Archiv für den Monat: April 2022

Aronstab

Warum Giftpflanze des Jahres 2019?

Ich kenne ihn im Garten seit mindestens 20 Jahren und verschone ihn (wie alles andere) , weil mir seine Blätter gefallen. Auch seine kostbar wirkende Blüte und sein Stab. Die Pflanze fühlt sich offensichtlich wohl an diesem Platz und kehrt immer prächtiger wieder. Ich werde sie das Jahr über im Auge behalten.

Wikipedia Aronstab hier

Warum Giftpflanze 2019 hier

Was gibts noch, wild und doch in Sichtweite und Griffnähe?

Globemaster (im Ernst). „Zierlauch“ Zwiebeln aus Texel 24. und 28. April im braunen Bereich (oben, vorne rechts, die rundliche Frucht, leider nur mein Stiefel). Was ich mir davon erwarte:

9.5. vor allem aber: Insektenfreundlichkeit…

Für alle, die sich wundern, warum ihnen solche Bilder, solche Notizen in einem Blog vorgesetzt werden, – in einer Zeit, die uns zwingt, ununterbrochen an den Krieg (und vorübergehend weniger an die Pandemie) zu denken -, müsste klar sein, dass es mir nicht anders geht als jenen. Die eigentliche (?) Aufgabe liegt neben mir, die Süddeutsche (29.04.), gekauft wegen Habermas. Auch die ZEIT von neulich (21.04. wegen Heinrich August Winkler 7 Mythen über Europa). Es sind nur Nachhilfen, die eine gewisse Eigentätigkeit erlauben, aber im Ganzen so wenig ändern wie Klavierüben, Konzertbesuch oder Gartenarbeit.

   SZ 29.04.22

SZ, dank der „Personen auf dem Fahrgleis“, später dank „Stau der verspäteten Züge vor Köln“ die Dauerlektüre auf der Bahnfahrt Solingen Köln 15.27 hin, nach Konzert Gleis 1 ab 22.52 zurück

Schlaflabor notiert (Alexander Schubert wg. Hegel, = nicht identisch)  -„Musik Amnesie Gedächtnis“ Das Gras wächst / weiter, erinnere dich – Stefan Fricke (Autor, s. hier). Mein durch Musik geläutertes Gedächtnis suggerierte mir später: das stand was über Ameise und Gras…

Am nächsten Morgen (Verurteilung des Habermas-Artikels – wie erwartet – Solinger Tageblatt)

Für die Aburteilung genügt 1 Satz (wie im Fall Kant, um ihn als Rassisten zu brandmarken, s. Alexander Schubert² betr. Hegel)

Man muss nicht etwa mühsam suchen, um in dem sehr differenzierten Essay von Habermas den zitierten Satzteil zu finden, er springt als Extra-Block in die Augen, aber nur bei einer sorgfältigen Lektüre  entdeckt man ihn im engeren Kontext, der keinesfalls eine tendenziöse Verkürzung gestattet: Habermas warne vor einer Eskalation des Krieges und

beklagt dabei fatalerweise das „ungestüme moralisierende Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung“.

Es geht aber folgendermaßen weiter:

Und man sieht, dass Habermas nicht klagt, sondern denkt.

Um hier den berühmt-berüchtigten Begriff rechtmäßig zu gebrauchen: er denkt dialektisch. Und damit der Sachlage vollkommen angemessen. Man muss nur dem Text genau folgen, die Funktion von Worten wie „Dilemma“ erfassen, die penible Beschreibung der zwei Seiten, ihrer Asymmetrie, der völkerrechtlich definierten Schwelle, der roten Linie, der national oder eher postnational, postheroisch  geprägten Identitäten; bedrängt von der atomaren Drohung, der Konfusion gleichzeitig aufeinanderstoßender, aber historisch ungleichzeitiger Mentalitäten, all das kann nicht logisch in eine pragmatische Formel politischen Handelns münden. Es gibt keinen Ratschlag, keine leichtfertige Schlagzeile, keine „gordische“ Lösung. Daher kann es auch keinen kernigen Abschluss dieses Essays geben, sondern nur einen vagen Ausblick:

Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.

Quelle Süddeutsche Zeitung 29. April 2022 Jürgen Habermas: Krieg und Empörung / Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

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Weiteres zum Ukraine-Krieg HIER  (Dank an JMR)

Pressetext hr

Es wird Frühling. Und es ist Krieg. Der Zwiespalt ist kaum auszuhalten, sagt die Schriftstellerin Katja Petrowskaja. Sie lebt in Berlin und Tbilisi und blickt aus der Ferne auf die unfassbare Gewalt, auf getötete Kinder und Massengräber in ihrer Heimat, der Ukraine. Juri Andruchowytch ist mittendrin und verliert trotz allem seinen Humor nicht. Die Botschaft der beiden Schriftsteller*innen aber ist klar: Wenn ihr der Ukraine nicht helft, diesen Krieg zu gewinnen, dann kommt der Krieg morgen zu euch! Und was sagt der Historiker? Timothy Snyder analysiert die deutsche Sehnsucht nach historischer Unschuld, die zu schlimmen Fehlern führt – im perversen Versuch, Vergangenheitsbewältigung und Gasgeschäfte zu verbinden. Es sind drei verschiedene Perspektiven auf den russischen Krieg gegen die Ukraine, die Jagoda Marinic in dieser Folge von FREIHEIT DELUXE auslotet. Am Ende steht die Erkenntnis: Das russische Vorgehen gegen das Nachbarland ist zutiefst faschistisch. Das zu stoppen, kann nicht allein die Aufgabe der Menschen in der Ukraine sein. Hier hört ihr: – wie Katja den Frühling in Zeiten des Kriegs wahrnimmt (7:00) – wieviel Normalität im Krieg ist und wieviel Krieg in der Normalität (8:45) – warum wir alle für die Toten verantwortlich sind und warum Appeasement-Politik ein Fehler ist (18:35) – warum für Katja ein Satz von Richard David Precht das Ende des deutschen Humanismus markieren könnte (20:40) – warum die Menschen in Iwano-Frankiwsk scheinbar entspannt mit ihren Hunden spazieren gehen (44:30) – warum Juri mit einer Partisanengruppe auch in den Kampf ziehen würde (59:20) – warum Juri Schriftsteller und trotzdem nicht verrückt ist (1:05:20) und warum der Krieg schon morgen nach Deutschland kommen kann (1:06:20) – wie Deutschland versucht, Gasimporte und Vergangenheitsbewältigung zu verbinden (1:26:00) – warum Timothy glaubt, dass Scholz, Steinmeier und andere deutsche Politiker den Faschismus in Russland nicht sehen wollten (1:31:00) – wie man auf atomare Erpressung reagieren sollte (1:44:00) – und warum die Welt ohne den ukrainischen Widerstand viel düsterer wäre (1:58:20) Ein Transkript der Folge findet ihr hier: https://download.hr2.de/podcasts/freiheit_deluxe/ukraine-spezial-100.pdf

FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinic ist eine Produktion des Hessischen Rundfunks und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

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Zurück in den Garten: Sie wollen wissen, was es mit Arons Stab wirklich auf sich hat? In Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ erlebt man folgende Szene (darüberhinaus könnten Sie in die Bibel nachschauen, wie Aarons Stecken grünte, so im 4. Buch Moses Kapitel 17, – aber das ist eine andere Geschichte):

Quelle Karl H. Wörner: Gotteswort und Magie / Die Oper »Moses und Aron« von Arnold Schönberg / Verlaf Lambert Schneider Heidelberg 1959

Themen vereinfachen

Ernste oder sogar schwere Musik

Wenn man – wie ich – viele Jahre als Journalist gearbeitet hat, der Musik zu vermitteln versuchte, also solche, die einer Vermittlung bedurfte, hat viele Vorurteile zu bedenken. Zum Beispiel, dass es Leute gibt, die sich allzuleicht unterschätzt fühlen. Dann darf man durchblicken lassen: ich selber hab’s nötig, ich übe selbst und will niemanden belehren! Auch nicht, wenn ich unterstelle, dass die allzuviele denken: Musik hat nichts mit Denken zu tun, sie gefällt einem oder sie gefällt einem nicht. Niemand würde einräumen: ich habe nie zuhören gelernt. Da kann man noch so sehr beteuern, dass es bei Musik nicht viel anders sei als bei einer Sprache. Wenn jemand mir sagt: ich liebe den Klang der portugiesischen Sprache, und ich bitte darum, mir eine Fado-Strophe zu übersetzen, so wird man mir sofort genau das entgegenhalten, – was ich auch einwenden würde, wenn es um Musik geht – das Verständnis liegt nicht auf der Hand und kommt erst recht nicht „aus dem Bauch“! Der Gehörgang ist wie ein Nadelöhr. Da genügt allerdings kein (Leit-)Faden, man muss die Worte kennen, auch die Grammatik und die Redewendungen. Und das klingt schon verdächtig nach Arbeit! Womit Musik angeblich nichts zu tun hat. Ist Hören denn keine Tätigkeit? Singen, Klavierspielen, Noten lernen, – verbraucht alldies keine Energien? (Man wirbt neuerdings gerade bei Klassik mit dem Versprechen von Entspannung. Die Seele baumeln lassen! Im Ernst!) Übrigens: ich spreche nicht von Pädagogik, sondern von Lernprozessen erwachsener Menschen. Mündigen Menschen, die bereit sind zu denken. Im ganz normalen Leben.

Sieht so ein Denker aus? Wissen Sie, wer da Modell gesessen hat? Der „französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat.“ (Wikipedia) Was hat sich Rodin dabei gedacht?

Also: wenn ich es den Adressaten zu einfach mache mit der Musik, sind sie auch beleidigt: Wenn ich z.B. nichts von indischer Mystik und tiefen meditativen Erfahrungen erzählen kann, sondern sage: zunächst mal musst du den einen unveränderlichen Grundton wahrnehmen, „für wahr“ nehmen und genau so akzeptieren, wie den ebenen Fußboden im Tanzsaal, das ist die Voraussetzung alles dessen, was an Wundern geschieht. Nein, du kannst nicht mit dem Wunder beginnen. Am besten, du verzichtest ganz darauf. Du brauchst nur den einen Ton, und irgendwann irgendwo, in weiter Ferne, gibt es einen zweiten, ein weiteres Wunder. Aber der eine Ton ist schwer genug, ihn zu singen oder zu spielen, ihn zu gestalten und zu ertragen.

Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Wie die Kinder, – wenn sie laufen gelernt haben, – sie wollen nach kurzer Zeit nicht mehr dafür gelobt werden, dass sie laufen können. Es ist langweilig. Sie wollen einfach irgendwohin.

Ich denke viel an meine Eltern, eine typische Alterserscheinung, nicht wahr? Aber das geht anderen auch so, die viel jünger sind als ich. Ich lese z.B. ein Buch der Musik mit dem Titel „Flammen“ , es betrifft die Zeit von 1900 bis 1918, in der mein Vater heranwuchs; und ein anderes, „Liebe in Zeiten des Hasses“ , 1929 bis 1939, da lernte er meine 13 Jahre jüngere (spätere) Mutter kennen und lieben. Zum Glück hatte er seine Kapellmeisterlaufbahn aufgegeben und ein solides Studium absolviert, das ihn zum Studienassessor machte, ein respektables Wort, das nur wenige Menschen behalten konnten.

