Archiv für den Monat: Februar 2018

Weiterhin: Bach b-moll-Fuge

Zur Dynamik und Artikulation

Ich knüpfe an, und zwar im Blog-Artikel hier (Ein Fugenthema verstehen), genauer – nach dem gescannten Halm-Text – dort, wo es um den Vortrag gehen soll. Gemeint ist der Vortrag am Klavier, wo man dynamische Färbungen einsetzen kann, einzelne Töne akzentuieren oder abkürzen, natürlich nicht zur Dramatisierung, sondern zur Verdeutlichung: die Engführung ist kein Problem, wenn man es einmal konkret im folgenden Beispiel durchgeht. Also: Fuge Wohltemperiertes Klavier Band II b-moll BWV 891, zweite Durchführung, darin ab Takt 32, also letzte Themen-Doppeleinsätze Takt 33, also die Engführung zwischen Sopran (S) und Bass (B). Betonungen im Sopran auf Zählzeit 1, im Bass dem Motiv entsprechend genauso, d.h. jeweils auf Zählzeit 2 (!), also gegenläufig, das wird vom Ohr leicht begriffen. Ebenso die stufenweise aufsteigende Achtelfigur ab Takt 35, der sich der Bass ab zweiter Zählzeit zugesellt, als eine gemeinsame Steigerung, die der Bass zwar allein zuendeführt, aber auch hin zu dem dann recht kompakten Schlusspunkt in Gestalt der Kadenz As – Des: von der letzten Zählzeit in Takt 36 zur ersten Zählzeit in Takt 37. Das liegt dynamisch sozusagen auf der Hand.

Bach b-moll-Fuge Pfundnoten

Als Gegenstand einer kleinen Überlegung habe ich bestimmte Töne im Beispiel lila gekennzeichnet. Sie sind offenbar ohne kontrapunktische Aufgabe, Pfundnoten, die über die Taktstriche hinweg gebunden sind, – heißt das: jeder von ihnen soll ins Unhörbare verklingen? – zuerst im Tenor (As), dann im Alt (as und des), dann wieder im Tenor (as). Und dann? Bricht es damit ab? Wie gehts denn mit der Stimmführung des Tenors weiter? Man sieht in meinen Noten die Unsicherheit: einen Bleistiftstrich abwärts von diesem letzten Tenor-Ton zu den beiden Pausen, die in diesem Takt 37 offenbar Platzhalter für die Stimme des Tenors sind (im nächsten Takt hat sich Bach die Pausensetzung zugunsten der Übersichtlichkeit gespart), aber es ist ja der Tenor, der dann wieder (vgl. die eingezeichnete rote Linie) in Takt 39 mit seinem chromatischen Zwischenspiel-Kontrapunkt einsetzt.

Bleibt die bange Frage: was macht man dynamisch mit den „Pfundnoten“? Soll man sie behandeln wie romantische Horntöne? Mehrfach anschlagen? Oder nach dem Anschlag vergessen? Sie sollen doch wohl hörbar bleiben; beim Vortrag auf der Orgel würde man gar nicht daran denken, das zu problematisieren. Bach selbst gibt vielleicht einen Hinweis, wie man die Aufmerksamkeit lenken kann – durch Pausen; ich spreche von den Viertelpausen, zum ersten Mal in Takt 13. (Ich behaupte nicht, dass sie dazu dienen, den Ton B durchklingen zu lassen, aber es ist ein schöner Nebeneffekt.) Man kann sogar die Viertelnoten selbst noch kürzen, um dem Klang Raum zu lassen. Die Keile, die in manchen Ausgaben schon über den Noten stehen, stammen zwar nicht von Bach, machen aber Sinn.

Natürlich haben diese Überlegungen nur dann „Sinn“, wenn man ein moderates Tempo für angemessen hält. Wenn man diese Fuge in hohem Tempo und glasklarer Präzision durchziehen will, so darf man alle Unterschiede einebnen.

Wo sich Bewunderung mit Befremden paart, ja mit Entsetzen: Glenn Gould’s Bach-Auffassung (die oben abgebildete Stelle ab 0:52 bis 1:04).

Mit dem Aushalten langer Noten hält sich Glenn Gould nicht auf. Er hat sich für die ganze Fuge ein Non-Legato-Konzept vorgenommen, wobei er aber doch einzelne Bindungen artikuliert, als sei es Absicht. (Man müsste andere Aufnahmen von ihm zum Vergleich heranziehen, um zu sehen, ob ein Konzept dahintersteht.) Im folgenden Beispiel habe ich mich nur auf die Kennzeichnung der unterschiedlichen Artikulation des Themas beschränkt (rote Markierung, schwarze Bindungen):

Bach b-moll Artikulation Thema

Ist eine konsequente Behandlung der Artikulation erkennbar? Ich habe nur die auffälligsten Punkte markiert, angefangen mit der Überbindung von Takt 1 auf 2 (die schon nichts mit Bach zu tun hat): Beim Vortrag des zweiten Themeneinsatzes (Takt 5) könnte man noch an Konsequenz glauben, beim dritten wählt er andere Bindungen, beim vierten kehrt er (beinahe) zur ersten Version zurück, lässt aber auf die erste Bindung unmittelbar eine zweite folgen, zum Abschluss wählt er eine bis dahin nirgendwo gehörte. Ein System ist nicht erkennbar, es scheint beliebig. Vor Nachahmung kann man nur warnen. Das schnelle Tempo ist allerdings für Nicht-Notenleser hilfreich, wenn sie sich einen groben formalen Überblick verschaffen wollen. Und ich ignoriere einstweilen meinen Ärger über die Missachtung der „schönen Stelle“ inmitten der Durchführung V (das Zwischenspiel ab Taktmitte 83) und über den abrupten Umschlag in einen peinlich pompösen Abschluss. Mag es auch Mühe kosten…

I     :  0:00 (Einsätze: Alt – Sopran – Bass – Tenor)

II    :  0:43 mit Engführung (beginnt mit Tenor + Alt)

III    :  1:08 mit Umkehrung (beginnt im Tenor, später Alt – Sopran – Bass)

IV    :  1:50 mit Engführung der Umkehrung (beginnt mit Tenor + Sopran)

V    :  2:12 mit Engführung beider Versionen (beginnt mit Sopran + Tenor)

*  *  *

Folgenden Vorsatz möchte ich mir in Erinnerung halten:

Ich habe mehr zitiert als notwendig, um die Ermutigung spüren zu lassen, die in solchen Worten liegt. Die Weiterführung des Zitates müsste bei Besprechung der Fuge  b-moll erfolgen, die auch die Analyse von Erwin Ratz mit der von Ludwig Czaczkes kontrastieren sollte. (Siehe hier).

Überhaupt könnte ich mir vorwerfen, dass ich mein Projekt EE2018 stillschweigend habe entschlafen lassen. Das ist keineswegs der Fall. Nur die latente Begeisterung für die Bach-Fuge hindert mich, sie plangemäß beiseitezulegen und zu einem anderen Werk überzugehen. Und immer noch bilden sich Übe-Erfahrungen, die schwer zu notieren sind; aber wer weiß denn, ob sie je zurückkommen, wenn ich wieder einmal den Gegenstand wechsle?

Toleranz und Gewalt

Nach einem Blick in die Tageszeitung

Lütz Tageblatt 180227 Solinger Tageblatt heute!

Nun wird er wiederkehren, der Talkshow-Dauergast, mehr als genug, wie auch der Papst-Enthusiast namens Englisch. Vielleicht nicht so oft wie der Förster Wohlleben, der immer wieder von der Natur spricht, was ja auch schön ist, wenn die Leute dann liebevoller mit der Natur umgehen. Aber die, die es vor allem sollten, hören dann schon nicht mehr zu. Manfred Lütz war – glaube ich – zuletzt mit einem Buch über GOTT hervorgetreten, und mir hat – leider Gottes – völlig missfallen, dass die Musik dabei eine Schlüsselrolle spielen sollte. Am Anfang mit Elton John an Dianas Sarg, am Ende mit Bach und Mozart bei den Engeln und an Mutter Teresas Sarg. Dazu immerfort dieser flockig muntere Verkäuferton. Nein, sollen die Gläubigen doch lieber mit ihren eigenen Mitteln haushalten! Ohne die Musik als Lückenbüßer. Und jetzt wundert es mich, wer sich alles für die Propagierung des neuen Buches einsetzen wird, in Berlin: Gregor Gisy, Jens Spahn; in Köln: Volker Beck und Günter Wallraff; und in Wien werden sich zwei Leute von Rang zumindest dazu äußern: der Bundeskanzler und ein Kardinal.

