Archiv der Kategorie: Klavierspiel

1 gute Tat zum Jahresanfang (Fuge in D)

(Nicht dramatisch, gehört zu den normalen Vorsätzen)

Diese majestätische Fuge in BWV 850 ist nicht so einfach zu „verstehen“, wie es mir bisher schien, – und dann doch wieder sehr einfach.

Die Fuge in D-dur (BWV 850) aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, – die Kroll-Ausgabe, ein anonymes Geschenk 1960 (bereitgelegt in der Berliner Hochschule auf dem Tisch der Garderobe); sie hat sich seitdem bewährt, nur nicht in dieser Fuge, die ich bis dahin aus der Czerny-Ausgabe meines Vaters geübt hatte. Diese neue Version (mit guten Fingersätzen) schien mir insgesamt unantastbar, ich habe sie neu binden lassen und im Laufe der Jahre alle Praeludien und Fugen daraus erarbeitet, gelegentlich auch die Integrität des Notentextes überprüft, – aber hier wollte ich keine Fehler entdecken, – und einfach weiterüben. Die Noten zerfallen allmählich, besonders der erste Teil. Neuer Vorsatz Neujahr 2024: neue Noten, kritische Urtext-Ausgabe mit guten Fingersätzen. Erster Schritt jedoch – Nachbesserung in der seit „Urzeiten“ geübten Fuge in D-dur. Sie ist nicht so einfach wie sie aussieht. Durchführung / Zwischenspiel / Durchführung / Zwischenspiel / „übersteigerte Scheindurchführung“.

Das Praeludium (siehe hier und vor allem hier) ist seit Jahren mein Prüfstein der Fingerfertigkeit, sowohl die rechte Hand allein (Fingersatz!), als auch dieselbe Stimme mit der linken Hand (Fingersatz!), dann auch in Oktaven (langsam). Dagegen erscheint die Fuge wie ein Kinderspiel. – Weit gefehlt. Jetzt erste entdecke ich meine mit Bleistift eingetragene Änderung unten auf der ersten Seite, Verweis auf Czazkes … hatte ich sie für gegenstandslos oder beliebig gehalten? Nein, ich fand es gut, wie hier im Bass die Themenversion des 1. Taktes zitiert (!) wird. „Vor-echo“ des Sopraneinsatzes. Endlich ein Punkt, in dem Czazkes mal nicht recht hat.

Ich gehe noch einmal mit Rotstift an seinen Text, sehe die alarmierende Anmerkung, und selbst die früher nicht geglaubte Analyse der Fuge will mir heute einleuchten, – was für ein Esel ich doch war! (Sogar die schwer lesbare, aber gerade an dieser Stelle gut entzifferbare Kopie des Faksimiles lag mir vor – dank Adlatus Wolfhard Wirtz: Anfang des dritten Systems. Später auch die kleine Taschenpartitur aus Budapest, letzter Takt unten rechts. Ich wollte es nicht sehen! und ließ es ungeprüft.)

Praeludium und Fuge hören:

Die folgenden analytischen Markierungen in der Fuge ( B, S, A = die realen 3 Stimmen Bass, Sopran und Alt, sowie die Durchführungen I,II,III,IV) verdanke ich zum Teil der Lektüre der recht komplizierten Gedankenentwicklung in der Analyse von Ludwig Czazkes, ziehe allerdings Folgerungen, die dort so nicht stehen. Sie entsprechen lediglich den formalen Vorstellungen, die mir beim Spielen hilfreich erscheinen. Z.B. der Hinweis auf die Mitte, der die Bedeutung des oben behandelten Oktavsprunges ins Licht hebt und auch der Sonderstellung der „überlangen“ Durchführung  IV entspricht. (Sie umfasst zugleich eine neue Verarbeitung des Zwischenspiels und eine gesteigerte „Reprise“ des Bassthemas in der Grundtonart.) Darüber wird noch zu reden sein.

Czazkes macht mit fremden Analysen meist kurzen Prozess, und meistens hat er recht:

Nachdem ich eingesehen habe, dass im Bass des Taktes 13 der Oktavsprung ein bemerkenswertes Signal darstellt (Mitte) – auch:  dass hier die Durchführung IV beginnt, obwohl dadurch die Durchführung III „zu“ kurz wirkt – auch: dass das „Vor-Echo“ in Takt 13 dem in Takt 11 entspricht -, erkenne ich auch, dass es nach der Themen-Folge der Durchführung IV (mit Kadenzerweiterung in Takt 16) einer bemerkenswerten Kraftanstrengung bedarf, den mit Hilfe des Zwischenspielmotivs gestalteten Höhepunkt der Fuge (Takt 24 +25) aufzurufen: sie ist markiert durch die Interjektion des Dezimsprungs im Sopran Takt 17, der den Oktavsprung im Bass des Taktes 13 überbietet und: eine Phase himmlischer Ruhe einleitet, indem er zugleich das Zwischenspielmotiv (aus Takt 9) in der Basslage anheben lässt…

Warum der Ausdruck „überlange“ Durchführung IV? So wie das Zwischenspiel, das den Takten 9 und 10 folgte, zu den Durchführungen I und II gehört, so gehört die Wiederkehr in den Takten 17 ff zu dem Gespann der Durchführungen III und IV, gewissermaßen (wie Czazkes andeutet) mit überzähligem Bass-Einsatz in Takt 24. Man kann in diesem Höhepunkt natürlich auch die krönende Coda der Fuge sehen!

Zu beachten der (revolutionäre) Quartaufstieg im Bass: H – E – A – D – G → , Fortsetzung folgt, ich möchte glauben, mir vertraut seit … wieviel Jahren?

Quelle Ludwig Czazkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers, Form und Aufbau der Fuge bei Bach, Wien I: 1956, II: 1956 (unveränderte 2.Auflage Wien 1982)

Vorsätze beim Üben der Harfen-Etüde

Sie gehört zu den Etüden, die mich mein Leben lang begleitet haben. Mein Vater spielte sie (er hatte kleine Hände, vielleicht wie Barenboim, wir hörten kritiklos bewundernd zu, und wir versuchten es früh selbst, weil die erste Zeile leicht scheint, natürlich mit beiden Pedalen und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich erstand 1960 in Ost-Berlin die eigenen 10 Chopin-Bände der Paderewski-Ausgabe, übte in den frühen 70er Jahren „in der alten Wohnung Querstraße“ alle Etüden, die ich schon teilweise auswendig konnte, diese erstmals mit genauer Rhythmik, also auch 4 : 6, auch mal ohne vertuschendes rechtes Pedal, stolz, einsam pfuschend, dann des öfteren als Fingerpräzisionsübung in den 90er Jahren, und jetzt im „Projekt Neuanfang Technik“, sehr genau, unter Verzicht auf jedwede Schwelgerei. Daher schließlich diese YouTube-Sammlung – ohne lang zu suchen – einfach, um nachzuprüfen was andere machen, wo sie „im Ernstfall“ auch versagen oder gar keine Probleme zu kennen scheinen. Ich meckere nicht, ich objektiviere meine eigenen Fehler williger, – zugleich bin und bleibe ich natürlich ein recht kleines Licht am Klavier.

Was mir an der damals handschriftlich vorangestellten Schumann-Charakteristik besonders gefallen hatte, war der Hinweis, dass „in der Mitte […] neben jenem Hauptgesang auch eine Tenorstimme aus den Akkorden“ deutlich hervortritt. Ich habe sie immer beachtet, gleichwohl immer falsche Töne gespielt, sowohl in der rechten Hand Takt 15 und 16 als auch in der linken Hand Takt 16 und Takt 20 (Daumen!). Diese Stelle hören Sie im 4. Beispiel (mit Notentext) ab 0:39 bis 0:59. Bitte noch weiterspielen bis zur – für mich seit der Kindheit – schönsten Stelle bei Eintritt des Taktes 29 genau auf 1:18.

Eine Live-Aufnahme, mit deren Veröffentlichung der einst hervorragende Pianist nicht zufrieden sein kann. Empfindlich falsche Töne in Takt 12 zweite Hälfte, und in der oben erwähnten Stelle, wo eine Tenorstimme aus den Akkorden hervortritt (Takt 17 bis 20): Daumen-Motiv Fehlanzeige. Takt 28 zweite Hälfte in der linken Hand verfehlte Töne. usw. all das kann passieren, sollte aber nicht als  (geglückter) ‚Musical Moment‘ des Meisters präsentiert werden.

Zu schnell, zu brillant, fast kein ritenuto in Takt 24, dafür Takt 25 vierte Zählzeit falscher Bass-Ton, falscher Akkord auch vor dem Klimax-Ton im Takt 34, was man dank ungewöhnlicher  Kamera-Perspektive gern überhört, aber dann die anmutige Körpersprache, wenn auch weiterhin im allzu strengen Tempo in die Schlussphase. Ruhe erst im abschließenden Basstriller plus Arpeggio-Akkord, was in anderen Aufnahmen eher verlegen wirkt. Selbst in der folgenden Aufnahme mit Rubinstein, der das Tempo des Stückes ähnlich strikt auffasst, aber sich Zeit lässt für wunderbare Rubati und in den Akkord-Arpeggien der Coda ein hinreißendes Leggiero-Spiel zeigt.

