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Mozart C-dur bedenken

Im Konzertsaal mit vielen anderen

Man kann es kaum glauben: die innersten Seiten des Feuilletons, das Kernstück der ganzen ZEIT, ist der klassischen Musik gewidmet, und man beginnt zu hoffen, dass es nicht nur dem Nationalfeiertag geschuldet ist. Gewiss, manches zielt auch auf das Gedenken des 7. Oktobers, eine Warnung vor dem Anwachsen des Antisemitismus. Zu recht, aber das ist ein anderes Thema.

Und was Navid Kermani zur Musik notiert, lohnt sich immer zu reflektieren. Obwohl es vorsichtiger geschieht, als es früher in aller Munde war, etwa: dass Musik eine Sprache sei, die alle Menschen verstehen. Er weiß, dass Musik wie jede Sprache gelernt werden muss. Und hebt vor allem die Orte hervor, an denen sie Menschen zum Zuhören versammelt.

DIE ZEIT S.54 vormerken: der Autor wird Daniil Trifonov mit Mozart KV 503 (am 2.9.24) hören, wir heute auch, allerdings in einer Aufnahme aus dem Jahre 2021.

Quelle DIE ZEIT Feuilleton „Die Kraft der klassischen Musik“ mit Navid Kermani und Simon Rattle, 2. Oktober 2024, Seite 54 und 55.

Dem abschließenden Satz von Mendelssohn Bartholdy darf vielleicht an dieser Stelle ein ähnlich berühmter von Victor Hugo folgen, den man leicht verwechselt:

Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.

in Feiertagspracht!

Die Mittelseiten des ZEIT-Feuilletons also, wohl im Blick auf den Feiertag, einerseits: Achtung Klassik! andererseits: keine Angst! links Navid Kermani, die andere Hälfte Simon Rattle im Interview. Und auch er begründet die Notwendigkeit der klassischen Musik FÜR ALLE in der heutigen Welt und zwar verblüffend einfach, – wenn er gefragt wird, wie es gelingen könnte, sie aus dem Elfenbeinturm herauszuholen, in dem sie für viele Menschen zu stecken scheint: „Türen auf! Fenster auf! Die Leute sollen sich willkommen fühlen und ihren eigenen Umgang mit der Musik finden dürfen.“

Sagen Sie es allen, die es gebrauchen können: das große, gute Gefühl genügt! Einstweilen. Es bleibt immer noch viel Raum nach oben und unten und auch seitlich, ohne dass man sich darauf etwas einbilden kann. Irgendwann will man einfach noch mehr wissen, sogar alles, was es da zu wissen gibt, und zugleich wächst das Gefühl für diese Dinge und für die angemessene Sprache. Und mit Recht stellt Rattle ein Wort in den Raum, vor dem sich mancheiner scheut: POESIE. Gemeint ist eine andere Realität, nicht die fleißige Buchhalterei. Ich weise immer mit Vorbehalt auf Wissensquellen hin, wie im folgenden Mozart-Link: machen Sie was Eigenes draus, wenn sie wollen, es muss nur das Hören bereichern, nicht den Smalltalk vor oder nach dem Konzert.

Im folgenden Youtube ab 11:05 / vorher event. Wiki Mozart C-dur KV 503

Eine ketzerische Frage: Was kann man tun, um solche C-dur-Werke Mozarts nicht zu unterschätzen?

Ich erinnere mich, dass ich in meiner frühen Zeit als Klavierspieler bei Mozart Beethovensche Maßstäbe anlegte und nur eine Subjektivität dieser Art positiv einschätzte, nie den „harmlosen“, kindlichen Mozart (sozusagen meinen Mentalitätsgenossen) anerkannte. Dennoch die „Facile“-Sonate trotz des C-dur-Charakters gelten ließ, das Andante als absolut expressiv empfand, natürlich – rückwirkend – nur dank der Wendung nach g-moll im Mittelteil, den Schlusssatz aber nicht mehr übenswert fand. Diese Rangfolge der Mozart-Charaktere blieb für mich fast meine ganze Schülerzeit lang verbindlich, – mit allmählichem Vorstoß zu Rachmaninow (und Wagner) als Höhepunkt der Ausdrucksgeschichte. Eine kindliche Geschichte, man muss sie nicht vertiefen. Aber letztlich ist sie schwer zu überwinden, weil das ganze (wichtige) 19. Jahrhundert sie zementieren hilft. Es motiviert aber auch, sie in ihrer schon von Mozart vorgegebenen Haltung zu erfassen, wie ich später durch Dibelius‘ „Mozart-Aspekte“ lernte, – anhand der Klavierkonzerte.

Quelle Ulrich Dibelius: Mozart-Aspekte / Bärenreiter dtv München 1973 ISBN 3-423-00802-4

Mit Hilfe dieser Rückblende kann man das vorliegende Konzert künstlich problematisieren; ich tue es, um meine scheinbar naive Beurteilung von einst quasi ernstzunehmen, indem ich sage: aha, der C-dur-Mozart, er will mich mit Lebensfreude einfangen (während ich lieber den von Leid gezeichneten Pathetiker erwartete). Welchen Erwartungen aber versuchte er selbst damals zu begegnen, – wenn überhaupt er sich herabließ, diese zu kalkulieren?

Was ich Mitte der 70er Jahre von Dibelius gelernt habe, konnte ich 30 Jahre später ihm selber berichten, im Urlaub auf La Palma. Eine angenehme Begegnung…

Ulrich Dibelius & JR  2005 (Foto E.Reichow)

Folgen wir doch einmal der Beschreibung des Mozart-Werkes in Wikipedia, aber mit der Tendenz, vor allem die thematische und motivische Abwandlung zu identifizieren (dazu jeden Orgelpunkt, der einem leicht entgeht, aber durchaus als bedeutsames Zeichen gilt) :

Das eröffnende Allegro ist der längste Konzertsatz in Mozarts Schaffen. Die ausführliche Exposition beginnt (11:11) mit einigen feierlichen Akkorden des ganzen Orchesters. Das Hauptthema entwickelt sich in der Folge auch über eine Wendung nach Moll. Eine Überleitung, in der sich Trompeten und Pauke feierlich äußern, führt zum zweiten Thema (12:50), das zunächst in Moll erscheint, sich dann jedoch nach Dur wendet – die Dur-Variante hat eine sehr entfernte Verwandtschaft mit dem Kopfmotiv der später entstandenen Marseillaise.[1] Die Soloexposition beginnt relativ unscheinbar, mit einem unthematischen Entrée des Pianisten. (14:08) Zudem ist der Zeitpunkt, zu dem sie beginnt, verglichen mit anderen Mozartschen Klavierkonzerten recht ungewöhnlich. Das Orchester schließt in einem kraftvollen forte-Akkord ab und das Klavier wird erwartet. Jedoch überraschen die Streichinstrumente mit einer Art kurzen Überleitung in piano. Es folgt die Einstimmung des Klaviers in das feierliche Hauptthema des Satzes (14:50), das anschließend erweitert wird. Modulationen über Es-Dur, g-Moll und G-Dur führen zum gesanglichen und friedlichen dritten Thema des Satzes (15:56), welches durch das Soloklavier eingeführt wird. Erst nach 228 Takten endet die ausgedehnte Exposition. (18:29) Es schließt sich eine verhältnismäßig kurze Durchführung an, die das Marseillaise-Thema bevorzugt. Es kommt hier zu einer ausgefeilten polyphonen Verdichtung des Gedankens. Ein achttaktiger Orgelpunkt führt zur Reprise, (20:25) die größtenteils regelgerecht verläuft. Jedoch nimmt die Modulation zum dritten Thema weitschweifendere Wege über entlegene Tonarten wie es-Moll und Ces-Dur. Die großangelegte Solokadenz (24:13 von Trifonov) erarbeitet Motive aller Themen und wendet sie ebenfalls häufig nach Moll. Ein kurzes Schlussritornell (25:40) beendet den Satz mit majestätischen Akkorden. (26:17)

Mit den Noten in der Hand kann man noch mehr ins Detail gehen:

Quelle Marius Flothuis: Mozarts Klavierkonzerte / Ein musikalischer Werkführer /  Beck’sche Reihe C.H.Beck München 1998 / Seite 134

Mit einiger Übung kann man – aufmerksam die Musik hörend – nebenher dem analytischen Text folgen, – ohne wie in dem obigen Überblick bei einer bestimmten Stelle über Gebühr innezuhalten (T.208-210 „Mittelgedanken“!), der Grund: es gibt dazu eine Mozart-Skizze. Sonst geht es Ihnen wie mir und es ist allzu schnell vorbei!!!  Mit der Formulierung „siebentöniges Motiv zweimal wiederholt“ meint Flothuis offenbar die chromatischen Achtelketten im Klavier „fis-g-gis-a-b-h-c“ vor dem langen Triller auf a, der Ende des 1.Systems beginnt :

17:46

17:58

Wie angedeutet: man muss dieses Detail nicht identifizieren, insofern provoziert es in der Flothuis-Analyse zuviel Worte. Es war für mich nur eine Sache des Ehrgeizes… (nochmal in 23:38 vor Kadenz!)