Später gab es einen Familienmythos, warum er nicht weiter als Dirigent reüssierte: in Stralsund, Lübeck oder Bielefeld, 20er Jahre, damals – erzählte meine Mutter – kam der Tonfilm auf, das ruinierte die Laufbahn. Der Witz ist nur: wenn man zurückdenkt, – revidiert – , findet man überall solche Mythen, private und kollektive.

Eine bekannte Wissenschaftlerin, Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin von Haus aus, die für ihre erhellenden journalistischen Arbeiten ausgezeichnet wurde, sagte einmal,

„dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt“. Der grelle Scheinwerfer der Aufmerksamkeit habe bei vielen Menschen nur die Illusion erzeugt, etwas zu verstehen: Man glaube, man kenne sich aus, tue es aber nicht, sagte Nguyen-Kim. „Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.“

Wie spricht die Wissenschaft? briefly and succinctly („kurz und bündig“)

DIE ZEIT (s.u.)

Quelle: hier Wikipedia Fauci

Warum also?

DIE ZEIT 21.04.22 Seite 31: Was Experten lernen müssen Ihr Wissen ist gefragter denn je, doch sie dringen nicht durch. Deshalb sollten sie anders kommunizieren als bisher / Von Maximilian Probst und Ulrich Schnabel

Hinter der optimistischen Rede von der Vereinfachung steckt – das entnehme ich diesem ZEIT-Artikel –

die alte, idealistische Hypothese, dass es zur Förderung der Vernunft nur entsprechende Erklärungen brauche, dass sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) am Ende wie von selbst Gehör verschaffe. Doch diese Annahme ist naiv. Denn ausgerechnet die Wissenschaft selbst hat in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal belegt, dass Menschen ihre Urteile und Ansichten von der Welt gar nicht auf der Basis einer gesicherten Faktenlage und guter Argumente bilden. Statt an der Vernunft orientieren sie sich lieber an ihrem Umfeld, an dem, was ihre moralischen oder religiösen Überzeugungen nahelegen, oder schlicht an ihrem »Bauchgefühl«. Wer also mehr Wissenschaftskommunikation fordert, sollte sich zuerst einma mit der Sozialpsychologie beschäftigen.

Ich bin in Sorge, dass Sie mir angesichts so einfacher Tatsachenbehauptungen (und länglicher Fachworte) schon nicht mehr zuhören, daher nur noch der Verweis auf die in der ZEIT angegebenen Forschungen (beginnend mit den Sozialpsychologen Albert Hastorf und Hadley Cantril am Beispiel eines legendären Footballspiels aus dem Jahre 1951).

Mein persönliches Beispiel des Scheiterns ist der Philosoph Hegel (nicht er!!! – das hätten Sie vielleicht der Einfachheit halber gehofft, nicht er scheiterte, sondern ich an ihm).

Als ich gestern gegen 17.30 h im Taxi fuhr, um mein Auto aus der Werkstatt am andern Ende der Stadt abzuholen, drehte der Fahrer das Radio lauter: ich dachte, es sei was Türkisches, las aber auf dem Display RSG (Radio Solingen) Shakira „Underneath your Cloathes“ und unterließ ein weiteres Gespräch, weil ich nicht wusste, ob er den Titel kennt und deshalb lauter gestellt hatte. Oder nur, weil unser Thema nichts hergab. Aus irgendeinem Grund suchte ich jedenfalls abends Shakira auf youtube, genauer: ich wollte wissen, aus welcher Sicht der Song gendertechnisch gemeint war, ich wollte es mir nicht zu einfach machen. Aber doch, es war ganz einfach. Über 72 Millionen Aufrufe, so viele Menschen können nicht irren, oder? Ich erinnere mich an eine Talkshow, in der ein kluger Mann – wenn auch als Laie – über Musik , speziell über Wagner sprach, und ich war erschüttert. (Wenn das so geht, dann darf ich auch über Hegel reden!)

Noch etwas entnehme ich dem oben angeführten ZEIT-Artikel:

Entscheidend für die richtige Kommunikation ist auch die Unterscheidung des »schnellen« und des »langsamen Denkens«, die wir dem Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann verdanken. Das schnelle Denksystem ist intuitiv, automatisch und gefühlsgesteuert, das andere hingegen rational, gründlich und eher anstrengend. Wissenschaftler apellieren fast ausnahmslos an das zweite, »langsame« Denksystem; schließlich entspricht dies genau ihrer Methodik mit Messungen, Theorien und Diskussionen, aus denen sich allmählich ein Konsens herausschält.

Im Alltag hingegen agieren die meisten Menschen im schnellen Denkmodus. Weil wir oft zu wenig Zeit haben, um alle Informationen sorgfältig abzuwägen, verlassen wir uns auf Heuristiken, gedankliche Faustregeln: Aussage, die wir zuvor schon einmal gehört haben, halten wir für glaubhafter als neue (weshalb oft wiederholte Fake News wirken); wir wählen Nachrichten unbewusst so aus, dass sie unsere vorgefassten Meinungen bestätigen – aber halten uns bei all dem selbst für vollkommen objektiv und unbeeinflusst.

Es gibt noch einiges an Stoff, was sich aus dem Artikel lernen lässt, z.B. über das Gegenmodell des „echten Dialogs“, doch ich knüpfe an die Schwierigkeit mit Hegel an, bzw. an unseren Solinger Zeitgenossen, der in der Tat ein Meister der klaren Sprache ist, und vielleicht deshalb auch so ratlos reagiert, wenn es um emotional komplexere Musik geht.

Richard David Precht, der öffentlich zugibt, er sei mit Hegel nie warm geworden, wirft den zeitgenössischen Philosophen vor, sie betrieben bei Hegel eine „Altbausanierung des Geistes“. „Es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Philosophen, die sich intensiv mit KI [sc. Künstlicher Intelligenz] beschäftigen, und ungefähr sieben bis achtmal so viele, die sich mit Hegel beschäftigen.“ Nun ist es wenig verwunderlich, dass ein Verbote-Enthusiast wie Precht mit kritisch-dialektischem Denken und emphatischem Freiheitsbewusstsein vom Schlage eines Hegel wenig anfangen kann. Dennoch hat er in einem Punkt recht, zumindest was die deutsche Hegelianer-Szene angeht. In der Tat wird dort oft philosophische Altbausanierung betrieben.

In diesem Abschnitt gab es einen kleinen Internethinweis, der realisiert werden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=T0EfC3ocAdI HIER

Es ist übrigens kein Digital- oder KI-Muffel, der so schreibt, wie eben zitiert. Die zweite Hälfte seines schmalen, aber höchst anregenden Buches dreht sich um die Antinomie künstlicher Vernunft, Big Data und Überwachungskapitalismus, – hier und da steige ich aus, aber man kann immer wieder aufs neue Anlauf nehmen und sich eines wachsenden Durchblicks erfreuen. Ich glaube, auch den Versuch meines Artikels „Herr und Knecht“ könnte ich heute ganz anders fassen. Dank Alexander Schubert.

Übrigens habe ich den Verdacht, dass Richard David Precht sich nicht um ein angemessenes Hegel-Verständnis bemüht hat, – aber ich besitze weder seine Geschichte der Philosophie, noch habe ich vor sie zu lesen, es sieht mir zu einfach aus, – obwohl ich ihn, wenn ich ihn reden höre, durchaus überzeugend finde – aber meine Hochachtung vor Hegel beruht auf anderen Erfahrungen, die ich etwa bei Adorno (Musik!) „gespürt“ habe: ich weiß, dass es nicht um gute Worte und „common sense“ geht. Und  wenn ich den süffigen Ausdruck „Altbausanierung des Geistes“ höre, weiß ich, dass man bei Precht nicht an der richtigen Adresse ist. Allerdings bin ich auch von den Hegel-Philosophen etwas enttäuscht. Sie helfen mir nicht, wenn ich zum wiederholten Male ratlos in der „Phänomenologie des Geistes “ blättere, weil ich im ersten Teil steckengeblieben bin, und dann stoße ich zufällig auf das Kapitel von der „Schädellehre“ und glaube zu verstehen, wovon die Rede ist und will es nicht glauben:

Und warum hilft mir da niemand, wie im Fall Lavater / Goethe ? Das war 1774 und etwas später, mit Hegel sind wir am Anfang des 19. Jahrhunderts, wir können also nicht die heute allgemein präsente physiologische Wissenschaft voraussetzen. Aber eine Vorwarnung vonseiten der Hegelianer wäre doch angemessen: Zwar war Hegel ein gewaltiger Denker, aber trotzdem kein Stellvertreter des wissenschaftlichen Weltgeistes. Bei Vieweg (siehe im Blog hier) sehe ich den quasi zufälligen Hinweis auf „unangemessen breite Darstellungen“, neben „dunklen und unausgereiften Passagen“, etwa im Fall des ›metaphysischen Epirismus‹ in der Naturforschung (Vieweg S.265):

Auch biographische Episoden nehmen Einfluss wie der Besuch des Schädellehrers Gall in Weimar und Jena sowie die Präsenz von Froerup, eines Adepten der ›Schädellehre‹. Mitunter gingen Hegel die Pferde durch, etwa in der peinlichen Anspielung auf Novalis‘ Erkranken an der Schwindsucht.

Wie kann es sein, dass ich eher zufällig bei einem Hegelianer auf Seite 215 auf den erlösenden Satz zur Qualität der Schädellehre (Phrenologie) stoße???

Unter dem Lemma [Stichwort] der »beobachtenden Vernunft« diskutiert Hegel nicht allein die Perspektive der modernen Naturwissenschaften, die zwar weiß, dass es ihre Aktivität ist, die die Befragung der Natur ermöglicht, diese allerdings als etwas bloß Vorhandenes begreift. Vielmehr diskutiert er auch obsolete Positionen wir die Phrenologie, die mit ihrer grotesken Verwechslung geistiger Eigenarten mit einer Typologie der Physiognomie von Schädeln deutlich macht, dass auf der Ebene der Beobachtung des Naturgeschehens kein angemesssenes Verständnis unserer Rationalität entwickelt werden kann. Die Gestalten praktischer Vernunft, die Hegel dann im Folgenden diskutiert, sind von diesem Einwand befreit. Allerdings gelingt es ihnen nicht, widerspruchsfrei zu einem konkreteren Gehalt des Handelns vorzudringen [usw.usw.]

Na also, mit wieviel mehr Freude folge ich diesem Autor, der freimütig – wenn auch quasi im Vorübergehen – die Defizite benennt, die man als Laie einem solchen, anscheinend [oder scheinbar] allwissenden Vater der modernen Philosophie nicht unterstellen mag. Nur Mut!