Lütz ist ehrlich genug hervorzuheben, dass er die hervorragende Arbeit eines seriösen Historikers zum Thema gelesen und auf Verwertbarkeit geprüft hat. Er musste sie nach bewährter Methode endlich ins Volk tragen. Nach 10 Jahren war es an der Zeit, sie als Sensation zu servieren! In roten und schwarzen Lettern: DER SKANDAL der Skandale, dazu das Bild einer Bombe mit Zündschnur. Brisanter als jeder Wink mit dem antiislamischen Zaunpfahl. Schlau anknüpfend an die gängigen Skandalblätter ebenso wie an das bei Theologen beliebte Paulus-Wort vom Skandalon. Die unbekannteste Religion der westlichen Welt? Es handelt sich immerhin – wenn wir die dunklen Jahrhunderte ausklammern – um mindestens ein Jahrtausend westlicher Kultur, die offensichtlich eng  mit der Macht der Kirche verflochten ist. Jeder Dom, die gesamte Kunst- und Musikgeschichte steht in pro und contra dafür ein. Wer es ernst meint, braucht also keine Lautsprecherdurchsagen mehr und schreckt auch nicht zurück vor dem gewaltigen Umfang des Originals, das Arnold Angenendt in einer präzisen und gelassenen Sprache geschrieben hat. Es verbreitet eine aufklärerische Freude, wo auch immer man das 700seitige Buch aufschlägt. Man muss es nicht Zeile für Zeile von Anfang bis Ende lesen, aber es ist eine Anschaffung fürs Leben. Für Manfred Lütz genügt die Talkshow heute Abend bei Markus Lanz. (HIER Ab 1:08:10) An dieser Stelle – stattdessen oder gleichzeitig – ein Blick ins Buch von Angenendt:   

Angenendt Toleranz Inhalt 1 Angenendt Inhalt 2 Angenendt Inhalt 3 Angenendt Inhalt 4 Angenendt Inhalt 5 Angenendt Inhalt 6 

Angenendt Cover vorn Angenendt Cover rück

Vielleicht halten Sie sich für längst ausreichend versorgt durch Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“? Auch er ist Thema des Buches.

Deschner Kriminalgeschichte Bitte anklicken!

Keine Gewähr: die Preisangabe ist bestimmt an die 15 Jahre alt. Lesen Sie aber auch zu Deschner im Angenendt ab Seite 78 Kapitel 5 „Das ‚elende‘ und ‚kriminelle‘ Christentum“. Nichts wird ausgespart, hier nur eine Kostprobe:

Angenendt über Deschner

Es lohnt sich, hier nicht stehenzubleiben. Nicht an dieser Stelle des Buches.

Andererseits muss es heute wohl um ganz andere Dinge gehen als um Judentum und Christentum; auch nicht um den Islam, dessen Präsenz plötzlich die alten Themen hervorzaubert. Der Buddhismus vielleicht? Der „leere Himmel“ des Zen-Buddhismus? Die Philosophie? Das Denken… Braucht man überhaupt die Diskussion über Prioritäten? Oder dient sie wiederum der Sicherung von Machtstrukturen, die wir loswerden wollten?

Computerdenken

Gibt es eine digitale Gefahr?

Ich weiß ganz gut, in welcher Zeit es zunahm, darüber besorgt zu diskutieren. In den 50er Jahren kam das Gerücht auf, dass es denkende oder zumindest rechnende Computer gibt, die so groß seien wie ein Haus. Oder wenigstens wie ein Zimmer. Es interessierte mich nicht. Ein Kommilitone schrieb in den 60er Jahren zur gleichen Zeit wie ich an einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und zwar über den Gebrauch des Computers bei der Analyse von Melodien (des Hugenottenpsalters). Wir unterhielten uns darüber bisweilen auf den Fluren der Kölner Universität, aber für mich stand fest, dass diese Ideen für meine Arbeit an arabischen Melodien ohne Bedeutung seien: da man diese nicht verstehen könne, ohne sie mit allen Sinnen verinnerlicht zu haben. Die andere Methode erinnerte mich an die unselige Notenzählerei in Bachs Werken, die gerade – wie ich meinte – von Leuten favorisiert würde, die Bach als kontrapunktischen Mechaniker missverstehen. Ich mache es kurz: noch als die Computer im WDR eingeführt wurden, habe ich mir gedacht: das ist nichts für mich, ich schreibe meine Sendungen weiterhin mit bunten Stiften auf große Bögen, verteile die Ideen übersichtlich und ergänze sie traubenförmig nach allen Seiten, ziehe Linien und lasse mich assoziativ inspirieren. Kollege Schortemeier im WDR wehrte sich sogar gegen die Abschaffung der Karteikarten-Systeme zugunsten digitaler Kataloge, indem er argumentierte, er brauche bei der Programmgestaltung die sinnlich-haptische Beziehung zu den Tonträgern bzw. ihren papierenen Statthaltern in den Schränken. Dieses Blättern in den ausgewählten und auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Karten, auf denen sich nicht nur die Titel der Musikstücke, sondern auch handschriftlich hinzugefügte Informationen befanden. Ich will mich nicht lange damit aufhalten, wie ich allmählich umgestimmt wurde, stattdessen das erste Buch hervorheben, das mich positiv beeindruckte. Zunächst hatte ich vermutet, dass es meine ablehnende Haltung unterfüttern würde. Ein Weihnachtsgeschenk meiner Kinder zum 24.12.1991, im Jahrzehnt vorher hatte bereits „Gödel, Escher, Bach“ eine Rolle gespielt.

Penrose vorn Penrose rück Über Roger Penrose !

Am 16.7.1998 war die Umstellung auf digitales Denken bzw. produktiven Computergebrauch im Beruf längst vollzogen, da bahnte das folgende Buch (wiederum ein Geschenk aus derselben Quelle) neue Wege und sorgte für ein grundsätzlich neue Übersichtlichkeit der Lage. Später fragte ich mich des öfteren: Wo ist eigentlich Florian Rötzer geblieben? D.h. zu einem unbeirrbaren Verständnis der digitalen Mittel war ich vielleicht doch nicht vorgedrungen, obwohl ich zuweilen Hinweise (z.B. auf die Website Telepolis) bekam oder auch einige Wege selbst entdeckte.

Rötzer Buch außen Inhalt:

Rötzer Inhalt 1 Rötzer Inhalt 2

Wie gesagt: die Zeit ist nicht stehengeblieben. Siehe unter Florian Rötzer, insbesondere das Werkverzeichnis, und vor allem auch heute TELEPOLIS. Oder gezielt a.a.O. HIER. Oder z.B. HIER. Oder z.B. über Medien HIER. Eine etwas willkürliche Auswahl, aber wandern Sie doch einfach auf eigene Faust durch das Angebot bei Telepolis. Oder durchstöbern Sie in diesem Sinn die Zeitungen. Man dürfte ohne weiteres auch scheinbar banale Aktualitäten unter die Lupe nehmen. (Jetzt habe ich „Sie“ als imaginäre Leserinnen und Leser angesprochen, meine aber viel nachdrücklicher mich selbst als bedürftigen Adepten.)

Ich habe zum Beispiel die Auswahl zum European Song Contest gesehen und habe gestaunt, was für eine absurde Qualitätsvorstellung dort zuhaus ist. Nachdem damals verkündet worden war, es sollten neue Kriterien und neue Auswahlverfahren gelten. Aber könnte nicht jeder Computer heute besseres Zeug herstellen? Nicht eine einzige Melodie, die diesen Namen verdiente („Song“). Stattdessen ein sinnloses Hin- und Herschaukeln der Töne, verbunden mit dem  flehentlichen Blick der Akteure: erkennt ihr denn nicht, wie authentisch ich bin?

Ein Schande wirklich, auch wenn man die Messlatte für Schlager besonders tief legt. Es ist die natürliche Folge einer Einstellung, die glaubt oder vorgibt, musikalischen Erfolg durch planvolle Zwischenteste und Volksbefragungen erzielen zu können. Heraus kommt eine Simulation von musikalischen Nichtswürdigkeiten. (Dagegen gehalten präsentiert Helene Fischer reihenweise Geniestreiche.)

Ich wende mich einem lesenswerten Artikel der aktuellen Wochenzeitung DIE ZEIT zu. Auch da geht es um Simulation, und es gibt kaum ein interessanteres Feld auf dem Gebiet der Kultur (und der Vortäuschung von Kultur). Wenn man einmal diesen möglichen Hintergedanken (als Prüfstein) erfasst hat. Mich reizt diese Vorstellung, seit ich vor vielen Jahren begann, die sogenannte „Volksmusik“ als Musik-Ersatz zu „lesen“  und irgendwie zu tolerieren, etwa so wie man die Groschenromane (vielleicht ist ihre Funktion inzwischen vom Smartphon aufgesogen worden) als Literatur-Ersatz sehen konnte. Oder sogar als „wirklicher“ Lebens-Ersatz (vgl. „Die Musik ist mein Leben“, „Fußball ist unser Leben“).  Aber das hat mit dem Artikel nur indirekt zu tun.

*  *  *

„Als die Servolenkung zu perfekt wurde“, so heißt es, „beschwerten sich Fahrer, weil sie die Straße nicht mehr spürten. Folglich wurden Servolenkungen so ausgestattet, dass die Bodenbeschaffenheit wieder übertragen werden konnte.“ Das ist ein fast perfektes Gleichnis dieses Ersatzdenkens: noch perfekter wäre es, wenn solche schlagloch- oder schotterähnlichen Wirkungen erst wieder künstlich hergestellt und auf den realen Zustand der Straße abgestimmt würden. Per Hand.