Nebenbei: die Bezeichnung Marseillaise-Thema, die kaum wieder zu löschen ist, hat keinen Wert, zumal der Auftakt nicht punktiert ist und der Sprung in die hohe Oktave (zum Glück) fehlt. Man wird jedes Thema leicht als unverwechselbares Individuum wahrnehmen, auch wenn ein Auftakt-Motiv sich in wundersamsten Modulationen verselbständigt, gerade dann! Dieses Gespinst aus Themen wird sich als wahres Wunderwerk einprägen. Niemals wieder wird meine flüchtige Erinnerung diesen Satz auf seine C-dur-Fanfare reduzieren.

*     *     *

2. Satz Andante ab 26:26 bis 34:36  3. Satz Allegretto ab 34:38 bis 43:22

Ein ähnlicher Störfaktor Im dritten Satz: wiederum Gelesenes, Gelerntes, das ich hier nicht mehr ausbreiten kann, verschiedene Mozart-Lektüren, aufgerührt durch das Kopfthema, das die alten Vorurteile unvermindert lebhaft reproduziert: irgendwie „läppisch“ wie im Finale der „Facile“-Sonate, – und es muss doch mehr dahinterstecken, – dies als Ziel eines großen, eines wirklich großen Konzertes? Aber ich erinnere mich an die Begeisterung über ein anders Buch, das mich – wie ich glaubte – derart überzeugend ein neues Hören lehrte, dass ich es gleich noch zweimal verschenkte. Ohne großes Echo. Jedoch Anlass genug, dem Erlebnis noch einmal nachzugehen, aber in einem separaten Blogartikel, den ich an dieser Stelle verlinken will. Vorweg nur das Zitat von Haydns Traum (ja, er träumte von Mozarts Musik!).

Autor: Lorenz Lütteken. Aufs neue bringt es mich zum Nachdenken – der Traumzustand -, wird uns nicht bewusst durch eine Zäsur, seltsamerweise beim Einsatz des Solo-Klaviers im ersten Satz (zwischen 14:08 und 14:49)? Als ein „Weckruf“, der nicht uns weckt, sondern den Stellenwert der Wirklichkeit im Konzert verändert. Ohnehin dank der Tatsache, dass sie auf einer Bühne dargeboten wird, jetzt aber auch als Medienwirklichkeit: die Bühne als Bühne auf dem Bildschirm. Nur die Erinnerung an andere, wechselnde, öffentliche Konzerte bewirkt, dass man sich die jeweilige Musik auch als separat existierende (wartende) Botschaft vorstellen kann. Und zwar in einer Form wechselnder seelischer Bewegungen, die schneller wechseln dürfen, als es dem möglichen Ablauf von Gefühlen in der Wirklichkeit entspricht. Wir reagieren nicht ablehnend, weil wir sie als Erinnerungsbilder erkennen, sie können in beliebig schneller Folge aufgerufen bzw. angeboten werden, auch wiederholt, retardiert und beschleunigt werden. Wir haben eine Distanz, die dies zu genießen erlaubt, und zwar gemeinsam mit anderen Menschen, einem Publikum, welches im modernen Medium die offensichtliche Illusion in einer versteckten Dimension ergänzt. Das Publikum: WIR. (Vielleicht auch projiziert auf das damalige WIR?)

Es wäre müßig zu fragen, ob ein Subjekt zu uns spricht, monologisch, oder ob es (=der Komponist) eine Anzahl von Personen sprechen lässt, wie man von Mozart sagt, der sich auch in einem Klavierkonzert die „Realität“ einer Bühne vorstellte, Menschen oder Gruppen von Menschen, – 1 Klavier, Streicher, Blechbläser, Holzbläser, die miteinander interagieren. Wohlgemerkt mit Momenten der Besinnung, der Innerlichkeit, die wir fälschlich allein dem kreativen Urheber zuordnen.

So, wie wir bei Bach problematisieren wollen, ob er selbst leidet wie Petrus (?) in der „Erbarme Dich“-Arie, oder wie im Mittelteil des „Es ist vollbracht“-Lamentos jederzeit selbst in die Rolle des siegreichen „Held von Juda“ schlüpfen kann. Dessen Kampf-Gestus ihm aber ebenso für den Grund-Charakter des Fünften Brandenburgischen zu Gebote steht. Horcht er etwa in das eigene Innere oder greift er in die Palette der allenthalben herausgebildeten Affektenlehre? Oder kann er etwa – beides, und noch viel mehr?

Gehen Sie doch probeweise in den Schluss des Mozartschen Mittelsatzes (um 34:30), um dessen Ruhe noch zu spüren, und weiter in den 3. Satz , hüten Sie sich, dabei die Kurzatmigkeit des Finalethemas zu monieren. Achten Sie auf den Wechsel der Instrumentengruppen, wie sie aufeinander reagieren, wann sich das Klavier zum erstenmal auf das kurzatmige Haupt(?)thema einlässt, und fragen Sie sich schließlich, was zwischen 38:00 und 40:00 geschieht: in welcher Sphäre befinden Sie sich, wann beginnen Sie zum Augenblick zu sagen „Verweile doch, du bist so schön!“, und es dehnt sich so wunderbar, der Holzbläserklang trägt das Klavier – und uns ebenso – bis….? Ja, bis wir aufatmen bei der Wiedererscheinung des Themas und weiter bis zum Schluss eingebunden bleiben.

Bedauern Sie, dass Ihnen jede detaillierte Formübersicht für diesen Satz versagt bleibt? Wissen Sie WARUM? Weil Sie wirklich zuhören. Oh, wenn Sie das Simon Rattle erzählen könnten! Und Navid Kermani! Aber vielleicht brauchte er nur Mendelssohn-Ausspruch zu variieren, etwa derart, dass Sie diese Musik lieben, weil sie ihren musikalischen Gedankengängen genauer denn je folgen konnten, – als hätten Sie eine szenische Bühnendarstellung erlebt, die sich von selbst versteht.

Ach Mozart. Ich bereue. Nicht erlahmen, und zurück ans Klavier! Allein, ohne Zeugen.

Was ist ein „golden moment“ des Musizierens?

Glatteis Musikpädagogik

Nicht jeder Beitrag in „Musik & Ästhetik“ muss mir gefallen; es genügt, wenn er unverhoffte Anregungen bietet. Das geschieht selbst dann, wenn der Titel eher entmutigt wie dieser: „Hegel, Plessner und die dispositionale Realität musikalischer Bewegung“ und der Autor mir völlig unbekannt ist: Markos Tsetsos.  Während es mich elektrisiert, wenn ich in Anmerkung 2 einen (aus meiner Sicht unbegreiflich) vernachlässigten Namen der Musikästhetik sehe, der das Problem erstmalig angegangen ist: Victor Zuckerkandl. Für mich Anlass nachzusehen, was der denn am Begriff musikalischer Bewegung aufgezeigt hat. Aber noch ehe ich es realisiere (ich komme an anderer Stelle darauf zurück), hat mich dieser neue Autor gefesselt, der immerhin schon 2007 eine Arbeit im Hegel-Jahrbuch veröffentlichen konnte, die sich durch besondere Klarheit auszeichnete: „Über den Lebensbegriff in der Ästhetik Hegels“ .

Inzwischen bin ich allerdings ausgewichen auf einen anderen Beitrag des oben genannten Ästhetik-Heftes, weil er erlaubte, eine Youtube-Aufnahme dingfest zu machen, die mich an viele Diskussionen vergangener Zeiten erinnerte, über die Vermittlung musikalischer und technischer Erfahrung im Lehrer-Schüler-Verhältnis, z.B. im regelmäßigen Unterricht oder in konzentrierten Meisterkursen, die extern stattfanden. (Flagrante Erfahrungen der Freunde, die den gemeinsamen Lehrer in Frage zu stellen schienen, wenn sie von Wunderbegegnungen mit Wolfgang Schneiderhan oder George Neikrug berichteten.)

