Archiv der Kategorie: Musiklehre

Julian Prégardien

Zwei Sternstunden: Schubert, Müller, die Geschichte, der Film, der Liederzyklus, der Gesang

Sendung 9. Juni 2024 (W bis 2029)

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNjE5NzA HIER

Der Film begleitet Julian Prégardien auf seiner Reise zu den Ursprüngen des Liederzyklus und beim Austausch mit verschiedenen Persönlichkeiten. Ein Psychiater erklärt das Phänomen der unerfüllten Liebe, eine Gender-Expertin gibt Einblicke in die Perspektive der angebeteten Frau und ein Schubert-Kenner vermittelt die Künstlerwelt des Komponisten zwischen Genie und Wahnsinn. Neben den Pianisten Kristian Bezuidenhout und Daniel Heide verzaubert die Puppenspielerin Manuela Linshalm das Publikum mit ihrer zeitbasierten Interpretation der romantischen Erzählung. Es ist eine Suche nach einer immer neuer Inspiration für ein Werk, das Julian Prégardien als Sänger besonders viel bedeutet und für das er seine Freude mit vielen Menschen teilen möchte. Ein Film von Nanna Schmidt.

https://www.ardmediathek.de/video/kulturmatinee/julian-pregardien-singt-schuberts-schoene-muellerin/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNTQ1Mzc HIER

„Die schöne Müllerin“ Gesamtaufnahme SWR

Der Film zeigt auch, dass man den Dichter genauso ernst nehmen muss, wie Schubert es tat.

Siehe auch Christian Gerhaher zum gleichen Thema hier im Blog

Zu Julian Prégardien siehe auch hier im Blog

Bachs Jodler

Meine „fixe Idee“

BWV 848

Quelle: hier

Dies nur als Appetizer. Man könnte nachforschen, ob etwa zu Bachs Zeit schon Tiroler Musikgruppen in Sachsen unterwegs waren… aber man kann sich auch mit der Vorstellung zufriedengeben, dass Bach ein besonders heiteres Thema verwenden wollte, das nicht gerade nach der Fugenform schrie… da kam er auf den Sextsprung aufwärts.

Ein Charakteristikum sollte einem bei der Betrachtung des Thema bewusst werden: wo liegt eigentlich der natürliche Akzent? Der höchste Ton exponiert den schwächsten Punkt des Taktes, und der Rückfall auf den Ausgangston gis wirkt durch die Stellung am Taktanfang weder geadelt, noch durch Wiederkehr gewichtiger. Entscheidend ist, wie dieser Ton behandelt wird, wenn es mehrstimmig weitergeht: die andere Stimme bildet immer mit ihm eine Dissonanz, die weitertreibt. Man sehe den Anfang des Taktes 4 (eis zu dis) oder der Takte 6, 11 oder 15 – genau genommen immer, und doch ist man selbst als Spieler zuweilen überrascht, weil die Sekundreibung durch einen Sprung erreicht wird: eine kühne Kontrapunkt-Idee! Mein Gott, auf dieser Basis kann man nicht jodeln!

Wir dürfen gespannt sein. In Cis-dur, eine Tonart mit 7 Kreuzen, – absurd genug? Ich erinnere mich, dass ich mich mit dieser Tonart schon einmal auseinandergesetzt und befreundet habe: hier. Und nun dies: Erster Band, BWV 848. (Zum „Wohltemperierten Klavier“ überhaupt folgt ein Link weiter unten im heutigen Text).

Allerdings möchte ich bei analytischen Betrachtungen ungern Leser/inner, Hörer/innen ausschließen, die im Notenlesen nicht zuhause sind, aber denen doch jeder Jodelanklang  ein wissendes Lächeln ins Gesicht zaubert. Also hören Sie doch den Fugenbeginn, bis Sie entsprechend heiter gestimmt sind, bereit, es in jedem Versteck aufzuspüren.  (Das folgende Titelbild mit dem Crucifix führt in die Irre. Nebenbei: das Porträt auch.)

I ab 0:10 (Sopran) (Alt) (Bass) (überz.) II ab 0:49 (Bass) III ab 1:21 (Sopran) IV (Sopran) ab 2:16 Oder lieber mitsamt Praeludium? 0:00 bis 1:32 dann Fuge bis 4:01 im folgenden Beispiel:

Übrigens würde ich niemandem, der das „Wohltemperierte Klavier“ noch nicht gut kennt, raten, eine Gesamtaufnahme aufzulegen und sie von Anfang bis Ende durchzuhören. Man wird von der Fülle erschlagen und leicht sagen: „Auf die Dauer etwas eintönig“. Nichts falscher als das! Zur ersten Übersicht orientiere man sich hier.

