich gewünscht hatten.

Für uns heute ist es kaum noch vorstellbar, welche Bedeutung Einhard seinen Reliquien beimaß und wie sein Ansehen durch ihren Besitz wuchs. Mit dem neuen Dienst, den er seinem „großen, wunderbaren Schatz, wertvoller als alles Gold“ schuldete, begründete er seinen Rückzug vom kaiserlichen Hof.

Grabplatten von oben nach unten (Zweierreihen): 1 Äbtissin Elisabeth Lochinger von Arxhofen † 1512, 2 Anna von Bruck † 1370, 3 Nonne Grete (?) Duborn, erwähnt 1345, 4 ???, 5 Name: Osbirn, Propst (?) um 1100, 6 Überblick

Quelle des zitierten Textes Thomas Ludwig: Einhards-Basilika Michelstadt-Steinbach, Broschüre 18 Edition der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen 2016

Zur Baugeschichte siehe Wikipedia HIER / Fotos: E.Reichow & JR

Reichelsheimer Märchen

Preisverleihung Samstag 26. Oktober 2016

Laudatio

zur Verleihung des „Wildweibchenpreises“ an Frau Prof. Dr. Rosemarie Tüpker am 26. Oktober 2019 in Reichelsheim (Odenwald)

von Jan Reichow

Wildweibchenpreis – ich glaube, das ist hier ein Begriff, schließlich wurde der Preis 24 Jahre hintereinander immer wieder verliehen, wobei einstweilen noch die Zahl der männlichen Preisträger überwiegt. Aber ich glaube, wenn die heute Geehrte, Frau Prof. Dr. Rosemarie Tüpker, im Münsterland davon erzählt hat, wird es ihr nicht anders ergangen sein als mir im Bergischen Land, – mit dem Wort „Wildweibchen“ zaubert man ein süffisantes Lächeln in die Gesichter. Da ist es wichtig, die Geschichte von der Felsformation bei Laudenau erzählen zu können, und dass diese an zwei Weiblein erinnert, die dort in einer Höhle gelebt haben sollen. Wahrscheinlich als gute Hexen, die von den Bauern Lebensmittel erhielten, wofür sie sich mit nützlichen Kräutern revanchierten. Und einen guten Spruch hatten sie drauf, der wörtlich überliefert ist, ein Rätselspruch, wie der der Sphinx: „Wenn die Bauern wüssten, zu was die wilden weißen Haiden und die wilden weißen Selben gut sind, dann könnten sie mit silbernen Karsten hacken.“ Also: mit kostbarsten Arbeitsgeräten. Das heißt: sie wären reich geworden. Offenbar hatten sie aber keine Ahnung von den pharmazeutischen Wirkungen der „weißen Haiden“ (Haide mit ai!) und der „weißen Selben“, denn ihre Arbeitsgeräte wurden nie versilbert; und erst in neuerer Zeit motorisiert. Und ich habe gerade erst gelernt, dass mit den weißen Selben wohl der Salbei gemeint war, während ich das Geheimnis der weißen Haiden auch mit Internet-Hilfe nicht habe lösen können. Ich wünschte, es hätte etwas mit Musik zu tun gehabt, man hätte die Rätselgeschichte ja mit der Loreley oder den Sirenen des Odysseus verbinden können. Diese schöne Landschaft hat ja längst einen Anfang gemacht, indem sie den Vers hervorbrachte: „In Laudenau da ist der Himmel blau, da tanzt der Ziegenbock mit seiner Frau …“, das schreit doch nach Musik, und was den Text angeht, könnte die Märchensammlerin Rosemarie Tüpker dem Odenwälder Volksvermögen mit einigen Motiven aus ihrem Fundus noch ordentlich auf die Sprünge helfen. –

Meine Damen und Herren, dies sollte eine Laudatio sein, aber ich muss gestehen, dass ich Frau Tüpker gar nicht persönlich kannte, auch nicht der Generation ihrer Lehrer angehöre und noch weniger der ihrer Schüler. Ich kann also nicht sozusagen aus dem Hörsaal in Münster berichten oder vom gemeinsamen Studium in Köln, denn als sie dort nach ihrem Abitur begann, hatte ich mein drittes Studium abgeschlossen und war beim WDR Köln gelandet. Trotzdem kann ich nicht umhin, mich ein bisschen einzubeziehen, und das ist vielleicht schon ein therapeutischer Effekt.

Ich bin tatsächlich erst durch das wunderbare Buch „Musik im Märchen“ im Jahre 2011 aktiviert worden, da stand Frau Tüpker längst im Zenith ihrer Laufbahn als Wissenschaftlerin und Therapeutin. Und ich war nach 30 Jahren Rundfunkarbeit pensioniert, las viel und machte Musik, auch noch Musiksendungen, sobald ich auf interessante Themen stieß. Was mich begeisterte, als ich dieses Buch in die Finger bekam, war die merkwürdige Mischung aus Ästhetik und Tiefenpsychologie; das kannte ich nur von Sigmund Freud, bezogen auf den Moses von Michelangelo, dort aber ohne Verbindung zur Musik. Rosemarie Tüpker war die erste, die Musik so radikal einbezog in ihre therapeutische und wissenschaftliche Lebensplanung. Dies ist also eine Rede über das, was ich ihr verdanke.

Mich beeindruckte da – neben dem ernsthaften Deutungsansatz – vor allem der neue Ton, den sie in den Roma-Märchen herausarbeitete: in den frühen Sammlungen hieß das natürlich noch Zigeunermärchen, und eins der schönsten steht ziemlich am Anfang und geht mich besonders an: das Märchen von der Erschaffung der Geige. Was hätte das für mich bedeutet, als ich mit sechs oder sieben Jahren eine Viertelgeige bekam, die ich liebte, weil sie so glänzte; ich wollte sie mit keinem Tanzgeiger in Verbindung bringen, „der Jude im Dorn“ – das war eins, das ich kannte, aber ein Märchen zum Fürchten. Das Wort „antisemitisch“ gab es noch nicht oder es wurde umgangen. Später bekam ich eine ganze Geige, die ziemlich geschwärzt war, damit sie älter aussah; meine Eltern hatten sie, wie es hieß, bei einem Zigeuner gekauft, der auch selber fabelhaft drauf spielen konnte. Und das beflügelte mich. Kaum auszudenken, was aus mir geworden wäre, wenn ich da schon das Märchen gekannt hätte, das ich bei Rosemarie Tüpker gelesen habe: Von einem Jüngling, der so vermessen war, nach der Königstochter zu verlangen und deshalb in den Kerker geworfen wurde. Aber dann heißt es:

Kaum daß sie die Tür zugesperrt hatten, da wurde es hell und die Feenkönigin Matuya erschien, die den Armen in Bedrängnis hilfreich zur Seite steht. Sie sprach zum Jüngling: „Sei nicht traurig! Du sollst auch die Königstochter heiraten! Hier hast du eine kleine Kiste und ein Stäbchen! Reiß mir die Haare von meinem Kopf und spanne sie über die Kiste und das Stäbchen!“ Der Jüngling tat also, wie ihm die Matuya gesagt hatte.