Es folgt Maurizio Pollini (von wann?), überzeugend die Begleit-Arpeggien, kein Mulm, klares Tempo mit dezenter, aber zwingender Agogik

Jetzt wird’s mehr al-fresco. Sympathisch, aber zuviel Gefühl, unzuverlässige Technik. Tenorstimme ziemlich deutlich, Takt 27 vierte Zählzeit mulmig (Angst vorm Blättern),T.32 auf vier falscher Melodieton (es statt f, das „nachgeliefert“ wird), die 16tel kommen mehr als eilige Tontraube mit Anspring-Pause vor Melodieton. Groteske Hörfehler in der englischen Nachschrift des Textes (2mal Schann statt Schumann, singer statt finger) – Leise und sehr zart üben, ohne Pedal? damit man bei Hinzuziehung des Pedals keine Einzeltöne mehr hört? halbe Tastentiefe? [aber kein Ton darf ausfallen!] „Illusion eines  Legatos“ (spielt Melodietöne mit Bleistift und Pedal). Aber nun zu dem Takt 8, in dem er das Anspiel der Etüde abbricht (17:14, es begann bei 16:46), und ich meine diese Zeile mit Takt 7 und Takt 8 (vorm Umblättern), genauer: die linke Hand in Takt 8, die auf dem tiefen ES landet und trotzdem mit dem Daumen wenig später als Spitzenton den Ton DES erwischen soll. Tut sie das? (wir können die Hand beobachten). Die beiden Daumen rechts & links müssten sich kreuzen….

davon später mehr.

Die Schumann-Besprechung der Chopin-Etüden hatte sich schon mein Vater vorgemerkt, aus seinem Buch (Auswahl Paul Bekker 1922) sei sie hier wiedergegeben (samt inliegendem Merkzettel):

Zum Takt 8. Mir scheint das schwierig, und ich überlege, ob ich die Daumentöne links= DES und rechts= B nicht einfach vertauschen darf, und mir eine fast unvermeidlich heftige Hilfsbewegung des linken Unterarms sowie die unfallträchtige Kreuzung der beiden Daumen sparen darf. Ich kannte einst Pianist_innen, die in diesem Punkt skrupellos waren, aber – sollte Chopin dafür zu dumm gewesen sein? Es ändert sich doch nichts real?  Mein Gegenargument wäre: die Aufwärts(hilfs)bewegung des linken Arms soll ein Bewusstsein für die Sonderstellung des Moments schaffen, ein winziges technisch bedingtes Zögern, das „von selbst“ einem musikalischen Ritenuto, das nicht befohlen wird, Raum gibt. Wenn es sich gut anfühlt, ist es auch schön. (Etwas anders liegt der Fall Takt 33/34 .)

Was sagt das irgendwo von Chopin gegebene poetische Bild (Schäfer, der aus dem Stall das ferne Geräusch von Winde und Regen hört und dazu die Melodie auf der Flöte spielt) über die Ausführung des Stückes? (21:45)

Ab 23:25 die schöne Mittelstimme (genau genommen Alt und Tenor). Dann über „the goal“ der passionierten Entfaltung – wie er die Hände öffnet – so sind sie geöffnet beim Spiel der Begleitung, die Finger weit gespreizt (ist das die Idee?). Das Spiel des Überreichens und Zurückziehens beim Präsentieren eines Geschenkes. Und dann: alles Erzählte vergessen. Er macht vor, wie es chromatisch weitergehen könnte, wenn man der unbewussten Tendenz nachgäbe. Höher und höher. (Gut gedacht.) Und beim dritten Mal „I love you“. Er meint die Verwandlung nach Von As- nach A-dur. Aber: Down completely down“ – doch er bemerkt nicht die Funktion des einen viel später erfolgenden Akkordes, der dies z.B. zu meiner Lieblingsstelle macht. Nach der Climax! „little down“ (genau beim Blättern 31:24). Ich denke einen Moment an Beethoven, der diese Wirkung zuerst entdeckt und „inszeniert“ hat.

Beethoven V, 2 Takt 12

(Unser Pianist dagegen denkt schon an „another Climax“, was auch im Sinne des Spannungsverlaufs o.k. ist). – – – 32:29 Coda –  da fehlt die reminiszierende Tenor-Nachahmung Daumen… Hinweis auf „Exercise“ der Arpeggien, die fälschlich leicht erscheinen, –  „magic“? (sie sind bei ihm auch „löcherig“,  mit falschen Tönen durchsetzt und zu laut). Ab 34:15 nach Atemholen abschließend nochmal alles von vorn.

Ich produziere am zuverlässigsten falsche Töne – hier (ausgerechnet bei der Climax):

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Weiter zum nächsten YouTube-Beispiel. Cool! Wie man die technische Seite trainiert (Kämmerling-Schule), vielleicht auch abschreckend; die 16tel-Trauben funktionieren wie ein feines Räderwerk. Gut: Tastatur und Hände von oben gefilmt. Bewundernswert. Vollständig ab 15:15.

(Fortsetzung folgt, siehe zunächst auch hier)

Schubert spielen

Hier sehr guter Interpretationsvergleich in VAN (Arno Lücker) zu:

Schuberts D-Dur-Sonate D 850 Mit Artur Schnabel, Sviatoslav Richter, Emil Gilels, Clifford Curzon, Wilhelm Kempff, Alfred Brendel und Mitsuko Uchida

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Außerdem vormerken: https://van-magazin.de/mag/hatto-beyerle/ hier

Wegen des Hinweises auf Primrose und seine Anregung zum Lagenwechsel, den man ignorieren können soll…

aus: Yehudi Menuhins Musikführer

Yehudi Menuhin / William Primrose: Violine und Viola / Fischer Taschenbuch 1982 (1976)

Diabelli gegen Goldberg

Sinn und Unsinn beim Schreiben über Musik

Schlechter Journalismus zu guter Musik hat immer auch ein Gutes: er zwingt uns, nach dem Wesentlichen zu fragen.

Durch Zufall schneite mir die Welt am Sonntag (20. August 2023) ins Haus, ein neuer Goldberg-Variationen-Interpret interessiert mich wenig, wahrscheinlich mal wieder einer, der an Glenn Gould gemessen werden soll… Ach, es geht wohl eher um einen schönen Zeitvertreib in Schloss Elmau? Wenn das Frühstück auf so absurde Weise in den Vordergrund tritt? Ein elitärer Publikumsmagnet? Besonders, wenn man dort eingeladen ist.

Ja ja, das Universum, die Bananen

& der Hotelbesitzer

Mich beleidigt vor allem die eine Banane für Ravel…

Immerhin: auch Beethoven ist eine Zeile wert:

Und dann kommt er ins Schwärmen über Details. „Allein der Triller in der 28. Variation, wie der etwa Beethoven beeinflusst hat! Die Goldberg-Variationen sind das Wörterbuch für alles Kommende.“

So allgemein genommen, wird es ganz falsch. Man lernt Triller in Beethovens eigener Geschichte, und Beethoven lernt bei Bach, was man ganz anders machen kann.

Ein Brief an Beethoven

Wir wissen ja nicht einmal genau, ob Du sie überhaupt kanntest. Ich bin allerdings davon überzeugt. 33 Diabelli-Variationen gegen Bachs insgesamt 32 Sätze – Aria, 30 Variationen, Aria da capo –, das kann kein Zufall sein. Und es sieht Dir so ähnlich: noch einen Satz mehr zu schreiben als der alte Bach!

Deine 31. Variation, das große Largo in c-Moll, scheint ja geradezu Bachs 25., das g-moll-Adagio, heraufzubeschwören in der extravaganten und herzzerreißend traurigen Art, wie die Melodie ausgeziert ist, ebenso wie im Zusammenstürzen des Gesangs am Ende; zutiefst ergreifend, wie alles gleichsam zu Staub zerfällt. Und dass eine Fughetta und eine Fuge unter Deinen Variationen sind, lässt jeden sowieso an Bach denken.

Auf weite Strecken kommen mir Deine Diabelli-Variationen geradezu vor wie gegen die Goldberg-Variationen angeschrieben. Bach schreibt als Thema eine wundervolle Aria, die er so zu lieben scheint, dass er sie am Ende unverändert wiederholt. Du dagegen hältst nicht viel von Diabellis Walzer, dem „Schusterfleck“, wie Du mal schriebst. Aber irgendwann muss es einen Moment gegeben haben, in dem Dir das Potential aufging, das gerade darin liegt, Variationen über ein triviales Thema zu schreiben.

Der ironische Abstand zum Walzer, dessen Zertrümmerung, wird gerade in den zuletzt komponierten Variationen immer stärker zum Ausgangspunkt Deiner Erfindung – stimmt das? Ist der Sarkasmus das, was Dich je länger desto mehr reizte, bei der Stange hielt? Dachtest Du so etwa: „Was habe ich bisher noch nicht ad absurdum geführt – ach ja, der Walzer hat ja gar keine Melodie. Also nehmen wir diese Nicht-Melodie, dass x-mal wiederholte g der Oberstimme und zeigen, wie doof das ist?“

Der Ton mag irritieren, unkonventionell, aber ansonsten: Jeder Satz interessiert mich, da redet jemand von einer Sache, die er versteht! Sofort entsteht der Drang, das hörend nachzuvollziehen, was er meint. Das ist Andreas Staier.

Staier hier im Deutschlandfunk „Lieber Ludwig, welche Rolle spielten für Dich Bachs Goldberg-Variationen?“ Der Cembalist und Pianist Andreas Staier stellt sich in seinem Brief an Beethoven die Frage, welche Rolle Bachs Goldberg-Variationen bei der Komposition von Beethovens Diabelli-Variationen gespielt haben. Hat er sich gar bestimmte Bach‘sche Variationen vorgenommen, um sie zu negieren, gegen sie zu rebellieren? Von Andreas Staier | 25.05.2020

Ludwig van Beethoven: 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli / 33 variations on a waltz by Diabelli in C major, op. 120 („Diabelli Variations“). Andreas Staier – fortepiano. With an improvised introduction by Andreas Staier. [Bis 3:20]

Die einzelnen Variationen!