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Verlag Berlin 2022. [Zitat Seite 215]

Womit ich nicht suggerieren möchte, dass dieses Buch leicht zu lesen ist. Wenn ich dem Autor gerecht werden wollte, müsste ich diesen Beitrag ins Ungemessene erweitern, um zunächst einen anderen Essay zu referieren, der in dem Band „Gibt es Musik?“ steht: „Zur Dialektik der postkolonialen Kritik“. Was eine schöne Gelegenheit ergäbe, die Brücke zur Epidemiologie zurückzuschlagen, die oben im ZEIT-Artikel mit Anthony Fauci avisiert wurde. Hier geht es um den Musikbegriff und die Tatsache, dass es ihn nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, was uns nicht hindern kann, ihn zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Denn auch der Begriff des Bakteriums ist in einer interkulturellen Betrachtung nicht schon dadurch diskreditiert, „dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturellen Kontext auftaucht.“

Ich wende mich stattdessen abschließend dem Begriff „Kalbfleisch“ zu, der am Anfang und am Ende eines journalistisch gedachten Einführungstextes assoziiert wird und mir als Beispiel der Tendenz zur Vereinfachung einer komplexen musikalischen Thematik dienen kann. Bachs „Kunst der Fuge“. Die hier schon behandelte Version von Reinhard Febel.

Der Clou: er schlachtet es gar nicht. Aber was tut er dann?

Und nochmals abschließend zitiere ich zur CD II Tr. 3 (Kurztext von Andreas Groethuisen):

bei Koroliov (s.u.) CD II Tr.6 u 7

Und – wie Kolneder in seiner komplexesten Arbeit eine neu gedachte Fugen-Version einmal zu einfach sah:

Quelle Walter Kolneder Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Teil I, Heinrichshofen Verlag Wilhelmshaven1977

Nach all den Bemerkungen, abschließend und wieder neu beginnend, erlaube ich mir eine weitere zu meiner eigenen Hörpraxis (eine Übung): ich nehme mir eine andere Klavierfassung der „Kunst der Fuge“ und höre zunächst dieses „Original“, Stück für Stück, dazu jeweils die „Übermalung“ von Reinhard Febel (s.a. Hören hier), parallel sozusagen. Und danach füge ich noch eine letzte Bemerkung an (sonst kann ich mich nicht vom Thema trennen).

Evgeni Koroliov TACET hier

Meine letzte Bemerkung (folgt, liegt noch auf meinem Nachttisch)

Man könnte meinen, zu dieser Musik gehört immer der Ehrgeiz, drei (oder sogar vier) Stimmen gleichzeitig hören zu müssen, ein dreifach geflochtenes, endloses Band. Wobei ich im Moment an den Bestseller „Gödel, Escher, Bach“ gedacht habe, und an die tönende Aufnahme, die von kleinen Pausen zwischen den Sätzen und Tempowechseln durchsetzt ist, von Ausdünnung und Verdickung des Tonsatzes, von den vielfachen Erscheinungsweisen des Themas, – während meine Aufmerksamkeit anders gebündelt oder zerstreut wird, wenn ich die Noten durchblättere, deren Anblick mir etwas bedeutet, obwohl sie einen realen Verlauf wirklich nicht im geringsten ersetzen können.

Ich kann mich aber auch von den meisten Aufgaben befreien und nur alle anderen, neuen Parameter wahrnehmen, während mich zugleich ein imaginärer Strom umfasst und fortträgt, in dem mir nicht die kleinste Welle unbekannt ist.

Sagen Sie nicht: das war vermutlich kurz vorm Einschlafen, nein, nie war ich wacher als in diesem Augenblick.

Liebermann

Bilder einer Ausstellung (Düsseldorf Kunstpalast 22.04.22)

auf dem Weg

wer ist wer? Max Liebermann (Wikipedia)

Unten: Der Bürgermeister war verärgert über die realistische Darstellung.

 

 

Liebermann (Lafer?) im Prunkstillleben

der Schafmaler

Liebermann / Slevogt

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Sommerbesuch im Liebermann Garten 2009

Alle Fotos Handy JR

Aus Wikipedia: Wannseegarten, 1926. Das Spätwerk Liebermanns ist geprägt durch Rückzug ins Private und impressionistische Darstellungen seines Gartens.

2022 Noch ein Rundgang im Kunstpalast – sehen und lesen – HIER

Das Buch von Florian Illies gibt ein unglaubliches Panorama des psychologischen Klimas in der Zeit zwischen den Weltkriegen; ich dachte an meine Eltern, die sich 1937 kennenlernten, an die unguten Gefühle meiner kindlichen Welt, deren Hintergrund der Krieg war, auch an das später so ambivalente Idol meiner Primanerjahre, Gottfried Benn, dessen unheilbare Trauer ich liebte und auf seinen politischen Fehltritt bezog. Aber nichts über Max Liebermann, der den Absturz der letzten Jahre kompensierte, indem er sich in die Betrachtung seines paradiesischen Gartens vergrub. Anders als Victor Klemperer, der in seinen Tagebüchern 1937 auch den Tod des Malers bedachte, kurz und akribisch, wie er Seiten zuvor protokollierte, dass die Juden sich ihrer Haustiere zu entledigen hatten. Eine labyrinthische Lektüre, sowohl hier wie dort. Doppelt gespenstisch, da die Welt gerade wieder aus den Fugen geht.

Florian Illies

Victor Klemperer Tagebücher

Es war sehr unwahrscheinlich, dass in jener Zeit zwei Menschen, die aus entfernten Dörfern im Osten und Westen des damaligen Deutschen Reiches stammten, ausgerechnet im Sommer 1938 in Berlin aufeinandertrafen. Aber wo sonst? Artur R., geboren 1901 in Roggow bei Belgard, und Gertrud A., geboren 1913 in Lohe bei Bad Oeynhausen. Und die letztere hat zeitlebens immer wieder ihre Lebengeschichte rekapituliert und für jedes Kind separat noch einmal.

Der zuletzt genannte ältere Bruder Hans „mit seinem VW Käfer“ war schon arriviert.

In Greifswald wurde 1939 Bernd R. geboren und 1940 ich. Es war schon „im Krieg“.  Und niemand hätte gedacht, wie die Jahrzehnte dahingehen, und wie wir eines Tages in unsern Gärten stehen würden und wieder über Krieg nachdenken müssen, ob wir wollen oder nicht. Dies etwa würde ich heute meinen Enkeln erzählen, auch, warum ich den Botanischen Garten liebe, die Musik, die Bilder und natürlich die Blumen am Haus, andererseits dazu neige, in der ebenso nahen Wildnis unterzutauchen oder den ekstatischen Vogelstimmen des Frühlings  zuzuhören. Und wie sich das Autobahngeräusch von fern hineinmischt oder der Flugzeuglärm, der von Düsseldorf nach Köln zeigt – nach Frankfurt – in alle Richtungen der Welt.

Matthäuspassion in der Kritik

Das Musterbeispiel

… einer schlechten Rezension. Unbegreiflich eigentlich, dass dergleichen in einer großen Tageszeitung durchgeht. Da wird der Eindruck erweckt, es gehe um eine Neuaufnahme, nämlich die im Mittelpunkt abgebildete, in Wirklichkeit gilt ihr nur ein Bruchteil des Textes. Am meisten ist von Gillesberger die Rede, der nun wirklich einem glücklich überwundenen Zeitalter der Bach-Interpretation angehört.

Was hat die Zeit der frühen Wiederentdeckung Bachs, die ganze historische Ahnungslosigkeit jener Wendezeit (Respekt für Zelter, Goethe und andere große Geister!) mit der heutigen Zeit der Gesamtfassungen zu tun? Steht etwa Hans Gillesberger für die alte unbefangene Zeit der großen Gefühle und der kurzen Geduld? Und gibt es tatsächlich kein anderes diskutables Aufführungsereignis der vergangenen 60 Jahre als John Neumeyers Ballettfassung? Nichts von Ton Koopmann, J.E.Gardiner, René Jacobs, Peter Dijkstra? Und wenn man neue Interpretationen prinzipiell pars pro toto behandeln will, – warum diese dumme Rede von der angeblich „schwarzen Pädagogik“ des Bass-Rezitativs, das sich auf Bibelworte bezieht? Samt der anschließenden Gamben- Arie, wobei suggeriert wird, dass diese irgendwo auch mal von einem Knaben oder Kind gesungen worden sein könnte. Da wird in kryptischen Anspielungen eine nicht vorhandene Kennerschaft vorgespiegelt. Es ist ein Bass, und muss so sein.

Die beiden zitierten Texte haben offensichtlich mit den Stichworten des Evangelisten zu tun, wo vom „Kreuzigen“ die Rede ist und davon, dass die Leute einen Mann namens Simon ZWANGEN, das Kreuz zu tragen, was dann – im Kommentar – auf jedermann, jede/n von uns projiziert wird: „Ja! freilich, will in uns das Fleisch und Blut gezwungen sein, je mehr es unsrer Seele gut, je herber geht es ein“. Und das soll nur ein gestandener Bass singen dürfen und kein Kind, weil sich sonst die Gemeinde nicht identifizieren kann? Die Begründung ist absurd. Was für ein kindliches Denken! Tatsächlich ist es ja eine Bass-Partie, und der Rhythmus der Solo-Gambe in der nachfolgenden Arie spricht von Schlägen des Rohrs, von der Geißelung, die Jesus erlitten hat (s. vorvoriges Rezitativ). Ein Kind steht gar nicht zur Debatte, obwohl allen bekannt ist, dass wir sämtlich Kinder Gottes sind, erst recht Jesus selbst. Der übrigens auch kein „gestandener Bass“ gewesen sein müsste, obwohl seine Christus-Worte grundsätzlich dem Bass zugeteilt sind. – Wenn es heißt, dass von den „zween falschen Zeugen“ einer Falsettist singt (was erstens Bach nicht vorschreibt und zweitens schlechtes Deutsch ist), dann soll das gewiss nicht signalisieren, dass er „ein falscher Sopran“ ist, wie der Rezensent meint. Er oder sie ist Alto, wie es wohl in der Partitur steht.

Und noch ein anderes Detail, das hier zur Schlüsselszene erklärt wird (wobei zu bedenken ist, dass die Passionsgeschicht vor allem aus Schlüsselszenen besteht):

„Herr, bin ich’s?“ Das sind 5 schnelle Frage-Takte, die von der darauf folgenden Antwort des Chorals leben: „Ich bin’s, ich sollte büßen“. Soll man glauben, dass irgendein Chor der Welt oder einzelne Chorsolisten diese Frage jemals „herausbrüllen“ durften? Und dass nur in einer ängstlich verschüchterten Interpretation „der Schrecken seine tiefe Wirkung“ entfalten kann, eine Wirkung, die für jedes empathisch mitfühlende, mitbüßende Herz gewiss erst im Choral zutagetritt.