Als er fertig war, sprach sie: „ Streich mit dem Stäbchen über die Haare der Kiste!“ Der Jüngling tat es. Hierauf sprach die Matuya: „Diese Kiste soll eine Geige werden und die Menschen froh oder traurig machen, je nachdem, wie du es willst.“ Hierauf nahm sie die Kiste und lachte hinein, dann begann sie zu weinen und ließ ihre Tränen in die Kiste fallen. Sie sprach nun zum Jüngling: „Streich nun über die Haare der Kiste!“

Der Jüngling tat es, und da strömten aus der Kiste Lieder, die das Herz bald traurig, bald fröhlich stimmten. Als die Matuya verschwand, rief der Jüngling den Knechten zu und ließ sich zum König führen. Er sprach zu ihm: „Nun also höre und sieh, was ich gemacht habe!“ Hierauf begann er zu spielen, und der König war außer sich vor Freude. Er gab dem Jüngling seine schöne Tochter zur Frau, und nun lebten sie alle in Glück und Freude. So kam die Geige auf die Welt.

Meine Damen und Herren, in diesem Sinne darf es ablaufen, wie wir’s in Märchen gerne hören, Königstochter inclusive; anders als im wirklichen Leben. Auch anders als im Leben der Sinti und Roma, aber wenn es in deren Märchen dann noch einmal ganz anders zugeht, sind wir befremdet, und Rosemarie Tüpker ist in ihrem Element. Mir fällt dabei ein, dass meine erste kleine Geige durchaus nicht der Freudenbringer war, sie glänzte zwar schön, aber was tat ich? Ich schaute durch die f-Löcher ins Innere und war erschüttert: alles hohl, nichts von dem, was ich z.B. gesehen hatte, wenn ich von hinten ins Innere eines Radios schaute, dies imponierende Gewimmel von Drähten, Spulen und Röhren, nichts davon, nur der Hohlraum. Als ich nun in Rosemarie Tüpkers großem Buch über Musik im Märchen zu einem ausgewachsenen Zigeunermärchen kam, da schlug das allem ins Gesicht, was ich von einem Märchen erwartete: es handelt zwar auch von einer Prinzessin und von einem Rom-Jungen, der nicht nur schmutzig genannt wird, sondern „rotzig“. Allerdings spielte er ausgezeichnet Geige und hatte die Gabe, dass er einen Menschen nur anschauen musste um zu wissen, welches sein Lieblingslied sei. Er gewinnt die Prinzessin, die bekommt bald ein Kind, und dieses hat nichts anderes im Sinn, als erstmal seinen eigenen Vater zu erschlagen, und das Märchen hat mehr unerwartete Wendungen, als ich sie mir einst im Innern meiner Geige erhofft hatte. Ich muss Ihnen daraus etwas vorlesen, damit Sie mein Befremden verstehen. Der Junge will mehr Kraft als sein Vater haben und geht deshalb auf die Suche nach zwei Schwestern, das sind Hexen, – wir treffen tatsächlich auch hier auf die ominösen Wildweibchen -, eine von den beiden hat sogar einen Sohn, der von Beruf Apotheker ist. Das kann zweifellos nützlich sein, wenn man seinen Vater loswerden will. Ich lese also einen winzigen Ausschnitt aus dem 7 Seiten langen Text:

Und der Kleine ging zu der zweiten Schwester. Aber da verwandelte sich die erste Hexe in ein Mädchen und lief ihm nach. In ein sagen wir – sechzehnjähriges , zwanzigjähriges Mädchen, sehr schön, nur im Bikini, in einem ganz kleinen Badeanzügchen, und sie tanzte um ihn herum: „Janku, Janku, dreh dich um, bin ich schön?“

Lass mich in Ruhe. Ich bin ein neugeborenes Kindchen.“

Schau mich an, wie schön ich bin, wie nackt ich bin! Mach keine Ausreden. Komm zu mir!“

Aber er ging weiter. Er war doch noch zu jung für solche Sachen. Das nächste Mal sprang sie zu ihm und wiederholte ihre Worte, aber er gab ihr eine solche Ohrfeige, dass sie zu Wagenschmiere wurde.

Der Kleine wusste genau, dass das die Hexe war. Er lief schnell zurück in ihre Hütte. Dort sah er einen Säbel, der von selbst tanzte und herumsprang und wie der Vollmond glitzerte. Er nahm den Säbel: „Jetzt kann ich die ganze Welt umbringen“. Da holte ihn schon sein Vater ein [und] versetzte ihm so einen Fußtritt in den Arsch, dass er bis nach Hause flog, direkt der Mutter in die Arme.

Viele irritierende Momente, von Anfang bis Ende, kein Fall für die Brüder Grimm, hier gab es keine ordnende Hand, und das macht diese Märchen so verwirrend und so zeitnah, ja: modern. Auch hier wird am Ende vielleicht alles gut, aber für eine stubenreine, pädagogisch einwandfreie Begriffswelt nicht befriedigend. Und Rosemarie Tüpker kennt diese Wirkung, sie schreibt:

Die anfänglich eindeutige emotionale Zuordnung gerät bei der intensivierten Beschäftigung immer wieder ins Wanken, kippt in ihr Gegenteil. Dies wird als eine ziemliche Zumutung erlebt, insbesondere weil man dies von einem Märchen nicht erwartet. (Seite 120)

Sie kennt das also, sie durchschaut es! Und arbeitet gerade dieses Umkippen heraus, diese Ambivalenzen, sieht aber obendrein noch die Gefahr, dass in der psychoanalytischen Behandlung der Märchen „die emotionale Heftigkeit verloren zu gehen“ scheint, die in diesen Märchen steckt. Um so wichtiger ist ihr, dass der in der studentischen Gruppenarbeit festgestellte Widerstand selbst thematisiert wird. Zum Beispiel, wenn jemand sagt, man bekomme eine richtige Wut auf den Text, [habe] keine Lust, sich weiter damit zu beschäftigen. Und die Abneigung richte sich gegen die Grausamkeit und die grobe Sexualität, manches sei einfach widerlich, eklig, pervers, empörend oder einfach lächerlich. Und am Ende erwähnt die Professorin, dass in einer – an sich doch interessierten – Studentengruppe, in der das Märchen vorgelesen worden war, niemand die angebotene Kopie des Textes haben wollte, was sehr ungewöhnlich sei.

Meine Damen und Herren, ich kann hier nicht in aller Kürze zusammenfassen, wie die Strukturen und der Sinn des Märchens analysiert werden, und wie wir eingetaucht werden „in die Ebene des Primärprozesshaften, in dem es noch kein (erlösendes) Nacheinander, kein Maß und keine ausreichenden Regulierungen gibt.“ (Seite 122f) Und ich darf hinzufügen: noch keine Pädagogik des empathischen Verstehens, bei der sich letztlich alles in Wohlgefallen auflösen muss.