Chopin Chmiel Polen

Zu den Impromptus

die 4 Impromptus, die ich erst jetzt in Rot nach Entstehungsdaten nummeriert habe. Dabei wurde mir klar, dass mein Lieblingsstück von Jugend her, das Fantaisie-Impromptu, das schlecht beleumundete (von W. Georgi) und wohl auch von Chopin zurückgesetzte, das früheste war. Nun scheint mir, dass der Komponist sich zeitlebens daran erinnert hat und immer wieder die gleichen Momente neu ausgearbeitet hat, zentral ein Melodietypus (?), auf den Tadeusz A. Zielinski aufmerksam gemacht hat. (Früher hieß es, diese Melodiebildung komme vom Vorbild Bellini, – ganz im Gegenteil, behaupte ich!) „Chmiel“ ist sein Stichwort, „Hopfen“, wohl ein Hochzeitslied, bezogen auf die Themenbildung des Fis-dur-Impromptus, die mir rätselhaft geblieben ist, aufs neue, seit ich das Stück zur Wiedergewinnung einer gewissen Virtuosität seit zwei Monaten übe, neben dem in Cis-moll. (Die Noten habe ich – wie fast alles von Chopin – 1960/61 in Ostberlin im polnischen „Pavillon“ erstanden, die Paderewski-Ausgabe.) Vorschlag: höre die polnischen Volksmusikaufnahmen so oft wie möglich, prüfe die Ähnlichkeit, und sei es nur im Gestus… zuerst Bordun identifizieren, dann die wechselnden Melodietöne (Skala?), gerade die mehrfach (wie oft?) wiederholte Phrase mitsingen.

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / 1999

↑ Bordun mit Quinte, Melodie umkreist den oberen Grundton, kein „Leiteton“. Wiederholformel mit gerade diesem Ton (unter Grundton)

↑ Beginnt mit Sprung der Melodie in die kleine Sexte. + Abstieg zum Grundton. + 3-Ton-Formel

↑ Merke: diese Version beginnt nach der Einführung des Borduntones mit dem Intervall der None (wie Chopin in Fis: None Cis/dis)

↑ diese Melodie gleicht vollkommen der ersten Version, aber deutlich langsamer.

Polnische Volksmusik

Jetzt erst habe ich entdeckt, dass auch Jürgen Uhde sich Gedanken gemacht hat über dieses Fis-dur-Thema, wie immer analytisch klug, aber (natürlich) ohne Bezugnahme auf die Volksmusik, insofern doch defizitär. Mein Problem bestand darin, wie ich die Wiederholungsformel der linken Hand gestalte, diese „archaische“ Polyphonie, die auch eine andere dynamisch Gestaltung verlangt oder zu verlangen scheint als die Melodie der rechten Hand, obwohl sie jener doch „irgendwie“ nachgeformt ist. Aus früheren Jahren liegt in den Chopin-Noten noch ein Relikt meiner schriftlichen Versuche, dem Stück näherzukommen, der harmonischen Fortspinnung – letztlich ergebnislos. Jedenfalls was die dynamische Gestaltung angeht. Nebenbei rätselte ich über die Beziehung dieser Melodie zu der im Mittelteil des As-dur-Impromptus, dort in F-moll (rechte Seite).

JR Versuche

↑ So beginnt der – wie immer – nachdenkenswerte Hinweis bei Jürgen Uhde / Renate Wieland („Denken und Spielen“ s.a. hier), dessen einziges Manko ist, dass er zu keiner Assoziation mit der polnischen Volksmusik führt:

  Ein wesentlicher Zug scheint mir, dass der 3. Takt der Oberstimme linke Hand den Takt 9, also den 3. Takt der Melodie rechte Hand wörtlich vorwegnimmt, also „ankündigt“, und dass diese Formulierung in den folgenden Takten 10 und 11 der linken Hand wiederholt wird, um erst in Takt 12, nachdem die Oberstimme zu Ruhe gekommen ist, in einen Halbschluss zu führen. Es ist diese Windung der Töne, die in den 4 Impromptus immer wieder tonangebend ist, so in diesem Impromptu für die sich erweiternde technische Formel leggiero ab Takt 82 (wo man oben in der linken Ecke auch sieht, wie oft ich in meinem Leben mich schon dran abgearbeitet habe).

Es ist die gleiche Formel, aus der er einst das ganze Fantaisie-Impromptu entwickelt hatte, inclusive Cantabile-Mittelteil, dessen herrliches Thema offensichtlich auch mit dem des Fis-dur Impromptu zusammenhängt, während diese „technische Formel“ natürlich auch im Anfang der restlichen zwei Impromptus steckt. (Im folgenden Beispiel 4 Kreuzchen als Vorzeichen mitdenken!)

Zurück zu meinem Versuch betr. F-moll-Mittelteil im As-dur-Impromptu (oben): etwas Entscheidendes habe ich nicht bemerkt. Oder zähneknirschend hingenommen. Die widersinnige Begleitung der linken Hand. Ich hätte mich anders entschieden, wenn ich schon Grzegorz (Greg) Niemczuk’s Erläuterung gekannt hätte. Hören Sie ihn (von vorn und dann besonders) über die von mir abgeschriebene Stelle, ab 8:32, dann vor allem der Schluss, die Kurzformel vom Abschluss des ersten Teils (Takt 31-32) und die fragmentarische Wiederkehr (Abschied) des Mittelteil-Themas (in meiner Abschrift die Melodietöne Takt 2 bis 5 g – as – b – c):

 

Ich finde es wunderbar, wie er beim Spielen und im Demonstrieren erzählt, was in der Musik geschieht, ungeachtet der Fehler, die ihm unterlaufen. Er analysiert nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein wacher, übersprudelnder Musiker. Er denkt nicht daran, uns eine sauber geschnittene Beispielsammlung zu präsentieren, ihm liegt es am Herzen, seine Begeisterung für die Komposition auf uns überspringen zu lassen. Das finde ich unbezahlbar! Ich wollte, mein Vater hätte so mit mir über Musik gesprochen, statt dem auf „stumm“ präparierten Flügel endlos seine Fingerübungen und Rolltechniken abzuringen. Mittagsruhe! Aber immerhin: er spielte die E-dur-Etüde auf Familienfesten, klangschön wie einen Gesang, und den weitgriffigen chromatischen Höhepunkt mit allen Tönen (trotz seiner kleinen Hände). Falls ich das damals beurteilen konnte!

(Fortsetzung folgt)

Um mein Lob etwas zu relativieren: ich glaube im Fall des „Chmiel“-Impromptus war „Greg“ auf dem falschen Dampfer. Doch davon später…

Noch vormerken: Mazurka op. 68, Nr.3 https://www.chopinvillage.eu/ hier oder hier

Kritik kritisieren?

Das ist im Mediengeschäft nicht nur erlaubt, sondern dringend geboten

Denn: da steht nicht einfach Meinung gegen Meinung, und alle haben recht (Recht), Stichwort Meinungsfreiheit. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, sind aber deshalb noch längst nicht gleichermaßen richtig. Und sind auch nicht alle gleich „wirkungsmächtig“. In den Medien zum Beispiel sitzt man einfach am längeren Hebel und kann auch großen Künstler:innen – auf der bloßen „Meinungsverbreitungsebene“ –  realen Schaden zufügen. Denn diese Ebene unterscheidet sich oft kaum von der normalen „Gerüchteküche“ oder vom „Stammtisch“, wo jede/r als wichtig weitergeben kann, was er irgendwo aufgeschnappt hat oder was ihr gerade so eingefallen ist.

Ich stelle mir auch schon mal vor (habe es sogar miterlebt), wie eine hochverdiente Lehrkraft versucht, einem Violinschüler die Kunst der Melodiegestaltung zu vermitteln, und dieser beginnt sofort zu entgegnen: Das sehe ich anders, ich würde hier kein Crescendo machen und dort deutlicher absetzen und dergleichen mehr. Unvermeidlich: in einer solchen Situation kann es nur eine Autorität geben und keine Diskussion. Da gilt das Wissen, die künstlerische Erfahrung, die Fachkompetenz.

Ein Beispiel, das mir gestern begegnete: da ich weiß, dass Andreas Staier (endlich) Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ eingespielt hat, und da mir auch bekannt ist, auf welchem Niveau er seit Jahrzehnten spielt, bin ich ganz Ohr, wenn er plötzlich im Autoradio zum Thema wird. Es kann mir nicht darum gehen, sein Angebot wie die Leistungen einer Küchenmaschine zu überprüfen: ich bin bestenfalls ein Lernender. Selbst wenn ich seit 50 Jahren selbst das „Wohltemperierte Klavier“ spiele, brauche ich Zeit und Geduld, um erfassen zu können, was ein wirklicher Meister in den zahllosen Winkeln dieses unerschöpflichen Werkes erkundet hat und wie er es zum Klingen bringt. Und weiß, dass in 5 Minuten Sendezeit davon nichts, aber auch wirklich nichts an ein – vielleicht nichtsahnendes – Publikum übermittelbar ist: nur ein Hauch, und der Wunsch, sich damit weiterzubeschäftigen. Was mich aber überhaupt nicht interessiert, ist die unbedarfte Meinung einer einzelnen Person, die sich durch keinerlei Privilegien auszeichnet außer dem Recht, sich öffentlich zu äußern, – als habe man Triftiges zu sagen, sobald man die Plattform hat. Die fortlaufend eingestandene Subjektivität („ich, ich, ich“) gibt keinen Freibrief, Plattitüden zu verbreiten. In den öffentlichen Medien müsste sogar eine Fachredaktion das Schlimmste verhindern. So war es früher. Nicht anders als in politischen Sendungen, die ja kein Übungsplatz für Auszubildende sind, sondern für Profis, die ihr Handwerk gelernt haben: und das besteht nicht zu allererst in ungehemmter Meinungsproduktion, sondern in der klaren mündlichen Darstellung mühsam erworbener Sachkenntnis. Man nennt es auch Studium.