Mir scheint, die Zeiten haben sich grundlegend geändert, ich habe damals Interessantes aus Sebök-Kursen gehört, z.B. dass die Geschichte der gültigen Klaviermusik mit Bach beginnt oder allerhand weise Sätze von der Art, dass alle Musik „romantisch“ sei. Keine Differenzierung zwischen barocken Affekten, klassischem Ausdruck, Expressivität, Identifizierung und Objektivierung, oder den zahlreichen Schattierungen, wie man sie schon damals in dem Buch „Denken und Spielen“ (1988) von Jürgen Uhde und Renate Wieland nachvollziehen konnte.

Nun also eine Wiederauferstehung: „Masterclass-Lesson“ von 1987 mit György Sebök, die eigentlich nur als zentrales Beispiel eines eher negativ besprochenen Werkes von Nicole Besse mit dem Titel „Musik als Kunst der Begegnung“ dienen soll. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die sich heute aufdrängende Kritik an dieser pädagogischen Begegnung der freundlich-autoritären Art völlig ausgespart ist. Ist es womöglich nur dem Zeitgeist geschuldet, wenn man sich auf das latente Genderproblem konzentriert? Es ist nicht die Länge der Vorrede (bei minimalem Sinn), die lähmend wirkt, in der sich aber schon das Machtgefälle manifestiert, sondern das begleitende Dauerlächeln des Masters und sein auf die junge Pianistin fixierter Blick. Sie hat nichts zu sagen, ja, sie hat nicht mal einen Namen.

Später wird sich zeigen, dass sie glänzend Klavier spielt, wenn man sie lässt, und dies ist überhaupt die Grundlage der scheinbar magisch gelingenden Unterweisung. Das nichtsahnende Publikum darf annehmen, dass die Fähigkeiten erst hier unter dem Zuspruch des väterlichen Magiers aufgeblüht sind.

Natürlich geht es um diese Musik (Haydn C-dur-Klaviersonate 2. Satz). Er ist bewundernswert, wie die Pianistin auf Störungen reagiert, Ab-lenkungen wegsteckt, z.B. bezüglich der Kopfdrehung in die Richtung dessen, der sie korrigieren wird, – wäre die Spiegel-Frage auch gekommen, wenn ein männlicher Könner den lernenden Part innegehabt hätte? – wäre auch dann der Lehrer hinter ihn getreten und hätte ihm überraschend den Kopf „verdreht“?

Was machte Igor Levit sprachlos?

Zu einem interessanten Porträt-Film

https://www.arte.tv/de/videos/092276-000-A/igor-levit-no-fear/ HIER verfügbar bis 21.06.24

Pressetext:

Igor Levit: No fear

Das inspirierende Porträt eines Künstlers auf seinem Parcours zwischen traditioneller Karriere und neuen Wegen in der Welt der Klassik: Der Film begleitet den Pianisten Igor Levit bei der Aufnahme neuer Werke, seiner Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister, mit Dirigent*innen, Orchestern und Künstler*innen.

Igor Levit ist ein Ausnahmekünstler im mitunter etwas gediegenen Universum der klassischen Musik. Seit er auf den großen Bühnen steht, meldet er sich immer wieder öffentlich und politisch zu Wort – eine Überlebensstrategie, die er in seinem Leben und in seiner Musik verfolgt. Er füllt die großen Konzertsäle rund um die Welt und spielt bei Eiseskälte im Dannenröder Forst aus Protest gegen dessen Rodung. Er legt die gefeierte Aufnahme aller Beethoven-Sonaten vor und widmet sich dann Schostakowitsch und Ronald Stevensons atemberaubender „Passacaglia on DSCH“. [ab 38:15 bis 50:20] siehe dazu Levits Video hier und zum Komponisten Wikipedia hier .

Er schlägt die Brücke vom Alten zum Neuen, von der Musik zur Welt, dorthin, wo die Menschen sind.
Der Dokumentarfilm von Regina Schilling („Kulenkampffs Schuhe“) begleitet den Pianisten bei der Erkundung seines „Lebens nach Beethoven“, bei der Suche nach den nächsten Herausforderungen, nach seiner Identität als Künstler und Mensch. Das Kamerateam beobachtet ihn bei der Aufnahme neuer Werke, bei der Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister, mit Dirigenten, Orchestern und Künstlern, bei seinem Eintauchen in die Musik, seiner Hinwendung zum Publikum, diesen unwiderstehlichen Wunsch zu teilen.
Dann bremst Covid dieses Leben unter ständiger Hochspannung von einem Tag auf den anderen aus. Über 180 gebuchte Konzerte werden abgesagt. In dieser Situation des unfreiwilligen Stillstands ist Levit einer der Ersten, der erfinderisch wird und mit seinen allabendlich gestreamten Hauskonzerten eine musikalische Lebensader zwischen sich und seinem Publikum auf Instagram und Twitter aufbaut. Während dieses Prozesses entdeckt er eine neue Freiheit, abseits der Zwänge des Tourneebetriebs, der Veröffentlichungen und der Vermarktung.

Regie: Regina Schilling / Jahr: 2022

Ab 55:22 Blick auf Salzburg / er beginnt, dem Kollegen Markus Hinterhäuser (Intendant der Salzburger Festspiele) von Keith Richards zu erzählen (Muddy Waters), und der andere erwähnt (allzu beflissen?) die Traurigkeit Chet Bakers. Gut seine kurze Bemerkung über die Oboe /diese Vergeblichkeit der Imagination, die manche Klavierlehrer einem auferlegen… bis 58:07

Nachhilfe in Sachen Blues

↑ siehe bei 4:24 (Muddy Waters)

Diese Beispiele dienen nicht nur der Exemplifizierung dessen, worüber kurz die Rede war, sondern auch der Nachprüfung, was davon übrig bleibt, wenn man es in extenso hört. Stimmt das Erinnerungsbild oder sollte man Vorsicht walten lassen? Das ist keine rhetorische Frage, die Antwort kann auch lauten: nein, ich sollte diese Musik auf jeden Fall länger auf mich einwirken lassen, und selbstverständlich gilt das gleiche für die Beethoven-Sonaten: wenn jemand, der sie studiert hat, beiseitelegen will – etwa um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erleben – ist das etwas anderes, als wenn man ihre Lebendigkeit nie wahrgenommen hat. Die Äußerungen die ein Mensch tut, der so Klavierspielen kann, dass unsereins nur staunt und die traumhafte Fingergerfertigkeit bloß hörend bewundert, darf niemand sonst „1 zu 1“ übernehmen. Und zum Beispiel die Ausdruckskraft eines einzigen Tones von Muddy Waters ausspielen gegen die ersten 25 Sekunden der Sonate op. 110, etwa hier. . .

1 gute Tat zum Jahresanfang (Fuge in D)

(Nicht dramatisch, gehört zu den normalen Vorsätzen)

Diese majestätische Fuge in BWV 850 ist nicht so einfach zu „verstehen“, wie es mir bisher schien, – und dann doch wieder sehr einfach.

Die Fuge in D-dur (BWV 850) aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, – die Kroll-Ausgabe, ein anonymes Geschenk 1960 (bereitgelegt in der Berliner Hochschule auf dem Tisch der Garderobe); sie hat sich seitdem bewährt, nur nicht in dieser Fuge, die ich bis dahin aus der Czerny-Ausgabe meines Vaters geübt hatte. Diese neue Version (mit guten Fingersätzen) schien mir insgesamt unantastbar, ich habe sie neu binden lassen und im Laufe der Jahre alle Praeludien und Fugen daraus erarbeitet, gelegentlich auch die Integrität des Notentextes überprüft, – aber hier wollte ich keine Fehler entdecken, – und einfach weiterüben. Die Noten zerfallen allmählich, besonders der erste Teil. Neuer Vorsatz Neujahr 2024: neue Noten, kritische Urtext-Ausgabe mit guten Fingersätzen. Erster Schritt jedoch – Nachbesserung in der seit „Urzeiten“ geübten Fuge in D-dur. Sie ist nicht so einfach wie sie aussieht. Durchführung / Zwischenspiel / Durchführung / Zwischenspiel / „übersteigerte Scheindurchführung“.