Und es ist genau das, was mich an dieser neuen Märchenkunde begeistert hat. Zu erleben, (ZITAT) „welch archaischen Bildwelten wir im Bereich der Märchen begegnen, wenn wir den Kreis dessen verlassen, was wir durch die bearbeiteten Fassungen der Brüder Grimm oder Bechstein gewohnt sind.“ (Seite 241)

Denken wir etwa an den Grimmschen Froschkönig, an die „alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat“, mit einem tiefen Wald, darin der König und die drei Töchter, die alle schön sind, „und die jüngste war so schön, dass sogar die Sonne, die doch schon so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien.“

Das klingt verlockend genug, aber wenn wir mutig sind, lassen wir uns auch auf die etwas anderen Märchen ein, die Frau Tüpker präsentiert, zum Beispiel auf das von ihr interpretierte griechische Märchen: mir liegt es am Herzen, weil die Geige darin eine Schlüsselrolle spielt, – oder spielen könnte -, aber der böse Verlauf deutet sich schon in den ersten Zeilen an:

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten drei Söhne, und nachdem diese bereits herangewachsen, gebar die Königin auch ein Mädchen; das war aber nicht wie andere Kinder, sondern verwandelte sich jeden Abend in eine bösartige Hexe, ging dann in den Marstall des Königs und erdrosselte dort ein Pferd, und am andern Morgen fand man es tot in seinem Stall liegen. Usw. usw., es tut mir leid, dass ich ans Ende springen muss, ohne bei der Stelle zu verweilen, wo der Bruder alias „Prinz“ die lebensgefährliche Schwester nach langer Suche in einem Gemach findet, wo sie dasitzt und – Geige spielt. Und sie hat offenbar viel Zeit dafür, denn sie hat alles Lebendige, was existierte, aufgefressen; abgesehen wohl von wenigen Pferden und einer Maus, die übrigens auch Geige spielen kann. Und nun soll der ebenfalls geigerisch begabte Jüngling dran glauben. Aber es endet folgendermaßen:

Am andern Morgen wartete er so lange, bis sie ihre Mahlzeit gehalten und dabei, wie sie gewohnt war, ein ganzes Pferd aufgefressen hatte, und [er] trat dann vor sie. Kaum erblickte sie ihn aber, so stürzte sie sich wütend auf ihn und sie rangen lange miteinander, bis er sie endlich erschlug, – man glaubt es kaum, das Märchen ist gleich zuende, da folgen nur noch die Worte: und der Prinz lebte von nun an allein.

Für mich ist das keine Enttäuschung: denn da er auch Geige spielen kann, wird er sich ja niemals langweilen, wenn er z.B. die Bach-Partiten zur Hand hat. Rosemarie Tüpker hat im Vergleich mit anderen Märchen ausgemacht, dass die Musik, wo auch immer sie auftaucht, jeweils einen eigenen seelischen Raum aufschließt, und ich bestätige das eben privat für J.S.Bach, viele Irish Fiddle Tunes, oder auch die Weisen auf der Schlüsselfiedel, die wir hier gehört haben – einen seelischen Raum, der sich deutlich von den existenziellen Lebensnotwendigkeiten abhebt (Seite 243), ohne dass dies expressis verbis herausgestellt werden muss. So auch in einem englischen Märchen, wo die Schalmei eines Hirtenknaben eine zauberische Funktion innehatte – sie klang wie das Lied eines Vögleins im fernen Walde –, diese Musik erzeugt Gefühle und steigert sie, und nebenbei vermag sie alte Kleiderlumpen in kostbare Gewänder zu verwandeln. Daraus folgt aber durchaus nicht, dass der dienstbare Hirte einen Anspruch auf das Mädchen erhebt, Musik ist nur der Katalysator, und als der Prinz schließlich das niedere Mägdlein unter Trompetenklängen zur Gemahlin nahm – da konnte sich der Hirte am Ende buchstäblich in Wohlgefallen auflösen. Er tut es, und da heißt es nur: er war verschwunden, und niemand weiß, was aus ihm geworden ist. (Seite 245)

Im Fall des Zigeunermärchens vorhin gab es ebenfalls ein (für uns!) ungewöhnliches Ende: Nicht etwa im Glanz des Königshofes wie hier, sondern in einer Roma-Hütte aus Lehm und Holz, genau dort lebten sie glücklich bis heute. Und er spielte immer in der Weinstube. (Seite 106) – – – Aus der Sicht meiner vorlesenden Oma gewiss ein Wermuthstropfen am Ende der Geschichte. Sie hätte ihn sicher lieber als Clou der Geschichte im bürgerlichen Wohnzimmer gesehen.

Ebenso die Quintessenz aus all den vorhin angedeuteten seltsamen Begebenheiten vom Kampf des Sohnes gegen den Vater, sie würde lauten:

dass die Macht der Musik die Zerstörungswut des Heldentums besiegt, die ewige Dichotomie [Spaltung] von Bindendem und Trennendem, Struktur und Auflösung, Tod und Wiedergeburt.“ Was nicht heißt, so Rosemarie Tüpker, dass die Ebene der einfachen Geschichte aufgehoben wäre, für unwirksam oder ungültig erklärt würde. „Vielmehr können wir davon ausgehen, dass die heftigen oder schwer auszuhaltenden Affekte, die sich bei dieser intensiveren Auseinandersetzung einstellen, in der Geschichte aufgehoben sind. Das ist die Kunst der Erzählung: Schwierige Themen so einzubinden, dass wir die Auseinandersetzung mit ihnen nicht allzu sehr scheuen.

Ein wunderbares Fazit.

Meine Damen und Herren, es wäre des Erzählens und des Lobens kein Ende. Aber eine echte Laudatio hat auch mit dem Lebenslauf, nein, mit dem Geduldsfaden eines Lebenswerkes zu tun. Ich frage einfach: wie kommt man zu diesem Lebensthema? – und das hätte sich die heute Geehrte sicher damals als Abiturientin ebenfalls gefragt. Denn sie hatte nichts anderes im Sinn als den ganzen Tag Musik zu machen, sie begann also an der Kölner Musikhochschule Klavier und Schlagzeug zu studieren. Zugleich schien ihr nichts faszinierender, als die Geheimnisse der musikalischen Sprache und ihrer Wirkungszusammenhänge zu ergründen, wobei in Köln eine lebendige Szene der Neuen Musik vielfältige Anregungen bot. Zugleich entdeckte die Musikstudentin im benachbarten Bonn eine Psychologie, die zu den spannenden Fragen des Seelischen und der Kreativität führten. Auf diesem Weg hoffte sie ihre verschiedenen Interessen zu einer Synthese zu bringen, und sie erlebte tatsächlich einen entsprechenden Glücksfall im Psychologischen Institut von Wilhelm Salber, wiederum in Köln: nämlich „eine Psychologie, die etwas von Kunst verstand“. Obendrein die Verbindung zur System[at]ischen Musikwissenschaft in Gestalt von Prof. Jobst Peter Fricke, der für musiktherapeutische Interessen ein offenes Ohr hatte. Ein zweijähriger Mentorenkurs für Musiktherapie in Herdecke wurde möglich und all dies führte 1987 zum Abschluss einer Dissertation über die morphologische Grundlegung der Musiktherapie, eine Form der Musiktherapie, die mithilfe einer tiefenpsychologischen und kunstanalogen Sichtweise auf seelische Prozesse einwirkt. In den folgenden Jahrzehnten erweiterte Rosemarie Tüpker diese Arbeit, sie wurde an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster berufen, seit 2005 war sie als Professorin tätig in Forschung und Lehre, darüberhinaus in der klinischen Musiktherapie. 2011 erschien ihr grundlegendes Buch über Musik im Märchen, das auch weit über die verschiedenen Fachbereiche hinaus Beachtung fand. So hat es auch mich elektrisiert und so kam ich zu einer Präsentation beim Klassiksender SWR2 (Musik aktuell). Ich erinnerte mich bei dieser Arbeit, dass zu meiner Studienzeit in der pädagogischen Literatur plötzlich Titel auftauchten wie dieser: „Böses kommt aus Kinderbüchern“, das ging vorrangig gegen den Struwwelpeter, aber damals sollte ja gerade die ganze Pädagogik neu erfunden werden. Einige Jahre später kam eine Rückwendung mit Bruno Bettelheims Entdeckung „Kinder brauchen Märchen“, und das war wie eine Erlösung. Da hatte Rosemarie Tüpker längst begonnen, das weite Feld zu erkunden, das in uns allen verborgen ist und von den Märchen aller Völker mit Leben erfüllt wird. Es geht uns an, ob wir uns nun erwachsen fühlen oder Kind geblieben sind: ein phantastisches Feld der morphologischen Verwandlungen, derselben narrativen Wendungen, die wir in anderer Gestalt aus der Musik kennen, mit ihr einüben.