In aller Kürze: Ein negatives Beispiel HIER 5:11

31.01.23 Titel: Herausfordernd: Das „Wohltemperierte Klavier“ mit Andreas Staier

ZITAT

… auch wenn ich mir sicher bin, dass Staier aus guten Gründen bestimmte Register gewählt hat, ist das für mich aus klanglicher Sicht wenig nachvollziehbar. Das hört sich spitz an, intonatorisch unsauber und klingt fast wie ein Handy-Klingelton (Musik: 3:35 bis 3:49 aus Fis-dur-Praeludium). Mit seiner Phrasierung kann Andreas Staier mich auch nicht immer überzeugen. Einige Melodiebögen schwirren wie aufgeschreckte Insekten umher, dann setzt er wieder Noten scharf voneinander ab, wodurch Phrasen aber löchrig werden. Andere Stücke aber wiederum spielt er so erzählerisch, manchmal meditativ, oder mit packender Dramatik, wie ich sie noch nie vorher gehört habe. Das ist herrlich! (Musik: 4:14 bis 4:28). Was mir sehr gefällt, ist, dass der Zyklus bei Staier trotz historischer Aufführungspraxis nicht staubig klingt. Er lässt die Musik erfrischend und fröhlich aus seinem Cembalo sprudeln (Musik sprudelt von 4:37 bis 4:42). Das Album lässt mich mit zweigeteilter Meinung zurück. Technisch (usw.usw.) …

Ich benote die kritische Leisung (JR): unbedarft bis kleinkariert, ahnungslos, klippschülerhaft. Ungenügend (6).

Empfehlung an die Autorin: nicht nur die gerade zu besprechende Ton-Aufnahme mit den persönlich festgebrannten Vorurteilen abzugleichen (Aufführungspraxis = staubig), sondern zum allerersten Wissenserwerb auch mal das Booklet der CD lesen! Ich vermute, dass darin sogar die Tonart Fis-dur behandelt wird. Ebenso wäre zu erfahren, was es wohl mit dem Begriff „wohltemperiert“ auf sich hat. Oder man fragt vorher mal in der Redaktion, ob es dort Geschriebenes über Musik auszuleihen gibt. Hörer/innen hätten behauptet, man könne als Dilettant/in nicht alles aus den bloßen Tönen erfahren, was man zu lernen versäumt hat.

*    *    *

Und ein positives Gegenbeispiel: HIER (mit Skript, leicht abweichend vom gesprochenen Wort) Sehr kurzer, bildkräftiger Text, dafür instruktiv lange Beispiele (E-dur-Praeludium !!!) 4:43

13.01.23 Bachs Wohltemperiertes Klavier mit Andreas Staier

ZITAT

Andreas Staier, Experte für historische Aufführungspraxis, hat die 24 Präludien und Fugen des ersten Teils des „Wohltemperierten Claviers“ konsequenterweise auf seinem Cembalo eingespielt. Staier ist bekannt für seine ebenso fundierten wie mutigen Interpretationsansätze. SWR2-Kritiker Thilo Braun ist beeindruckt von Staiers „so empfindsamem wie technisch brillantem Spiel“.

Wie eine alte metallene Spieluhr schnarrt das E-Dur Präludium in Staiers Interpretation. Immer wieder verblüfft es, was für unterschiedliche Klänge Staier aus dem Cembalo zaubert. Einerseits durch die Wahl der Registerzüge und Manuale, andererseits durch seine abwechslungsreiche Artikulation. Er verharrt genüsslich in dissonanten Spannungen, wechselt im Akkordspiel zwischen eleganten Arpeggien und kantigen Brocken, garniert seine Melodien geschmackvoll mit Verzierungen.

Herrlich, wie sich rechte und linke Hand gegenseitig die Melodien zuspielen. Staier verwandelt das mathematische Konzept auf dem Papier in eine sehnsüchtige singende Fantasie. Trotz Ruhe tritt die Musik dabei niemals auf der Stelle, sondern spinnt sich natürlich und elegant, ja wie von selbst, vorwärts.

Man beachte, wie am Ende das in beiden Rezensionen gebrauchte, emotional gedachte  Wort „herrlich“ seine Glaubwürdigkeit verspielt bzw. gewinnt.

Natürlich weiß man nach beiden Rezensionen, dass 5 Minuten Sendezeit für die Vermittlung einer qualifizierten Musikerfahrung nicht ausreichen kann, aber im ersten Fall wendet man sich verärgert wichtigeren Themen zu, im zweiten Fall überlegt man, – egal wieviel Gesamtaufnahmen davon man schon besitzt – ob man nicht baldmöglichst auch diese erwerben sollte. Ein vorläufiger Ausweg: man hört die 24 Beispiele des Überblicks unentgeltlich bei jpc: hier

Ausblick

Mehr über den Interpreten?

Andreas Staier – Pour passer la Mélancolie…

hier hier Andreas Staier in Wort und Ton: Vimeo HIER

„Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“ Mit dieser Frage beginnt ein Aristoteles zugeschriebener Traktat. Die Lehre von den Vier Temperamenten (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker) assoziiert den Melancholiker mit höchst unterschiedlichen Phänomenen: dem Planeten Saturn, dem Herbst – auch dem Herbst des Lebens -, der Dämmerung, der Kälte, dem Geiz, aber auch dem Genie, der Geometrie und dem grüblerischen Tiefsinn. In größter motivischer Verdichtung fasst Dürer diese Vielfalt in seinem berühmten, rätselhaften Stich „Melencolia I“ von 1514 zusammen. „Du siehst, wohin Du siehst nur Eitelkeit auf Erden.“ Die Eröffnungszeile des bekannten Gedichts von Andreas Gryphius kann als Motto gelten für eine spezifisch barocke Interpretation des Melancholie-Themas. Vanitas-Darstellungen gehören zu den Lieblingsthemen der Maler: Eine blühende junge Frau betrachtet mit gesenktem Haupt eine verglimmende Kerze (Georges de La Tour), eine andere hält einen Totenschädel in ihren Händen, über den sie einsam versunken meditiert. Ihr Gesicht liegt im Schatten, im Hintergrund ist eine Ruinenlandschaft zu erkennen (Domenico Fetti). Mein Programm widmet sich den musikalischen Umsetzungen der Vanitas im Frankreich und Deutschland des 17. Jahrhunderts. Das Tombeau (Grabmal) und die Plainte (Klage) sind typische Gattungen der französischen Lautenmusik, die Eingang ins Repertoire der Cembalisten fanden. Der style brisé, der arpeggierte Stil der Lautenisten, wurde durch Jacques Champion de Chambonnières und Louis Couperin auf das Cembalo übertragen. Das sanfte Brechen der Akkorde, das Innehalten, Zögern, Untertauchen der Melodie standen von vornherein der Affektlage des Lamentos nahe. Der Stillstand, das Aussetzen der rhythmischen Kontinuität, des Pulses rücken diese Musik schon satztechnisch in die Nähe des memento mori. Meditative Räume öffnen sich, die Stille, Leere oder Einsamkeit symbolisieren; Sterbeglocken läuten. Umgekehrt stehen regelmäßige Abläufe oft für das Vergehen der Zeit, das Fließen und Verrinnen des Wassers wie des Lebens, oder für den feierlichen Schritt des pompe funèbre, des Begräbniszuges. Der Topos der Dämmerung und Dunkelheit findet seine musikalische Entsprechung in absteigenden melodischen Linien (Katabasis) oder der Bevorzugung von chromatisch eingetrübten tiefen Lagen. Schließlich können die ostinato-Konzeptionen mancher Chaconnen und Passacaglien ohne Weiteres als Sinnbilder unentrinnbarer Schicksalhaftigkeit gehört werden. – Schon der einzelne Cembalo-Ton kann in seinem Verklingen an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen. Daran erinnert der Antwerpener Cembalo-Bauer Andreas Ruckers, wenn er mehrere seiner Instrumente mit der Inschrift versieht:
„Sic transit gloria mundi“.

© Andreas Staier, 2012 (siehe Website hier)

Nach Einführung: 6:05 / ab 11:36 Staier über die Musik („Verweilen“), ab 15:25 Musik I Froberger (bis 24:55) Moderation Staier, die Fugen von d’Anglebert (Bezg. zu Bach!), ab 27:15 Musik II d’Anglebert (bis 30:08), Moderation Staier, ab 32:20 Musik III Passacaglia Fischer,

Johann Jacob Froberger:
Plainte faite à Londres pour passer la Mélancolie, laquelle se joue
lentement avec discrétion (1652)

Jean-Henry d’Anglebert:
Pièces de Clavecin. Livre premier (1689)

Johann Caspar Ferdinand Fischer:
Musicalischer Parnassus (1738). Aus Uranie sowie Ariadne Musica (1702)

Louis Couperin:
Pièces de clavecin (um 1650)

Louis-Nicolas Clérambault:
Aus 1er Livre de Pièces de Claveçin (1704)

Georg Muffat:
Aus Apparatus Musico-Organisticus (1690)

Mittwoch, 25.06.2018, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Dank an JMR !

Wang‘ an Wange

Wo Beethoven am schwierigsten ist

Zugegeben: es begann mit einem ziemlich albernen Wortspiel, über das ich keine nähere Auskunft geben will. Metaphern der Nähe, einer mimetischen Illusion von Nähe.

Zumindest diese Sonate ist „auf Anhieb“ keine zum Wohlfühlen. Sagen wir, wie die Mondscheinsonate, deren erster Satz – wie alle wissen – durchaus so aufgefasst werden konnte, weshalb man ihn ja auch gern herausgetrennt hat. Ohne den Schock des zweiten Satzes. Im vorliegenden Fall, der Sonate op.31 Nr.3, müsste man sofort zur Operation schreiten: man sollte einmal die Takte 3 bis 6 weglassen, diese Zögerlichkeit, diese Spaßbremse, dann auch 12-15, und alles wäre im Lot. Oder?

Ich weiß, wie es mir in der Jugend ging, als ich mich mit Beethoven nach Noten befasste: ich verliebte mich (so sagt man heute) in das zweite Thema, man muss es auskosten, dachte ich, bloß nicht zu schnell, ich glaubte: dann wird es zickig, in Wahrheit ist es doch so, die Zickigkeit hat der Komponist ja schon vorher eingeführt mit dem vorwitzigen Getriller und mit dem Rhythmus in Takt 20. Ich muss damit leben!