Der ZEIT-Artikel geht aus vom Traum eines klavierspielenden Maschinenbau-Professor namens Brent Gillespie beim Anblick eines Steinways:

Der Ingenieur möchte in allen zehn Fingern das Gefühl erleben, so ein Instrument zu spielen – ohne einen Konzertflügel in sein Labor schaffen zu müssen. Dem Informatiker […] geht es um die sinnliche Erfahrung, welche die Mechanik einer Steinway-Taste in den Tausenden Tastzellen eines Pianisten-Fingers hinterlässt. Lässt sich dieses Empfinden künstlich so gut nachbilden, dass nichts fehlt im Vergleich zum Original? Gibt es das Steinway-Gefühl ohne den teuren Flügel? […] „Wir entwickeln Technologien mit audiovisuellem Feedback“, beschreibt Gillespie. „Das ist einfach, aber etwas Wichtiges fehlt: die Haptik.“ Interaktion mit Geräten beschränkt sich zunehmend auf Sehen und Hören. Von der Schreibmaschine über die Computertastatur bis zum Smartphone – die Geräte wurden komfortablerweise immer kleiner. „Aber wir haben etwas Großes verloren, als wir die Tasten weggenommen haben.“

Jedoch: mein Problem bei einer elektronischen Ersatzlösung für den Steinway wäre in erster Linie der Klang gewesen, erst viel später das Tastgefühl bzw. die manuelle Beziehung zur Gestaltung des Klangs. Natürlich auch das Bewusstsein, dass es ein wirkliches Hämmerchen ist, das die wirkliche Saite tangiert. Aber davon abgesehen. Hier geht es zunächst um die Tasten des Schreibgerätes.

Wer heute einen Text mittels Touchdisplay eingibt, spürt auf vielen Smartphone-Modellen eine winzige Vibration bei jedem Buchstaben. Schon dieser billige Ersatz erzeugt das beruhigende Gefühl, etwas ausgerichtet zu haben. Unser Gehirn übersetzt diese unbestimmte Vibration in das, was es erwartet: das Gefühl von Tastendruck.

Aber ist solcher Ersatz genau so gut? [… Gillespie sieht für den Flügel eine große Chance im Digitalen:]

Erst einmal arbeitet er in seinem Labor an einer aufwendigen Apparatur mit vielen kleinen Motoren, die das Empfinden beim Flügeltastendruck simulieren. Motoren, also echte Bewegungen, sind aus seiner Sicht der erste Schritt zum Ziel: „Eine gute Illusion“. […]

Seit der Jahrtausendwende ist den Forschern und Entwicklern wenig anderes eingefallen als Vibration, um das Spüren zurückzubringen. Sie ist ein einfaches und billiges Mittel, um eine Berührung zu imitieren. Am deutlichsten wird das Problem in der virtuellen Realität (VR), dieser radikalen Alternative zur physischen Welt, die dank moderner Videobrillen und detaillierter Computergrafik erstaunlich echt wirkt. Bis auf die Physik: Man kann dort Dinge anfassen, in die Hand nehmen, an andere weiterreichen. Aber sie wiegen nichts. Wer eine Wand berührt, spürt vielleicht eine Vibration, mehr nicht, dann gleitet die Hand hindurch. Spätestens in der VR wird klar, dass die Pauschallösung Vibration eine schlechte haptische Prothese ist, eine, die den Phantomschmerz verstärkt.

In dem Artikel wird von aufwendigen Experimenten berichtet, in denen mit Drohnen und Robotern gearbeitet wird, wobei sich vor allem zeigt, wie unfassbar die digitale Welt weiterhin ist. Doch es gibt auch andere Lösungsversuche, ohne Drohnen und Roboter. Sie nutzen keine realen Gegenstände mehr, sondern produzieren lediglich den Eindruck, dass sie da sind. Es geht letztlich um das Feingefühl, das im Umgang mit den realen Dingen Rückmeldung geben muss, sei es nun in der Chirurgie oder bei der Arbeit in einem unzugänglichen Schiffswrack. Was nicht fehlen darf, ist „das Gefühl, ob es mit dem Greifen geklappt hat.“

Da gibt es das Beispiel einer Spinne, einer haarigen Spinne, die mit ihren acht Beinen (die Zahl ist unwichtig) über die Hand der Versuchsperson läuft und diese kann jede ihrer Bewegungen spüren, „obwohl das Tier einzig virtuell existiert, als Bild in der Datenbrille und als Signal im zugehörigen Handschuh“, der entsprechend präpariert ist. [Die technischen Details erspare ich mir.]

Andere Versuche – zur Simulation der Schwerkraft einer anzuhebenden Kiste, – funktionieren über Elektroden auf der Haut, mit deren Hilfe durch Muskelstimulation immer der Gegenspieler jenes Muskels aktiviert wird, der aktiv gegen die Schwerkraft anarbeiten müsste, wenn sie denn vorhanden wäre. Und siehe da: „Die physisch nicht existierende Kiste fühlt sich real schwer an.“ – Wieder andere Versuche sollen es ermöglichen, mit einer winzigen Zange Metallteile oder eine Kette anzuheben. Man braucht das Gefühl, „dass es mit dem Greifen geklappt hat“. Wofür das gut sein soll? Wenn man z.B. aus einem unzugänglichen Schiffswrack eine historische Vase bergen, ohne das sie Schaden nimmt. Es geht nicht ohne den Einbau haptischer Qualitäten in das Gerät, die zum Protagonisten weitergegeben werden.

OP- und Tauchroboter, authentisches Pianogefühl, Reize aus Stiften, Luftdruckhandschuh und Muskelelektroden: So verschieden die Projekte und die Ansätze der Haptikforscher sind, eine Gemeinsamkeit haben sie alle. Bei typischer Computerarbeit, etwa mit Maus, Tastatur und Bildschirm, „da gibt es eine Grenze, wie gut du werden kannst“, so formuliert es Brent Gillespie. „Augen und Gehirn sind ausgelastet, der Körper ist stillgelegt.“ Wenige Sinne werden voll gefordert, andere vernachlässigt. „Das Tolle an unseren motorischen Fähigkeiten ist doch, dass wir nie aufhören zu lernen und immer besser werden“, sagt Gillespie und vergleicht es damit, wie es für einen Schüler ist, ein neues Instrument zu lernen. Der Körper macht es dann einfach. Computer verschenken diese Möglichkeit: Du musst immer denken.“

Endlich mal nicht denken zu müssen – das klingt wahrlich seltsam für eine technische Vision. Aber wenn es gelänge, die analoge Haptik zu übertragen in die digitale Welt, könnte das sinnliche Erfahrungen demokratisieren. So wie in Brent Gillespies Traum: Der Flügel wäre dann nicht mehr nur ein Instrument für die, die es sich leisten können. Ohne komplizierten mechanischen Aufbau wären viele Instrumente günstiger zu produzieren. „Alle Kinder könnten merken, wie viel Spaß es macht, immer besser zu werden.“ Diese Motivation hat ihn zur Musik gebracht – und über Umwege zu ihr zurück.

Quelle DIE ZEIT 22. Februar 2018 Seite 35 Zurück zum Spüren Computertechnik fordert Augen und Ohren, alle anderen Sinne liegen brach. Jetzt machen Forscher digitale Welten fühlbar / Von Eva Wolfangel. (Siehe auch hier.)

Ich muss gestehen, am Ende hat mich das Ziel des Artikels etwas enttäuscht. Kinder sind wahrscheinlich doch anders: gewiss ist für sie die Haptik der Tasten von großer Bedeutung, aber die wird allein durch das Treffen der richtigen Tasten wohl für lange Zeit ausreichend herausgefordert. Und mit ihrer am Keyboard trainierten Haptik könnten sie vielleicht keinen Steinway zum Singen bringen, aber immerhin an einer gewaltigen Kirchenorgel zu ganz passablen Leistungen kommen.

Es war ja nur ein Beispiel. Ich würde niemandem raten, jahrelang am Keyboard Klavier zu üben, es sei denn, man braucht es „nur“ für Pop-Musik und die Beschallung von Stadien. Dort bedarf es ja auch keiner Stradivari, Adapter am saitenbespannten Brett genügen. Oder der Keyboarder übernimmt den Part. Das klingt für halbtaube Ohren fast wie Geige. Ist das etwa eine digitale Gefahr?

Heiliger Bimbam

Ist „Gotteslob“ heute noch möglich?

Ich meine mit allem, was dazugehört. Vor allem: mit Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft und auf „künstlerischem Niveau“?

1993, vor 25 Jahren habe ich Hans Zenders Büchlein gelesen oder sogar durchgearbeitet, gerade den geistlichen Teil (im Hintergrund das Thema: „Tradition heute“), und kann das immer noch dringend empfehlen. Leider gibt es das Werk regulär wohl nirgendwo mehr zu kaufen.

Zender Cover  Zender Inhalt Freiburg i.Brsg. 1991

Ich möchte 4 Seiten aus dem Überblick zur Geistlichen Musik als Scans wiedergeben, weil sie zeigen, was mich damals beeindruckt hat. Z.B. die Einschätzung der Orgelmusik als triumphalistisches Getöse, das im liturgischen Kontext grundsätzlich vermieden werden sollte; zugleich die Warnung vor dem unbeschreiblichen Seelenkitsch einer sich so nennenden „Meditationsmusik“.