Da ist einerseits die vorgespiegelte Sensibilität der Detailkenntnis, andererseit ein unglaublich pauschales Denken: wer vergleicht denn schon Bach mit Schütz, wenn es um eine Matthäus-Passion geht!? Was für eine Taktlosigkeit! Was für ein Sprachverständnis, was für eine Spiegelfechterei, hier zwischen dem gesprochenen und dem vertonten Wortklang zu unterscheiden. Nichtmuttersprachler! Was für ein Dilettantismus, was für ein jämmerlicher Versuch, den Dilettanten zu imponieren! Und solch ein Schreiberling spricht von Einspielungen vergangener Jahrzehnte als einem Wettbewerb um „den originalsten Instrumentalklang oder die plakativste Dramatik, bis hin zum musikalischen Schmierentheater“.  Das Wort „Gehirnwäsche“ scheint ernst gemeint. Und da soll eine neue Unaufgeregtheit als Tugend ausgerufen werden??? Sind denn Blitz und Donner jetzt endgültig in Wolken verschwunden? Ich hoffe nicht. Und werde mir heute Nacht die „Pygmalion“-Aufnahme anhören. Hoffentlich nicht ohne die zugehörige Erschütterung, die mir durchaus ein bisschen wie Aufgeregtheit vorkommen darf. Es wäre nur angemessen.

Mit einer verkappten Unverschämtheit geht die Rezension zuende:

Und doch dienen alle kunstvollen Mittel hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen, wie man das damals pathetisch sagte, durch die Kunst.

… Erhebung des Menschen??? Hybris statt Demut? Bach jedenfalls hat „als Finis und Endursache“ aller Musik immer „Gottes Ehre“ hervorgehoben und dann erst „die Recreation des Gemüts“. Sonst sei es ein „teuflisches Geplärr und Geleyer“. Aber vermutlich will der Rezensent nur eine zeitgemäße Anspielung unterbringen, – und will gleichzeitig nichts gesagt haben:

In Zeiten, in denen gute Kunst allerdings nur von guten Menschen hervorgebracht werden kann, wird das schwieriger. Gut, dass wir von Bachs Privatleben so gut wie nichts wissen.

*     *     *

A propos Gillesberger: Harnoncourt soll sich angeblich an dessen Stelle aufs Cover der CD-Fassung katapultiert haben? Rufmord. Mir schien, jener hat die Chorpartien einstudiert, dieser den Concentus Musicus geleitet. Wer hat vorn gestanden? Nun stehen sie wohl beide auf dem Cover, und es ist klar, welcher Name nach so vielen Jahren aus Sicht der Firma attraktiver war. Die optische Aufteilung entspricht halt der gefühlten Realität. Und da sollte man einfach nochmal gründlich recherchieren, wer von beiden die respektablere Lebensleistung präsentieren kann. Gerade im Blick auf Bach. Wie dem auch sei: man spürt eine latente Demagogik. Mit einer Korrektur beginnen könnte man z.B. hier. Aber es lohnt sich auch, eine Reihe von Aufnahmen durchzuschauen, in denen ein Chor mitwirkt, dessen Leiter einmal die Gesamtleitung innehat (z.B. Tölzer Knabenchor: Gerhard Schmidt-Gaden), während sie ein anderes Mal bei jemand anderem liegt (Gustav Leonhardt), ohne dass man eine listige Amtserschleichung argwöhnen muss. (Beispiele ganz unten)

Es folgt die Kostprobe einer Promo-Aufnahme mit „Pygmalion“ und Raphaël Pichon („Sind Blitze, sind Donner“):

Andere Ausschnitte gibt es bei dem Journalisten Manuel Brug, der es allerdings nicht einmal schafft – pars pro toto – den Namen des Bass-Solisten (Christian Immler, nicht Irmler!) in einer vorproduzierten Radiosendung korrekt auszusprechen, hier (bei 4:24)…

Beispiele einiger CD-Titel (soeben – fast wahllos – abfotografiert)

P.S. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es mir nicht um Kritikerschelte überhaupt geht; eine gründliche Rezension ist für musikverständige Menschen eine nicht zu verachtende Entscheidungshilfe. Als sehr positives Beispiel kann die Besprechung zweier Neuaufnahmen – darunter ebenfalls die von Raphaël Pichon – gelten, ich gebe das Handyfoto wieder, das mir ein Freund zugeschickt hat. Ich merke mir den Namen des Kritikers und werde bei Gelegenheit gern die FAZ bevorzugen, wenn ich musikalischen Rat suche: Gerald Felber. Hier ist der Artikel – wie ich hoffe – abrufbar, zudem mit schönen Links versehen. Mustergültig! Ansonsten hier die etwas mühsamer lesbare Nachhilfe-Kopie für alle Fälle:

Zur Diskussion (bzw. Nach-Denken):

Nach der Lektüre einer Kritik (20.03.) in der Rheinischen Post Düsseldorf –

Johannes-Passion neu Gardiner, nachzuhören bis 10. Juli hier

Alfred Lorenz

Zur Analyse der großen Form

Seit ich mich mit Wagners Werken hörend und spielend beschäftige, inbesondere aber, seit ich mich bei der sogenannten Staatsarbeit zum Abschluss des Schulmusikstudiums (1964) längere Zeit ausschließlich mit „Tristan und Isolde“ beschäftigte und auf die große Form aufmerksam wurde, die – wie ich meinte – im Parallelismus der drei Aufzüge deutlich zutage trat, plante ich, mich intensiver mit den Arbeiten von Alfred Lorenz zu den gigantischen Bögen bei Wagner zu beschäftigen. Doch das Misstrauen begann, als mir klarer wurde, wie tief er in die NS-Ideologie verstrickt war, und als ich am Ende der beiden Bände RICHARD WAGNER Ausgewählte Schriften und Briefe (1938), die ich antiquarisch für 18.-DM erstanden hatte, auf den folgenden Ausblick stieß, war ich schon einigermaßen kuriert. So sehr, dass ich mich nicht mehr um das Hauptwerk dieses Propheten kümmern mochte: „Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner“ in vier Bänden. Aber eine kürzere Version hätte ich mir durchaus gewünscht. Falls etwas „dran“ war. Eine Recherche über die Nazizeit des Autors war damals ungleich schwieriger als heute, und als die 68er uns aufweckten, war ich schon mit den großen Formen der indischen Musik beschäftigt.

Alfred Lorenz (1938)

Wikipedia (engl) hier zu Alfred Lorenz.

Zu seiner NS-Geschichte im Detail HIER

Aber ich blieb wachsam, wenn es um einen neuen Wagner ging: Adornos „Versuch über Wagner“ 1966 und diese erstaunliche Schrift von Dahlhaus, den ich in Darmstadt kennengelernt hatte (wo auch Adorno über Form sprach) und Rudolf Stephan uns (d.h. das Klaviertrio de Bruyn) täglich ins Gespräch zog.

Carl Dahlhaus 1971

Und nun erst die Entdeckung eines neuen Ansatzes für Lorenz bei Jens Wildgruber:

    Quelle Festschrift Heinz Becker 1982, darin Jens Wildgruber: Das Geheimnis der ‚Barform‘ in R.Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Plädoyer für eine neue Art der Formbetrachtung Seite 205 – 213 / Laaber-Verlag 1982 ISBN 3 9215 1870-9

Bar-Form (AAB) Bogen-Form ( ABA = dreiteilige Liedform)

Die Behandlung der Bar-Form im Lexikon MGG (neu): der Artikel beginnt und endet interessanterweise mit Wagner:

  … ein weitgehendes Korrespondenzverhältnis erkennen lassen und somit als Stollen einer Riesen-Barform dem 2. Akt als Abgesang gegenüberstehen (Mey 1901, S.363; Lorenz 1966 Bd.3, S.10ff).

Quelle MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart  Sachteil 1 „Barform“ /  Bärenreiter Metzler Kassel Basel etc. 1994 / Autoren: Johannes Bettelbach (Kurt Gudewil)

Man mag es als bloße Sentimentalität abtun, wenn ich mich an die Staatsarbeit von 1964 erinnere, die mich zum ersten Mal auf solche Großformen aufmerksam machte; auch der Name Lorenz fehlt nicht und immerhin war dieser Abschluss des Schulmusikstudiums (danach folgte das reine Violinstudium bis 1967, dann die  Orient-Tournee und die Promotionsstudien über arabische Musik bis 1970) dafür verantwortlich, dass ich mich bis heute für das Phänomen Wagner interessiere, obwohl es den neuen musikethnologischen Arbeitsgebieten zu widersprechen  schien. Es gehört alles zusammen. Das Thema lautete: „Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners Tristan und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk.“

Reichow 1964

Wie gesagt: eine Sentimentalität vielleicht, aber es wäre auch heute noch keine Strafarbeit für mich, ein Jahr lang aufs neue „Tristan und Isolde“ zu studieren. Damals soll mein früherer  Geigenlehrer Raderschatt in Bielefeld geäußert haben: „ich dachte, er hätte endlich die Pubertät hinter sich“. Ein Irrtum, – ich wollte, ich könnte sie heute als erledigt betrachten.

Rudolf Stephan sagte uns damals: Lesen Sie Adornos Analyse zur Lohengrin-Instrumentation, überhaupt den „Versuch über Wagner“! Wie kam er darauf? Ich habe das erst im April 1966 umgesetzt und stieß wieder auf Lorenz, neue Fragen tauchten auf.

Ich wusste wohl, wie ungenügend mein Ansatz zu einem Überblick des Tristanstoffes war. Was nicht heißt, dass ich heute soviel schlauer geworden wäre. Vielleicht wüsste ich nur besser, wie ich weiterarbeiten müsste. Wenigstens hinsichtlich der Lektüre würde ich wie folgt beginnen, also durchaus bei Lorenz und bei meinem Wunsch, musikalische Riesenformen zu überblicken und nicht bei „schönen Stellen“ hängenzubleiben… wie oft wohl habe ich damals Wotans Abschied incl. Feuerzauber gehört, wie oft in meinem „Einzelhaft“-Zimmer in Köln-Niehl das Tristanvorspiel (erleichterte Fassung) am Klavier gespielt? Wie oft wohl? Auch Besucher*innen waren nicht sicher.

MGG  Mahnkopf

Quellen

MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart Personenteil Band 11  Artikel „Alfred Lorenz“ Autor: Werner Breig

Richard Wagner Konstrukteur der Moderne (Hg.) Claus-Steffen Mahnkopf, darin: Wagners Kompositionstechnik S.159-182 Klett-Cotta Stuttgart 1999

Letzteres ein besonders maßgebendes Buch, aus dem ein bezeichnender Satz zitiert sei:

Die Wagnerliteratur ist so vielseitig wie unüberschaubar. Ein jeder, gleich, ob musikalisch fachkundig oder nicht, glaubte, sich zu Wagner äußern zu können und zu müssen. Betrachtet man sie aber etwas genauer, folgt die erste Überraschung: Der Anteil der Literatur zur Musik Wagners ist verschwindend gering.

(Sein guter Hinweis auf Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise !!!)