Man kann sich dieser Musik nicht vorbehaltlos hingeben, sie verlockt und stößt ab. Man gibt sich nicht bedenkenlos hin, um im nächsten Moment die Ironie zu durchschauen und witzig zu werden, dann wieder lieb und wieder heftig oder glanzvoll. Hat das mit dem Neuen Weg ztu tun, von dem Beethoven laut glaubwürdiger Zeugenaussage (Czerny) gesprochen haben soll?

Ich denke an mein Jahr 1989, als ich eine Gewalttour durch das Beethovensche Sonatenwerk anstrebte, Vorsatz:  nicht mehr bei Lieblingswerken zu verweilen. Gerade hatte ich die „Mondscheinsonate“ hinter mir (Begeisterung von A-Z), da kam die D-dur op. 28. Ich beschäftigte mich gleichzeitig mit analytischen Interpretationen, Z. B. mit den sehr detaillierten von Jürgen Uhde. Und dann schrieb ich mir über den Beginn der Reprise Uhdes Hinweis, den ich als Ermahnung verstand:

Die Interpretation des ganzen sehr bedeutenden Stückes macht besondere Schwierigkeiten, weil alle pianistischen Sensationen fehlen, weil für einen Virtuosen keine Betätigungsfelder gegeben sind, und weil, wie im späten Werk, man nicht einfach einen eindeutigen Ausdruck anstreben kann.

Ich war am Klavier nie ein Virtuose, obwohl ich mich auch an ein paar Stücken virtuosen Charakters „bewährt“ habe (Schumann, Chopin), auch bei Beethoven hatte ich allerhand Lieblingsstellen, die „nach pianistischer Sensation“ klangen. Trotzdem verstand ich früh, dass es darum nicht gehen konnte. Aber worum dann?

Philipp Reclam jun. Stuttgart 1974,1991

Hat es was mit dem „neuen Weg“ zu tun, der oft beschworen wird, den Beethoven hier irgendwann (?) – wie Czerny berichtet –  eingeschlagen haben will? Vielleicht: weil die Musik selbst zum „Arbeitsmaterial“ wird: nicht nur be-arbeitet wird, sondern auch „zerstört“ wird. Ohne große Friedenspassagen, oder umgekehrt: wenn wie hier der pure Pastorale-Frieden entfaltet wird, für einen langen Satz, der mir beim Üben einfach zu lang wurde. Um so verbissener suchte ich ihn zu entschlüsseln (probates Allheilmittel: Jürgen Uhdes Analyse-Werk, das solche Probleme nicht ausklammert). Und nicht selten flüchtet man sich in Beethovens eigene Aussage, als sei das, was mich befremdet, zugleich das, was er als neuen Weg einschlug. Als hätte ich damit auch nur einen Zipfel von kompositorischer Einsicht erhascht. Ein großer Irrtum! Aber nicht nur ich irre mich.

Was konnte Czerny wissen?

Quelle Joel Shapiro in: „Beethoven. Interpretationen seiner Werke“ / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 / Bd. I Seite 259-263.

Wie ich drauf kam (durch Widerspruch):

https://www.3sat.de/kultur/musik/klavierabend-yuja-wang-100.html

HIER (abrufbar bis 13. Februar 2023)

Beethoven ab 36:29 bis 53:06 / Brahms ab 1:11:42 / Gluck: Zugabe ab 1:19:10

2.Satz ab (Appl.! ab 42:52) 42:58 bis 46:42

3.Satz ab 46:24 bis 49:26

4.Satz ab 49:26 bis 53:06

Und nun: alle folgenden Anfänge bzw. ganze 1. Sätze studieren und vergleichen:

Gilels HIER

Rubinstein HIER

Backhaus (1969) HIER

Gould HIER nur 1.Satz

Barenboim Hier

Brendel Hier u HIER

Gulda Hier

Exposition bis kurz vor zweitem Thema

Die Lösung:

Levit https://www.youtube.com/watch?v=6rYm7NTv-kU Hier

Die Einzelsätze zum sofortigen Anspielen: 1)0:17 2) 7:29  3) 11:58 4) 15:21

Die (?) oder besser: eine Lösung, die mir sofort einleuchtet. Im zügigen Tempo, zielgerichtet, ohne geschmäcklerische Verzögerungen.

Zur Relativierung der eigenen Eindrücke wiederum sehr gut: die Podcast-Analyse Hier

https://www.br.de/mediathek/podcast/der-klavierpodcast-mit-igor-levit-und-anselm-cybinski/die-hochfliegende-musik-gewordene-glueckseligkeit-18-32/1795115

Vom Chopin-Spiel

Memorandum betr. Mazurken

Lesen: Wikipedia über den polnischen Volkstanz Mazurka hier . Und zum Pianisten, den ich heute Morgen gehört habe: Wikipedia über Kissin.

Heute also eingestiegen bei Beethoven op.110, dann mit Spannung in die Mazurken plus (am Schluss) , dann weiter mit Chopins Andante spianato et Grande Polonaise op.22, später auch noch Mozart: Rondo D-dur KV 485 und nochmals Chopin: Polonaise As-dur op. 53 .

HIER ⇐ ⇐

Zwei Sätze aus Kissins Wikipedia-Biographie, die jede diesbezügliche Nachfrage erübrigen:

Im Februar 2022 gehörte Kissin zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, in dem mehr als 400 russische Musiker den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilten; dieser sei „durch nichts zu rechtfertigen“. Ohne den Namen Putin sowie Russland und die Ukraine zu erwähnen, schrieb Kissin auf Instagram, dass ein Angriffskrieg auf das Territorium eines anderen Staates ein Verbrechen sei.

Es geht mir nur um die Mazurken. Eine Kritik zu schreiben, angesichts einer solchen pianistischen Gesamtleistung, liegt mir nicht. Ich halte nur fest, was sich aus einer kurzen „häuslichen“ Diskussion ergab, und zwar beim Vortrag der Mazurken, im Video ab 48:00.

a) op.7 Nr.1 B-dur b) 50:35 op.24 Nr.1 g-moll c) 54:02 op.24 Nr.2 C-dur d) 56:25 op.30 Nr.1 e) 58:10 op.30 Nr.2 h-moll f) 39:37 op.33 Nr.3 C-dur g) 1:01:20 op.33 Nr.4 h-moll  h) 1:09:06 Andante spianato et Grande Polonaise 1:22:35 Beifall nochmals der obige Link.

Mir scheinen alle seine Mazurken in Tempo und Charakter mehr oder weniger verfehlt. Besonders die letzte, vor dem Andante spianato, also g) op.33 Nr.4 . . .  Die Überschrift „Mesto“ bedeutet „traurig“, verträgt also kein fröhliches Tempo, bedeutet aber auch nicht „sehr langsam“. Wenn man es dennoch so angeht, hat man nach vier Takten ein Problem: gehört diese melodische Antwort dazu? sie klingt eher wie eine neue, zaghafte Frage, die sogleich im forte noch einmal gestellt wird, dringlicher, solistisch, worauf ein emsiges „Gedudel“ folgt, schwer zu deuten, meist schneller gespielt, auch leiser, danach Wiederkehr des Anfangs – intensiver? oder sogar weiterhin forte? – jedenfalls muss man tempomäßig einen Kompromiss finden, sonst müsste zumindest ein rubato-Hinweis dastehen. Und was soll nach der Wiederkehr des Themas aus dem gedämpften „Gemurmel“ (sotto voce) werden? darf es etwa im accelerando verebben? Es sind verschiedene Gesten, deren Abfolge überzeugen muss, ohne fahrig oder kopflos zu wirken.

Zugegeben: Ich verband damit ziemlich kontroverse Assoziationen (zuletzt Januar dieses Jahres, vor allem auf diese H-moll-Mazurka zielend):

Delacroix Farbenmusik

Siehe auch Tschaikowsky-Text hier im Blog, darin betr. Mazurka im (russischen) Klaviertrio.

Oder auch „Polnische Volksmusik“ hier , viel früher schon war ich auf das Thema „authentisch oder nicht“ eingegangen. Der alte Blogbeitrag ist verloren, aber er setzte bei der Mazurka-CD (TACET 2009) eines anderen russischen Künstlers an; ich lasse diesen Text sogleich folgen, schon um nicht zu vergessen, dass eine Erweiterung oder Korrektur stattgefunden hat – Stichwort Folkwang 2011, Tag der offenen Tür.

⇐Lebensplan der Mazurken in Chopins Œuvre.

Natürlich irritiert es: sehe ich nicht auf dem Cover der CD Chopins Handschrift derselben Mazurka, von der mir nur die Druck-Noten bekannt sind? Er notiert für gis-moll 4 statt 5 Kreuze (macht nichts – vielleicht weil besser lesbar), aber gravierend ist doch, dass er nicht Lento schreibt, sondern Mèsto (sic!), vielleicht in einer anderen Handschrift, – aber bedeutet das womöglich: „Mesto“ = „Lento“? Dieselbe Opus-Zahl wie das oben wiedergegebene in h-moll, nämlich op.33. (Muss ich heute nicht klären.)

Was ist „authentisch“? Der Klang der Dorfmusik seiner Kindheit, die er in den Ferien hörte oder sogar am Bass mitspielte? Oder die Erinnerung daran, gefärbt durch unzählige neue Erlebnisse in Wien, Paris oder – Nohant.