Zender Inhaltliches a Zender Inhaltliches b

Schlimm ist es, dies zu rekapitulieren, wenn man bedenkt, dass sich der musikalische Ungeist heute in den Kirchen viel schlimmer eingenistet hat, als man es früher befürchtet haben konnte. Denn inzwischen sind selbst die Passionsaufführungen in den „normalen“ Städten eingestellt worden, wo es in den 90er Jahren noch üblich war. Die Mittel fehlen, – reichen aber aus, um die Räume mit volksnaher „Gegenwartsmusik“ über Lautsprecher zu beschallen. Heute ist zudem die Erklärung des Glaubens schwieriger denn je, da die Auseinandersetzung mit anderen Religionen plötzlich nicht nur die Christen, sondern auch die säkularen Vertreter der „Leitkultur“ herausfordern, zumal sie vielleicht nicht mehr die theologischen Inhalte von einst verteidigen wollen, wohl aber die Passionen Johann Sebastian Bachs. Als (indirekten) Beleg zitiere ich aus einem SZ-Bericht über die GLORIA in Augsburg, eine Ausstellung für Kirchenbedarf.

 (…) Die Gloria ist heiliger Bimbam in den unterschiedlichsten Klangvarianten. Der Stand von Turmuhrenbauer übertönt mit seiner Glocke alles. Wer durch die benachbarte Priesterberufungsabteilung wandelt, nimmt die Darbietung einer Harfenistin wahr, die CDs mit „Seelenklängen“ verkauft. Und die Orgeln geben nie Ruhe. Irgendein Angeber ist immer unterwegs, der mal eben so die zwei Manuale mit Liedern aus dem Gotteslob durchdudelt. „Gehegrüüßet seist du Königin, ohohoo Maria.“

Nichts gegen Orgeln, aber Lukas Di Nunzio verfügt über Lautsprecher, die er sehr laut drehen kann, um das Gepfeife zu übertönen. Herr Di Nunzio, 51, bezeichnet sich als wiedergeborenen Christen und Komponisten und er vertritt die Firma CCLI, die Lizenzen für neue christliche Lieder anbietet. Zwischen den Klosterlikör-, Kräuter- und ParamenteFieranten steht Di Nunzio an einer schmucklosen Theke. er handelt mit Daten, die „die Leute wieder in die Gottesdienste bringen“. Mit Noten und Texten christlicher Popmusik. Wer als Abonnent einsteigt, kann die komplette Datenbank und die regelmäßigen Updates mit den neuesten Anbetungs-Hits abrufen, ja sogar beliebig transponieren. Die Firma garantiert Zugriff auf ein Repertoire in sechsstelligen Dimensionen, das regelmäßig mit neuen Songs ergänzt.

Viele Lieder klingen nach Schlager, wie die Schlagerkünstlerinnen Helene Fischer und Andrea Berg sie darbieten. Allerdings haben sie eine transzendentalere Adresse: „Ich lieb dich, Herr, keiner ist wie du. anbetend neigt sich mein Herz dir zu. Mein König Gott, nimm dies Lied von mir! Lass mich, Herr, ein Wohlklang sein vor dir!“ Lukas Di Nunzio sagt, das sei die Sprache, die die Menschen heute verstehen. Es gehe um Verständlichkeit. Das ganze Liedprogramm mit E-Gitarre, Keyboard und Schlagzeug läuft unter der Formel „Lobpreis“. Wie fulminant sie ankommt, hätten auch schon einige katholische Bischöfe erkannt. Die Katholische Kirche wird evangelikaler.

Drüben bei den Orgeln spielt einer „Freut euch, ihr Kerubim, lobsingt, ihr Serafim“. Kerubim? Serafim? Das ist dann wohl die Sprache, die die Menschen nicht mehr verstehen.

Aber hat die Kirche nur eine Sprach- und Verständigungskrise? Gregor Henckel-Donnermarck, erfolgreicher Buchautor und Altabt des österreichischen Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz, erzählt auf dem Messepodium eine Geschichte, die sich in Wien zugetragen haben soll. Eine Gruppe katholischer Pfarrgemeinderäte trifft sich mit Vertretern des Islam zu einem Glaubensgespräch. Die Muslime haben sich vorbereitet, die Katholiken nicht. Dann erläutern die Muslime ihren Gesprächspartnern, was sie an deren Glauben für beachtlich halten, man könnte auch sagen: für unglaublich. Die Transsubstantiation zum Beispiel, also die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, und die unbefleckte Empfängnis. Die Katholiken runzeln die Stirn. So etwas Wunderliches kann doch keiner ernsthaft glauben, sagen sie. Die Muslime stehen auf und gehen: „Wenn ihr euren eignen Glauben nicht kennt, hat es keinen Sinn, mit euch weiterzureden.“ (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 20. Februar 2018 Seite 9 Sakrament ex machina Uhudler Saft statt Messwein, Kirchen als Hotspot, Missionare aus Indien: Auf der Gloria, der Ausstellung für Kirchenbedarf in Augsburg, zeigt sich, wie Zeitgeist und Glaube zusammenfinden. Von Rudolf Neumaier.

Ich habe das Gefühl, mich dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung erkenntlich zeigen zu müssen. Denn ich bin sehr froh über diesen Augenzeugenbericht von der GLORIA, versichere zugleich, dass ich nicht mehr als ein Achtel des gesamten Berichtes abgeschrieben habe und dass es sich lohnt, den Zugang zum Rest des Artikels auch noch zu erwirken. Was möglich ist, indem man den Titel bei Google eingibt usw., während ich dies alles und die ganze Zeitung im Papierformat konsumiert habe, so auch das Streiflicht, das ich nie versäume. Den Clou aber werde ich nicht verraten, denn der erscheint erst im Anschluss an das folgende Zitat (und zwar in Gestalt des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu):

Die alte Philosophisch-Theologische Hochschule Passau ist längst verschwunden, aber ein paar Erinnerungen daran haben sich erhalten. So gab es dort einen Philosophie-Dozenten, der für die Zeichenhaftigkeit seines Vortrags berühmt, ja fast berüchtigt war. Er wusste, dass die Wahrnehmung eines Zeichens bei den Studenten im Glücksfall die Vorstellung des diesem Zeichen zugeordneten Gegenstandes hervorruft, und da er es mit vorwiegend ländlichen Jungmännern zu tun hatte, wählte er klare, schlichte, auffällige Zeichen. Das Thema „Sein und Nichtsein“ pflegte er damit einzuleiten, dass er bei „Sein“ aufrecht stand, bei „Nichtsein“ aber hinter seinem Stehpult abtauchte. Die Studenten genossen die listige Pantomime und waren für ihr weiteres Leben in ontologischer Hinsicht gut abgesichert. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 20. Februar 2018 Seite 1 Das Streiflicht.

Es war diese Geschichte, die mir bekannt vorkam, ohne dass ich mich rühmen könnte,  mit einer Philosophisch-Theologischen Überlieferung je in Berührung gekommen zu sein. Aber ich habe nicht geruht, bis ich eine mir näher stehende Quelle aufgetan hatte: es handelt sich um einen Band der von meinem Vater geerbten Reihe „Handbuch der Musikwissenschaft“, nämlich der Band „Aufführungspraxis“ von Robert Haas, Wildpark Potsdam, Athenaion, 1931. Die Seitenzahl ist auf dem Scan wiedergegeben:

Beethoven dirigiert Wie Beethoven dirigierte!

Die Quelle dieser Quelle wiederum hat mich sehr neugierig gemacht, die Eipeldauerbriefe, die vielleicht an anderer Stelle des Bücken-Bandes näher beschrieben sind. Ich habe mir die Suche dort erspart und bin bei Google fündig geworden, schauen Sie doch hier und forschen Sie weiter! Es gibt weiß Gott viel zu lesen, wenn man nur will!

Eipeldauer Briefe 1805

Und erst heute bin ich auf eine Quelle aufmerksam gemacht worden, die meine eigene Person betrifft. Ich kann nur staunen, was so alles gespeichert wird. Dabei hat es in dieser Zusammenstellung vielleicht nur für mich besonderen historischen Wert!

HIER.

Aus meiner Sicht ist schwerwiegender, dass niemand die drei Spohr-Duos op. 38 aufnehmen will, die wir nun bald vollständig erarbeitet haben. Jetzt hört uns wieder kein Schwein!

Tristan und anderes hören

Lauschen, Verbalisieren, Kritisieren

Schwer zu verstehen, was man heute in Kritiken liest; vielleicht, weil darin immer Triftiges zur Inszenierung  und zur aktuellen musikalischen Interpretation vorkommen soll. Und ein bisschen abgebrüht muss es klingen, sonst entsteht der Eindruck, es sei noch zuviel naives Musikerlebnis drin. Pubertäres.

Spätestens mit dem zweiten Akt zieht Daniel Barenboim das Tempo an, und wer meint, nach allem Reminiszenzennebel setze sich nun doch der alte „Todestrotz“ durch, der täuscht sich. Nichts ist hier mehr äußerlich, und wenn in der Liebesnacht etwas orgiastisch gefeiert wird, dann der Vorgang des Komponierens als solcher. Barenboim musiziert wie unter dem Elektronenmiskroskop, baut einzelne Klangmoleküle auseinander und hält sie gegen das Licht, den Akkord aller Akkorde natürlich, immer wieder – aber auch ganze Szenen wie die König Markes (Stephen Milling) Ende des zweiten Aufzugs, wenn mit der Entdeckung des Liebespaars alle Tongebäude und jeglicher Idealismus in sich zusammenstürzen.