Es ist eine fabelhafte Idee, solch eine nicht nur kindgemäße, sondern weit darüber hinaus menschenfreundliche Art der Forschung mit dem Wildweibchenpreis auszuzeichnen.

Ich gratuliere Frau Prof. Dr. Rosemarie Tüpker zu diesem Preis – und Ihnen hier in Reichelsheim zur Wahl gerade dieser Preisträgerin.

Alle Seitenangaben beziehen sich auf das Buch von Rosemarie Tüpker „Musik im Märchen“ zeitpunkt musik Reichert Verlag Wiesbaden 2011

 

Was Bilder sagen

Oder: was über Bilder gesagt wird

ZITAT

Manchmal lässt es sich einfach nicht sagen, wie und warum ein Kunstwerk seine Wirkung entfaltet. Ich kann vor einem Gemälde stehen und von Gefühlen und Gedanken erfüllt werden, die offensichtlich von dem Bild auf mich übertragen werden, ohne dass sich diese Gefühle und Gedanken auf es zurückführen lassen und man beispielsweise sagen könnte, dass die Trauer den Farben oder die Sehnsucht den Pinselstrichen entspringt oder dass die schlagartige Einsicht in die Endlichkeit des Lebens im Motiv verankert ist.

Ich könnte wenigstens die Quelle dieses Zitats angeben (s.u.) oder sogar das Bild zeigen, durch das diese Worte ausgelöst wurden. Aber ich – das zitierende Ich – möchte eine gewisse Dankbarkeit zeigen und alle Namen nennen, die mir etwas über Bilder gesagt haben, deretwegen ich nie sagen würde, das Bild selbst ist es, das zu allererst zu mir gesprochen hat (so war es vielleicht mal, als ich noch keine Ahnung hatte), sehr oft waren es Worte, die mich neugierig gemacht haben. Und daraufhin habe ich bereits anderes gesehen, als was die Linien und Farben mir sonst hätten sagen können.

Wie fange ich an? John Berger würde ich sofort nennen. „Sehen kommt vor Sprechen“, lese ich da und wenig später: „Aber wenn wir dann lernen, dem Augenschein der Welt  mit Worten auf den Grund zu gehen…“ Ja, das habe ich verinnerlicht.

  Berger

     Malraux

Auch André Malraux, sehr wichtig, aber dann fällt mir Wilhelm Waetzoldt ein, der viel früher auf mich wirkte, früher als ich überhaupt ahnen konnte, dass es eine Rolle spielt, in welcher Zeit man besser sehen und lesen gelernt.

Das mehrdeutige Wort Zeit sehe ich da auf weißem Grund. Unten im Text mit blauer Tinte die Jahreszeit 1938 mit Ausrufezeichen. Was war denn mit Waetzoldt?

 Waetzoldt „Du und die Kunst“, s.a. hier

Eine Zeitangabe hat mich eben auch bei Perlentaucher als erstes irritiert:

18.05.2017. Raum und Distanz, fordert Karl Ove Knausgard in der Zeit für die Kunst.  (vgl. hier)

Die Wochenzeitung DIE ZEIT. Warum aber Raum und Distanz. Jetzt also in Düsseldorf. Nicht weit von hier. Doch zurück zum Anfang. Neuer Versuch. Die Kunst ist nie nur das Visuelle. Wie fing das an? Letztlich ein Film (mit Marina Vlady), der im Moment nichts zur Sache tut, Begeisterung für Schweden, Fahrt mit H.L. nach Göteborg etc., über die Grenze nach Norwegen bis letztlich Oslo, Reise-Tagebuch August 1960, das ist nun wirklich für Außenstehende ganz uninteressant. Ich war 19, hatte das Abitur hinter mir und um Ostern 1960 das Studium in Berlin begonnen.  Es geht mir nur um die Chronologie des eigenen Kunstinteresses. Auch schon Volksmusik.

 

Gemeint ist der Frognerpark mit Skulpturen des Bildhauers Gustav Vigeland, weiteres hier.

Nationalgalerie: Sammlung von Zeichnungen u. Drucken von E. Munch (mit Ausrufezeichen), Fazit „Vigelandgarten“, „In Galerie Munch-Hefte gekauft.“ Offenbar Infos, auch Postkarten, die ich noch besitze.

Fast genau 60 Jahre später: wiederum DIE ZEIT hier. Und ich darf – auch auf Anraten von Egbert Stahlschmidt, Buchhandlung Jahn – die Fäden weiterverfolgen. Das Buch ist da und Düsseldorf ist nicht weit.

 direkt hier !

Ich habe schon früher mal die Nordland-Reise rekapituliert, es betraf ebenfalls einen starken Kunsteindruck, hier, „Humlebaek“ in Dänemark. Und etwas sehr Merkwürdiges betrifft mich heute, wenn ich den Umschlagtext des Buches von Knausgård lese: „Ich war neunzehn, und die Einsamkeit in diesem Bild war unendlich“.

Und die Zeit ist mir kaum ferner oder näher als die, die ich gerade in der Basilika in Steinbach bei Michelstadt erlebt habe:

  

Und wie ist es überhaupt mit dem Zusammenhang zwischen Biographischem (des Künstlers und des Betrachters) und Werk? Knausgård schreibt auf Seite 20:

Ein Kunstwerk ist wie ein Punkt in einem System mit drei Koordinaten: der bestimmte Ort, die bestimmte Zeit, der bestimmte Mensch. je mehr Zeit seit der Entstehung eines Werks vergangen ist, desto deutlicher wird, dass die Bedeutung des Individuellen, die Erfahrungen und die Psychologie des bestimmten Menschen, eine geringere Rolle spielen als die Kultur, in der sie sich ausdrückte. Ich bin mir sicher, dass ein versierter und kundiger Leser im Mittelalter in der Lage war, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Buchillustrationen seiner Zeit zu erkennen, und dass diese Unterschiede zwischen den diversen Illustratoren möglicherweise sogar als entscheidend wahrgenommen wurden, während der Stil für uns, zumindest für mich, genau eines und nur eines ausdrückt: Mittelalter.