Was bedeutet es, wenn (wie geschehen) eine polnische Volksmusikkennerin unsern russischen Mazurka-Interpreten etwas „distanziert“ beurteilt? Wo ist man dem Wesen dieses Tanzes wirklich nah? Was gilt eine Auszeichnung bei einem internationalen Wettbewerb in Warschau? Etwa für Daniil Trifonow hier ? Vgl. auch seine Version der Polonaise mit der des Kollegen Kissin…

Um es einmal gesagt zu haben: Ich kenne keine poetischere Interpretation der Mazurken als die von Evgeny Koroliov, den ich übrigens nie persönlich kennengelernt habe. Er hat sich  – soweit ich weiß – nie über den Booklet-Text geäußert. (Man sagt, selbst die meisten CD-Konsumenten, für die es geschrieben wird, lesen keine Booklets; und sowieso würden sie nicht genau so hinhören wie Kritiker oder Musikwissenschaftler, sie tun einfach etwas anderes. Was erlauben sich!!!)

Und das Wort poetisch soll bestehen bleiben, auch wenn sich – sagen wir: in der Ethnologie oder in privater Quellenforschung  – die Meinung festigen sollte, dass in der Region 150 km nordwestlich von Warschau, wo der Knabe Chopin zweimal seine Ferien verbracht hat, Mazurken ganz anders klangen. Irgendwie authentischer…  Dann müssen wir eben eine Lanze brechen für die exterritoriale Situation. Es bleibt uns doch gar nichts anderes übrig.

TROTZDEM bleibt ein Stachel im Fleisch, wenn man einmal den Rhythmus bzw. die Aufführungspraxis eines polnischen Volstanzes vom Lande intensiv nachvollzogen hat: das darf nicht „außen vor“ bleiben. Hier der Versuch meiner Notation, die etwa davon widerspiegeln soll:

Transkription JR ©2010

Weiteres siehe HIER (Vortragstext JR 2010)

*    *    *

A propos Exterritorialität…

Da wir gerade bei einem Thema sind, wo sich die Geister scheiden, denke ich an Glenn Gould und registriere gern Meinungen, denen ich beipflichten oder widersprechen würde. Es geht aber wohl vor allem um sein Bach-Spiel.

0:00 #1 Leon Fleisher 1:20 #2 Robert Durso 1:44 #3 Anne-Marie McDermott 2:28 #4 Seymour Bernstein 3:42 What Gould did to Mozart 5:36 Gould the provocateur 7:28 #5 Frederic Chiu 9:22 #6 Emanuel Ax

Bemerkenswert: die einzigen Stücke, die er schön spielt (sagt Benjamin Laude),  sind die dreistimmigen Inventionen (Sinfonien) in Moskau 50er Jahre (1957), man hört einen winzigen Ausschnitt bei 3:16, nämlich diesen (Einstieg Triller beachten Takt 9):

Das klingt nett, man hört auch noch nicht, wie grotesk er die Invention in a-moll runterspult…

Mein Montagmorgen

…mit Mozart und ???

Ja, ich brauche noch andere Konsonanten, z.B. Klenke-Quartett. Mit Klarinette. Ich habe gestern ganz spät die CD gesucht,und am Klavier, anlässlich der Bach-Fuge in E-dur, habe ich mich plötzlich erinnert. Aber jetzt höre ich erstmal Mozart und bin wieder begeistert. Warum hatte ich vergessen, die Begegnung damals zu vertiefen, hier (am Anfang), warum nur? Ich wusste jetzt nicht einmal, dass das hervorragende Quartett ausschließlich aus Frauen besteht. Das umfangreiche Textbuch in drei Sprachen habe ich vielleicht nur oberflächlich gelesen, aber jetzt fällt mit sofort in der ersten Zeile die Wiederkehr des Wortes „Frau“ auf, – das kommt von der Gender-Diskussion -, dann die Reihe der Einzelfotos, beginnend mit der Klarinettistin, die ich aus Konzerten des WDR-Sinfonie-Orchesters kannte. Sie saß oft schon da, wenn noch Mikrofonprobe war für den Einführungsmoderator, der manchmal ich war. Ganz rechts neben den 5 Damen das Foto von Stephan Katte, der mir ein Begriff ist seit dem wunderbaren Brahms-Horntrio mit den Abeggs, für die ich so manchen Text geschrieben habe. Ach, immer ich, ich, ich. Ja, so läuft nun mal das Erinnern, – es wird schon früh genug weitergehen zu Mozart und Bach, die im Zentrum „meiner“ Welt stehen. – Wie intelligent diese Musiker:innen reden, wie schön sie spielen! Martin Hoffmeister ist offenbar Redakteur im MDR. Die Aufnahme aber stammt vom SWR. Gut, und Nicola Jürgensen war damals noch beim WDR. Gerechtigkeit.

Was allerdings heute Morgen zündete, waren die guten Bemerkungen über das Mozart-Quintett: das musste ich hören! erst nachher die Fugen!! Tr. 2 Das Zwiegespräch!!!

 

   

Und nun alles von vorn. Schöner kann die Woche nicht beginnen.

Ein Sprung im Tagesablauf

Am Abend entsteht die Frage: wie genau kann ich mir den „stile antico“ vorstellen?  Den Klang, – das Tempo – das Auf und Ab – einer wie auch immer idealisierten geistlichen Musik, die von Palestrina überliefert ist. Wie hat Bach sie aufgefasst, der sie ja in Ehren hielt? Wie hat Mozart Bach aufgefasst, wenn dieser sich – historisierend – an den Stil Palestrinas anlehnte? Klartext: in welchem Tempo soll ich die E-dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier Teil II spielen. Mit welchem Ausdruck?

So – vielleicht auch wieder nicht… wie betörend „antico“ es auch immer klingt. Für Bach nicht gewichtig genug. Aber könnte das folgende eine Alternative sein?

Mozarts Bach hier (entspricht tr. 5-9 auf der CD) oder direkt die Fuge E-dur: (6:52) (bitte nach Klick 1 Moment Geduld)

Es ist nicht meine Absicht, das wunderbare Quartett zu kritisieren, sondern allenfalls: dass es Mozart wie Mozart spielt, und zwar so, wie man es auf Streichinstrumenten tut, vielleicht mit auffällig wenig Vibrato, um der archaisierenden Strenge des Satzes durch gambenähnlichen Klang zu entsprechen. Ich empfinde es anders, aber nicht weil ich an Cembalo- oder Orgelklang denke, – ich denke an den Vortrag am Klavier -, sondern weil die Fuge zu Bachs Musterstücken im „stile antico“ gehört. Aber es ist nicht ein kryptischer Gehorsam, der mich antreibt, sondern die Vermutung, dass hier jede Mozartsche „Leichtigkeit“ fehl am Platze ist. Es geht um „Majestas“ und  „Gravitas“. Auf Mozart selbst angewandt: Stellen Sie sich vor, der Gesang der Geharnischten in der „Zauberflöte“ würde auch nur ein Gran zu schnell interpretiert, die Größe des Augenblicks wäre dahin. „Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden“. Ich finde, schon William Christie nimmt es ein Minimum zu flott (selbst wenn man andernfalls  beschleunigen müsste, sobald Tamino reagiert): HIER.

Es geht um die Gemessenheit – die Strenge – der Achtelbewegung, schon im dritten (und fünften) Takt der Fuge in E-dur, gerade dieser Achtel-Quartsprung soll nicht leichtfüßig, sondern würdevoll wirken.

Nach wie vor sehr lesenswert ist das Buch „Bach Interpretation“ von Paul Badura-Skoda (Laaber Verlag 1990 z.Zt. vergriffen). Er geht an dieser Stelle aus von der Orgelfuge BWV 564, die natürlich nichts mit „stile antico“ zu tun hat, aber in allen Beispielen geht es um Artikulation und Charakter:

Auf der nächsten Seite nun bringt er zum Vergleich den Anfang des Credo aus der H-moll-Messe und fügt die E-dur-Fuge betreffend hinzu:

Deshalb wäre es grundfalsch, dieses Thema zart und zögernd zu spielen, wie dies leider öfter geschieht.

Ein guter Rat. Man sollte vermeiden, bei einer Bachschen Fuge von vornherein ein „esoterisches Register“ zu ziehen und erst mit wachsender Stimmenzahl Klangfülle zu entwickeln. Man bedenke auch, dass auf Tasteninstrumenten, für die Bach ja schreibt, jeder Ton gewissermaßen mit Glottisschlag beginnt, – mit K, nicht mit H oder M, wenn ich an den Anfang dieses Artikels anknüpfen darf. Daran darf man Streicher ruhig erinnern, da sie seit alters wie die Sänger das Messa di Voce üben und Töne lieben, die aus dem Nichts kommen. Eine andere Sache ist es, dass der Name Mozart im Zusammenhang mit Bachfugen nahelegt, ihnen das „Altmeisterliche“ zu nehmen und die Leichtigkeit der klassischen Bogentechnik zu nutzen. In der Tat, gibt es geschwindere Bach-Fugen, denen dies zugutekommt. Es ist geradezu ein Charakteristikum: ich habe das schon früher einmal ausgeführt (mit Forkel-Zitat über den Tanzcharakter mancher Fugen) hier.

Anders jedoch steht es beim „stile antico“, der nun mal nichts Tänzerisches vermittelt, sondern Linien, die allenfalls – wo erforderlich – mit Nachdruck differenziert und dynamisch herausgehoben  werden dürfen. Die Anbahnung eines Höhepunktes im Gleichmaß der E-dur-Fuge:

Hören! Youtube Andras Schiff hier (ab 4:36 bzw. 6:39)

Man erlebt, wie Bach ab Takt 29 (6:39) aus dem strengen Stil ausbricht, indem er Terzenparallelen in beiden Händen produziert, auffällig in Gegenbewegung, in der linken Hand in T. 31 und 32 im Aufwärtsmodus präsent hält und dann einen unglaublichen Abschluss in Gis-moll vorbereitet in Takt 33, in Parallel- und Gegenbewegung, beginnend mit dem kakophonen Dominantseptnonakkord auf Dis (siehe Kölbl hier), ein Höchstmaß an Expressivität, da wäre jede Beiläufigkeit fehl am Platze. Und daraus ergibt sich eine Tempovorstellung, die solche Gewichtigkeit auch erlaubt. Ein triumphales Pathos, das auch in den oktavenweit ausgespannten Abstiegslinien der letzten fünf Takte offenliegt (grün markiert). Man sieht es schon zu Anfang der Durchführung VI (Takt 35), wenn der Aufstieg des Kontrapunktes aus Takt 3 (s.o. kleines Notenbeispiel) im Sopran wiederkehrt, jetzt aber ausgebreitet wird über eine ganze Oktave.