Was eben alles so in der Dunkelheit passiert!

Wagner Tristan Lauschen

Natürlich ist das Tempo in der Einleitung erstmal recht lebhaft, weil Markes Jagdgesellschaft loszieht und die Liebesungeduld der Zurückbleibenden erheblich wächst. Aber steht im Mittelpunkt der Liebesnacht nicht die unendliche Ruhe auf der Blumenbank („löse von der Welt mich los!“)? Oder lässt sich daraus kein Text gewinnen?

Eine Lösung ist es jedenfalls nicht, viereinhalb Stunden Oper hinter einem Gazeschleier spielen zu lassen (dreier überflüssiger Projektionen wegen) oder Tristan in der Liebesnacht – Schopenhauer und Nietzsche lassen grüßen! – ein Buch in die Hand zu drücken, aus dem heraus er Isoldes Begehren für sich, nun ja, drapiert.

Spätestens nach dem Grüßenlassen weiß ich, dass dieser flotte Ton nichts für mich ist. All diese Wortfundstücke: vom „Promi-dichten Premierenabend“, in „leuchtendem, wissendem Mahagonikommodensound“, einer Akustik – „eher streicher- und holzbläserfreundlich als günstig fürs Blech (wenigstens im ersten Rang) – aha! Vielleicht ganz hinten andersherum!? Oder auf der Bühne:

Und auch die Sänger tun ihr Bestes: Zwar hat Anja Kampes Isolden-Debüt mit viel Vibrato und einigen Mühen in der Höhe noch Luft nach oben, ihr Engagement aber ist wie immer bestrickend. Andreas Schager als Tristan hingegen legt stimmlich, mit metallisch-heldischem Tenortimbre, eine solche Unverwüstlichkeit an den Tag, dass man ihm das ganze Weltabschiedsgewese der Figur, den Manne in seinem Dunkel, nicht recht glauben kann.

Die Fraue in ihrer Höhe aber ebenso wenig, sei ihre Mühe auch bestrickend…

Quelle DIE ZEIT 15. Februar 2018 Seite 49 Feier der Klangmoleküle Daniel Barenboim dirigiert Wagners „Tristan und Isolde“ an der Berliner Staatsoper als Gedankengemälde / Von Christine Lemke-Matwey.

*  *  *

Wie wäre es mit einer Tristan-Essenz heute Abend, samt Debussy, Bartók, Ligeti und Ravel? Nur Musik, nichts als Musik? Siehe HIER  (als Video nicht mehr verfügbar)

Gürzenich 20 Februar live Screenshot 2018-02-20 12.31.29

Nils Mönkemeyer Screenshot 2018-02-20 20.52.43 Nils Mönkemeyer bei der Zugabe

Gürzenich-Orchester Screenshot 2018-02-20 22.05.42 Gürzenich-Orchester bei Ravel (Ende)

Bartok Skizze Anfang der Bartók-Skizzen zum Viola-Konzert

Streng genommen habe ich mich zuletzt nur auf Bartók fokussiert (die Skizzen zum Violakonzert findet man in IMSLP Petrucci), das pentatonische Solo-Stück von Salonen ging unmittelbar über in den Anfang des Viola-Konzerts, Nils Mönkemeyers Zugabe war ein erstaunliches Werk von John Cage (!) für Solobratsche plus Bratschengruppe. Insgesamt eine Programmfolge, die mich auf die verschiedenen Hör-Modi bei Günther Anders verwies. Auch die erratische Abschrift, die folgen wird, setzt voraus, dass ich Tristan-Vorspiel, Fuge, Mozart-Champagner-Arie, Debussy bereits als Prototypen der Hör-Modi verstanden habe (was nur unter Vorbehalt gelingt, zumal Bartók für Mozart u.ä. einstehen müsste ). Trotzdem führen die Ausführungen zum Thema Lauschen auf fruchtbares Gelände, das mit anderen „Sichtweisen“ in Verbindung gebracht werden kann (z.B. Zuckerkandl). – Letztlich haben diese Ausführungen nichts mehr zu tun mit dem Ansatz dieses Artikels: der Fragwürdigkeit journalistisch gelenkten Hörens, das auf wirkungsvolle Verbalisierung gerichtet ist. Eine Wirkung, die (fast) nichts mehr mit der musikalischen zu tun hat.

Notiz u.a. zu Bartók

Programmheft Hier

Zur Vorgeschichte des Manuskripts siehe auch Hier

Bartók: Viola-Konzert, nur Ton + Standbild (mit Tabea Zimmermann) Hier

Bartók: Viola-Konzert samt Partitur (mit Yehudi Menuhin 1966) Hier

*  *  *

ZITAT Günther Anders:

Selbst das alltägliche Lauschen besteht nicht nur lediglich darin, dass es ein Fernes, kaum Hörbares eben doch noch hörte: es hört seinem Kommen entgegen. Aber wenn auch der erlauschte Ton „von wo“ kommt, wo wir nicht sind, wenn er selbst richtungsmäßig, nicht nur stellemmäßig unlokalisiert bleibt, so kommt er doch nur von einem Ort innerhalb desjenigen Lebensraumes, in dem wir und befinden. Dieses – gleichsam innerweltliche – Lauschen soll und hier nicht beschäftigen, sondern nur dasjenige, in dem das Erlauschte aus einer Sphäre hertönt, die grundsätzlich geschieden ist von derjenigen, in der sich der lauschende Mensch als Mensch in Umwelt  befindet. Der Musik lauscht man, nicht weil sie räumlich ferne wäre, sondern weil sie (selbst bei größter räumlicher Nähe) aus einer Dimension sui generis aufstößt. Dem Schrei des Tieres lauscht man, weil in ihm die uns verborgene Dimension tierischer Existenz zu uns kommt. Man hört Ton, man lauscht einer Stimme. Damit ist das Lauschen die Gegenmöglichkeit zur eigenen Stimme: der Mensch, der sich in die Stimme legen, der in der Stimme, ohne sie schon zu objektivieren, aus sich herauskommen kann, kann auch der Stimme lauschen, ohne dass die Stimme Objekt würde. Man lauscht ihr (oder ihm, der sich in die Stimme legt), das heißt dem Kommen der Gelöstheit, die die Stimme als solche darstellt. Wird nun die Stimme erlauscht, so wird andererseits in der Situation des Lauschens alles zur Stimme; alles jedenfalls, das nun dem Lauschenden entgegentritt – denn die Dingwelt bleibt ungegeben. An ihre Stelle tritt eine Welt von Stimmen. – (…)

Das Lauschen weiß nicht, wohin es lauschen soll. Es lauscht zwar dem Ertönen entgegen, aber wo nichts ertönt, kann noch immer etwas aus dem Nichts ertönen. Dieses Nichts, in das das Lauschen hineinlauscht, ist die Stille: „Stille, aus der Nachricht sich bildet“. Trotz ihrer Negativität ist sie das eigentliche Medium des Lauschens; sie ist greifbar in der Pause, greifbar in der Stille am Anfang oder Ende des Stückes.

Quelle Günther Anders: Musikphilosophische Schriften / Texte und Dokumente / C.H.Beck München 2017 (Musikalische Situationen / Rückfrage nach dem Element des Tones / Seite 113 ff)

Weiteres zum HÖREN siehe auch im Blog-Artikel „Mystisches Hören„.

Tod einer Kastanie

Heidberger Mühle a Heidberger Mühle b

Kastanie Heidberger Mühle 170523 a 23. Mai 2017

Kastanie Heidberger Mühle 170706 6. Juli 2017

Seit vielen Jahren einer unserer Lieblingsplätze, sobald die Sonne es erlaubt: die Terrasse des Gasthauses Heidberger Mühle, gelegen im Ittertal zwischen Solingen und Haan, gute Küche, nette Leute. Im Frühjahr schaute man auf den großen Weiher mit der Mühle und in das prächtige Laub des Kastanienbaumes, dessen Blätter im Laufe des Jahres die typischen Symptome des Miniermottenfraßes zeigten. Trotzdem schien er unsterblich. Schauen Sie nur in die Bildersammlung.

Und heute? Bzw. am 13. Februar 2018?

Kastanie Stumpf 180214 Kastanie Stumpf b 180214

Es war unvermeidbar. Aber wir sind sensibilisiert, seit dem Sturz der Eiche im eigenen Garten, die wir vor Jahrzehnten – direkt nach der versehentlichen Zuschüttung durch Baumaßnahmen 1975 – wieder ausgraben und mit einem Schutz aus Kieseln hatten umgeben lassen (ohne Garantie). Hier.