Einstweilen begnüge ich mich, die Arbeit von Jens Wildgruber zu studieren, zumal sie nirgendwo in der Wagner-Literatur beachtet und zitiert wurde, auch wohl schwer aufzufinden war  – ich weiß nicht, warum das so ist, auch nicht, warum man im Internet kaum Triftiges über den Autor und seine weiteren Arbeiten findet.

Weshalb Alfred Lorenz ansonsten fehlt (auch in meinem Bücherschrank), ist klar, obwohl man es selten so simplifiziert ausdrückt: er war ein unangenehmer Nazi (gestorben 1939!). Aber natürlich kann man sich mit ihm auseinandersetzen, ohne mit seinem weltanschaulichen Hintergrund zu sympathisieren. Das geht einem ja bei Wagner genauso!

(Fortsetzung von oben, Wildgruber)

Was mir hier besonders gefällt, ist sicher auch das, was mich an die frühen 80er Jahre erinnert, eine linke Haltung, die der Utopie zuneigte, dabei immer den positiven Zielpunkt der Geschichte ahnen ließ, die Moderne (siehe Mahnkopf); für mich immer im latenten Widerspruch zu meinen parallel realisierten „orientalischen“ oder „ethnischen“ Interessen. Ich zitiere aus Wildgrubers Artikel, um es leichter repetierbar zu machen:

Das ‚Geheimnis‘ der Barform liegt tiefer, zumal es nicht zum Gegenstand der ‚ästhetischen Vorlesung‘ gemacht wird; es liegt verborgen in der Frage, warum denn die Meister [der „Meistersinger“] im Bar die einzig statthafte Form künstlerischer Äußerung erblicken. Es gibt nur einen Hinweis darauf, daß Wagner darüber nachgedacht hat, und zwar unter einem geschichtsphilosophischen Aspekt. Die Ausgangsbasis ist zu schmal, um daraus eine komplette Theorie abzuleiten; die folgenden Ausführungen sind daher eher spekulativer Natur.

Dialektisches Denken, wie es sich im Strukturprinzip des Bars niederschlägt, ist immer auch geschichtliches Denken, das Geschichte versteht als einen fortschreitenden Prozeß, in dem von Konfliktlösung zu Konfliktlösung immer höhere Ebenen der gesellschaftlichen Organisation und des menschlichen Bewußtseins erreicht werden: Geschichte hat ein Ziel, dessen formelhafte Umschreibungen als ‚Aufhebung der Selbstentfremdung‘ oder ‚Neues Paradies‘ in ihrer Abstraktheit auf die Utopie verweisen. Wenn Wagner den Bar als dialektische Struktur interpretiert, so sieht er in ihm den Niederschlag des teleologischen Geschichtsbewußtseins seiner Schöpfer, d.h. des frühen Bürgertums, dem ein klares Ziel vor Augen lag, nämlich die Aufgabe, sich gegen das Feudalsystem durchzusetzen. Das vermittelnde Element zwischen einer Gesellschaft und ihren repräsentativen musikalischen Ausdrucksformen wäre demnach in der beiden gemeinsamen Strukturierung der Zeit zu sehen.

Speist sich das Selbstverständnis des Bürgers im ausgeheneden Mittelalter aus dem teleologischen Bewußtsein, daß sein Ziel, die Selbstverwirklichung, in grerifbarer Zukunft zu erreichen sei, so beruht das Feudalsystem auf genau entgegengesetzten Prinzipien. Es leitet seine Existenzberechtigung aus Vergangenem ab, aus einem in mythischen Bildern verklärten Ursprung, der dem Menschen anschaulich wurde in der ZUgehörigkeit zur Blutgemeinschaft der edlen Sippe, im BVesitz von Grund und Boden und in der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. Die Rechtfertigung des Systems aus dem Ursprung steht in ersichtlichem Gegensatz zu teleologischem Bewußtsein: wo der Ursprung herrscht, kann Geschichte nur erfahren werden als Wiederholung dessen, was schon immer war, die Zeit steht unter demselben Gesetz des Kreislaufs wie das vegetative Dasein.

Elemente dieses Bewußtseins werden an zahlreichen Stellen im Ring des Nibelungen artikuliert, doch wäre es verfehlt, seine Konzeption aus dem ursprungsmythischen Bewußtsein ableiten zu wollen: es ist nur Stoff, nicht Strukturprinzip ( nur in Tristan und Isolde gewinnt es die Form beeinflussende Kraft).

Eine der denkbaren Formen, in der sich ursprungsgebundenes Bewußtsein niederschlagen kann, ist ganz offensichtlich der Bogen. Wenn die Meister also Walthers Prüfung abbrechen, tun sei es aus einem guten Grund: nicht etwa, weil ihnen eine altmodische Dacapo-Arie vorgetragen wurde, die für die historischen Meistersinger allenfalls eine allzu moderne Form gewesen wäre, sondern weil in der Bogenform das feindliche Prinzip seine Maske fallen ließ; der Junker sang nichts anderes vor, als die mißtrauischen Meister von ihm erwarten konnten.

Wenn Wagner gleichwohl Walther zu demjeneigen Künstler macht, der den Bar zum wahren Ausdruck bürgerlichen Bewußtseins entwickelt, dann muß er Walther aus dem Bereich des Ursprungsmythos herauslösen. Genau dies – und darin liegt der Hinweis, daß Wagner vergleichbare Überlegungen angestellt haben muß – geschieht für alle drei Ursorungsbindungen, die das Gesetz des Ursprungs konkretisieren, wenn er Pogner über ihn sagen läßt:

Als seines Stammes letzter Sproß / verließ er neulich Hof und Schloß / und zog nach Nürnberg her, / daß er hier Bürger wär‘.

Es ist der Überlegung wert, ob dieser – Wagner unterstellte – Ansatz neue Wege zur Betrachtung musikalischer Formen erschließt.

Soweit Jens Wildgruber 1981. (Quelle siehe oben a.a.O.) Es waren die Überlegungen jener Zeit, die mich heute geradezu „heimatlich“ berühren.

17./18. April 2022

Übrigens habe ich vor Jahren (2016) im Blog schon einmal versucht, der Wagnerschen Kompositionsweise näherzukommen und bin nun quasi zufällig aufs neue an denselben Punkt geraten, wie man hier sehen kann. Allerdings im Parsifal. Und das passt nicht schlecht: der Blick zurück und auch voraus, immerhin haben wir heute schon Ostersonntag. Der Vollständigkeit füge ich noch einen weiteren Link hinzu, zu dem Artikel, der damals den Ausgangspunkt (Fluchtpunkt?) darstellte: hier zum 25. Juli 2016.

Und jetzt soll heute auch noch einmal der Link zur Youtube-Aufnahme folgen (ab 24:28),

Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer)  HIER 

darüberhinaus unten der entsprechende Notentext aus dem Parsifal-Klavierauszug meines Vaters, der ihn in seinen Kapellmeister-Jahren (in Schwerin erworben und) in Stralsund studiert haben wird, in den 1920er Jahren, noch optimistisch vorausschauend, womit wir heute – zurückschauend – ziemlich genau 100 Jahre im Blick hätten, – zugleich eine nahe Zukunft, die wenig Anlass zum Optimismus gibt.

Tristans Blick

im Vorspiel

er schlägt die Augen auf, sie schenkt ihm das Leben, er stirbt, sie anblickend

Leben Tod

(folgt: Walküre: „Todverkündigung“ 2.Aufzug, 4.Szene (s.o. Bar-Form MGG)

Hören? Z.B. HIER (Solti 1957), a) bis 9:45 b) bis 13:07 / c) bis Ende / Im Textbuch auf Wiederkehr Motiv 32A achten (Seite 100 und Seite 101)

Wer war Wagner? († 13. Februar 1883)

15. Januar 1882 / ZITAT:

Man muss schon abgebrüht sein, um in diesem späten Porträt nicht das Antlitz eines Jenseitigen zu erblicken. Alles Blut scheint daraus gewichen, nur die blauen Augen tragen rot geäderte Ränder, der Teint wirkt kreidig, teigig, ungesund, Haar und Backenbart fast struppig, und besonders die lachsfarbenen Lippen lassen mehr eine Steckbriefzeichnung vermuten als das Werk eines renommierten Malers. Januar 1882, Palermo, Grand Hôtel et Des Palmes, der 41-jährige Auguste Renoir porträtiert den 68-jährigen Richard Wagner. Der Meister, so berichtet der musikbegeisterte Maler hinterher, sei »sehr fröhlich« gewesen, wenngleich nervös. 35 Minuten dauert die Sitzung, nicht eben lang, und Renoirs Einschätzung des Resultats lässt tief blicken. »Wenn ich vorher aufgehört hätte, wäre es noch besser gewesen.« schreibt er, »denn mit der Zeit war mein Modell nicht mehr so fröhlich und wirkte steifer. Ich habe die Veränderungen zu sehr übernommen.«

Noch mehr Flüchtigkeit im Skizzieren hätte somit ein noch echteres, authentischeres Wagner-Bild besorgt? Der Gedanke leuchtet ein. Wo die Pose fehlt, liefert der Mensch sich aus. Vor allem aber ist die Mühe interessant, die es [den] Komponisten offenbar kostet, sich in Pose zu werfen – und nichts als diese Mühe fängt Renoir ein. Ausgerechnet Richard Wagner, dem Virtuosen der Selbstinszenierung und -stilisierung, entgleiten hier die Züge, und wären da nicht die altbekannte Silhouette, nicht die opulente Seidenschleife am Hemdkragen und der schwere, pelzbesetzte Mantel (als sei der sizilianische Winter einer der härtesten), man würde ihn kaum wiedererkennen. Renoirs Malerkollege Paul Gauguin wertete die Physiognomoe des Deutschen hellsichtig als eine transparente, durchlässige: ein bleiches »Doktorengesicht, dessen Augen dich nicht fixieren, nicht ansehen, sondern zuhören«. Zwanzig Jahre später drehte der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe den Spieß programmatisch um, ohne groß auf Wagner einzugehen. Das im Pariser Musée d’Orsay hängende Bild, schreibt er, sei »ein merkwürdiges Dokument. Es gibt gewisse Seiten Wagners mit verblüffender, fast erbarmungsloser Psychologie. Es steht dahin, wie weit sie dem Maler bewusst war, jedenfalls beweist das Bild, wie frei sich der Künstler vor dem Gegenstand seiner Verehrung fühlte.«

Quelle Rüdiger Schäpe und Christine Lemke-Matwey: Die Sächsischen Olympier / in: Richard Wagner Max Klinger Karl May WELTENSCHÖPFER / Hatje Cantz  (Austellung Leipzig) Ostfildern 2013 (Seite 24f)

(JR) Ich erinnere an meine obige Verknüpfung des Wildgruber-Artikels mit meinen Hoffnungen um 1980, an die geheime Rolle der Moderne, und finde sie – ich mag Unrecht haben – auch in der Einschätzung des Wagner-Porträts von Renoir wieder, der offenbar für den Umschlagspunkt der Moderne (nach Wagner) einstehen soll, wie ich ihn auch nach dem eben zitierten Text avisiert sehe. Ohne dabei zu frohlocken. Ich habe vor zwei Tagen den Renoir-Film gesehen, war ernstlich berührt und hätte ihn gern noch einmal gesehen… Es würde zu weit führen, darüber nachzudenken (sein Alter und auch: das Altern der Moderne). Hier ist die Fortsetzung des Zitates:

Schön für Renoir, möchte man sagen – und nicht ganz so schön für Wagner? Von der Moderne, die sich hier am Horizont abzeichnet, ist der deutsche Überkünstler gegen Ende seines Lebens mindestens so weit entfernt wie der französische Impressionismus vom Bärenfell Jung-Siegfrieds auf der wagnerschen Opernbühne des 19. Jahrhunderts. Das eigentlich Aufregende aber ist, dass Wagner sich dessen bewusst war. Auch das enthüllt Renoirs Porträt: Indem es einen sich Verabschiedenden zeigt, einen, der bereits Platz gemacht hat. All die Zukunftsorgelei, die Wagner stets lautstark betrieben hatte, in Wort und Ton, in seinen Schriften wie in seinen Musikdramen, sie muss vor einer Zeit, die nicht nur an Gott, sondern auch an der Stellvertreterschaft des Künstlers für dass Göttliche auf Erden zweifelt, notwendig verstummen. Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert kann und will Wagner, der Visionär und Utopist, nicht überschreiten – zumal er sich von seinem Selbstbildnis, seinem künstlerischen Rollenverständnbis offenbar nicht zu lösen vermag. Dabei wären Wagner und Sigmund Freud gewiss ein famoses Dioskurenpaar geworden.

