(ein im April 2016 begonnener und am 29.09.2020 abgebrochener Beitrag, hier unverändert wiedergegeben)
Ich erinnere mich, wie es mich einst zum Widerspruch reizte, bei Adorno zu lesen, es sei beklagenswert, dass man Türen oft nicht mehr behutsam öffnen und schließen könne, also mit einer Klinke, sondern nur noch mit einem Knauf, der das bloße Auf und Zu mit einem Klick bestätigte. (Mit Sicherheit war es anders formuliert.) Für mich war klar, das es unterschiedliche Knäufe gibt oder geben könne, also auch solche mit einem Spielraum, der mit Feingefühl und Muskelsinn durchmessen werden kann.
Wie dem auch sei: eine Serie von Klicks auf die Schreibtastatur ist etwas anderes als ein sorgfältiges Abfahren der Buchstaben eines Wortes mit einem Füllfederhalter, der in der Hand liegt und einen leichten, aber dauernden Druckkontakt mit dem Papier vermittelt. Gewiss: „etwas anderes“, aber werde ich deswegen auf die Tastatur verzichten und alle Post per Hand erledigen? Es ist nicht nachzuweisen, dass dies die „menschliche“ Qualität des Briefes erhöhen würde. Das Schreibgefühl in der Hand sagt nichts aus über die emotionale Beteiligung des Schreibenden.
Beim Handhaben eines Musikinstrumentes würde ich natürlich nicht analog argumentieren. Ich würde von der Berührung der Saite reden, dem Unterschied zwischen rechts und links, der spürbaren Vibration, der Reibung, dem notwendigen Widerstand. Und wenn mir jemand entgegnete, es sei ja schon mit den Tasten des Klaviers oder gar der Orgel ganz anders, könnte ich immerhin noch auf die psychologische Wirkung des Tastenkontakts verweisen: so lange ich die Orgeltaste wirklich niederdrücke, „fließt“ der Ton. Aber gewiss, die Mechanisierung beginnt genau an dieser Stelle. Warum soll es ein ganz anderes Phänomen sein, wenn ich den Tonverlauf in ein System einspeichere und per Knopfdruck abrufe?
Zweifellos ist aber das Thema Berührung, Hautkontakt, Sinnlichkeit en vogue, wobei viel für die Wahrscheinlichkeit spricht, dass es in Wechselwirkung mit dem Thema Mechanisierung und Virtualisierung steht. Man kann sich zunächst kundig machen, indem man die entsprechenden Stichworte googelt, beginnend etwa bei Wikipedia mit Berührung, fortfahrend mit Körperkontakt oder übergehend zu taktiler Kommunikation. Es ist der Anregung kein Ende, in schlimmen Fällen kann es unvermittelt zu latenter Erregung führen und uns fragen lassen, wo das Subkutane beginnt und wo dann das bloße Körpergefühl sich nicht mehr von der seelischen Balance unterscheiden will. Und was ist nochmal Vergeistigung? Wenn Bilder entstehen? Oder müssten wir nicht bei den Sinnen verweilen, zunächst zwischen Hautsinnlichkeit und den Sinnen des Auges bzw. Ohres strikt unterscheiden, und dann ebenso strikt zwischen diesen beiden?
Der Maler David Hockney erzählte in einem Interview mit der ZEIT:
Hockney: Mich kam kürzlich ein Experte mit einer dieser neuen, großen Virtual-Reality-Brillen besuchen, ich setzte sie auf und sah ein Monster neben mir. Ich hätte das Monster gerne berührt, aber ich hatte keine Hand mehr. Man hat in dieser Virtual Reality gar keinen Körper. Das ist fatal. Und auch lachhaft, das ist keine Realität. Aber diese Technik ist eine gute Erfindung für die Welt der Pornografie, da will man große Busen und große Ärsche sehen. Für Pornos braucht man Volumen. Ich wüsste jedenfalls, wie man einen guten Porno in 3-D drehen würde.
ZEIT: Ihr nächstes Projekt?
Hockney: Vielleicht! Aber das Problem mit der Virtual Reality ist auch noch ein anderes. Wo bleibt die gemeinsame, die geteilte Erfahrung? Fünfhundert Jahre lang war die Kirche der Hauptlieferant für Bilder. Wenn man Bilder sehen wollte – und das wollten die Menschen schon immer –, dann ging man in die Kirche und traf dort auf andere Menschen. Die Bilder in diesen Kirchen wurden damals als so lebhaft empfunden wie später die Filme. Als die Massenmedien erfunden wurden, folgten die Massen den Bildern und verließen die Kirche. Aber auch Kino und Radio waren noch wie die Kirchen geteilte Erfahrungsräume. Heute aber hat jeder seinen eigenen Bildschirm, die geteilte Erfahrung verschwindet. Stars waren im Jahrhundert der Massenmedien jene Menschen, die man auf Bildschirmen und Leinwänden sah. Heute sehen die meisten auf ihren Individualbildschirmen nur noch die eigenen Freunde.
ZEIT: Der berühmte Satz von Warhol, dass in der Zukunft jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein wird, stimmt nicht mehr?
Hockney: In der Zukunft wird wahrscheinlich niemand mehr berühmt sein. Man wird die Massen nur noch schwer erreichen können, denn die Öffentlichkeit ist aufgesplittert. Dadurch kann man sie auch nicht mehr so leicht kontrollieren. Goebbels hätte es heute schwerer. (er zündet sich eine neue Zigarette an) Ich weiß übrigens, warum es in Deutschland viele Raucher gibt. Zwei Gründe, zwei Personen: Helmut Schmidt, der ständig rauchte und erst mit 96 Jahren starb. Und Adolf Hitler, in dessen Gegenwart Rauchen nicht erlaubt war. Die Nazis starteten die erste Anti-Raucher-Kampagne, das erklärt doch alles. (er lacht)
https://www.zeit.de/2016/18/david-hockney-portraets-ausstellung/seite-3