[Beispiel eines literarischen Zeitgenossen, Dag Solstad]

So ist es, weil wir die Welt sehen, ohne uns der Art bewusst zu sein, in der wir sie sehen, die beiden Faktoren sind für uns häufig ein und dasselbe. Wir haben das Gefühl, in einer unvermittelten Wirklichkeit zu leben, und wenn jemand sie vermittelt, was Künstler tun, vermitteln sie diese oft auf Weisen, die so eng mit unserer eigenen Wirklichkeitsauffassung verbunden sind, dass wir auch sie verwechseln. Das gilt für alles, dem wir Beachtung schenken  und was wir für wichtig halten, es gilt für die Vorstellungen, die wir von Menschen und der Welt haben, es gilt für die Sprache und die Bildsprache, die wir benutzen. Wenn wir beispielsweise eine Ausgabe der Fernsehnachrichten von 1977 sehen, fallen uns augenblicklich die Kleider auf, die anders sind, und das häufig in einer Weise, die uns schmunzeln lässt wie die Frisuren und Brillen. Uns fällt die Art auf, sich sprachlich auszudrücken, die steifer und formeller war, als wir es heute gewohnt sind, und uns fällt auf, wie unglaublich lokal und unschuldig die Berichterstattung war. Damals, 1977, fiel das alles jedoch niemandem auf. Der Klang der siebziger Jahre existierte nicht, weil alle und alles Siebzigerjahre war, die Art, sich zu kleiden, die Frisuren, das Brillendesign, die Ausdrucksweise, die Interessen waren allen gemeinsam. All das befindet sich mitten unter uns, es ist das, was wir den Zeitgeist nennen, gleichzeitig drücken wir uns durch ihn aus. Ein schwacher Roman wird nur genau dies ausdrücken, unabhängig davon, ob er sich auf persönliche Erfahrungen stützt und vielleicht sogar auch selbst erlebt ist, und nach ein paar Jahren wird er nur noch einen Wert als Zeitdokument haben.

Dass die Kultur als Natur gesehen wird, dass Bewertungen und Vorstellungen, die willkürlich und zeitgebunden sind, unbewusst als zeitlos wahr aufgefasst werden, fällt unter den rhetorischen Begriff Doxa, und es waren solche zugrundeliegenden Vorstellungen, die Roland Barthes in seinem Buch Mythen des Alltags definierte und beschrieb. Als ich Anfang der neunziger Jahre studierte, waren dies vorherrschende Gedanken, die französische Philosophie dominierte das akademische Leben, was meinen Blick auf Zeit und Kunst geprägt hat, und dies wahrscheinlich auf eine Art, die ich selbst nicht überblicke. Der für mich mit Abstand wichtigste Theoretiker war Michel Foucault, vor allem sein Buch Die Ordnung der Dinge, die wie eine Offenbarung war, als ich es das erste Mal las. Ja, genau so ist es!, dachte ich damals und denke es heute noch. Und selbstverständlich ist alles, was ich hier schreibe, sowohl die Art, in der ich es schreibe, als auch die Gedanken, die ich dadurch zum Ausdruck bringe, ebenfalls ein Teil des Zeitgeistes, ebenso ein Teil von Vorstellungen, die ich in diesem Moment als wahr erlebe, denn so sieht die Wirklichkeit für mich aus, weshalb die Möglichkeit groß ist, dass auch dies eines Tages nur das zeitlich Lokale ausdrücken wird.

Quelle Karl Ove Knausgård: Soviel Sehnsucht auf so kleiner Fläche / Edvard Munch und seine Bilder / Aus dem Norwegischen von Paul Berf / Luchterhand 2019 (Seite 20f)

Mir aber, der ich das lese, ist es, als ob ich das selbst geschrieben haben könnte (wenn ich ein so guter Schriftsteller wäre) und als habe er genau das gelesen, was ich liebe (tatsächlich: Barthes und Foucault waren „meine Zeitgeister“ der siebziger Jahre, und er könnte auch bei John Berger und André Malraux in die Schule gegangen sein).

 Einhard mit 25 (?)

Noch etwas, etwas scheinbar Banales, – weil fast jeder, der schreibt, den Horror vacui erwähnt, die Angst vor dem leeren weißen Blatt, das mit Schrift und Sinn erfüllt werden will -, aber wenn Knausgård über den Maler vor der leeren Leinwand schreibt, oder auch über den Betrachter vor einem Bild, – der nicht nur den Zeitpunkt kennt, zu dem das Bild entstand, sondern auch die späteren Bilder, von denen der Maler selbst noch keine Ahnung hatte: ja, also dieser Betrachter, der also seinen Sinn nicht leeren kann, den status nascendi nicht imaginieren kann, – den wiederum der Künstler vielleicht absichtsvoll versteckte, indem er alle Skizzen und Entwürfe verbrannte…

„Es ist ein Irrtum zu glauben, der Maler stehe vor einer weißen Oberfläche“, schreibt Gilles Deleuze in seinem Buch über den britischen Maler Francis Bacon. Damit meint er, dass es niemals nur darum geht, ein Motiv, vor dem man steht, auf eine leere Leinwand zu übertragen, weil die Leinwand niemals leer ist, sondern voller Bilder und Vorstellungen, die der Maler bereits in sich trägt, wodurch es beim Akt des Malens im Grunde eher darum geht, zu entleeren, zu reinigen, Dinge fortzunehmen, als darum, eine leere Fläche zu füllen. Der Maler malt „um ein Gemälde zu produzieren, dessen Funktionsweise die Bezüge zwischen Modell und Kopie verkehren wird. Kurz, es müssen all jene ‚Gegebenheiten‘ definiert werden, die bereits auf der Leinwand sind, bevor die Arbeit des Malers beginnt. Und es muss definiert werden, welche von diesen Gegebenheiten ein Hindernis, welche eine Hilfe oder die Effekte einer vorbereitenden Arbeit sind.“

Das ist die Ausgangsposition, die Grundlage für jede Betätigung als Maler, und im Grunde auch für jede andere künstlerische Betätigung, auch für das Schreiben, wenngleich auf andere Art. Deleuze hat dieses Kapitel „Die Malerei vor der Malerei“ genannt, und das, was immer schon im Voraus da ist und bereits bevor das Gemälde begonnen wird, zwischen dem Maler und seinem Motiv steht, ist einerseits das Klischee, mit allem, was es mit sich bringt, andererseits die Möglichkeit, mit allem, was sie mit sich bringt. Malen heißt, sich in das Klischee und die Möglichkeit zu begeben, und, schreibt Deleuze, der Maler bewegt sich in das Bild, gerade weil er weiß, was er zu tun wünscht, aber nicht, wie er es tun soll, und der einzige Weg zu dieser Gewissheit führt durch das Bild und aus ihm heraus.

Auf der nächsten Seite (Seite 31) wird Knausgård auf „mein“ John-Berger-Buch zu sprechen kommen, dessen Originaltitel Ways of seeing (1972) lautet.

Ja, ich bin in der richtigen Gesellschaft!

Waldspaziergang Ohligs

Der Tag nach dem Abendrot

Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers 22.10.2019 18:45

In der Richtung des Abendrots liegt die Ohligser Heide. Wenn möglich, will ich morgen die Bäume dort sehen und riechen. Nichts Spektakuläres. Nur oben und unten.

Formen und Farben 23.10.2019 12:30

        

Fotos unten E.Reichow

Donaueschingen 2019

Eröffnungskonzert zum Abrufen 
Hier (im externen Fenster)
Moderation: Lydia Jeschke (ab 5:38)
(die folgenden Links einzeln abrufen, bei Abbruch hierher zurückklicken)
00:09:20 – Matthew Schlomowitz: Glücklich, Glücklich, Freude, Freude
00:43:53 – Michel Pelzel: Mysterious Benares Bells
01:39:00 – Simon Steen-Andersen: TRIO
.