ZITATende

(JR) Mit dieser zuletzt genannten Paarung wären wir schon fast bei Thomas Mann und seinem großartigen Essay aus dem Jahre 1933, den ich aufs neue anschaue. Für mich als Leser jedoch steht – sinnvollerweise, aber rein zufällig – erst recht auf der Liste das neue Buch von Volker Hagedorn: FLAMMEN Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918 (Rowohlt 2022). Siehe hier.

Wer genau den gleichen Weg gehen will wie ich, könnte sich schon mal … etwas einhören (die Vorstellung beginnt genau bei 2:20) HIER (Pelléas et Melisande)

Ameisen – Insekten – wilde Tiere

Dem Klang der Natur auf der Spur

Zur genaueren Untersuchung (z.B. die Funktion der Musik im Film):

Dezember 2014

Und gestern dies: HIER „Im Königreich der Ameisen“

Goulson: hier Perlentaucher über seine Bücher (Hummeln, Insekten!), das neue Buch!

Zu den Filmen Film Serengeti 1/2 Der große Aufbruch von Reinhard Radke (folgt die Liste der Verantwortlichen, um sie von den Terra-X-Filmen zu unterscheiden), über seinen Serengeti-Film (2011) siehe hier. Dann auch Die große Wanderung (John Downer) .

Zur Erinnerung (Grzimek bzw. Kritik an seinem Film): die Serengeti lebt, und es gibt zur Zeit eine verwirrende Anzahl von Filmen – überall ist man quasi dabei!! z.B. auch Hier bei der unglaublichen Reise der Gnus, – woher kannte ich das schon? ihren Sturz in die Tiefe, die Flußdurchquerung, die Krokodile, der tödliche Irrtum drüben beim Aufstieg, die Geparden, die Elefanten, die narrative Anlage nach dem Prinzip eines Puzzle, die originalen Geräusche und die ihnen angepasste Musik. – Naturfilmer John Downer!

Verwirrend? Wieso? Warum? Das ist doch alles klar, aber seit wann interessierst du dich für Ameisen!? Ich persönlich? Dumme Frage, seit meiner Kindheit! Als es noch Maikäfer gab! Und „im Ernst“: begonnen hat es dann erst mit Bienen. Oder mit den Ameisen im Engadin, den roten Waldameisen? Oder doch früher, – war es Debussy mit seiner Maeterlinck-Mystik? Wahrscheinlich, ja, es war dieser Autor, der den Sinn für das Geheimnis der Insekten weckte.

… das war in Berlin im Januar1961, – und Weihnachten davor:

 

Die Seele der weißen Ameise 1963, und 1989 von Freund Dr. Werner Fuhr, dem Bienenzüchter und Volksmusik-Mitarbeiter – damals noch per Sie – die historische Kurzfassung Maeterlinck:

Noch etwas zur Frage, wie es eigentlich begann: mit einem Kinderbuch „Was mir die Wiese erzählt“. Ein Titel also wie von Gustav Mahler. Damals aber war mir neu, dass die Wiese neben Hobergs Busch so interessant sein könnte. Und der Zufall will es, dass heute Abend sozusagen der entsprechende Film zu sehen ist, allerdings aus der Steiermark: HIER. Ab ca. 11:10 über Heuschrecken und wie sie „singen“. (Man hört einfach nix!) Dazu leider eine etwas alberne Instrumentalmusik als Untermalung oder Einsprengsel. Auch eine überflüssige Frauenstimme, die das Summen der Tiere überlagert, auf den „Ennstaler Iriswiesen“. Ab 20:40 Ameisenlöwe (dazu rhythmisch malende Wild-West-Klänge).

Ein Gang durch den Botanischen Garten Solingen 11. April 2022

Was mir durch den Kopf ging (die falsche Jahreszeit, aber der passend schöne Wort-Klang):

Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen außen in dem feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweitenmal im flore.

Was ist das? Siehe unter Strophe (dieses war die erste).

Fotos Handy JR / Strophe: Stefan George

Nachtrag 14. April 2022

ARTE Mediathek „Unsere Wälder – Die Sprache der Bäume“ Ein Film von Petra Höfer und Freddie Röckenhaus  HIER

Achtung: ich sehe nirgendwo im Nachspann einen Hinweis auf wissenschaftliche Mitarbeiter, leichter Kitschverdacht in der Deutung der Phänomene.

Gendern!? Wie in der Musik darüber gedacht wird…

… sodass ich mich womöglich anschließe

Vielleicht mache ich es mir aber zu einfach, indem ich vormerke, was ich gestern und heute gelesen habe (wie vorher auch schon ähnlich von Navid Kermani, der nicht unbedingt zu den Musiker:innen zählt). Ich merke es mir vor, statt es still zu beherzigen oder mir gar eigene Gedanken zu machen, nachdem ich mir immerhin schon hier und hier etwas zum Thema vorsortiert hatte.

Diesmal handelt es sich um nicht weniger als

Die Wahrheit über Cancel Culture HIER

geschrieben von Moritz Eggert, gefunden in der NMZ online, die ich regelmäßig per Mail empfange und allen Musikinteressenten/tinnen empfehle; sie werden im Link auch eine Gelegenheit entdecken, sich zum regelmäßigen Bezug dieser Musiknachrichten einzutragen.

Darüberhinaus entdeckte ich als Abonnent von Musik & Ästhetik mit Verwunderung einen Artikel des Mitherausgebers Claus-Steffen Mahnkopf, weil darin wenig Musiktypisches zum Vorschein kommt, jedoch eben dieses Gender-Problem in allen möglichen Facetten.

Hier wäre Gelegenheit sich etwas einzulesen, vielleicht folgt der Entschluss, koste es was es wolle, den Rest an anderer Stelle weiterzuverfolgen:

Und außerhalb? Z.B. in der ZEIT 7. April 22 von Petra Gehring

4 Auffassungen von Geschlecht !

Quelle: Das gefühlte Geschlecht / Die britische Philosophin Kathleen Stock wurde wegen ihrer Transgender-Theorie stark angegriffen. Dabei ist ihr Buch »Material Girls« alles andere als ein Skandaltext / Von Petra Gehring [hier]

ZITAT

Harsch geht Stock nicht nur mit dem trans-aktivistischen Konzept des Geschlechts als »Gefühl« ins Gericht. Sondern sie schreckt bereits von der These zurück, das Geschlecht sei allein eine Sozialtatsache.

Philosophisch gesehen ist das keineswegs zwingend nötig, denn »gefühlt« ist etwas anderes als »geworden«, und das Gewicht einer durchlebten Geschlechtersozialisation macht sehr wohl aus einer Frau eine Frau. Deshalb ist auch Geschlecht im Sinne von Konzept 3, also seinem sozial bestimmten Charakter, derart real, dass es sich nicht per (Selbst-)Definition abstreifen oder nachträglich aneignen lässt. Und auch die Übereinstimmung von Identität und Geschlecht, also das, was im Trans-Jargon inzwischen  »cis« genannt wird, ist kein Phantom. Vielmehr steht es für eine Art Klassenlage, die tief in den Leib hineinreicht: für Gegebenheiten, die sich ganz ohne Berufung auf Biologie jedem Verdacht auf Beliebigkeit entziehen.

Quelle des hier thematisierten Buches: Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist; Edition Tiamat, Berlin 2022; 384 S., 26,-€

Nachtrag 5.8.22 NZZ

In der Genderfalle: wenn es der öffentlichrechtliche Rundfunk niemandem recht machen kann

Deutsche Sprachwissenschafter fordern von den Anstalten eine Abkehr von Genderstern und Binnen-I. Doch sollten die Senderchefs flächendeckend verbindliche Regeln festsetzen, dürften sie bald selbst als Partei im Kulturkampf betrachtet werden.

Hier

Idiota de mente

Ein Sonderthema, das nichts mit Demenz zu tun hat

Schloss Bruneck (Wikimedia)

Hier  und Hier Etwas zum Lesen (für JR, mit Zusicherung meinerseits: die Lektüre des Originals ist von Bedeutung, wenn auch sehr alt; ein äußerer Anreiz für mich: es hat mit Brixen/Südtirol zu tun, ist assoziativ noch in statu nascendi, und es entgeht mir nicht, dass die Hausarbeit nicht sehr weit führt, wobei aber gerade das Manko produktiv wirkt).

Nikolaus von Kues (Wikipedia-Artikel) Von Kues an der Mosel nach Umbrien…

– Fortsetzung folgt –

Sie folgt, gewiss. Aber woran ich anknüpfe, sollte ich auch andeuten: private Abgründe, hier.

ZITAT

In dem Dialog Idiota de mente treffen die beiden erneut aufeinander. Diesmal aber kommt ein Philosoph hinzu, welcher durch den Redner von den unkonventionellen Gedanken des Laien erfahren hat und sich nun ebenfalls Erleuchtung durch ein Gespräch mit diesem erhofft. Der Redner und der Philosoph treffen den Laien bei seiner Arbeit in einem Kellergewölbe an, als dieser einen Löffel schnitzt. Während sich der Redner schämt, den Philosoph in solch eine Umgebung gebracht zu haben und fürchtet, was dieser nun von ihm denken könne, reagiert dieser mit weltoffener Sicht und kann nichts Schlechtes daran finden, dass der Laie der Kunst des Löffelschnitzens nachgeht8. Der Philosoph wünscht, über den menschlichen Geist belehrt zu werden und erfährt durch den Laien, ,,dass der Geist zum einen den Geist im Körper, die Seele, bezeichnet und zum anderen unendlicher göttlicher Geist ist.9 „Der Laie veranschaulicht am Löffel, wie die ,,mens humana“ Abbild des göttlichen schöpferischen Geistes ist. ,,Die gebildeten Begriffe kann der Geist für sich anblicken, etwa wenn er den Kreis als eine Figur erfasst, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind“.