Das Praeludium (siehe hier und vor allem hier) ist seit Jahren mein Prüfstein der Fingerfertigkeit, sowohl die rechte Hand allein (Fingersatz!), als auch dieselbe Stimme mit der linken Hand (Fingersatz!), dann auch in Oktaven (langsam). Dagegen erscheint die Fuge wie ein Kinderspiel. – Weit gefehlt. Jetzt erste entdecke ich meine mit Bleistift eingetragene Änderung unten auf der ersten Seite, Verweis auf Czazkes … hatte ich sie für gegenstandslos oder beliebig gehalten? Nein, ich fand es gut, wie hier im Bass die Themenversion des 1. Taktes zitiert (!) wird. „Vor-echo“ des Sopraneinsatzes. Endlich ein Punkt, in dem Czazkes mal nicht recht hat.

Ich gehe noch einmal mit Rotstift an seinen Text, sehe die alarmierende Anmerkung, und selbst die früher nicht geglaubte Analyse der Fuge will mir heute einleuchten, – was für ein Esel ich doch war! (Sogar die schwer lesbare, aber gerade an dieser Stelle gut entzifferbare Kopie des Faksimiles lag mir vor – dank Adlatus Wolfhard Wirtz: Anfang des dritten Systems. Später auch die kleine Taschenpartitur aus Budapest, letzter Takt unten rechts. Ich wollte es nicht sehen! und ließ es ungeprüft.)

Praeludium und Fuge hören:

Die folgenden analytischen Markierungen in der Fuge ( B, S, A = die realen 3 Stimmen Bass, Sopran und Alt, sowie die Durchführungen I,II,III,IV) verdanke ich zum Teil der Lektüre der recht komplizierten Gedankenentwicklung in der Analyse von Ludwig Czazkes, ziehe allerdings Folgerungen, die dort so nicht stehen. Sie entsprechen lediglich den formalen Vorstellungen, die mir beim Spielen hilfreich erscheinen. Z.B. der Hinweis auf die Mitte, der die Bedeutung des oben behandelten Oktavsprunges ins Licht hebt und auch der Sonderstellung der „überlangen“ Durchführung  IV entspricht. (Sie umfasst zugleich eine neue Verarbeitung des Zwischenspiels und eine gesteigerte „Reprise“ des Bassthemas in der Grundtonart.) Darüber wird noch zu reden sein.

Czazkes macht mit fremden Analysen meist kurzen Prozess, und meistens hat er recht:

Nachdem ich eingesehen habe, dass im Bass des Taktes 13 der Oktavsprung ein bemerkenswertes Signal darstellt (Mitte) – auch:  dass hier die Durchführung IV beginnt, obwohl dadurch die Durchführung III „zu“ kurz wirkt – auch: dass das „Vor-Echo“ in Takt 13 dem in Takt 11 entspricht -, erkenne ich auch, dass es nach der Themen-Folge der Durchführung IV (mit Kadenzerweiterung in Takt 16) einer bemerkenswerten Kraftanstrengung bedarf, den mit Hilfe des Zwischenspielmotivs gestalteten Höhepunkt der Fuge (Takt 24 +25) aufzurufen: sie ist markiert durch die Interjektion des Dezimsprungs im Sopran Takt 17, der den Oktavsprung im Bass des Taktes 13 überbietet und: eine Phase himmlischer Ruhe einleitet, indem er zugleich das Zwischenspielmotiv (aus Takt 9) in der Basslage anheben lässt…

Warum der Ausdruck „überlange“ Durchführung IV? So wie das Zwischenspiel, das den Takten 9 und 10 folgte, zu den Durchführungen I und II gehört, so gehört die Wiederkehr in den Takten 17 ff zu dem Gespann der Durchführungen III und IV, gewissermaßen (wie Czazkes andeutet) mit überzähligem Bass-Einsatz in Takt 24. Man kann in diesem Höhepunkt natürlich auch die krönende Coda der Fuge sehen!

Zu beachten der (revolutionäre) Quartaufstieg im Bass: H – E – A – D – G → , Fortsetzung folgt, ich möchte glauben, mir vertraut seit … wieviel Jahren?

Quelle Ludwig Czazkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers, Form und Aufbau der Fuge bei Bach, Wien I: 1956, II: 1956 (unveränderte 2.Auflage Wien 1982)

Vorsätze beim Üben der Harfen-Etüde

Sie gehört zu den Etüden, die mich mein Leben lang begleitet haben. Mein Vater spielte sie (er hatte kleine Hände, vielleicht wie Barenboim, wir hörten kritiklos bewundernd zu, und wir versuchten es früh selbst, weil die erste Zeile leicht scheint, natürlich mit beiden Pedalen und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich erstand 1960 in Ost-Berlin die eigenen 10 Chopin-Bände der Paderewski-Ausgabe, übte in den frühen 70er Jahren „in der alten Wohnung Querstraße“ alle Etüden, die ich schon teilweise auswendig konnte, diese erstmals mit genauer Rhythmik, also auch 4 : 6, auch mal ohne vertuschendes rechtes Pedal, stolz, einsam pfuschend, dann des öfteren als Fingerpräzisionsübung in den 90er Jahren, und jetzt im „Projekt Neuanfang Technik“, sehr genau, unter Verzicht auf jedwede Schwelgerei. Daher schließlich diese YouTube-Sammlung – ohne lang zu suchen – einfach, um nachzuprüfen was andere machen, wo sie „im Ernstfall“ auch versagen oder gar keine Probleme zu kennen scheinen. Ich meckere nicht, ich objektiviere meine eigenen Fehler williger, – zugleich bin und bleibe ich natürlich ein recht kleines Licht am Klavier.

Was mir an der damals handschriftlich vorangestellten Schumann-Charakteristik besonders gefallen hatte, war der Hinweis, dass „in der Mitte […] neben jenem Hauptgesang auch eine Tenorstimme aus den Akkorden“ deutlich hervortritt. Ich habe sie immer beachtet, gleichwohl immer falsche Töne gespielt, sowohl in der rechten Hand Takt 15 und 16 als auch in der linken Hand Takt 16 und Takt 20 (Daumen!). Diese Stelle hören Sie im 4. Beispiel (mit Notentext) ab 0:39 bis 0:59. Bitte noch weiterspielen bis zur – für mich seit der Kindheit – schönsten Stelle bei Eintritt des Taktes 29 genau auf 1:18.

Eine Live-Aufnahme, mit deren Veröffentlichung der einst hervorragende Pianist nicht zufrieden sein kann. Empfindlich falsche Töne in Takt 12 zweite Hälfte, und in der oben erwähnten Stelle, wo eine Tenorstimme aus den Akkorden hervortritt (Takt 17 bis 20): Daumen-Motiv Fehlanzeige. Takt 28 zweite Hälfte in der linken Hand verfehlte Töne. usw. all das kann passieren, sollte aber nicht als  (geglückter) ‚Musical Moment‘ des Meisters präsentiert werden.

Zu schnell, zu brillant, fast kein ritenuto in Takt 24, dafür Takt 25 vierte Zählzeit falscher Bass-Ton, falscher Akkord auch vor dem Klimax-Ton im Takt 34, was man dank ungewöhnlicher  Kamera-Perspektive gern überhört, aber dann die anmutige Körpersprache, wenn auch weiterhin im allzu strengen Tempo in die Schlussphase. Ruhe erst im abschließenden Basstriller plus Arpeggio-Akkord, was in anderen Aufnahmen eher verlegen wirkt. Selbst in der folgenden Aufnahme mit Rubinstein, der das Tempo des Stückes ähnlich strikt auffasst, aber sich Zeit lässt für wunderbare Rubati und in den Akkord-Arpeggien der Coda ein hinreißendes Leggiero-Spiel zeigt.

Es folgt Maurizio Pollini (von wann?), überzeugend die Begleit-Arpeggien, kein Mulm, klares Tempo mit dezenter, aber zwingender Agogik

Jetzt wird’s mehr al-fresco. Sympathisch, aber zuviel Gefühl, unzuverlässige Technik. Tenorstimme ziemlich deutlich, Takt 27 vierte Zählzeit mulmig (Angst vorm Blättern),T.32 auf vier falscher Melodieton (es statt f, das „nachgeliefert“ wird), die 16tel kommen mehr als eilige Tontraube mit Anspring-Pause vor Melodieton. Groteske Hörfehler in der englischen Nachschrift des Textes (2mal Schann statt Schumann, singer statt finger) – Leise und sehr zart üben, ohne Pedal? damit man bei Hinzuziehung des Pedals keine Einzeltöne mehr hört? halbe Tastentiefe? [aber kein Ton darf ausfallen!] „Illusion eines  Legatos“ (spielt Melodietöne mit Bleistift und Pedal). Aber nun zu dem Takt 8, in dem er das Anspiel der Etüde abbricht (17:14, es begann bei 16:46), und ich meine diese Zeile mit Takt 7 und Takt 8 (vorm Umblättern), genauer: die linke Hand in Takt 8, die auf dem tiefen ES landet und trotzdem mit dem Daumen wenig später als Spitzenton den Ton DES erwischen soll. Tut sie das? (wir können die Hand beobachten). Die beiden Daumen rechts & links müssten sich kreuzen….

davon später mehr.