Und vor ein paar Tagen im Walde (eben: kein Anlass zum Jammern. Darum nicht! Leben und Sterben…)

Ohligser Heide 180213 Stumpf & Holz a Ohligser Heide 180213 Stumpf & Holz b Ohligser Heide 180213 Stumpf & Holz c Ohligser Heide 180213 Stumpf & Holz d

Merkwürdigerweise sehen alle Stammteile des Baumes – außer dem ersten – gesund aus! An dieser Stelle lese ich gern dort weiter, wo es um Baum, Borke und Goethe geht, nämlich hier. Oder zurück in die eigene Schock- oder Angstgeschichte hier.
Ich schließe mit dem geheimen Ziel jeder Waldwanderung in der Ohligser Heide: dem Blick auf den Drei-Insel-Teich; sein Innenleben ist durch eine dünne Eisschicht geschützt.
Ohligser Heide 180213 Dreiinselteich 13. Februar 2018 17:01

Erinnerung

Ohligser Heide 1.Juli 2014 a 1. Juli 2014

Ein Fugen-Thema verstehen

ORIGINALTEXT: August Halm (1869-1929) zur Fuge BWV 891 b-moll

HALM Bach b-moll-Thema 1 HALM Bach b-moll-Thema 2 HALM Bach b-moll-Thema 3 HALM Bach b-moll-Thema 4 HALM Bach b-moll-Thema 5 HALM Bach b-moll-Thema 6 HALM Bach b-moll-Thema 7 HALM Bach b-moll-Thema 8 HALM Bach b-moll-Thema 9 HALM Bach b-moll-Thema 10  HALM Bach b-moll-Thema 11 HALM Bach b-moll-Thema 12 HALM Bach b-moll-Thema 13 HALM Bach b-moll-Thema 14 HALM Bach b-moll-Thema 15 HALM Bach b-moll-Thema 16 HALM Bach b-moll-Thema 17 HALM Bach b-moll-Thema 18HALM Bach b-moll-Thema 19 (Ende der Scans)

Quelle August Halm: Von zwei Kulturen der Musik / Stuttgart 1947 (1913)

Da Halm in dieser Analyse auch auf den Vortrag (!) des Themas zu sprechen kommt, sollte man zugleich bedenken, wie die Umkehrung des Themas zu gestalten wäre, die nicht ohne weiteres zu erkennen ist, es sei denn, man hätte auch diese Version vorweg analysiert und geübt. Dann aber auch reflektiert, was zu tun ist, wenn dieses Thema in Engführung – mit nur einer  Zählzeit Abstand – gespielt wird. Ich zitiere diese Versionen zu besseren Orientierung aus dem unentbehrlichen Buch von Alfred Dürr:

Bach b-moll-Fuge Engführungen

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel – Basel – London – New York – Prag 1998 / ISBN 3-7618 1229-9 (Seite 417)

August Halm ist auch dort interessant, wo er Kritik übt, und da spart er selbst die verehrtesten Meister nicht aus, – und scheut sich nicht, eine verfehlte Kritik bei besserer Einsicht zurückzunehmen. Der Anfang der folgenden Seite betrifft noch das Thema der Fis-dur-Fuge BWV 882 (worauf ich an anderer Stelle eingehen möchte); und wie man gleich sehen wird, missfällt ihm auch das H-dur-Thema BWV 892 (siehe auch hier): Achtung, Missverständnis korrigieren! (Er spricht vom H-dur in Band 1 ! )

Halm über Orgelfugenthema Orig.siehe hier → HALM Orgelfuge Screenshot 2018-02-17 22.25.57

Bevor ich mein Missverständnis korrigiere, illustriere ich Halms Selbstkorrektur, mit 3 Zitaten aus der Orgelfuge BWV 547; es handelt sich tatsächlich um ein Faktum, das man leicht mit bloßem Ohr wahrnehmen kann:

Orgelfugenthema in C a

oben: Das Thema besteht nicht nur aus dem ersten Takt, die Quartsprungfortsetzung gehört dazu!

Orgelfugenthema in C b

oben: Das Thema, jetzt in a-moll, hat eine wiederum neue Fortsetzung gefunden, die absteigende Sechzehnteltonfolge. Außerdem erscheint als Beantwortung (2. Takt) die Umkehrung des Themas, samt der nun aufsteigenden Sechzehntelfolge.

Orgelfugenthema in C c

oben: auf der dritten Zählzeit beginnt das Thema in der Unterstimme, lässt aber eine noch einmal andere Form der Fortsetzung folgen, die Oberstimme antwortet mit der Umkehrung, jedoch mit neu gestalteter Fortsetzung, während im Pedal eine Vergrößerung des Themas zu hören ist, deren Fortsetzung nach 2 Takten in einer Transposition dieser beiden Thementakte um eine Quint aufwärts besteht.

Mein Missverständnis: das von Halm wirklich gemeinte H-dur-Thema BWV 868 (Bd.I), samt Kontrasubjekten, hier nach Dürr a.a.O. Seite 230:

 H-dur-Thema WTK 1

NB: Über diese Fuge habe ich in den 80er Jahren im WDR Studio für Klangdesign gemeinsam mit Hans Ulrich Werner (HUW) eine analytische Radiosendung produziert. (Wenn ich die Unterlagen wiederfinde, werde ich sie hier als Beleg anfügen. Sozusagen aus historischen Gründen.)

Einen anderen Vorsatz würde ich bei Gelegenheit gern umsetzen: nämlich auch etwas Grundsätzliches zum Vortrag einer Fuge zu sammeln, z.B. dass keinesfalls immer das Thema hervorzuheben ist.

*  *  *

Was heißt: Musik verstehen?

Je nachdem. Von welcher Musik soll denn die Rede sein?

Eine Improvisation (nach einer Probe mit Spohr-Duos op.39)

Die Musik muss einen Anreiz geben, diese Frage zu stellen. Nicht gemeint ist (fraglos) z.B. Musik zum Mitschunkeln (gestern war Rosenmontag). Wie aber steht es mit „Musik zum Träumen“? Oder mit „Meditationsmusik“?

Gewiss kann ich jede Musik problematisieren, in Frage stellen, etwa durch die Frage: Ich verstehe nicht, was die Menschen daran finden. Das könnte aber bedeuten: ich will – bei bestem Willen – keinen Augenblick darüber nachdenken, ich durchschaue sie. Was sie mir bieten will, liegt auf der Hand, aber ich verweigere jede Aufmerksamkeit. Es ist unter meiner Würde, ihr zu folgen. Oder aber: eine Musik klingt für mich wie Nonsens, allerdings räume ich ein, dass ein Sinn darin zu entdecken sein könnte.

Was heißt denn überhaupt VERSTEHEN? Ein Sprache verstehen, heißt nicht, ihren Klang zu mögen, sondern ihren Sinn. Ich kann über jemanden sagen: er spricht 5 Sprachen, aber in keiner etwas Vernünftiges. Musik ist nur in einem bestimmten Sinne eine Sprache. Man kann sie zum Beispiel nicht übersetzen. Man kann über Musik reden, sie heraufbeschwören, aber letztlich nur: indem man sie durch Singen (oder Klopfen) andeutet. Wobei schon die Frage entsteht, ob ein Rhythmus, der geklopft werden könnte, nicht auf einer völlig anderen Ebene verstanden wird, als etwa eine Harmonielehreaufgabe. Womit also schon angedeutet wäre, dass Verstehen und Verstehen innerhalb der musikalischen Genres nicht dasselbe sein muss. Es gibt Musiker, die das Denken ablehnen oder höchst misstrauisch reagieren, wenn man es von ihnen erwartet. Janáček sagte liebevoll über Dvořák: er dachte nur in Tönen.

Kurze Zwischenfrage: heißt denn Musikhören zugleich so etwas wie Denken? Heißt „etwas denken“ dasselbe wie etwas verstehen?

Ich schaue nach, was Wikipedia sagt: Wiki Verstehen.

In einer Probenpause der Spohr-Duos spricht man über viele Musiker, die in der gemeinsamen Studienzeit eine Rolle gespielt haben. Über Lehrer natürlich, noch mehr über Kommilitonen von einst, lauter Persönlichkeiten, die einem „zu denken“ gegeben haben. (Wolfgang Marschner, Dietmar Mantel, Tabea Zimmermann, Franzjosef Maier, Yehudi Menuhin, Christine Raffael, Volker David Kirchner, Rainer Moog, Wilhelm Empt usw.)

Doch zurück zum Thema: Erinnern Sie sich an dieses Stück?

Fuge H Schema nach Dürr (siehe hier)

Natürlich nicht, es gibt ebensowenig von der Musik wieder wie ein Röntgenbild, das Bild seines Skelettes, von dem wirklichen Menschen, den man in lebendiger Erinnerung hat. Sie müssen auch nicht wissen, dass er 1,83 m groß war. Spielt die Körpergröße Napoleons (oder Beethovens oder Gregor Gysis) keine Rolle? Sie wissen auch nicht, welches von den Klavierstücken, die Sie kennen, 104 Takte lang war. Nicht einmal, ob dies als relativ kurz oder eher lang gilt. Ab wann beginnt denn eine Analyse nützlich zu sein? Wenn Sie erkennen, dass es aus 4 Teilen besteht? Schädel, Brustkorb, Beckenbereich, Beine. Alles unwichtig. Im Fall der Musik genügt das Thema, – aber in realen Tönen, nicht als auf- und absteigende Linien. Im Fall des Menschen ein Bild des Gesichtes.