Autorin: Lena Joana Bernotat (Hausarbeit 2020)

Die Wissenschaftlerin  Renate Steiger nennt in ihrer Einleitung zum Dialog „Der Laie über die Weisheit“ den Namen Raimund von Sabunde, aus dessen Wikipedia-Darstellung ein Satz zitiert sei:

Offenbarung (Bibel) und Natur stimmen in seinem Verständnis überein, da sie beide von Gott stammen. Der Naturerkenntnis (durch die von der Erbsünde befreite und vom Glauben erleuchtete Vernunft) gibt er den Vorzug, da sie nicht nur den Klerikern, sondern auch den Laien zugänglich sei und nicht verfälscht werden könne.

Ein erstaunlicher Hinweis, und erst im Fortgang wird ersichtlich, dass die Autorin (und Herausgeberin) mit Blumenbergs Sicht auf „den Cusaner“ kritisch verfahren wird. Die Grundlage des christlichen Denkens ist und bleibt ja ein Buch, an dessen Buchstaben nicht zu rütteln ist, auch wenn sie in Widerspruch mit unserer Erfahrung geraten, andererseits liegt die Natur (scheinbar) unvermittelt vor unseren Augen, beides kommt von Gott, das eine dank Offenbarung, das andere dank unmittelbarer Erfahrung. Eine speziell christliche Falle, – wenn man sich fragt, ob die Abstraktionen des Geistes wirklich ebenso existieren wie die Vielzahl der Dinge -, ist die der Dreifaltigkeit, die dogmatischerweise als Einzahl ebenso vernünftig erscheinen soll wie als Dreizahl: man hilft sich, indem man das Paradox selbst für gottgegeben (natürlich) erklärt. Per ordre de Mufti. Ein Trick wäre, zunächst die Welt der Dinge auch für ein Buch zu erklären, in Konkurrenz zum Buch der Bücher…

So etwa erkläre ich mir, dass man sich (vorläufig) wirklich noch mit dem auseinandersetzen muss, was unter dem Namen Nominalismus – in Abgrenzung vom Rationalismus – zu verstehen ist. Und warum zeitweise der Inhalt des einen Begriffes mit dem des anderen ausgetauschen werden muss. (Private Folgerung: GEDULD – bis endlich die Aufklärung zum Durchbruch bereit ist).

ZITAT Renate Steiger (Anmerkung in der Einleitung Seite XIII)

Siehe u.n. 4,8-10. Dazu H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.2 1983. Nach Blumenberg enthüllt die Metapher vom Buch der Natur »ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik“, die Bücherwelt der Kleriker (S.58). Für den Cusaner sei – vorbereitet durch Raymund von Sabunde, von dessen Theologia naturalis Nikolaus sich 1450 eine Abschrift verschafft hat (cod. Cus. 196 I – der Laie eine Figur der Unmittelbarkeit (S. 60). »Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern … sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht.“ (S. 63)

So wird die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Wirklichkeit vom bloßen Lesen oder Hörensagen über sie abgesetzt (s.u.n.19).

Autorin: Renate Steiger (1988)

Das Blumenberg-Buch, das sich seit 2021 in meiner wachsenden Blumenberg-Sammlung befindet, entstammt der 11. Auflage des gleichen, mehr als 400 Seiten langen Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis einiges über „Die Lesbarkeit der Welt“ erahnen lässt.

Ein anderes, vom Volumen her eher unscheinbar, im Format eines Reclamheftes, lese ich seit jenem Urlaub auf Texel im August 2020 bis heute immer wieder, und ganz allmählich hat der Bezug auf Nikolaus von Kues auch bei mir eine so zentrale Stellung eingenommen, wie von Hans Blumenberg schon 1956 aufgedeckt. Je öfter ich mich in seinem Aufsatz „Nachahmung der Natur“ festlese, Untertitel: „Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen“, desto wesentlicher erscheint es mir. Nicht nur als Wissenstoff, sondern als Lebensmittel. Und als geheime geistige Wunderwaffe habe ich ein Buch bereitgelegt mit dem schlichten Titel „Handwerk“. Ein anderes wird morgen früh um 11 Uhr bei dem Buchhändler meines Vertrauens eingetroffen sein und wird in kürzester Zeit hier abgebildet sein.

Aber was muss ich feststellen: der Dialog des Löffelschnitzers fehlt. Es muss noch einen anderen Band geben, und wirklich, jetzt erst entdecke ich ihn hier, kann aber immerhin, wenn ich die Funktion „Im Buch blättern“ wähle, einiges nachlesen, im oben angekündigten Kues-Dialog „Idiota de mente“ :

: (Screenshots)

Aber was nun? Soll ich endlich ganz von vorn beginnen? Statt darauflos zu recherchieren? Hier sind die Blumenberg-Seiten, die mich auf Nikolaus von Kues brachten, ihn unentbehrlich machten, so dass ich ihn „im Original-Kontext“ sehen und lesen musste:

Seit Aristoteles wird in Bezug auf Kunst (bzw. auf den schöpferischen Menschen) unablässig ein Thema mit unzähligen Variaten wiederholt: dass es sich um Nachahmung der Natur handelt. Und unter Natur kann man ebernso den Gottesbegriff verstehen, je nachdem welche weltanschaulichen Vorgaben herrschen. Mich begann Blumenbergs frühe Abhandlung zu faszinieren, nachdem mir die folgenden Sätze eingeleuchtet hatten, – mir fiel Leonardo ein, dessen schöpferisches Genie sich nicht nur in Abendmahl und Mona Lisa dokumentierte, sondern auch in Kriegsmaschinen und Fluggeräten, ohne dass man alldies zusammendenken mag:

„Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« der Technik.“ Und vor allem: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung.“ Wenig später fällt der Name Leonardo da Vinci, aber verkappt kritisch, da er sich mit der alten Traumvorstellung von der Nachahmung des Vogelflugs beschäftigt hat, während das Problem schöpferisch nur mit einem absolut neuen Prinzip zu lösen war, der Verwendung einer Luftschraube, denn „rotierende Elemente sind von reiner Technizität“ . An dieser Stelle kommt Nikolaus der „Cusaner“ ins Spiel, und was sein Beispiel des löffelschnitzenden Laien hätte bedeuten können, des „Idiota“ (lat.). Mit meinem alten Griechisch-Lexikon kann ich leicht erklären, warum wir uns in der Schule gern schon mal mit der Anrede titulierten: Na, du gemeiner Soldat. Heute kaum noch zu belächeln.

Aber nun zur Sache:

Man kann die einzelnen Sätze gar nicht bedeutungsvoll genug nachlesen. Gott ist eine so selbstverständliche Grundlage alles „alten“ Denkens und Fühlens, dass wir es nicht mit einem Lächeln abtun können, um z.B. den Rationalismus des Bachschen Weltverständnisses mit unserm eigenen zu vermischen. Man verstehe nur, weshalb ein Bach-Jünger wie John Eliot Gardiner in seinem großen Buch von der „Himmelsburg“ ein ganzes Kapitel dem „Räderwerk des Glaubens“ widnete. Und nun einen solchen Satz (s.o.):

Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht soi sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist.

Erlauben wir uns einen Seitenblick auf J.S.Bachs „weltlichen“ Zeitgenossen Johann Mattheson, über den wir bei Wikipedia folgendes erfahren:

Im Gegensatz zum Zeitgeist zu Beginn des 18. Jahrhunderts vertrat Mattheson die Auffassung, dass die Musik nicht theologisch, sondern sozial sein sollte. Die Musik soll nach Mattheson ihren eigenen Regeln folgen und nicht von außen auferlegten kontrapunktischen Regeln unterliegen, die sie in ein scheinbar wohlgestaltetes Korsett zwängen. Sie soll nicht allein zu Gottes Ehre (Soli Deo Gloria) komponiert und gespielt werden, sondern vielmehr um den Menschen zu gefallen und sie u. a. zum Tanz zu bewegen. Mattheson prägte daher ein für seine Zeit untypisches, gesellschaftlich ausgerichtetes Musikverständnis – ganz nach dem Vorbild des in Frankreich aufkommenden galanten Stils, der dabei stets von einem elitären, exklusiven Menschenbild ausging.

Ziehen wir keine übertriebenen Rückschlüsse: offiziell wird Mattheson immer wieder den Zeitgeist bekräftigen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, mit welcher Emphase er den himmlischen Ursprung jeglicher Musik beschwört und sich darauf beruft, dass die Engel selbst sich der musikalischen Werkzeuge der Menschen bedienen. Spricht so ein großer Aufklärer in unserm Sinne?

Quelle: Johann Mattheson: Versuch einer systematischen Klang=Lehre wider die irrigen Begriffe von diesem geistigen Wesen, von dessen Geschlechten, Ton=Arten und auch vom mathematischen Musikanten nebst einer Vor=Erinnerung wegen der behaupteten himmlischen Musik / Hamburg 1748 / Nachdruck DDR Leipzig 1981 für Bärenreiter Kassel

Man bedenke, dass Nikolaus von Kues seine Schriften zum Lob des Laien als ein getreuer Kirchenmann, wenn auch nicht unangefochten, 300 Jahre vor Mattheson und Bach verfasst hat! Der aufklärerische Kern schlief im Innern der kirchlichen Lehre, und genau das will Blumenberg in allen Verästelungen nachvollziehen. Und wir können uns nicht darüber erheben und sagen: erst um 1800 oder seit der Französischen Revolution brach urplötzlich die Vernunft aus dem  wirren abendländischen Denken hervor, wie die Sonne aus der Nacht des Mittelalters. Neu war die Sprache, die man dafür entwickelte, was nicht bedeutet, dass es vorher keinen Sprache gab. Im Gegenteil:

Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen.

Siehe im letzten Blumenberg-Text oben Seite 14 unten. – Was aber war nochmal „Nominalismus“ ?