Angesichts dieser Indizien ist es merkwürdig, dass der große Bach-Exeget Alfred Dürr das Offensichtliche ignoriert und feststelltt, „dass eine Schlußsteigerung, wie wir sie von manchen Fugen her gewohnt sind und wie sie Johann Gottfried Walthers Zitat »Finis coronat opus« nahelegt hier kaum anzutreffen ist“. (Seite 317)  Dabei gilt das sogar noch für den letzten Takt mit der fast provokativ konventionellen Kadenz … ein Signum, wenn auch das Gegenteil einer Krönung.

Man könnte auch streiten über die Fuge D-dur (BWV 874), angefangen mit Busonis Frage: „welcher Sinn wohl darin liegen möge, eine melodische Formel so durch verschiedene Stimmen und Tonarten zu jagen.“ (Dürr S. 282)

Vermutlich liegt sein Missverständnis schon in den Worten „Formel“ und „jagen“: es handelt sich ja, wie Dürr anfangs ganz richtig sagt: um eine „gelehrte“ Fuge. Was wohl auch bedeutet, dass sie eher „freundlich dozierend“ daherkommt, nicht fesch und tänzelnd. Schon die drei ersten wiederholten Töne sind mit Bedeutung geladen, als seien Worte zitiert, eine These, deren Ergänzung in der zweiten Themenhälfte erfolgt. Ein Statement, etwa so wie im Unisono am Ende des Turba-Chores in der Matthäus-Passion: „er hat gesagt: ich bin Gottes Sohn“.  Man könnte sogar genau diesen Text unterlegen:

Und – gibt es vielleicht eine subkutane Verbindung zur nachfolgenden Fuge in dis-moll? Im Charakter komplementär: mit den drei pochenden Tönen zu einer ganz anderen Aussage kommend, in der zwei aufsteigende Quarten eine Rolle spielen, die entfernt an die zweite Hälfte des D-dur-Themas gemahnen. Auf der Klenke-CD in umgekehrter Reihenfolge: Tr. 4 (dis) und Tr. 5 (D), auf Youtube mit Klenke/Mozart – wie oben – HIER – oder direkt bei 4:54 (übrigens in d statt in dis), während die Fuge in D hier bei 1:48 anzuspielen sein müsste.

Youtube Schiff (dis) hier (ab 3:41) / und (D) hier (ab 5:18)

Auch eine frühe Orgelfuge (um 1708)  hätte mitreden können, BWV 574 (Thema von Legrenzi):

Was ich sagen will: die Charaktere der Stücke sind gewiss unterschiedlich, aber die Streicher kommen aus anderen Gründen zu einer ganz anderen Tempowahl als der Pianist. Gewiss auch aufgrund der Tatsache, dass Mozart die Hand im Spiel hatte. Man darf aber wohl behaupten: die unterschiedlichen Konsequenzen sind nicht gleich berechtigt. (Ausgeschlossen etwa, zu entgegnen: „Alles ist relativ“ – es geht doch nur um die Bewahrung der Struktur…)

Zur Klarstellung der Reihenfolge der Klenke-Mozart-Bach-Fugen

Auf der CD

Auf Youtube

Beim Abspielen der Sammlung sollte man wissen, dass die Reihenfolge auf Youtube nicht die vom Klenke-Quartett für die CD  gewählte wiedergibt. Diese aber ist hinsichtlich der Tonartenfolge viel sinnvoller.

Mein Donnerstagmorgen

Ich lese die ZEIT. Und höre die Klenke-CD, wie jeden Morgen. Im Wechsel übrigens mit einer anderen, die ich erst später nennen möchte.

Der erste Gedanke war: es ist vielleicht falsch (aber auch tolerabel), die 5 Fugen separat zu behandeln, eine nach der andern, und dabei immer an den täglichen Umgang mit dem Wohltemperierten Klavier zu denken. An den „anderen“ Zusammenhang. Hier aber ist es Mozart, und die Fugen bilden auf der CD einen neuen Zusammenhang, die eine wirkt wie ein Vor- (oder Nach-)spiel der anderen. Zu schnell finde ich eigentlich nur die erste und die letzte (C-moll und D-dur). Ja: auch die in E-dur, jedenfalls nicht bedeutsam genug. Das gilt auch für die zarte Pflanze in d-moll (Original Bach dis-moll).

Lieb gewonnen habe ich das Horn-Quintett, das ich bisher kaum kannte. So spielt das Leben. Und noch etwas: die Es-dur-Fuge wurde mir früh zu einem Begriff durch meinen älteren Bruder: er steckte mir, dass seine Musik, der Jazz,  problemlos eine Bach-Fuge integrieren konnte, – er meinte das Rediske-Quintett, das zumindest eine oder zwei Durchführungen der Es-dur-Fuge spielte und sie wie ein Praeludium behandelte: nach einem Break setzte unvermittel der „eigentliche“ Jazztitel ein. Das Fugato stand für Intellektualität. Vielleicht ist diese für meine damaligen Ohren attraktive Fassung dafür verantwortlich, dass ich am „Klenke-Tempo“ nichts auszusetzen habe. Um so klarer, dass die D-dur-Fuge nicht dasselbe Tempo haben darf, es sei denn – als Rausschmeißer. Als handle es sich um das berühmte Motiv Beethovens.

Inzwischen habe ich die Leittartikel gelesen, Giovanni di Lorenzo über den ÖRR (den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk), daneben Rieke Havertz über Joe Bidens „spektakulären Sieg im Kampf um das Klima“. Vorgemerkt auch eine Enthüllungsstory (?) auf Seite 3 über Maja Göpel, die mir höchst positiv in Erinnnerung war (siehe hier). Was sich durch diesen Artikel mit Hinweis auf den „Co-Autor“ nicht ändert.

Schlusswort am Freitagmorgen

In dieser Arbeit, die von einer bestimmten CD-Aufnahme der von Mozart adaptierten Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier Bd. II ausging, ist mir ein grundlegender Fehler unterlaufen. Unfassbar, – und nur aus der Arbeitsweise zwischen Hören und Analysieren zu erklären. Aber auch nicht recht entschuldbar. Da bedarf es einer ausführlichen Fehler-Analyse, so dass wenigstens ein didaktisch wertvolles Beispiel daraus wird.

Ich weiß zwar, dass nach diesen erklärenden Worten beim Wiederlesen plötzlich jeder Satz unter Verdacht steht, – auch alles, was richtig und nützlich zu lesen wäre. Die Alternative wäre, alles ohne Rücksicht auf Verluste zu löschen. Und dafür ist mir diese Woche – von Montag bis Freitag – zu sehr ans Herz gewachsen.

Was übrig bleibt, ist meine herzliche Empfehlung der CD des Klenke-Quartetts. Inclusive der Bach-Fugen.

E-dur (und kein Ende)

Zunächst einmal zur Schreibweise Ich konnte mich nie entschließen, dem neueren Brauch der Großschreibung von Adjektiven wie dur und moll zu folgen. Ich wollte nicht rechthaben, aber es widerstrebte mir. Und nun fühle ich mich dank der Lektüre des Henle-Artikels zwar nicht völlig ins „Recht“ gesetzt, aber doch zusätzlich berechtigt, so zu verfahren.

Warum aber übe ich seit einiger Zeit mit Vorliebe Werke mit E-dur-Vorzeichen? Auf der Geige – wie immer – die entsprechende Kreutzer-Etüde und die Bach-Partita BWV 1006 – am Klavier, dazu tendierend, die A-moll-Fuge des Wohltemperierten Klaviers nach monatelangem (lähmendem) Studium in der Übe-Praxis aufzugeben, stattdessen die große E-dur-Fuge mit Ernst und Liebe in die Finger zu locken. Man sollte sie auswendig können, indem man sie begreift. Als zweite Aufgabe bei Bach – nach der jetzt mit Vergnügen wiederholten Französischen Suite G-dur (dank der Anregungen durch Andreas Gilger) die in E-dur, die ich vor Jahrzehnten mal mit „Leimer-Gieseking“-Methode auswendig lernen wollte. Was mir im Kopf nicht recht gelungen ist, aber mit Fingern durchaus.