Wenn es wesentlich  für eine bestimmte Musik ist, dass sie in schriftlicher Form existiert, kann man sie möglicherweise nicht verstehen, ohne die Notierung lesen zu können. Zum Beispiel kann ich vielleicht nur dann die Umkehrung eines Themas sofort erkennen. Nur beim Blick auf die Noten kann ich entsprechend lange beim Blick auf die betreffenden Takte verweilen. Das kann bedeuten, dass ich – um eine Musik zu verstehen – mich nicht darauf beschränken darf, sie zu hören.

Wenn ich die folgende CD besitze und verstehen will, was in dieser Musik vor sich geht, weiß ich schon beim Blick auf die Cover-Fotos, dass es wahrscheinlich nicht genügt, die Aufnahmen zu hören. Und wenn ich als westlicher Musiker diese Art von Teilnahme nicht kenne, werde ich vielleicht froh sein, wenn das Booklet eine schriftliche Notation beisteuert, von deren Informationskraft die Mitwirkenden nicht das geringste wissen. Es ist aber nicht mein Vorteil, sondern mein Manko…

Malinke CD vorn Malinke CD rück

Es liegt nahe zu vermuten, dass sich eine Herangehensweise verbietet, die verlangt, solche Rhythmen zu verstehen, da sie sich offensichtlich immer (?) durch physischen Mitvollzug, durch Einbezogensein in Bewegungen, übermitteln.

Das gilt allerdings auch für alle Komponenten des täglichen Lebens dieser Leute, – wie sie mit Kindern umgehen, wie sie ihre täglichen Mahlzeiten zubereiten, was  ihre Höflichkeiten uns gegenüber bedeuten: wir müssen alles lesen lernen. (Oder besser: „müssten“, Konjunktiv und in Gänsefüßchen. Gebietet uns nicht gerade die ganze normale Höflichkeit, nicht alles lesen zu wollen?) Ein bekannter Ethnologe vertraute auf einen Zugang über das Prinzip der „Dichten Beschreibung“ (siehe hier). Wir schauen dem „Eingeborenen“ über die Schulter, bis wir ebensoviel wie er, oder besser noch: mehr über seine Kultur wissen als er selbst. Wir wollen sie lesen, – was eigentlich absurd ist. Andere sehen darin einen verkappten Imperialismus.

Für mich bedeutete die Kenntnis der Notation durch Johannes Beer (mit seinem Kommentar) eine Offenbarung:

Malinke CD Notation Beer Balakulania Tr.2 Hineinhören hier!

Vielen westlichen Musikern ging es wohl ebenso, einerseits war es eine (ideelle) Bereicherung (!), andererseits sorgte sie für eine bemerkenswerte Demut. Man bezweifelte, dass man auf diese Weise das Verstehen der Rhythmen wirklich gelernt habe. Prof. Dr. Thomas Ott zum Beispiel hat im „Institut für Didaktik populärer Musik“ gemeinsam mit Famoudou Konaté eine Art Lehrbuch zu „Rhythmen und Liedern aus Guinea“ (1997) herausgebracht“ und später, sozusagen im Rückblick, eine Rede gehalten  „Zur Begründung der Frage, ob Nicht-Verstehen lehrbar ist.“ In: Franz Niermann (Hrsg.): Erlebnis und Erfahrung im Prozess des Musiklernens. (Fest-)Schrift für Christoph Richter. Augsburg 1999. Nicht-Verstehen, jawohl! Sehr lesenswert, siehe hier.

*  *  *

Verstehen Sie etwas von Musik? Spielen Sie vielleicht sogar Klavier? Dann ist dieses hübsche Stückchen etwas für Sie. Was könnte das sein? Meine Notenschrift ist nicht sehr gut, auch die Pausensetzung und Notenhalsrichtung nicht ganz korrekt. Aber ich habe es keinesfalls selbst fabriziert! Dafür ist es doch wohl zu schön? Man kann es geradezu ad infinitum wiederholen.

Komponist ungenannt Bitte spielen!

Ich habe mich früher manchmal geärgert, wie nachlässig die Neue Musik mit ihren sorgfältig ausgesuchten Texten umgeht. Da sie in Phoneme (o.dgl.) umgesetzt sind, kann man sie beim Hören nicht mehr verfolgen, sie spielen aber inhaltlich zweifellos eine große Rolle. Prompt habe ich (in den 90er Jahren) bei der Besprechung einer CD zwei Lachenmann-Werke (nach Leonardo-Texten), obwohl ich sie oft und intensiv gehört hatte, miteinander verwechselt. Peinlich. Und was lese ich heute, wohl 20 Jahre später, beim Neue-Musik-Fachmann Max Nyffeler? Folgendes:

1) einen Text über Afrikanische Musik (wann war es, als ich in Stuttgart einen Vortrag gehalten habe über 11 Methoden des Hörens – darunter auch afrikanische – und mich fremd fühlte? Wie mir schien, – weil die Neue Musik eben mit der Problematik des Hörens seit Adorno grundsätzlich in erster Linie das Hören Neuer Musik verbindet. (Der Mann der Stunde war Harry Lehmann, vielleicht auch Christian Utz, mit dem Stichwort Interkulturalität Neuer Musik in China). Und jetzt:

Afrika sei ein Kontinent der Hoffnung mit einer einzigartigen Fülle von Musikkulturen, sagte Baaba Maal, international bekannte Koryphäe der senegalesischen Musik, in seinem Eröffnungsreferat zu ACCES 2017.

2) einen Text über die Texte Neuer Musik:

Es ist eines der Mysterien der neuen Musik: der unter Komponisten, Veranstaltern und Publikum häufig anzutreffende Konsens, dass es auf den verstehenden Nachvollzug der Textinhalte bei der Aufführung nicht ankomme. Nach dieser Logik könnte der Komponist auch das Telefonbuch vertonen, es käme für den Hörer auf dasselbe heraus. Während heute die Theater schon zu Mozartopern Übertitel laufen lassen, herrscht in den Konzerten mit neuer Musik in dieser Hinsicht Erkenntnisblindheit. Die Gründe sind so dunkel wie der Konzertsaal. Ist es ein unreflektiertes Festhalten an der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Idee der absoluten Musik? Ein Überrest von Genieästhetik, nach der das Publikum die hohen Gedanken ohnehin nicht kapiert? Oder schlicht Denkfaulheit?

Quellen: siehe hier und (Afrika betreffend) hier. (Sogar mit dem anklickbaren Musikbeispiel von Baaba Maal. Als wir ihn beim WDR-Weltmusikfestival zu Gast hatten, wie schon vorher Youssou Ndour, galt das alles als Pop-Musik.- Zu den Texten der Neuen Musik siehe aber auch schon hier!)

Die Lösung des Rätsels (nur noch minimal unaufgelöst)

Komponist ungenannt BACH Zeichen & Wunder in Grün & Rot

Zunächst zu den farbigen Zeichen: der grüne Haken in Takt 75 bezeichnet den Beginn des Themas (über das noch zu sprechen wäre), das Ende ist in Takt 84 gekennzeichnet), ähnlich in Takt 89 und 96, jeweils doppelt, warum? Das eine ist die originale Form des Themas, das andere die Umkehrung, kurz nacheinander, eine sogenannte „Engführung“. Dazu hier nicht mehr als diese Andeutung. Der entscheidende Faktor liegt für uns im Moment bei dem Abschnitt zwischen den roten Haken, also Takt 83 bis 89. Eine der der „schönen Stellen“, auf die viele Menschen warten, wenn sie nur einmal darauf aufmerksam geworden sind. (Die meisten merken im Fall dieser Fuge gar nichts, weil sie bereits ermüdet sind. Das sage ich ohne Spott!) Wie schön diese Stelle ist, wollte ich in der handgeschriebenen Fassung oben („Bitte spielen!“) zeigen. Ich habe sie von As- nach A-dur umgeschrieben, außerdem am Anfang von Takt 1 und am Ende von Takt 7 ein paar Noten dazukomponiert, um das Fragment – zugegeben: etwas gewaltsam – abzurunden. Diese „schöne Stelle“ fungiert innerhalb der Fuge (BWV 891) als (vor)letztes und längstes „Zwischenspiel“. Selbst der gestrenge Analyst Czaczkes, der sonst kein Wort über die Schönheit der Fugen verliert, kann nicht umhin, eine entsprechende Bemerkung zu wagen:

Czaczkes b-moll Zwischenspiel

Während Erwin Ratz sich geradezu dithyrambisch äußert:

Auf dem Sekundakkord der Dominante von As-Dur setzt der letzte Abschnitt (die dritte Durchführung), die Engführung der Umkehrung mit dem Thema ein. Es ist, wie wenn sich der Himmel öffnet und aller Glanz der Engel sich offenbart. In einer hinreißenden Steigerung setzt sich der Jubel in immer neuen Sequenzen der folgenden Zwischentakte (Takt 83-85) fort. Wie wir bei allen großen Meistern äußerste Knappheit in der Darstellung ihrer musikalischen Ideen finden, so ist auch hier mit diesen wenigen Takten Unerhörtes gesagt. Nach diesem Höhepunkt, in dem wir die Erfüllung des Sinns dieser Fuge erblicken müssen, erfolgt die Rückkehr nach b : I, die das In-Sich-Ruhen der Seele spiegelt. Im vorletzten Einsatz erscheinen Thema und Umkehrung noch von Gegenstimmen umspielt, jedoch der letzte Einsatz der Engführung bringt nur mehr die Substanz des Themas (in Sexten) und der Umkehrung (in Terzen), befreit von allen Schlacken, in grandioser Steigerung zum Schluß in den B-Dur-Dreiklang führend. Uns kam es lediglich darauf an, den musikalischen Inhalt durch die Form zu erkennen und darzustellen. Wir sehen, daß alle kontrapunktischen Künste, die so sehr überschätzt werden, ja nur untergeordnete Hilfsmittel sind zur Darstellung einer großen Idee.