(Fortsetzung folgt)

A wie Adorno

Eine Rückkehr

Adorno (Theodor Wiesengrund-Adorno) hat mich begleitet seit 1960, genauer: seit 1959 – mit „Dissonanzen“, das Buch gehörte meinem Bruder, es muss es in der Mainzer Musikwissenschaft bzw. Schulmusik Pflichtlektüre gewesen sein. Fast gleichzeitig entlieh ich – noch zuhaus – aus der Bielefelder Stadtbücherei die „Philosophie der Neuen Musik“ und ließ mich davon nicht entmutigen. Ein eigenes Exemplar las ich in Berlin, mit Rot- und Blaustift versehen, endlos Zeile für Zeile, im Café Kranzler, immer wieder mit lichten Augenblicken, aufflammender Begeisterung. Ich ließ mich durch seine Position gegen Strawinsky nicht beirren. Danach kam jedes Jahr mindestens ein weiteres Buch dran. Auch Rundfunkvorträge, von denen ich glaubte, dass sie im Äther verlorengehen könnten, verschriftlichte ich nach den Tonbandaufnahmen in stundenlangen Sitzungen (in Köln-Niehl und in Gummersbach, wo ich unterrichtete und manchmal übernachtete). Ich habe die Anfänge schon einmal rekapituliert. HIER. Auch in Visp (Visperterminen), wo er gestorben ist, habe ich seiner gedacht, auf langen Wanderungen. Mein Zimmer in der Solinger Wohnung Querstraße war mit einem langen Zitat aus dem „Getreuen Korrepetitor“ tapeziert, das ich täglich betrachtete. Was mich nicht schreckte: wie er Bach gegen seine Liebhaber zu verteidigen suchte, wie er mit dem Jazz verfuhr, mich störten eher seine Imitatoren. Ich polemisierte gegen Clytus Gottwald, dessen Verdikt über Historische Aufführungspraxis mich ärgerte, da wollte ich seine Neue Musik auch nicht hören. Manfred Gräter, den ich als späteren Kollegen im WDR nie kennenlernte, aber sein frühes Buch hat mich durchaus beschäftigt, zu Zeiten wo mir Hindemith noch das Maß der Moderne bedeutete.

Um so willkommener der neue Anstoß.

https://lenitiv.notion.site/Adorno-Audiothek-2f95092d2b2645d7a1d82b11df50bce0

Zur Adorno-Audiothek Hier !!!!

Ein Beispiel:

Adorno über Popmusik

Die ästhetischen Grausamkeiten der Beatles

hier

Les Passions

Zu den Quellen

HIER weiterblättern… oder auch hier (auf deutsch, wie folgt:)

Anlass heute: die CD von Andreas Gilger, sein flexibles Spiel, die Mikro-Nuancen zwischen zwei Zählzeiten, die traumhaften Tempoabstufungen zwischen den Tanzsätzen, die sensible Verzögerung einzelner Akzente, die bezaubernden Fiorituren, das suggestive Tempo rubato der beiden Préludes (Tr. 1 und 29), die vom Künstler zielsicher intonierte Feinstimmung und überhaupt – der einfach wunderschöne Klang seines Instrumentes: einer Vaudry-Kopie von Matthias Griewisch. All dies hat mich beglückt, seit ich die Aufnahmen auf dem Handy mit Kopfhörern Track für Track verfolgte, ohne irgendetwas sonst darüber zu wissen. Es sollte eigentlich nur eine Hörübung sein. Ein Zeitvertreib, siehe hier. (Dank an JMR!)

Aber abgesehen von der Musik, deren Interpretation fasziniert – höchstes Lob für die konzise Gestaltung des Booklets: es bietet inhaltlich alles, was man an Rüstzeug braucht, auch wenn man noch nicht mit der Musik in Versailles um Ludwig XIV. vertraut ist. Oder auch von Rhetorik und deren Bedeutung für die Musik weniger gehört hat als von weitgespannten Melodiebögen und romantischer Ausdruckskunst. Man muss die Quellen, denen ich oben nachgegangen bin, nicht studiert haben – es genügt fürs erste dieses schmale, schön gegliederte und bebilderte Booklet.

mehr lesen: hier

ZITAT

Diese emotionale Verbindung zum Publikum versuche ich durch das Studium historischer Quellen und Befolgung ihrer Anweisungen aufzubauen. Die meisten musikalisch Kreativen sind keine mystischen Genies, sondern Normalsterbliche mit Emotionen, die sie mit ihrem Publikum kommunizieren wollen. Nicht, indem sie über ihre Gefühle sprechen, sondern sie beim Publikum direkt auslösen. Da Kunstschaffende des 17. Jahrhunderts ihre Werke als Werkzeuge schufen, um Affekte in anderen auszulösen, erscheint es mir nur logisch, herauszufinden, wie sie sich die Verwendung dieser Werkzeuge vorstellten. Offensichtliche Anhaltspunkte dazu sind historische Quellen zum Musizieren. Um dafür ein umfassendes Verständnis zu erlangen, muss allerdings in den Bereich der Rhetorik vorgedrungen werden. „Rhetorik“ ist ein Schlagwort in der Alten Musik, wobei nur wenige eine klare Vorstellung des Begriffs haben, geschweige denn davon, wie der Begriff im Barock verstanden wurde. Ja, den meisten ist klar, dass „Rhetorik“ die Kunst der Überzeugung mittels sorgfältig ausgewählter Wörter bezeichnet. Die Autoren des Barocks gehen allerdings deutlich weiter und beziehen die Ausführung des Texts, also Gestik, Mimik, Stimmmodulation etc. mit ein. Quasi alle Quellen halten die Ausführung sogar für wichtiger, als die tatsächliche Wortwahl. […]

Beim Studium der Quellen zu öffentlichem Reden, Deklamationen und Schauspiel wird schnell klar, dass Gesten üblicherweise viel größer waren, die Stimme flexibler gestaltet wurde, und grundlegende Wandlungen im Charakter innerhalb eines Abschnittes, Monologs, etc., häufiger auftraten als heutzutage. Im ersten Moment scheint solch ein pompöser Stil modernen Geschmäckern hoffnungslos übertrieben. Aber wie man von einem Stummfilm berührt wird, wenn man die erste Konfrontation des fremden Schauspielstils überwunden hat, so bin ich davon überzeugt, dass Barockmusik in einem uns fremden Stil vorgetragen wird. Es mag verziehen werden, wenn man die Übertragung rhetorischer Prinzipien auf Musik zunächst als weit hergeholt empfindet, doch etliche historische Quellen ziehen Parallelen und Vergleiche zwischen Rhetorik und Musik. Damit wird offenkundig die Annahme widerlegt, dass Musik – sogar die, die auf Tanzformen basiert – ausschließlich unter der Tyrannei eines unerbittlichen Metrums aufzuführen sei, oder dass Zurückhaltung das herrschende Prinzip musikalischer Aufführungen des späten 17. Jahrhunderts war. Im Gegenteil: Wenn wir Zeichnungen und Gemälde le Bruns mit den verhaltenen Aufführungen vergleichen, die in der Alten Musik über Jahrzehnte usus waren, entdecken wir eine Inkongruenz, welche die Musizierweise, die ich und etliche Kolleg:innen propagieren, zu beseitigen sucht. Le Brun verlangt, dass die Affekte in all ihrer Schönheit, all ihrer Weichheit, all ihrer Gewalt gemalt werden. […]

Text: Andreas Gilger (aus dem Booklet, rote Markierungen JR)

Es beginnt mit einer erstaunlichen Reise, 13 Sätze in G-dur, deren Strukturen das Ohr angenehm beschäftigen können, wie die geometrische Gartenanlage des Schlossparks draußen das vergnügte Auge. Und es liegt nicht unbedingt auf der Hand, darin nach den Emotionen zu suchen, die von den beigegebenen Portraits aus Le Bruns Feder insinuiert werden: „Haine ou Jalousie“, „Veneration“ und „l’Effroy“, tatsächlich sind dies die Extreme, die der gleichmäßige Klang des Cembalos eher verschleiert als bloßlegt. Ähnlich wie die Etikette der höfischen Konversation, sie walten subkutan und vielleicht ganz offen in den Theateraufführungen, die in höfischen Causerien und Plaudereien von ferne reflektiert wurden. Man fühle nur den Übergang von G-dur nach D-moll (Track 13 nach 14), um zu ahnen, was eine Tonart bedeutet, in deren Rahmen all diese Nuancen eingebettet sind. (Man lese auch den interessanten Lebenslauf des Komponisten Henry Dumont oder du Mont, der – aus Lüttich und Maastricht stammend – den „Generalbass“ in die französische Musik eingeführt haben soll).

Vielleicht greift man sich auch mal die Chaconne Tr. 21 (Jean-Nicolas Geoffroy) heraus, um sie wie das Mienenspiel einer erzählenden Person zu studieren. Um sich danach dem rührenden Gesicht der „Allemande la Rare“ zuzuwenden (Tr.22), anschließend auch der koketten Courante usw. – man wird sich den Namen Jacques Champion de Chambonnières merken wollen, des Cembalisten, den man seinerzeit lobte  für „…die Schönheit seiner Werke, den schönen Anschlag, die Leichtigkeit und Geläufigkeit der Hände zusammen mit einem sehr feinen Ohr, so dass man sagen kann, dass dieses Instrument seinen letzten (größten) Meister gefunden hat.“ (Mersenne). Nein, nicht den letzten…

Hervorzuheben ist auch das viersätzige Kleinod von Louis Couperin,Tr. 29 bis 33 mit dem phantastischen Prélude, den resoluten „Rückungen“ am Ende der Allemande und der ebenso wild entschlossenen Passacaille, Zielpunkt der langen, bilderreichen Reise dieser CD.

Wer aber war Le Brun? Siehe Wikipedia HIER

Mehr vom Cembalo erfahren?

Eher speziell für mich als vielleicht für andere, die vorwiegend mit dem bloßen Gehör arbeiten oder überhaupt die Musik nicht als Arbeitsfeld betrachten, füge ich zwei Seiten aus einem musikanalytischen Werk bei, das mich mit meinen Schwächen konfrontiert hat, – denke ich jedenfalls. Sie beziehen sich hier noch nicht so auf Beethoven, wie die Seiten-Überschrift ankündigt. Und mich bewegt unterschwellig beim Hören dieser CD ohnehin die (kaum fühlbare) Nähe zu Bach (Französische Suiten), bzw. ihre Position zwischen Monteverdi und Bach:

Quelle Folker Froebe: Motivisch-thematische Analyse – Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 10 Nr. 1 / ins: Musikalische Analyse / Begriffe, Geschichten, Methoden / Herausgegeben von Felix Diergarten / Laaber-Verlag 2014 (S.95-140)

EILT  Mehr aus der Welt der französischen Rhetorik: Molière  EILT

HIER („eilt“ , weil nur noch bis  3. Mai 2022 abrufbar) Stop: HIER allerdings noch bis 1. Juni 2022

Anlässlich des 400. Jahrestages von Molières Taufe zeigt der Film einen Autor, Ensembleleiter und Schauspieler, der treu ergeben die Vergnügungen Ludwigs XIV. organisierte und gleichzeitig in seinen Stücken große Radikalität an den Tag legte, der sich auf der Bühne ebenso wohlfühlte wie in den Salons, der strategisch dachte und dabei frei war, der durch sein Genie und seine Komplexität fasziniert. Molière erweist sich als Erfinder eines Theaters, das seit beinahe vier Jahrhunderten eine unerschöpfliche Quelle von Inspiration und Bewunderung ist. (aus dem ARTE Pressetext)

ab 28:00 Le Brun, Le Vau, Le Nôtre, Schloss Vaux-le-Vicomte 1661

Unvergessen der Film „Molière“ (1978) von Ariane Mnouchkine

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