*    *    *

SWR Programmtext:

Wer heute für Orchester komponiert, der denkt die Geschichte des Orchesters immer mit. Wie ist das Orchester entstanden? Welchen Symbolgehalt hat die Musikergemeinschaft? Wie sind die großen Orchesterwerke vergangener Jahrhunderte gemacht? Die Antworten auf diese Fragen fallen freilich immer wieder anders und überraschend aus. Es können ironische und entlarvende Werke sein wie in „Glücklich Glücklich Freude Freude“ des australischen Komponisten Matthew Shlomowitz. Michael Pelzel hingegen arbeitet mit dem SWR Experimentalstudio an Möglichkeiten, den Klang zu entgrenzen und aufzulösen. Simon Steen-Andersen schließlich konfrontiert das Orchester des Rundfunks, aber auch seinen Chor und seine Bigband mit ihren historischen Vorläufern mit Aufnahmen aus dem Fernseharchiv des SWR.

18. Oktober 2019

Uraufführungen live aus der Baarsporthalle in Donaueschingen

Matthew Shlomowitz Glücklich, Glücklich, Freude, Freude

für Tasteninstrument und Orchester (Uraufführung / Kompositionsauftrag des SWR)

Michael Pelzel Mysterious Benares Bells für Orchester mit Elektronik

(Uraufführung / Kompositionsauftrag des SWR mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia)

Simon Steen-Andersen TRIO für Orchester, Bigband, Chor und Video

(Uraufführung / Kompositionsauftrag des Dänischen Rundfunks und des SWR)

Mark Knoop, Tasteninstrumente

SWR Big Band (Thorsten Wollmann, Dirigent)

SWR Vokalensemble (Michael Alber, Dirigent)

SWR Experimentalstudio

SWR Symphonieorchester Dirigent: Emilio Pomàrico

*    *    *

EINERSEITS

entfalten Einzelszenen z.B. aus dem beeindruckenden Collagen-Werk TRIO eine Wirkung, die nicht unbedingt beabsichtigt ist. Ein Wahnsinnsaufwand, eine ungeheure, überwältigende Fleißarbeit (Genie ist Fleiß), Komponistenkollegen sagen etwa: ach, hätte ich nur dieses riesige Archiv zur Verfügung, die Welt würde staunen. Die Lustigkeit kurzatmiger Wiederholungen des scheinbar Beiläufigen liegt auf der Hand, die ironische Rhythmisierung, ja Musikalisierung kenne ich aus den 70er Jahren, z.B. des typischen Hörerurteils „Das ist doch keine Musik mehr!“ im Radio-Workshop Neue Musik. Auch heute gibt es Momente, die erst Stunden später selbsttätig wiederkehren. Für mich z.B. die Studio-Szenen ab 2:16:30 bis 2:19:11, die keineswegs eine wichtige Position innehatten. Da sitzen drei oder vier intellektuelle Herren in einem Studio und sprechen miteinander, man könnte sie beim Namen nennen, damals hieß man zum Beispiel noch Thilo und kannte Gottfried Benn persönlich, eine feierlich-bedrohliche Runde; jemand erhebt sich schwerfällig, um ein Tonbeispiel vom Gerät abzuspielen. Ist das Dr. Clytus Gottwald? Ist das lustig? Vielleicht. Oder die quälenden, endlosen Barockkoloraturen vorher? Oder die technischen Schleifen aus Wortfetzen der Dirigenten?

ANDERERSEITS

… nichts weiter als Musik (Klangkunst), aber es ergänzt meine Obsession von der Beklommenheit der 50er Jahre, die vielen als ein Aufbruch in Erinnerung war. Ich glaube mich auch daran zu erinnern: ich war damals jung, hörte Radio mit Blick auf Zukunft, und finde heute alles wieder in den zweifellos alten Filmen und Musiksendungen, die damals von älteren Herrschaften kamen.

ALLERDINGS

kann ich auch einsehen, dass dieses gigantische Spiel mit Schnipseln der Vergangenheit in der Echtzeit stattfindet, mit einem Höchstmaß von Geistesgegenwart begleitet wird und eine vielfache Resonanz erzeugt. Was erwarte ich denn sonst von Kunst?

Dann stoße ich außerhalb der Werke und ihrer großen Inszenierung auf eine einzige ganz andere Szene, die ebenfalls mit dem Orchester und mit Donaueschingen zu tun hat. Ich setze sie hierher, weil mir gerade gestern der Gedanke kam, ich hätte vor allen Dingen an einer Feierstunde der Institutionen teilgehabt, die ein zufriedenes Lächeln auf vielen Gesichtern zurückließ. Vor derselben Bühne wie damals. Und manche hatten ein beklommenes Gefühl. Ohne allzuweit zurückzudenken.

https://www.youtube.com/watch?v=QRMrujtd8CM

Bücherbedarf

Warum gerade dies?

 .    .    .

Weil es die eigene Zeit verstehen (und verändern) hilft. Ich kam darauf durch die Präsenz der Autorin in der Lanz-Sendung 8. Oktober 2019 (mit N.Kampusch) HIER

Warum Peter Gülke? Man kann sicher sein, dass er diesen Gegenstand mit einem universalen (linken) Blick betrachtet, nicht als lebenslänglich eingeschränkter Archivar. Er schreibt (heute) eher etwas schwierig, aber was ich kenne (Brahms/Bruckner, Schubert, Schumann), möchte ich nicht missen. Dieses frühe Buch ist einfacher zu lesen, und wenn ich meine, man müsse zu diesem Thema unbedingt auch Salmen lesen („Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter“), oder Bachmann („Die Anfänge des Streichinstrumentenspiels“) oder Hammerstein („Die Musik der Engel“), er kannte das alles schon!

  Köhler & Amelang Leipzig 1975

285 Seiten, mit einer unbezahlbar schönen Bildauswahl, antiquarisch für 6,50 €

Antiquarisch, aus dem Besitz eines Rauchers (man riecht es), leicht vergilbt, aber ohne Lesespuren. Ich werde es mir durch viele Unterstreichungen aneignen.

ZITAT

„Schritte zum mehrstimmigen Komponieren“ (Gülke a.a.O. Seite 79f)

Wo immer der erste Schritt getan wurde, ob er angeregt war durch Erinnerungen an die Heterophonie, das freie Umspielen einer gleichen Melodie durch verschiedene Instrumente in der Antike, oder dadurch, daß Sänger verschiedener Stimmlagen die gleiche Melodie in der jeweils bequemsten Lage sangen und so zu einer Parallelbewegung kamen – entscheidend war der Entschluß, die „wild“ improvisierte Mehrstimmigkeit theoretisch zu fassen und so als kompositorische Möglichkeit zu legitimieren. Im Rahmen improvisatorischen Musizierens hätte die Mehrstimmigkeit sich nicht so entwickeln können, wie es in Europa geschah. Eben hieran zeigt sich der Unterschied von Komposition und Improvisation in aller Deutlichkeit: Wohl ist der Improvisierende „frei“ insofern, als er nicht an die Vorgabe eines Notentextes gebunden ist, aber die Wahrnehmung seiner Freiheit, alle Ausflüge seiner Phantasie erscheinen sinnvoll nur in einem Rahmen, den ihm das Verständnis seiner Zuhörer und das Zusammenwirken mit seinen Mitspielern vorgeben, ganz abgesehen davon, daß er, befangen im Vollzug, von seinem musikalischen Gegenstande nur geringen Abstand hat; nur, wenn er ein den Zuhörern vertrautes musikalisches Material benutzt, werden sie ihn und seine Freiheiten verstehen, und nur, wenn er sich an vorgegebene melodische und harmonische Modelle hält, funktioniert das Zusammenspiel mit seinen Partnern. Anders der Komponierende, der bei der Auswahl der Mittel freiere: Er kann Auseinanderliegendes planvoll zusammendenken und so zu neuartigen Synthesen gelangen, kann ohne die Befangenheit und das unmittelbare Engagement eines Musizierenden die Einzelheit präziser kalkulieren und in ein Verhältnis zur Disposition des Ganzen setzen, er kann im Bereich des Unerwarteten, Neuen weiter ausschreiten, mit bislang unvereinbar erscheinenden Mitteln, bei den Anfängen des mehrstimmigen Komponierens.