Noch einmal von vorn:

 Gekennzeichnet sind die Anfänge der einzelnen Teile („Durchführung“ genannt), hier erkennt man vielleicht (violett eingekreist) I, II und III, die weiteren regulären Themeneinsätze innerhalb dieser Teile an den runden Halbkreisen vor ihrem ersten Ton. Der unscheinbare Buchstabe ü heißt überzähliger Einsatz (dazu nichts weiter! wohlgemerkt: nicht „überflüssiger Einsatz“ ), Z bedeutet Zwischenspiel. Damit wären Sie analytisch vollständig ausgerüstet. – Auf der nächsten Notenseite (s.o.) gibt es nur noch die Durchführung IV, und die ist – o Wunder! man hört es nicht auf Anhieb! – praktisch fast identisch mit der Durchführung I.

Ein Blick in die Noten zeigt, dass man den Zwischenspielen eine wesentliche Rolle zubilligen muss, sie nehmen nicht nur viel Platz ein, sie bilden auch musikalisch einen wunderbaren Kontrast, indem sie Elemente des Haupthemas hin- und herwenden oder sequenzenartig aneinanderreihen.

Wer mit dem Notentext Lese-Probleme hat, halte sich an die genauen Zeitangaben für die Youtube-Klangbeispiele, – man kann alles, wovon ich rede, hören: es ist keine Papiermusik, so wenig wie der Jodler, von dem wir ausgingen.

Wesentlich für eine Bachsche Fuge ist, nicht nur die Themen-Wiederkehr wichtig zu nehmen (dies gilt übrigens auch für Interpreten), ihr Wiederauftauchen in den anderen Stimmen zu beobachten,

z.B. in Durchführung I in der Reihenfolge (Oberstimme), (Mittelstimme), (Unterstimme), (überz. in der Oberstimme), – überzählig? weil es in den 3 Stimmen dieser 3-stimmigen Fuge bereits „durch“ ist -,

sondern eben auch: die Zwischenspiele, die kurzen zwischen den einzelnen Einsätzen und die langen, die den einzelnen Durchführungen folgen oder vorangehen.

Nur eins erwartet man vergebens: Atempausen, die der Gliederung entsprechen – wie man sie aus der Klassik kennt, etwa bevor das 2. Thema einsetzt. Die Nahtstellen sind in die fließende Textur perfekt eingebettet.

Das alles klingt in Worten etwas verzwickt, in der Musik aber einfach und eher verspielt. Insbesondere, wenn Sie die Zwischenspiele nicht als nebensächlich, sondern als Witz der Fuge betrachten. Auch das Haupthema nicht als absoluten Herrscher hofieren, sondern seine starken „Gefährten“ erleben: z.B. gleich am Anfang, wenn das Thema allein (1-stimmig) in der Oberstimme zu hören war und in der Mittelstimme in etwa gleichlautend beantwortet wird, zugleich der hohen Stimme weiterhin lauschen, wie sie nun dazu die Gegenstimme, den Contrapunctus, etabliert. Und dann?

Es ist klar, dass man aufmerksam zuhört, aber mehr nicht, ein spezieller kontrapunktischer Scharfsinn ist nicht gefordert. Eher wird die helle Freude am kaleidoskopischen Austausch der Stimmen erwachen. Keine Prüfungsaufgabe – ich spreche von Freude, wünsche vor allem viel Vergnügen!

Ja, aber … wann habe ich denn nun diese Bach-Fuge wirklich verstanden?

Ach, wenn Sie noch mehr benennen wollen: Sie kennen ja nun die 4 Durchführungen, und das ist schon viel: zu wissen, dass die erste und vierte sich gleichen (jeweils drei Themenauftritte und ein „überzähliger“).

Die Durchführungen II und III haben aber auch etwas gemeinsam: jede hat nur zwei Themenauftritte, die II. in Unterstimme (Takt14f) und Mittelstimme (Takt 19f), die III. in Oberstimme (Takt 25 mit „Anlauf“) und Mittelstimme (Takt 27 mit Auftakt).

Dem nachfolgenden Zwischenspiel gilt dann unsere ganze Aufmerksamkeit: es vertieft sich a) in die verspielten Sequenzen aus den früheren Zwischenspielen, b) sie widmet sich dem Anfang des Haupthemas und lockert es durch die Kippfiguren der linken Hand, vertauscht dann die Rollen der beiden Hände (Takte 35-38 und Takte 39-42). Und schon sind wir unvermittelt (oder besser: mehrfach vermittelt) im Beginn der Durchführung IV (Takt 42).