Die Schumann-Besprechung der Chopin-Etüden hatte sich schon mein Vater vorgemerkt, aus seinem Buch (Auswahl Paul Bekker 1922) sei sie hier wiedergegeben (samt inliegendem Merkzettel):

Zum Takt 8. Mir scheint das schwierig, und ich überlege, ob ich die Daumentöne links= DES und rechts= B nicht einfach vertauschen darf, und mir eine fast unvermeidlich heftige Hilfsbewegung des linken Unterarms sowie die unfallträchtige Kreuzung der beiden Daumen sparen darf. Ich kannte einst Pianist_innen, die in diesem Punkt skrupellos waren, aber – sollte Chopin dafür zu dumm gewesen sein? Es ändert sich doch nichts real?  Mein Gegenargument wäre: die Aufwärts(hilfs)bewegung des linken Arms soll ein Bewusstsein für die Sonderstellung des Moments schaffen, ein winziges technisch bedingtes Zögern, das „von selbst“ einem musikalischen Ritenuto, das nicht befohlen wird, Raum gibt. Wenn es sich gut anfühlt, ist es auch schön. (Etwas anders liegt der Fall Takt 33/34 .)

Was sagt das irgendwo von Chopin gegebene poetische Bild (Schäfer, der aus dem Stall das ferne Geräusch von Winde und Regen hört und dazu die Melodie auf der Flöte spielt) über die Ausführung des Stückes? (21:45)

Ab 23:25 die schöne Mittelstimme (genau genommen Alt und Tenor). Dann über „the goal“ der passionierten Entfaltung – wie er die Hände öffnet – so sind sie geöffnet beim Spiel der Begleitung, die Finger weit gespreizt (ist das die Idee?). Das Spiel des Überreichens und Zurückziehens beim Präsentieren eines Geschenkes. Und dann: alles Erzählte vergessen. Er macht vor, wie es chromatisch weitergehen könnte, wenn man der unbewussten Tendenz nachgäbe. Höher und höher. (Gut gedacht.) Und beim dritten Mal „I love you“. Er meint die Verwandlung nach Von As- nach A-dur. Aber: Down completely down“ – doch er bemerkt nicht die Funktion des einen viel später erfolgenden Akkordes, der dies z.B. zu meiner Lieblingsstelle macht. Nach der Climax! „little down“ (genau beim Blättern 31:24). Ich denke einen Moment an Beethoven, der diese Wirkung zuerst entdeckt und „inszeniert“ hat.

Beethoven V, 2 Takt 12

(Unser Pianist dagegen denkt schon an „another Climax“, was auch im Sinne des Spannungsverlaufs o.k. ist). – – – 32:29 Coda –  da fehlt die reminiszierende Tenor-Nachahmung Daumen… Hinweis auf „Exercise“ der Arpeggien, die fälschlich leicht erscheinen, –  „magic“? (sie sind bei ihm auch „löcherig“,  mit falschen Tönen durchsetzt und zu laut). Ab 34:15 nach Atemholen abschließend nochmal alles von vorn.

Ich produziere am zuverlässigsten falsche Töne – hier (ausgerechnet bei der Climax):

*    *    *

Weiter zum nächsten YouTube-Beispiel. Cool! Wie man die technische Seite trainiert (Kämmerling-Schule), vielleicht auch abschreckend; die 16tel-Trauben funktionieren wie ein feines Räderwerk. Gut: Tastatur und Hände von oben gefilmt. Bewundernswert. Vollständig ab 15:15.

(Fortsetzung folgt, siehe zunächst auch hier)

Schubert spielen

Hier sehr guter Interpretationsvergleich in VAN (Arno Lücker) zu:

Schuberts D-Dur-Sonate D 850 Mit Artur Schnabel, Sviatoslav Richter, Emil Gilels, Clifford Curzon, Wilhelm Kempff, Alfred Brendel und Mitsuko Uchida

*    *    *

Außerdem vormerken: https://van-magazin.de/mag/hatto-beyerle/ hier

Wegen des Hinweises auf Primrose und seine Anregung zum Lagenwechsel, den man ignorieren können soll…

aus: Yehudi Menuhins Musikführer

Yehudi Menuhin / William Primrose: Violine und Viola / Fischer Taschenbuch 1982 (1976)

Diabelli gegen Goldberg

Sinn und Unsinn beim Schreiben über Musik

Schlechter Journalismus zu guter Musik hat immer auch ein Gutes: er zwingt uns, nach dem Wesentlichen zu fragen.

Durch Zufall schneite mir die Welt am Sonntag (20. August 2023) ins Haus, ein neuer Goldberg-Variationen-Interpret interessiert mich wenig, wahrscheinlich mal wieder einer, der an Glenn Gould gemessen werden soll… Ach, es geht wohl eher um einen schönen Zeitvertreib in Schloss Elmau? Wenn das Frühstück auf so absurde Weise in den Vordergrund tritt? Ein elitärer Publikumsmagnet? Besonders, wenn man dort eingeladen ist.

Ja ja, das Universum, die Bananen

& der Hotelbesitzer

Mich beleidigt vor allem die eine Banane für Ravel…

Immerhin: auch Beethoven ist eine Zeile wert:

Und dann kommt er ins Schwärmen über Details. „Allein der Triller in der 28. Variation, wie der etwa Beethoven beeinflusst hat! Die Goldberg-Variationen sind das Wörterbuch für alles Kommende.“

So allgemein genommen, wird es ganz falsch. Man lernt Triller in Beethovens eigener Geschichte, und Beethoven lernt bei Bach, was man ganz anders machen kann.

Ein Brief an Beethoven

Wir wissen ja nicht einmal genau, ob Du sie überhaupt kanntest. Ich bin allerdings davon überzeugt. 33 Diabelli-Variationen gegen Bachs insgesamt 32 Sätze – Aria, 30 Variationen, Aria da capo –, das kann kein Zufall sein. Und es sieht Dir so ähnlich: noch einen Satz mehr zu schreiben als der alte Bach!

Deine 31. Variation, das große Largo in c-Moll, scheint ja geradezu Bachs 25., das g-moll-Adagio, heraufzubeschwören in der extravaganten und herzzerreißend traurigen Art, wie die Melodie ausgeziert ist, ebenso wie im Zusammenstürzen des Gesangs am Ende; zutiefst ergreifend, wie alles gleichsam zu Staub zerfällt. Und dass eine Fughetta und eine Fuge unter Deinen Variationen sind, lässt jeden sowieso an Bach denken.

Auf weite Strecken kommen mir Deine Diabelli-Variationen geradezu vor wie gegen die Goldberg-Variationen angeschrieben. Bach schreibt als Thema eine wundervolle Aria, die er so zu lieben scheint, dass er sie am Ende unverändert wiederholt. Du dagegen hältst nicht viel von Diabellis Walzer, dem „Schusterfleck“, wie Du mal schriebst. Aber irgendwann muss es einen Moment gegeben haben, in dem Dir das Potential aufging, das gerade darin liegt, Variationen über ein triviales Thema zu schreiben.

Der ironische Abstand zum Walzer, dessen Zertrümmerung, wird gerade in den zuletzt komponierten Variationen immer stärker zum Ausgangspunkt Deiner Erfindung – stimmt das? Ist der Sarkasmus das, was Dich je länger desto mehr reizte, bei der Stange hielt? Dachtest Du so etwa: „Was habe ich bisher noch nicht ad absurdum geführt – ach ja, der Walzer hat ja gar keine Melodie. Also nehmen wir diese Nicht-Melodie, dass x-mal wiederholte g der Oberstimme und zeigen, wie doof das ist?“

Der Ton mag irritieren, unkonventionell, aber ansonsten: Jeder Satz interessiert mich, da redet jemand von einer Sache, die er versteht! Sofort entsteht der Drang, das hörend nachzuvollziehen, was er meint. Das ist Andreas Staier.