Neu aber wäre – nach Jahren der Enthaltsamkeit – aufs Neue: Beethoven, einer Neigung widerstehend, die späte E-dur zu wiederholen, lieber also die frühe, die mich in jungen Jahren aus nichtigem Grund gequält hat. Begeistert hatte mich nur die Durchführung des ersten Satzes („Sehnsucht“), wirklich studiert habe ich dann in Berlin nur das Finale, den Mittelsatz wohl zig-mal „vom Blatt“ gespielt. Woher kommt plötzlich die Anziehungskraft eines Beethoven-Werkes, das vor 1800 entstanden ist? Warum nicht meine Lieblingssonate, die wie mit seltsamen Vogelrufen beginnt (Pirol + Nachtigall), nämlich die in G-dur op.14, Nr.2 ? Nein, die davor, E-dur op. 14 Nr.1. Danach werde ich gewiss automatisch weiterüben. In Erinnerung an die 80er oder 90er Jahre, als ich auf Biegen und Brechen sämtliche Beethoven-Sonaten – nicht gespielt – aber geübt haben wollte, und zwar so, als wollte ich sie einmal im Ernst spielen. Ein frommer oder auch nur ehrgeiziger Wunsch. Die Zeiten sind vorbei…

maßgebliche Anregung: der Kommentar von Donald Francis Tovey – aber vorher: der eher zufällige Blick in die Noten. Das Sechzehntel-Motiv, das mich immer schon geärgert hat. Warum eigentlich? Nachdenken beim Blick auf diese verdammte Stelle brachte mich auf technische Gedanken. Das reibungslose Übersetzen der Hände. Langsam. Mit Körpergefühl. Sonst nichts. Fingersatzfragen vielleicht. Gut gelöst in der Ausgabe von Conrad Hansen (nicht bei Tovey), mit Bleistift ergänzt durch meinen älteren Bruder, dessen Fluchen mir in Erinnerung blieb. Mein Vater konnte kein geduldiges und wachsames Üben vermitteln. Nachsicht mit sich selbst zu haben, nein, – zu üben. Nachsicht üben eben. Keine Schlamperei. Man übt menschlicher, wenn man wirklich weiß, warum. Wie wunderbar menschlich Tovey das Üben der Takte 5-6 anmahnt! In einem Tempo, in dem „die zum Verzweifeln heimtückischen Takte“ ohne Symptome der Vergiftung gelingen, obendrein mit dem Ziel, das „ais“ am Ende des Taktes 6 absichtsvoll zu lancieren… Oder wie meint er das? Das Rätsel damals war: wie konnte der Komponist nur auf diese Idee kommen: diese sinnlosen Sechzehntel einzubauen, reine Schikane! Weiß ich es heute besser? (Das muss sich jeder fragen, ohne eine schnelle Antwort durchgehen zu lassen.) Im Hintergrund lauerte damals auch die Enttäuschung über das zweite Thema, es sagte mir gar nichts, „schön“ wird es erst, wenn es fast zuende ist. Und dann die Fortführung. Das war übrigens auch beim ersten Thema so: die erste Zeile nimmt man gern hin, aber dann beginnt die „Zerstückelung“, und erst wenn es wieder ins Fließen kommt, ist man positiver gestimmt. Er weiß also wie es geht. Aber muss man dies alles in Kauf nehmen, nur damit man zu dem Überschwang des Ausdrucks „nach dem Wiederholungszeichen“ (auch das noch!) kommt?

Da hilft nichts, man muss den Sinn der „Zerstückelung“ erfassen. Schon die enttäuschende Schlussgeste nach dem viertaktigen, doch wohl vielversprechenden Aufstieg:

Der Quartsprung des allerersten Taktes, der sich scheinbar erwartungsvoll in die Höhe streckt, wird am Ende ausgefüllt. Ein zu früher Schlusspunkt. Selbst beim bloßen Zuhören reagiert man leicht verdutzt, – das war’s schon? Man sollte aus Enttäuschung produktiv werden: die Sechzehntel üben, als sei es die Hauptsache, sie nun auch wirklich nebensächlich perfekt hinzusetzen, kurz: spielerisch. Ja, gewissermaßen nächäffend, perfekt, aber beiläufig. Und plötzlich ist es Ernst. Die Vorschlagsfigur links, der melodische Sextsprung rechts, Expression! Schwer auszudrücken…

Ich versuche mich also in einer Sprache auszudrücken, die ich damals, in der Zeit der Erstbegegnung, wohl verstanden hätte, aber nicht zu sprechen gewagt hätte. Zu simpel! Und heute bin ich entsetzt, wenn ich frühe Liebesbriefe lese, die den Namen nicht verdienen. Trennungsschmerz, sicher, das erkenne ich, aber was für ein Nebenhergerede, was für ein Misstrauen, was für ein Nicht-Wagen-Wollen.

Aber hätte ich mich ausgerechnet in der Musik – der Sprache der Gefühle – auf eine fundierte Musik-Text-Analyse eingelassen? Mein Bruder jedenfalls, der die Sonate vor mir studierte, lehnte das von vornherein ab, auch Gedicht-Analysen fand er unerträglich; „zergliedern“ – gar etymologischen Reflexionen folgen – ich hätte es anders genannt, konnte mich daran begeistern und liebte das Gedicht nachher um so mehr.

Es ist nicht leicht, die Menschlichkeit einer solchen Analyse wahrzunehmen; man hört ja nichts, die Stimme des Erklärers fehlt, vor allem die lebendige Stimme des Klaviers, das die Beispiele schon während des Redens beredt darstellt oder andeutet. Hier – im Buch der Analysen – regt sich etwas, sobald man auf den Satz stößt: „Echte Musik beginnt dort, wo es unmöglich wird, ihre Wirkung in Worten zu beschreiben.“ Dann dürfen gern weitere 10 Seiten folgen, das Vertrauen ist da, und es täuscht in diesem Fall durchaus nicht. (Quellenangabe folgt später.) Lediglich meine Lieblingsstelle seit Jugendzeiten, die Durchführungsmelodie, scheint mir etwas stiefmütterlich behandelt. Obwohl der Hinweis darauf, dass die Tonart C-dur, auf die es hier hinausläuft, in der Reprise wiederum als neue Schattierung (gegenüber der Exposition) auftritt, nicht gerade trivial ist. Im Klavierunterricht genügt ein Fingerzeig. Für uns sind harmonisch komplizierte Vorgänge seit Max Reger und Richard Strauss so normal geworden, dass man die Bedeutung der scheinbar einfacheren Modulationen oft nicht mehr adäquat würdigt, oder erst willentlich in den Fokus rücken muss. Worum ich mich hiermit bemühe: es geht um den „simplen“ Übergang von der Tonart des Hauptthemas (E-dur) in die des Seitenthemas (H-dur Mitte Takt 22):

Hier ist die Beschreibung des Vorgangs:

Die Modulation selbst hat den Effekt eines plötzlichen Umkippens des scheinbar so mächtigen Tonmassivs im Hauptthema (T.16). Je mehr die Tonika im Laufe von 12 Takten des Themas gefestigt wird, desto stärker ist der Eindruck ihrer plötzlichen willkürlichen Zerstörung: Nach einem drohenden Aufstieg in Takt 13-15 verschieben sich alle Töne plötzlich gleichmäßig um einen Halbton nach oben (T.16). Im Ergebnis wird die Haupttonart E-Dur (sic!) der ihr fremden und widersprüchlichenlokalen Tonika Fis-Dur gegenübergestellt – als hätte man dem Hauptthema seine Grundlage entzogen und als habe es nichts mehr, worauf es beruhen könnte. Es entstehen unwillkürlich revolutionäre Assoziationen: Erschütterung der Grundlagen, Thronsturz, revolutionäre Behauptung einer neuen Macht: E-Dur plus Fis-Dur bedeutet unvermeidlich eine neue herrschende Tonika H-Dur. Nach der Wirkungskraft kann man eine solche Umwandlungsmodulation mit dem Übergang nach G-Dur im Finale der 5. Symphonie (ebenfalls eine stürmische Umwandlung innerhalb von nur einem Takt) vergleichen (T.35-36).

Jeder kennt die Stelle,- ohne sie noch als Besonderheit zu vermerken („nur ’ne Modulation“). Aber wenn man vom Klavier aus, bei der „stillen“ Sonate in E, drauf verwiesen wird…

Ich höre mit gemischten Gefühlen zwei verschiedene Versionen der Sonate, finde die eine zu langsam, die andere zu schnell. Und mir ist klar, dass der Laie dazu neigt, sich nicht von Geschwindigkeit beeindrucken zu lassen; er hängt am Detail. Der Profi aber hasst es, wenn die Musik ausgewalzt wird, er hat den Zug zum Ganzen. Was will ich sein? Vielleicht ist es gut, sich als Interpret gar nicht festzulegen, ehe man die Sonate technisch perfekt kann (aber: gibt es das überhaupt?). – Noch eine weitere Möglichkeit gibt es, sich aufs Glatteis zu begeben: Beethoven hat ja auch eine Streichquartett-Fassung dieser Sonate geschaffen, – kann eine solche Interpretation, die sich gewissermaßen vom Material des „Klavierkastens“ gelöst hat, als Maßgabe dienen? (Zur Diskussion auch noch folgendes.)

ALFRED BRENDEL :  HIER (mit stehendem Bild)

DANIEL BARENBOIM : HIER („live“ Video)

MICHEL KORSTICK : HIER (mit Notentext)

Streichquartett: HIER 

(Fortsetzung folgt hier: Schrei nicht so!)

Bach E-dur, erster Schritt: neue, übersichtliche Analyse herstellen, nicht in der praktisch „erarbeiteten“ Ausgabe, dem dort gegebenen Hinweis auf Froberger aber sofort nachgehen, eigtl. als Nebensache:

Bach WTK II BWV 878

Nach einer genaueren Form-Betrachtung (mit Czaczkes‘ Hilfe, dazu später mehr) sehen die Noten dann, wenn ich es knapp fasse, folgendermaßen aus:

  Bach WTK II BWV 878

Fuga in E – (erwähnt bei Keller, Dürr, Czaczkes) eine Vorgängerin bei Johann Caspar Fischer:

Fuga 1715 Wiki (!!) Ariadne Musica

Und nun zu Froberger:

Froberger Ricercare IV

Vergleichende Studie zu verschiedenen (anderen) Ricercares siehe hier

Johann Jacob Froberger: Ricercare IV / Markus Märkl an der Orgel (extern hier)

(Fortsetzung folgt)

Weiteres E-dur-Stück, das in „meine“ Serie gehört: Chopin-Etüde in E, die ich seit einem Jahr als coole Technik zu begreifen suche (nicht als Schwärmerei, wie in der Zeit, als mein Vater sie noch bei Familienfeiern spielen musste, – wenn nicht gerade die „Harfen-Etüde“): nach der Entdeckung, dass die erste Seite eigentlich ohne rechtes Pedal legatissimo gelingen müsste. Erst dann wird sie sehr schwer, – und nicht erst im Mittelteil.