Habe ich damit wenigstens den groben Formverlauf der Fuge verstanden? Allerdings ohne den Wechsel der Tonarten zu benennen. Ich vermute doch, den fühlen Sie schon von selbst ausreichend. Ansonsten genügt es, das kaleidoskopische Spiel der Themen und Zwischenspielmotive zu verfolgen: sie haben keine Bedeutung, die man verstehen muss. Vielleicht gehört noch die Wahrnehmung der Auflockerung und Verdichtung des Tonsatzes dazu, z.B. die ausgedehnte Zweistimmigkeit vor der Durchführung IV, die durchgehende Dreistimmigkeit dieser Durchführung und nach deren letztem („überzähligem“) Themenzitat in Takt 58 – in der kurzen Coda – das nahezu dramatische Zusammengehen der linken und der rechten Hand in 16teln (20 Noten!), bevor die bündige Schlusskadenz folgt.

Ich muss zugeben: Worte der Musikbeschreibung machen einen langweiligen Eindruck, so wie die Beschreibung einer Hügelkette nichts von der Schönheit der Landschaft verrät, an denen sich unsere Augen nicht sattsehen können. Wenn sie nicht vor uns liegt, kann ich nur versichern, dass die Wirkung sehr schön ist. Ja, beseligend. Und schweigen.

Ziehen Sie keine vorschnellen Folgerungen aus dem folgenden Titelbild, die Aufnahme ist einfach „bezaubernd“. Und danach fühlen Sie sich vielleicht ähnlich enthusiasmiert wie die Künstlerin.

0:00 – 0:29 II 0:30 – 0:53   III 0:54 – 1:33   IV 1:34 – 1:58 (+ Coda) 2:07.

Angela Hewitt ! Wir lächeln auch.

Bach bei Blumenberg nachgelesen

Matthäuspassion

Noch einmal: Timor Dei

Die Zeit vergeht. Es ist jetzt nur eine Ostererinnerung, die ich hatte dokumentieren wollen, und dann ist nur der Ansatz stehengeblieben,bzw der Vorsatz, einige Leseerlebnisse festzuhalten. Vor allem, wieviel Text bei Blumenberg den theologischen, exegetischen Implikationen gewidmet ist und einen gewahr werden lassen, wie sehr Bachs Musik über Anflüge des Zweifels und jede grundsätzlichere Infragestellung seiner Quelle hinweggetragen hat.

Achtung: der folgende Abschnitt beruht teilweise auf Erinnerungfehlern (geschrieben ohne vergleichende Rücksprache mit den Notentexten der Original-Passionen. Ich korrigiere nicht, weil die Irrtümer und deren Aufklärung eine interessante Aufgabe ergeben.

Es wird vielen so gehen, dass sie – wie der Evangelist Julian Prégardien hier von sich berichtet – zutiefst erschüttert werden durch die „Erbarme-dich“-Arie, vorbereitet schon durch das extensive Melisma „…und weinete bitterlich“. Man ist bereit, sich mit dem Schicksal des Petrus zu identifizieren -, und bemerkt doch kaum, dass diese Hauptfigur für den Rest der Geschichte keine Rolle mehr spielt. Man hat begriffen, was Sünde ist. In diesem Sinn wird er im Anfangschoral der zweiten Teil nochmal genannt. Im folgenden tritt Judas an seine Stelle und erlaubt – so scheint es – eine eindeutige Parteinahme. Das hat enormes dramatisches Potential vom Judaskuss bis zum Suizid und dem Nachklang der Silberlinge, aber so, dass man sich auch viel leichter von ihm trennt. Und doch wirkt diese Figur nach und lässt, anders als Petrus, bei näherer Untersuchung keine Ruhe. Petrus ist schwach, aber ob Judas böse ist (oder nur sein muss), das wissen wir nicht.

Ich erinnere mich, dass mich schon in meiner Jugend ein Fischer-Taschenbuch, das ich im April 1956 zu lesen begann, begeistert hat; es machte mir erstmals ein Denken in Ambivalenzen plausibel: es begann mit „Caesar und Brutus“ und behandelte im Anhang „Jesus und Judas“. Von einer  „Judastragödie“ ist die Rede. Quelle: Rudolf Goldschmit-Jentner: „Die Begegnung mit dem Genius“. (Heute sucht man in der allzu kurzen Wikipedia-Biographie vielleicht vergeblich Aufschluss über den Zeitraum 1933 -1945, für mich ist daher ein bestimmtes Detail der Vita an anderer Stelle wichtig: hier Mai 1943.)

Blumenbergs Buch „Matthäuspassion“ in der Besprechung von Christoph Türcke (ZEIT 19.5.89)

ZEIT 19.5.1989

https://www.zeit.de/1989/21/philosophie-im-plauderton HIER

(Fortsetzung folgt)

Was ist ein „golden moment“ des Musizierens?