Staier hier im Deutschlandfunk „Lieber Ludwig, welche Rolle spielten für Dich Bachs Goldberg-Variationen?“ Der Cembalist und Pianist Andreas Staier stellt sich in seinem Brief an Beethoven die Frage, welche Rolle Bachs Goldberg-Variationen bei der Komposition von Beethovens Diabelli-Variationen gespielt haben. Hat er sich gar bestimmte Bach‘sche Variationen vorgenommen, um sie zu negieren, gegen sie zu rebellieren? Von Andreas Staier | 25.05.2020

Ludwig van Beethoven: 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli / 33 variations on a waltz by Diabelli in C major, op. 120 („Diabelli Variations“). Andreas Staier – fortepiano. With an improvised introduction by Andreas Staier. [Bis 3:20]

Die einzelnen Variationen!

Chopin Chmiel Polen

Zu den Impromptus

die 4 Impromptus, die ich erst jetzt in Rot nach Entstehungsdaten nummeriert habe. Dabei wurde mir klar, dass mein Lieblingsstück von Jugend her, das Fantaisie-Impromptu, das schlecht beleumundete (von W. Georgi) und wohl auch von Chopin zurückgesetzte, das früheste war. Nun scheint mir, dass der Komponist sich zeitlebens daran erinnert hat und immer wieder die gleichen Momente neu ausgearbeitet hat, zentral ein Melodietypus (?), auf den Tadeusz A. Zielinski aufmerksam gemacht hat. (Früher hieß es, diese Melodiebildung komme vom Vorbild Bellini, – ganz im Gegenteil, behaupte ich!) „Chmiel“ ist sein Stichwort, „Hopfen“, wohl ein Hochzeitslied, bezogen auf die Themenbildung des Fis-dur-Impromptus, die mir rätselhaft geblieben ist, aufs neue, seit ich das Stück zur Wiedergewinnung einer gewissen Virtuosität seit zwei Monaten übe, neben dem in Cis-moll. (Die Noten habe ich – wie fast alles von Chopin – 1960/61 in Ostberlin im polnischen „Pavillon“ erstanden, die Paderewski-Ausgabe.) Vorschlag: höre die polnischen Volksmusikaufnahmen so oft wie möglich, prüfe die Ähnlichkeit, und sei es nur im Gestus… zuerst Bordun identifizieren, dann die wechselnden Melodietöne (Skala?), gerade die mehrfach (wie oft?) wiederholte Phrase mitsingen.

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / 1999

↑ Bordun mit Quinte, Melodie umkreist den oberen Grundton, kein „Leiteton“. Wiederholformel mit gerade diesem Ton (unter Grundton)

↑ Beginnt mit Sprung der Melodie in die kleine Sexte. + Abstieg zum Grundton. + 3-Ton-Formel

↑ Merke: diese Version beginnt nach der Einführung des Borduntones mit dem Intervall der None (wie Chopin in Fis: None Cis/dis)

↑ diese Melodie gleicht vollkommen der ersten Version, aber deutlich langsamer.

Polnische Volksmusik

Jetzt erst habe ich entdeckt, dass auch Jürgen Uhde sich Gedanken gemacht hat über dieses Fis-dur-Thema, wie immer analytisch klug, aber (natürlich) ohne Bezugnahme auf die Volksmusik, insofern doch defizitär. Mein Problem bestand darin, wie ich die Wiederholungsformel der linken Hand gestalte, diese „archaische“ Polyphonie, die auch eine andere dynamisch Gestaltung verlangt oder zu verlangen scheint als die Melodie der rechten Hand, obwohl sie jener doch „irgendwie“ nachgeformt ist. Aus früheren Jahren liegt in den Chopin-Noten noch ein Relikt meiner schriftlichen Versuche, dem Stück näherzukommen, der harmonischen Fortspinnung – letztlich ergebnislos. Jedenfalls was die dynamische Gestaltung angeht. Nebenbei rätselte ich über die Beziehung dieser Melodie zu der im Mittelteil des As-dur-Impromptus, dort in F-moll (rechte Seite).

JR Versuche

↑ So beginnt der – wie immer – nachdenkenswerte Hinweis bei Jürgen Uhde / Renate Wieland („Denken und Spielen“ s.a. hier), dessen einziges Manko ist, dass er zu keiner Assoziation mit der polnischen Volksmusik führt:

  Ein wesentlicher Zug scheint mir, dass der 3. Takt der Oberstimme linke Hand den Takt 9, also den 3. Takt der Melodie rechte Hand wörtlich vorwegnimmt, also „ankündigt“, und dass diese Formulierung in den folgenden Takten 10 und 11 der linken Hand wiederholt wird, um erst in Takt 12, nachdem die Oberstimme zu Ruhe gekommen ist, in einen Halbschluss zu führen. Es ist diese Windung der Töne, die in den 4 Impromptus immer wieder tonangebend ist, so in diesem Impromptu für die sich erweiternde technische Formel leggiero ab Takt 82 (wo man oben in der linken Ecke auch sieht, wie oft ich in meinem Leben mich schon dran abgearbeitet habe).

Es ist die gleiche Formel, aus der er einst das ganze Fantaisie-Impromptu entwickelt hatte, inclusive Cantabile-Mittelteil, dessen herrliches Thema offensichtlich auch mit dem des Fis-dur Impromptu zusammenhängt, während diese „technische Formel“ natürlich auch im Anfang der restlichen zwei Impromptus steckt. (Im folgenden Beispiel 4 Kreuzchen als Vorzeichen mitdenken!)

Zurück zu meinem Versuch betr. F-moll-Mittelteil im As-dur-Impromptu (oben): etwas Entscheidendes habe ich nicht bemerkt. Oder zähneknirschend hingenommen. Die widersinnige Begleitung der linken Hand. Ich hätte mich anders entschieden, wenn ich schon Grzegorz (Greg) Niemczuk’s Erläuterung gekannt hätte. Hören Sie ihn (von vorn und dann besonders) über die von mir abgeschriebene Stelle, ab 8:32, dann vor allem der Schluss, die Kurzformel vom Abschluss des ersten Teils (Takt 31-32) und die fragmentarische Wiederkehr (Abschied) des Mittelteil-Themas (in meiner Abschrift die Melodietöne Takt 2 bis 5 g – as – b – c):

 

Ich finde es wunderbar, wie er beim Spielen und im Demonstrieren erzählt, was in der Musik geschieht, ungeachtet der Fehler, die ihm unterlaufen. Er analysiert nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein wacher, übersprudelnder Musiker. Er denkt nicht daran, uns eine sauber geschnittene Beispielsammlung zu präsentieren, ihm liegt es am Herzen, seine Begeisterung für die Komposition auf uns überspringen zu lassen. Das finde ich unbezahlbar! Ich wollte, mein Vater hätte so mit mir über Musik gesprochen, statt dem auf „stumm“ präparierten Flügel endlos seine Fingerübungen und Rolltechniken abzuringen. Mittagsruhe! Aber immerhin: er spielte die E-dur-Etüde auf Familienfesten, klangschön wie einen Gesang, und den weitgriffigen chromatischen Höhepunkt mit allen Tönen (trotz seiner kleinen Hände). Falls ich das damals beurteilen konnte!

(Fortsetzung folgt)

Um mein Lob etwas zu relativieren: ich glaube im Fall des „Chmiel“-Impromptus war „Greg“ auf dem falschen Dampfer. Doch davon später…

Noch vormerken: Mazurka op. 68, Nr.3 https://www.chopinvillage.eu/ hier oder hier

Kritik kritisieren?

Das ist im Mediengeschäft nicht nur erlaubt, sondern dringend geboten

Denn: da steht nicht einfach Meinung gegen Meinung, und alle haben recht (Recht), Stichwort Meinungsfreiheit. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, sind aber deshalb noch längst nicht gleichermaßen richtig. Und sind auch nicht alle gleich „wirkungsmächtig“. In den Medien zum Beispiel sitzt man einfach am längeren Hebel und kann auch großen Künstler:innen – auf der bloßen „Meinungsverbreitungsebene“ –  realen Schaden zufügen. Denn diese Ebene unterscheidet sich oft kaum von der normalen „Gerüchteküche“ oder vom „Stammtisch“, wo jede/r als wichtig weitergeben kann, was er irgendwo aufgeschnappt hat oder was ihr gerade so eingefallen ist.

Ich stelle mir auch schon mal vor (habe es sogar miterlebt), wie eine hochverdiente Lehrkraft versucht, einem Violinschüler die Kunst der Melodiegestaltung zu vermitteln, und dieser beginnt sofort zu entgegnen: Das sehe ich anders, ich würde hier kein Crescendo machen und dort deutlicher absetzen und dergleichen mehr. Unvermeidlich: in einer solchen Situation kann es nur eine Autorität geben und keine Diskussion. Da gilt das Wissen, die künstlerische Erfahrung, die Fachkompetenz.