Quellen Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach / Band II Seite 276 / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982 // Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre / Über Formprinzipien in den Inventionen und Fugen J. S. Bachs und ihre Bedeutung für die Kompositionstechnik Beethovens / Universal Edition Wien 1968 (Seite 268)

Es ist vielleicht nicht der rechte Moment, Umwege zu machen. Aber vielleicht vormerken?

Eggebrecht Musik verstehen vorn  Eggebrecht Musik verstehen rück 1995

Musikalischer Sinn Cover  Musikalischer Sinn Inhalt 2007

Musikalisches Hören Cover Musikalisches Hören rück 2017

Inzwischen habe ich den Artikel „Ein Fugenthema verstehen“ hinzugefügt – gemeint ist das Thema genau dieser Fuge in b-moll aus dem 2.Band des Wohltemperierten Klaviers – und kann mir viele erläuternde Worte sparen: Sehen Sie bitte HIER. Die Lektüre erfordert Zeit und Geduld, aber es lohnt sich.
Zurück also zu den „Rhythmen der Malinke“ und dem Vortrag von Thomas Ott über das Nicht-Verstehen, den ich jetzt noch einmal in einem externen Fenster verlinke, damit man leichter hin- und herwechseln kann.(Nicht-Verstehen.) Außerdem erlaube ich mir, die beiden Beispiele, die in der schriftlichen Form des Vortrags nicht enthalten sind, hier zu ergänzen (und noch etwas von dem hochinteressanten Text aus der Umgebung dazu):

Zu Thomas Otts Beispiel 1

Ott Kendo Seite 44 Thomas Ott / Famoudou Konaté

Zu Thomas Otts Beispiel 2

Chernoff a Chernoff b John Miller Chernoff

Quellen John Miller Chernoff: Rhythmen der Gemeinschaft / Musik und Sensibilität im afrikanischen Leben /  Übersetzung: Barbara Wrenger / Trickster Verlag 1994 (vergriffen) Original: John Miller Chernoff: African Rhythm and African Sensibility / Aesthetics and Social Action in African Musical Idioms / The University of Chicago Press Chicago and London 1979

(Fortsetzung folgt)

Klimaziele: Zenit überschritten

Wir wissen es längst

ZITAT aus einem Interview über die bisher (nicht) geleistete Arbeit:

Ich glaube, der eigentliche Punkt ist, dass beim Klimaschutz eine völlig andere Logik, eine völlig andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf unsere heutige Realität trifft und man eigentlich das bis heute nie richtig verarbeitet hat, wie man damit umgehen muss.

Armbrüster: Dann haben die Politiker die Bürger 20 Jahre lang angelogen?

Müller: Die Bürger haben sich auch was vorgemacht. Man muss hier einfach sehen: Das Grundprinzip, nach dem moderne Gesellschaften funktionieren, ist die Logik von Wachstum, schneller, höher, weiter, oder historisch der Linearität, also der permanenten Vorwärtsbewegung. Klima ist aber was anderes: Es ist der Umgang mit Grenzen.

Ich will damit nichts verteidigen. Ich will nur klarmachen, man sollte es sich auch nicht so einfach machen, als ob es da um die Ergänzung der bisherigen Politik geht. Es geht schon um was fundamental anderes, und das ist zu wenig begriffen. Mich ärgert – und das ist für mich das zentrale Versagen -, dass das nie richtig debattiert wurde.

Armbrüster: Was hat denn die SPD daran gehindert, das zu debattieren?

Müller: Was hat alle gehindert daran, dies zu debattieren?

Armbrüster: Na ja! Ich spreche jetzt mal mit Ihnen, weil Sie ja Einfluss vor allen Dingen in der SPD hatten oder haben.

Müller: Ist ja klar. Ich will das überhaupt auch nicht relativieren. Aber ich meine, beispielsweise auch ein Jürgen Trittin hat damals die deutschen Klimaschutzziele aufgegeben. Aber da haben sie nicht so genau hingeguckt mit der Öffentlichkeit.

Armbrüster: Da würde Ihnen Jürgen Trittin jetzt wahrscheinlich deutlich widersprechen.

Müller: Nein, das kann er nicht, weil selbst mein damaliger grüner Kollege, der umweltpolitische Sprecher Reinhard Loske der Grünen, damals erstaunt war, wie er das Ziel aufgegeben hat. – Ich will das aber jetzt gar nicht thematisieren. Ich will nur klarmachen, dass es um keine Kleinigkeit geht. Es geht um unheimlich viel und meines Erachtens hat die SPD nicht begriffen, dass sie eine unglaubliche Chance hätte, gerade dieses Thema zu bewältigen, weil es nämlich im Kern wie nie zuvor die Gerechtigkeitsfrage thematisiert. Wir werden mit Grenzen nur umgehen können, wenn wir zu mehr Gerechtigkeit kommen, und das ist eigentlich ihr eigenstes Thema und ich bedauere deshalb, dass sie das bis heute nicht richtig begriffen hat.

Quelle Deutschlandfunk, Tobias Armbrüster (DLF) im Gespräch mit Michael Müller / Radiosendung und Printversion des ganzen Interviews HIER

Dank an JMR!

Nachtrag in der Nacht zum 12.02.18

Der Beitrag in ttt (Titel, Thesen, Temperamente) kam wie gerufen, unbedingt hören, sehen, notieren! THEMA:

Kampf den Umweltlügen – Film und Buch „Die grüne Lüge“

HIER

Zitat zur „Nachhaltigkeit“:

„Mittlerweile benutzt diesen Begriff jeder, weil der natürlich auf keine Art und Weise geschützt ist“, erklärt Kathrin Hartmann. „Das kann alles Mögliche sein. Es gibt Gründe, warum man von nachhaltigen Palmöl spricht und nicht von ökologisch und sozial gerechtem Palmöl. Denn: Das gibt es nämlich nicht.“

Ich erinnere mich an eine Seite 2 – in der ZEIT oder in der Süddeutschen Zeitung – zum Thema Palmöl, darunter ein Artikel, dass jedes für Palmölplantagen gerodete Gebiet in Indonesien die Lebensgrundlage für 20 000 Kleinbauern sichert. Eine Art Erpressung? Morgen früh werde ich auf die Suche gehen. Die „guten“ Zeitungen bleiben für ein bis zwei Wochen auf dem Stapel der ZEIT, die bei uns Monate oder sogar 1 Jahr überdauert…

Morgen!

Rosen am Rosenmontag Morgens am Rosenmontag

Die Rosen habe ich aus privaten Gründen besorgt, habe die nette Blumenverkäuferin gefragt, wo die denn herkommen. Sagte sie Costa Rica oder Puerto Rico? Andere kommen aus Kenia. Viele auch aus Holland, natürlich. Nicht nur Tulpen. Ich weiß, und in Spanien nur Tomaten unter Folien, die Pflänzchen kommen in Töpfen aus (ich weiß es nicht mehr), sie werden nie Kontakt mit dem „normalen“ Erdreich haben. Wenn Sie das Foto anklicken, können Sie auch die Schlagzeilen meiner oben angekündigten Zeitung lesen. Ich bin die Seite inzwischen mit Rotstift durchgegangen. Im Fernsehen ein Moment Frohsinn aus Köln. Kein Missverständnis: ich spiele nicht den Savonarola! Für die Rosen aus Mittelamerika habe ich das Auto bewegt. Inzwischen scheint die Sonne. „Meine“ Schlagzeilen folgen, für den Fall, dass jemand die SZ-Artikel im Internet suchen will.

Süddeutsche Zeitung 3./4. Februar 2018 Seite 2 Thema der Woche Fluch des Biokraftstoffes Palmöl galt einst als saubere Alternative zum Diesel, es sollte das Klima schützen und wurde gefördert. Doch dann zeigten sich gravierende Nachteile. Nun plant die EU eine Kehrtwende. Wird das der Umwelt helfen?

Europas Brandspur Regenwälder müssen oft Palmöl-Plantagen weichen. Nun will die EU den Biodiesel für Autos verbieten. Aber das ist nur ein erster Schritt, denn der Rohstoff steckt auch in vielen anderen Produkten. Von Michael Bauchmüller. Hier

Gute Pflanze, böse Pflanze „Ich wüsste nicht, wie ich sonst mein Geld verdienen soll“: Kleinbauern in Südostasien protestieren gegen die Europäer, denn Millionen Menschen leben vom Plantagengeschäft. Von Arne Perras. Hier