Nicht möglich wäre dies gewesen, wenn nicht die Entwicklung der Notenschrift die Übersicht erleichtert hätte. Die schriftliche Fixierung, zunächst nicht mehr als eine Gedächtnishilfe und also ohne Weitergabe der Melodien von Mund zu Mund kaum brauchbar, half nicht nur, die Einheitlichkeit des Repertoires in weit auseinanderliegenden Gebieten zu sichern, sie entlastete nicht nur die durch das Memorieren der Musikalischen Liturgie arg strapazierten Hirne, sie muß darüber hinaus die Einstellung zur Musik grundlegend verändert haben.

Wessen ich bedarf (privatissime)

oder: was braucht der Mensch? 

Ich habe mich gesträubt, das Wort „Bedürfnis“ anzuerkennen und begann, es in Varianten auszubreiten. Allmählich verfolgte es mich. Um die „Bedürfnisanstalt“ aus den Augen zu verlieren, kam ich auf das menschliche Grundbedürfnis, nein, das philosophische Grundbedürfnis des Menschen, getarnt als Neugier, die Neigung zum Warum, überhaupt zum Fragen, dieses Für-alles-eine-Erklärung, einen-Sinn-suchen-müssen, der tägliche Versuch, den Zufall zu unterwandern. „Das habe ich doch geahnt!“ Und dann das Lob der Tiefen-Entspanntheit, des In-sich selbst-Ruhens, des Cool-Seins, der Unaufgeregtheit. Ich vergesse nie, wie Adorno in seiner Glosse über Persönlichkeit am Ende Hölderlin zitiert (in den 60er Jahren habe ich einige Radio-Vorträge vom Tonband abgeschrieben, aus Sorge, sie würden nicht veröffentlicht). Ich zitiere ihn aus der Veröffentlichung (1969):

Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: „Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“

Ja, aber wenn ich nun kein Dichter bin? Eben!

Damals haben wir keine neue Veröffentlichung von Adorno verpasst. Selbst als ich gerade von der Orienttournee zurückkam, die unser Leben änderte. Und so verpasste ich 1983 eine neue Ästhetik, deren ich nach der Musikästhetik von Dahlhaus nicht mehr bedurfte. Glaubte ich. (Ansonsten seit 1963: „Über Grund und Wesen der Kunst“ von Rudolf Krämer-Badoni.) Sie hätte aus der Musikethnologie kommen müssen (und kam auch: mit John Blacking, Mantle Hood, Alan P. Merriam, Bruno Nettl, aber letztlich – ins Unendliche aufgefächert).

   und die wichtigen Stellen…   Verlag Gerig Köln 1967

Als ich endlich auf das folgende Büchlein stieß (vor kurzem, dank Martin Hufner in Facebook), da war diese neue Ästhetik längst wieder aus der wissenschaftlichen Rezeption verschwunden:

Ein Glücksfall, – für mich das Missing Link zu Ernst Cassirer und Susanne Langer. Noch ein Glücksfall: diese Ästhetik ist wieder greifbar (nicht nur dank Internet s.o.).

Was mich fast entmutigt hätte, ist das eine Wort, das ich im Vorfeld gelesen hatte:

 Für die vorliegende Neuausgabe hat der Verfasser den Text erweitert und ergänzt: den theoriehistorischen ersten Teil durch eine Auseinandersetzung mit der Postmoderne, den systematischen zweiten Teil durch ein umfangreiches Postskript. Das ursprüngliche Konzept, das die Kunst als eine besondere Weise der Bedürfnisartikulation charakterisiert, erfährt so eine semiotische Präzisierung und – in einem Verständnis der Kunst als Ausdruck personaler Eigenart und Eigensicht – eine anthropologische Vertiefung.

„Bedürfnisartikulation“. Es ist kindisch, aber für mich stand fest, dass Kunst nicht aus der Not, sondern aus der Fülle kommt. Es ist ein Überschuss, der schöpferisch macht, nicht ein Mangel. „Not macht erfinderisch“? Man muss sich einmal klargemacht haben, dass solche punktuellen Einsichten – „Lebensweisheiten“ – nicht viel wert sind. Der kleinste Einwand entkräftet sie: wie ist es denn mit psychischer Not? Erinnert man sich nicht blitzartig an Fälle, wo sie einen lähmt, Notlagen, in denen man keinen Ausweg sieht und die Gedanken im Kreis laufen, statt neue Chancen freizulegen. Wenn ich krank bin, habe ich das Bedürfnis, wieder gesund zu werden. Aber wenn ich gesund bin, habe ich das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen, in die Berge zu fahren, an die See. Mich anzustrengen, zu rennen, zu schreien, zu jodeln. Oder sogar zu singen? oder ich freue mich, wenn ich jemanden singen höre. Und was für eine Art „Bedürfnis“ steht denn hinter dem Gefühl der Sehnsucht? Bei Goethe führte es zu Gedichten. Bei Dostojewski zu Romanen. Bei Munch zu Bildern. Bei Schubert  … usw.

Das Schreiben schützt mich vor Kurzschlüssen, das Umkreisen eines Themas und die allmähliche Kreiserweiterung hilft mir im Alltag aus der „Not“. Als ich die Überschrift für diesen Artikel suchte, bzw. den Untertitel, glaubte ich, das sei ein Titel von André Malraux, den ich einmal sehr verehrte wegen seines Buches über das „Imaginäre Museum“, das die Kunst der ganzen Welt umfasste. Sein Roman aber hieß „So lebt der Mensch“ im französischen Original „La Condition humaine“, nicht: „Was braucht der Mensch?“.

Gut, ich lege diesen Versuch, eine Arbeit ernsthaft zu beginnen, erst einmal ad acta. Nebst dem üblichen Zusatz: (Fortsetzung folgt).

Doch ich lege die Musikästhetik von Carl Dahlhaus auch nicht ins Regal zurück, ohne den Text zu reflektieren, den ich damals schon mit Seitenzahl 109 (s.o. Umschlag-Notizen) abrufbar machen wollte: über „ästhetische Unmittelbarkeit“, die von manchen Leuten betont wird, um sich des Denkens bei Musik zu entheben. Es betraf mich direkt, weil es auch auf die gesamte nicht-westliche Musik bezogen werden konnte, die ohne Vorbereitung nun einmal nicht „verstanden“ wird. ZITAT Dahlhaus:

Daß unverkürzte ästhetische Erfahrung Geschichtliches impliziert, zeigt sich negativ an dem Unverständnis oder Mißverständnis, dem historisch entlegene Musik, etwa die des 14. Jahrhunderts, begegnet: einer Fremdheit, von der die ästhetische Kontemplation nicht so unabhängig ist, daß sie nicht beeinträchtigt oder sogar durchkreuzt würde. (Daß ein Hörer Unbegriffenes gerade darum genießt, weil es unbegriffen bleibt, mag zwar nicht ausgeschlossen sein, darf aber zu den peripheren, um nicht zu sagen belanglosen Phänomenen gezählt werden.) Was bei Vergangenem und Ferngerücktem drastisch hervortritt, gilt jedoch, obwohl es unauffälliger bleibt, in gleichem Maße auch von Werken, die uns näher liegen und zu deren Verständnis es keiner fühlbaren Anstrengung bedarf: Ein Kommentar – die Mühe historischer Reflexion – ist nur darum überflüssig, weil die intellektuellen und geschichtlichen Momente, die das Werk einschließt, uns selbstverständlich sind. Und daß sie es sind, verführt dazu, sie zu übersehen und der Täuschung zu verfallen, die ästhetische Betrachtung sei „voraussetzungslos unmittelbar“. Die geschichtlichen Vermittlungen, die dem Verständnis einer Symphonie von Brahms oder eines Musikdramas von Wagner „zur Grundlage und zur Bedingung“ dienen, bleiben verborgen, weil sie zu Traditionen, über die man nicht reflektiert, eingeschliffen sind; dennoch sind sie wirksam, und es würde die ästhetische Erfahrung reicher machen, wenn man sich ihrer bewußt wäre. Daß die „zweite Unmittelbarkeit“ das Ziel des ästhetischen Verhaltens darstellt, sollte nicht als Argument zur Rechtfertigung der „ersten“ mißbraucht werden, die bei denen, die sie für sich in Anspruch nehmen, in der Regel nichts als ein Alibi für Stumpfheit ist. Die Versenkung in ein Kunstwerk ist, so selbstvergessen sie sei, selten ein mystischer Zustand im unverwässerten Sinne, ein regungsloses und verzücktes Starren. Ist sie aber ein Hin und Her zwischen Kontemplation und Reflexion, so hängt die Stufe, die sie erreicht, von den ästhetischen und intellektuellen Erfahrungen ab, die ein Hörer mitbringt und in deren Kontext das Werk, das er gerade betrachtet, einfügt. Intellektuelle Momente sind keine überflüssige Zutat, sondern in der ästhetischen Wahrnehmung immer schon enthalten, und zwar entweder in rudimentärer oder in entwickelter Gestalt – und daß es ästhetisch ein Vorzug sei, wenn sie in primitivem Zustand gehalten werden, ist nicht einzusehen. Begriffsstutzigkeit ist schwerlich eine Gewähr oder ein Zeichen für ästhetische Sensibilität.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln TB 256 (1967) Seite 109f

Der Glocken bebendes Getön

Rachmaninow und Bach

Suzdal, Erloeser-Euthymios-Kloster: Russisch-orthodoxes Glocken-Schlagen

Das Kloster ist heute ein Museum. „Ein staatlich beauftragter Glockenspieler führt während der Museumsöffnungszeiten zu jeder vollen Stunde das traditionelle russisch-orthodoxe Glockenschlagen mit dem historischen Geläute der dortigen Glockenwand vor. Bei einem längeren Museumsbesuch kann man diese faszinierende musikalische Darbietung also mehrmals erleben. Nach vorheriger Absprache mit dem Glöckner können angemeldete Besucher das Geläute auch oben auf der Glockenwand verfolgen.“

Heute in FAZ online HIER interessantes Gespräch zwischen Jan Brachmann und dem russischen Pianisten Daniil Trifonow, der sich mit Rachmaninows Glocken-Faszination beschäftigt hat. ZITAT:

Meine Mutter kommt aus Susdal, einer der ältesten Städte in Russland. Meine Eltern waren gerade wieder da und schickten mir ein kleines Video mit dem Mittagsläuten vom Glockenturm. Das ist eine unglaubliche Polyphonie von zwanzig Glocken, die von einem einzigen Glöckner mit verschiedenen Teilen seines Körpers bedient werden.

Man muss dazu wissen, dass man beim Läuten in Russland nicht die Glocke, sondern den Klöppel bewegt. Das erlaubt das Schlagen ganz exakter rhythmischer und melodischer Muster. Die Klöppel sind durch Seile und Schnüre zu einem komplexen Spieltisch verbunden, der mit den Fingern, der Hüfte und durch Bretter als Pedale bedient wird.

Ja, Glöckner in Russland: Das ist ein schwerer Beruf. Als ich fünfzehn Jahre alt war – ich bin ja in dem Jahr geboren, als die Sowjetunion kollabierte–, fand in Moskau, wo ich studierte, eine Messe der Glockengießer statt. Dort konnte man, unter freiem Himmel, in der Mitte eines Parks, spielen und Dinge ausprobieren. Das war zwar kein Geläut von zwanzig Glocken, aber man konnte schnell verstehen, wie es funktioniert und wie es gestimmt war. Seitdem kann ich ahnen, was das für Rachmaninow bedeutet hat.

Rachmaninow war in Moskau Schüler von Stepan Smolenski, der Kurse für die alte Notenschrift des russisch-orthodoxen Kirchengesangs anbot und die erste wissenschaftliche Studie über die altrussische Glockenmusik der Kirche verfasste. Er hat verschiedene Geläut-Dispositionen in Kirchen beschrieben und die unterschiedlichen Schlagmuster des Läutens für die entsprechenden liturgischen Anlässe: das Blagowest-Läuten vor dem Gottesdienst, das Perebor-Läuten bei Beerdigungen, das Triswon-Läuten zu hohen Festtagen oder beim Abendmahl. Im ersten Satz von Rachmaninows zweitem Konzert hört man quasi die Überlagerung einer westlichen Sonatenform mit dem kondensierten Ablauf einer russisch-orthodoxen Liturgie.

Quelle Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ online  Trifonov über Rachmaninov: Das ist tiefreligiöse Musik eines Zweiflers/  Von Jan Brachmann / Aktualisiert am 15.10.2019 

Für den Hinweis auf den FAZ-Artikel danke ich Berthold Seliger.

Der Zufall will es, dass gerade heute auch in der Süddeutschen ein Artikel zu lesen ist, der die Glocken zum Thema zu haben scheint, sich aber als Buchbesprechung entpuppt: Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019 / Von Kristina Maidt-Zinke. Der SZ-Autorin spart nicht mit Lob, aber etwas hat ihr wohl gefehlt (und mir würde es sicher genauso ergehen), wie sich zeigt:

Was man aber in seinem Buch vermisst, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ „Der Glocken bebendes Getön“ in der Kantate 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung… simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch ‚Mark und Adern‘ geht.“ Hier öffnet sich durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf „diese Stelle“ ist schon die ganze Lektüre wert.

Quelle Süddeutsche Zeitung 15.Oktober 2019 Sachbuch V2  Seite 19: Der Glocken bebendes Getön / Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs / Von Kristina Maidt-Zinke.

Und vom Bericht der Journalistin entflammt suche ich den Youtube-Zugang zu diesem kleinen Rezitativ und verweile so lange wie möglich beim Gesamtwerk, ehe ich empfehle, direkt auf den Zeitpunkt 11:07 zu springen, um dieses – für den Aufwand an Malerei – vielleicht doch allzukurze Rezitativ herauszuheben und natürlich: mehrmals zu hören. (Oder lieber im externen Fenster? Hier. Den Text zum gleichzeitigen Mitlesen hier unter dem entsprechenden Kantatentitel.)

[Mitwirkende: ab 33:24]

Wenn aber Ihre Neugier noch weiter geht, – und Sie wollen mehr übers Bachs Glockenvorstellungen, seine Klangwelt in Leipzig und sogar noch eine weitere Kantate kennenlernen, dann haben Sie die Gelegenheit in diesem Blog HIER.