Ein Beispiel, das mir gestern begegnete: da ich weiß, dass Andreas Staier (endlich) Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ eingespielt hat, und da mir auch bekannt ist, auf welchem Niveau er seit Jahrzehnten spielt, bin ich ganz Ohr, wenn er plötzlich im Autoradio zum Thema wird. Es kann mir nicht darum gehen, sein Angebot wie die Leistungen einer Küchenmaschine zu überprüfen: ich bin bestenfalls ein Lernender. Selbst wenn ich seit 50 Jahren selbst das „Wohltemperierte Klavier“ spiele, brauche ich Zeit und Geduld, um erfassen zu können, was ein wirklicher Meister in den zahllosen Winkeln dieses unerschöpflichen Werkes erkundet hat und wie er es zum Klingen bringt. Und weiß, dass in 5 Minuten Sendezeit davon nichts, aber auch wirklich nichts an ein – vielleicht nichtsahnendes – Publikum übermittelbar ist: nur ein Hauch, und der Wunsch, sich damit weiterzubeschäftigen. Was mich aber überhaupt nicht interessiert, ist die unbedarfte Meinung einer einzelnen Person, die sich durch keinerlei Privilegien auszeichnet außer dem Recht, sich öffentlich zu äußern, – als habe man Triftiges zu sagen, sobald man die Plattform hat. Die fortlaufend eingestandene Subjektivität („ich, ich, ich“) gibt keinen Freibrief, Plattitüden zu verbreiten. In den öffentlichen Medien müsste sogar eine Fachredaktion das Schlimmste verhindern. So war es früher. Nicht anders als in politischen Sendungen, die ja kein Übungsplatz für Auszubildende sind, sondern für Profis, die ihr Handwerk gelernt haben: und das besteht nicht zu allererst in ungehemmter Meinungsproduktion, sondern in der klaren mündlichen Darstellung mühsam erworbener Sachkenntnis. Man nennt es auch Studium.

In aller Kürze: Ein negatives Beispiel HIER 5:11

31.01.23 Titel: Herausfordernd: Das „Wohltemperierte Klavier“ mit Andreas Staier

ZITAT

… auch wenn ich mir sicher bin, dass Staier aus guten Gründen bestimmte Register gewählt hat, ist das für mich aus klanglicher Sicht wenig nachvollziehbar. Das hört sich spitz an, intonatorisch unsauber und klingt fast wie ein Handy-Klingelton (Musik: 3:35 bis 3:49 aus Fis-dur-Praeludium). Mit seiner Phrasierung kann Andreas Staier mich auch nicht immer überzeugen. Einige Melodiebögen schwirren wie aufgeschreckte Insekten umher, dann setzt er wieder Noten scharf voneinander ab, wodurch Phrasen aber löchrig werden. Andere Stücke aber wiederum spielt er so erzählerisch, manchmal meditativ, oder mit packender Dramatik, wie ich sie noch nie vorher gehört habe. Das ist herrlich! (Musik: 4:14 bis 4:28). Was mir sehr gefällt, ist, dass der Zyklus bei Staier trotz historischer Aufführungspraxis nicht staubig klingt. Er lässt die Musik erfrischend und fröhlich aus seinem Cembalo sprudeln (Musik sprudelt von 4:37 bis 4:42). Das Album lässt mich mit zweigeteilter Meinung zurück. Technisch (usw.usw.) …

Ich benote die kritische Leisung (JR): unbedarft bis kleinkariert, ahnungslos, klippschülerhaft. Ungenügend (6).

Empfehlung an die Autorin: nicht nur die gerade zu besprechende Ton-Aufnahme mit den persönlich festgebrannten Vorurteilen abzugleichen (Aufführungspraxis = staubig), sondern zum allerersten Wissenserwerb auch mal das Booklet der CD lesen! Ich vermute, dass darin sogar die Tonart Fis-dur behandelt wird. Ebenso wäre zu erfahren, was es wohl mit dem Begriff „wohltemperiert“ auf sich hat. Oder man fragt vorher mal in der Redaktion, ob es dort Geschriebenes über Musik auszuleihen gibt. Hörer/innen hätten behauptet, man könne als Dilettant/in nicht alles aus den bloßen Tönen erfahren, was man zu lernen versäumt hat.

*    *    *

Und ein positives Gegenbeispiel: HIER (mit Skript, leicht abweichend vom gesprochenen Wort) Sehr kurzer, bildkräftiger Text, dafür instruktiv lange Beispiele (E-dur-Praeludium !!!) 4:43

13.01.23 Bachs Wohltemperiertes Klavier mit Andreas Staier

ZITAT

Andreas Staier, Experte für historische Aufführungspraxis, hat die 24 Präludien und Fugen des ersten Teils des „Wohltemperierten Claviers“ konsequenterweise auf seinem Cembalo eingespielt. Staier ist bekannt für seine ebenso fundierten wie mutigen Interpretationsansätze. SWR2-Kritiker Thilo Braun ist beeindruckt von Staiers „so empfindsamem wie technisch brillantem Spiel“.

Wie eine alte metallene Spieluhr schnarrt das E-Dur Präludium in Staiers Interpretation. Immer wieder verblüfft es, was für unterschiedliche Klänge Staier aus dem Cembalo zaubert. Einerseits durch die Wahl der Registerzüge und Manuale, andererseits durch seine abwechslungsreiche Artikulation. Er verharrt genüsslich in dissonanten Spannungen, wechselt im Akkordspiel zwischen eleganten Arpeggien und kantigen Brocken, garniert seine Melodien geschmackvoll mit Verzierungen.

Herrlich, wie sich rechte und linke Hand gegenseitig die Melodien zuspielen. Staier verwandelt das mathematische Konzept auf dem Papier in eine sehnsüchtige singende Fantasie. Trotz Ruhe tritt die Musik dabei niemals auf der Stelle, sondern spinnt sich natürlich und elegant, ja wie von selbst, vorwärts.

Man beachte, wie am Ende das in beiden Rezensionen gebrauchte, emotional gedachte  Wort „herrlich“ seine Glaubwürdigkeit verspielt bzw. gewinnt.

Natürlich weiß man nach beiden Rezensionen, dass 5 Minuten Sendezeit für die Vermittlung einer qualifizierten Musikerfahrung nicht ausreichen kann, aber im ersten Fall wendet man sich verärgert wichtigeren Themen zu, im zweiten Fall überlegt man, – egal wieviel Gesamtaufnahmen davon man schon besitzt – ob man nicht baldmöglichst auch diese erwerben sollte. Ein vorläufiger Ausweg: man hört die 24 Beispiele des Überblicks unentgeltlich bei jpc: hier

Ausblick

Mehr über den Interpreten?

Andreas Staier – Pour passer la Mélancolie…

hier hier Andreas Staier in Wort und Ton: Vimeo HIER

„Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“ Mit dieser Frage beginnt ein Aristoteles zugeschriebener Traktat. Die Lehre von den Vier Temperamenten (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker) assoziiert den Melancholiker mit höchst unterschiedlichen Phänomenen: dem Planeten Saturn, dem Herbst – auch dem Herbst des Lebens -, der Dämmerung, der Kälte, dem Geiz, aber auch dem Genie, der Geometrie und dem grüblerischen Tiefsinn. In größter motivischer Verdichtung fasst Dürer diese Vielfalt in seinem berühmten, rätselhaften Stich „Melencolia I“ von 1514 zusammen. „Du siehst, wohin Du siehst nur Eitelkeit auf Erden.“ Die Eröffnungszeile des bekannten Gedichts von Andreas Gryphius kann als Motto gelten für eine spezifisch barocke Interpretation des Melancholie-Themas. Vanitas-Darstellungen gehören zu den Lieblingsthemen der Maler: Eine blühende junge Frau betrachtet mit gesenktem Haupt eine verglimmende Kerze (Georges de La Tour), eine andere hält einen Totenschädel in ihren Händen, über den sie einsam versunken meditiert. Ihr Gesicht liegt im Schatten, im Hintergrund ist eine Ruinenlandschaft zu erkennen (Domenico Fetti). Mein Programm widmet sich den musikalischen Umsetzungen der Vanitas im Frankreich und Deutschland des 17. Jahrhunderts. Das Tombeau (Grabmal) und die Plainte (Klage) sind typische Gattungen der französischen Lautenmusik, die Eingang ins Repertoire der Cembalisten fanden. Der style brisé, der arpeggierte Stil der Lautenisten, wurde durch Jacques Champion de Chambonnières und Louis Couperin auf das Cembalo übertragen. Das sanfte Brechen der Akkorde, das Innehalten, Zögern, Untertauchen der Melodie standen von vornherein der Affektlage des Lamentos nahe. Der Stillstand, das Aussetzen der rhythmischen Kontinuität, des Pulses rücken diese Musik schon satztechnisch in die Nähe des memento mori. Meditative Räume öffnen sich, die Stille, Leere oder Einsamkeit symbolisieren; Sterbeglocken läuten. Umgekehrt stehen regelmäßige Abläufe oft für das Vergehen der Zeit, das Fließen und Verrinnen des Wassers wie des Lebens, oder für den feierlichen Schritt des pompe funèbre, des Begräbniszuges. Der Topos der Dämmerung und Dunkelheit findet seine musikalische Entsprechung in absteigenden melodischen Linien (Katabasis) oder der Bevorzugung von chromatisch eingetrübten tiefen Lagen. Schließlich können die ostinato-Konzeptionen mancher Chaconnen und Passacaglien ohne Weiteres als Sinnbilder unentrinnbarer Schicksalhaftigkeit gehört werden. – Schon der einzelne Cembalo-Ton kann in seinem Verklingen an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen. Daran erinnert der Antwerpener Cembalo-Bauer Andreas Ruckers, wenn er mehrere seiner Instrumente mit der Inschrift versieht:
„Sic transit gloria mundi“.

© Andreas Staier, 2012 (siehe Website hier)

Nach Einführung: 6:05 / ab 11:36 Staier über die Musik („Verweilen“), ab 15:25 Musik I Froberger (bis 24:55) Moderation Staier, die Fugen von d’Anglebert (Bezg. zu Bach!), ab 27:15 Musik II d’Anglebert (bis 30:08), Moderation Staier, ab 32:20 Musik III Passacaglia Fischer,

Johann Jacob Froberger:
Plainte faite à Londres pour passer la Mélancolie, laquelle se joue
lentement avec discrétion (1652)

Jean-Henry d’Anglebert:
Pièces de Clavecin. Livre premier (1689)

Johann Caspar Ferdinand Fischer:
Musicalischer Parnassus (1738). Aus Uranie sowie Ariadne Musica (1702)

Louis Couperin:
Pièces de clavecin (um 1650)

Louis-Nicolas Clérambault:
Aus 1er Livre de Pièces de Claveçin (1704)

Georg Muffat:
Aus Apparatus Musico-Organisticus (1690)

Mittwoch, 25.06.2018, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Dank an JMR !

Wang‘ an Wange

Wo Beethoven am schwierigsten ist

Zugegeben: es begann mit einem ziemlich albernen Wortspiel, über das ich keine nähere Auskunft geben will. Metaphern der Nähe, einer mimetischen Illusion von Nähe.

Zumindest diese Sonate ist „auf Anhieb“ keine zum Wohlfühlen. Sagen wir, wie die Mondscheinsonate, deren erster Satz – wie alle wissen – durchaus so aufgefasst werden konnte, weshalb man ihn ja auch gern herausgetrennt hat. Ohne den Schock des zweiten Satzes. Im vorliegenden Fall, der Sonate op.31 Nr.3, müsste man sofort zur Operation schreiten: man sollte einmal die Takte 3 bis 6 weglassen, diese Zögerlichkeit, diese Spaßbremse, dann auch 12-15, und alles wäre im Lot. Oder?

Ich weiß, wie es mir in der Jugend ging, als ich mich mit Beethoven nach Noten befasste: ich verliebte mich (so sagt man heute) in das zweite Thema, man muss es auskosten, dachte ich, bloß nicht zu schnell, ich glaubte: dann wird es zickig, in Wahrheit ist es doch so, die Zickigkeit hat der Komponist ja schon vorher eingeführt mit dem vorwitzigen Getriller und mit dem Rhythmus in Takt 20. Ich muss damit leben!

Man kann sich dieser Musik nicht vorbehaltlos hingeben, sie verlockt und stößt ab. Man gibt sich nicht bedenkenlos hin, um im nächsten Moment die Ironie zu durchschauen und witzig zu werden, dann wieder lieb und wieder heftig oder glanzvoll. Hat das mit dem Neuen Weg ztu tun, von dem Beethoven laut glaubwürdiger Zeugenaussage (Czerny) gesprochen haben soll?

Ich denke an mein Jahr 1989, als ich eine Gewalttour durch das Beethovensche Sonatenwerk anstrebte, Vorsatz:  nicht mehr bei Lieblingswerken zu verweilen. Gerade hatte ich die „Mondscheinsonate“ hinter mir (Begeisterung von A-Z), da kam die D-dur op. 28. Ich beschäftigte mich gleichzeitig mit analytischen Interpretationen, Z. B. mit den sehr detaillierten von Jürgen Uhde. Und dann schrieb ich mir über den Beginn der Reprise Uhdes Hinweis, den ich als Ermahnung verstand:

Die Interpretation des ganzen sehr bedeutenden Stückes macht besondere Schwierigkeiten, weil alle pianistischen Sensationen fehlen, weil für einen Virtuosen keine Betätigungsfelder gegeben sind, und weil, wie im späten Werk, man nicht einfach einen eindeutigen Ausdruck anstreben kann.

Ich war am Klavier nie ein Virtuose, obwohl ich mich auch an ein paar Stücken virtuosen Charakters „bewährt“ habe (Schumann, Chopin), auch bei Beethoven hatte ich allerhand Lieblingsstellen, die „nach pianistischer Sensation“ klangen. Trotzdem verstand ich früh, dass es darum nicht gehen konnte. Aber worum dann?

Philipp Reclam jun. Stuttgart 1974,1991

Hat es was mit dem „neuen Weg“ zu tun, der oft beschworen wird, den Beethoven hier irgendwann (?) – wie Czerny berichtet –  eingeschlagen haben will? Vielleicht: weil die Musik selbst zum „Arbeitsmaterial“ wird: nicht nur be-arbeitet wird, sondern auch „zerstört“ wird. Ohne große Friedenspassagen, oder umgekehrt: wenn wie hier der pure Pastorale-Frieden entfaltet wird, für einen langen Satz, der mir beim Üben einfach zu lang wurde. Um so verbissener suchte ich ihn zu entschlüsseln (probates Allheilmittel: Jürgen Uhdes Analyse-Werk, das solche Probleme nicht ausklammert). Und nicht selten flüchtet man sich in Beethovens eigene Aussage, als sei das, was mich befremdet, zugleich das, was er als neuen Weg einschlug. Als hätte ich damit auch nur einen Zipfel von kompositorischer Einsicht erhascht. Ein großer Irrtum! Aber nicht nur ich irre mich.

Was konnte Czerny wissen?

Quelle Joel Shapiro in: „Beethoven. Interpretationen seiner Werke“ / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 / Bd. I Seite 259-263.

Wie ich drauf kam (durch Widerspruch):

https://www.3sat.de/kultur/musik/klavierabend-yuja-wang-100.html

HIER (abrufbar bis 13. Februar 2023)

Beethoven ab 36:29 bis 53:06 / Brahms ab 1:11:42 / Gluck: Zugabe ab 1:19:10

2.Satz ab (Appl.! ab 42:52) 42:58 bis 46:42

3.Satz ab 46:24 bis 49:26

4.Satz ab 49:26 bis 53:06

Und nun: alle folgenden Anfänge bzw. ganze 1. Sätze studieren und vergleichen:

Gilels HIER

Rubinstein HIER

Backhaus (1969) HIER

Gould HIER nur 1.Satz

Barenboim Hier

Brendel Hier u HIER

Gulda Hier

Exposition bis kurz vor zweitem Thema

Die Lösung:

Levit https://www.youtube.com/watch?v=6rYm7NTv-kU Hier

Die Einzelsätze zum sofortigen Anspielen: 1)0:17 2) 7:29  3) 11:58 4) 15:21

Die (?) oder besser: eine Lösung, die mir sofort einleuchtet. Im zügigen Tempo, zielgerichtet, ohne geschmäcklerische Verzögerungen.

Zur Relativierung der eigenen Eindrücke wiederum sehr gut: die Podcast-Analyse Hier

https://www.br.de/mediathek/podcast/der-klavierpodcast-mit-igor-levit-und-anselm-cybinski/die-hochfliegende-musik-gewordene-glueckseligkeit-18-32/1795115