Glatteis Musikpädagogik

Nicht jeder Beitrag in „Musik & Ästhetik“ muss mir gefallen; es genügt, wenn er unverhoffte Anregungen bietet. Das geschieht selbst dann, wenn der Titel eher entmutigt wie dieser: „Hegel, Plessner und die dispositionale Realität musikalischer Bewegung“ und der Autor mir völlig unbekannt ist: Markos Tsetsos.  Während es mich elektrisiert, wenn ich in Anmerkung 2 einen (aus meiner Sicht unbegreiflich) vernachlässigten Namen der Musikästhetik sehe, der das Problem erstmalig angegangen ist: Victor Zuckerkandl. Für mich Anlass nachzusehen, was der denn am Begriff musikalischer Bewegung aufgezeigt hat. Aber noch ehe ich es realisiere (ich komme an anderer Stelle darauf zurück), hat mich dieser neue Autor gefesselt, der immerhin schon 2007 eine Arbeit im Hegel-Jahrbuch veröffentlichen konnte, die sich durch besondere Klarheit auszeichnete: „Über den Lebensbegriff in der Ästhetik Hegels“ .

Inzwischen bin ich allerdings ausgewichen auf einen anderen Beitrag des oben genannten Ästhetik-Heftes, weil er erlaubte, eine Youtube-Aufnahme dingfest zu machen, die mich an viele Diskussionen vergangener Zeiten erinnerte, über die Vermittlung musikalischer und technischer Erfahrung im Lehrer-Schüler-Verhältnis, z.B. im regelmäßigen Unterricht oder in konzentrierten Meisterkursen, die extern stattfanden. (Flagrante Erfahrungen der Freunde, die den gemeinsamen Lehrer in Frage zu stellen schienen, wenn sie von Wunderbegegnungen mit Wolfgang Schneiderhan oder George Neikrug berichteten.)

Mir scheint, die Zeiten haben sich grundlegend geändert, ich habe damals Interessantes aus Sebök-Kursen gehört, z.B. dass die Geschichte der gültigen Klaviermusik mit Bach beginnt oder allerhand weise Sätze von der Art, dass alle Musik „romantisch“ sei. Keine Differenzierung zwischen barocken Affekten, klassischem Ausdruck, Expressivität, Identifizierung und Objektivierung, oder den zahlreichen Schattierungen, wie man sie schon damals in dem Buch „Denken und Spielen“ (1988) von Jürgen Uhde und Renate Wieland nachvollziehen konnte.

Nun also eine Wiederauferstehung: „Masterclass-Lesson“ von 1987 mit György Sebök, die eigentlich nur als zentrales Beispiel eines eher negativ besprochenen Werkes von Nicole Besse mit dem Titel „Musik als Kunst der Begegnung“ dienen soll. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die sich heute aufdrängende Kritik an dieser pädagogischen Begegnung der freundlich-autoritären Art völlig ausgespart ist. Ist es womöglich nur dem Zeitgeist geschuldet, wenn man sich auf das latente Genderproblem konzentriert? Es ist nicht die Länge der Vorrede (bei minimalem Sinn), die lähmend wirkt, in der sich aber schon das Machtgefälle manifestiert, sondern das begleitende Dauerlächeln des Masters und sein auf die junge Pianistin fixierter Blick. Sie hat nichts zu sagen, ja, sie hat nicht mal einen Namen.

Später wird sich zeigen, dass sie glänzend Klavier spielt, wenn man sie lässt, und dies ist überhaupt die Grundlage der scheinbar magisch gelingenden Unterweisung. Das nichtsahnende Publikum darf annehmen, dass die Fähigkeiten erst hier unter dem Zuspruch des väterlichen Magiers aufgeblüht sind.

Natürlich geht es um diese Musik (Haydn C-dur-Klaviersonate 2. Satz). Er ist bewundernswert, wie die Pianistin auf Störungen reagiert, Ab-lenkungen wegsteckt, z.B. bezüglich der Kopfdrehung in die Richtung dessen, der sie korrigieren wird, – wäre die Spiegel-Frage auch gekommen, wenn ein männlicher Könner den lernenden Part innegehabt hätte? – wäre auch dann der Lehrer hinter ihn getreten und hätte ihm überraschend den Kopf „verdreht“?

Durch seine Wunden sind wir geheilt

Während der Autofahrt

B.S. erinnert sich: „Durch seine Wunden…“

Zitat:

Händel entfaltet in der dramatischen Verdichtung auch einen großen polyphonen Reichtum, zum Beispiel in der chromatischen Fuge «Durch seine Wunden sind wir geheilt», in der schon das «Kyrie»-Fugenthema aus Mozarts Requiem deutlich veranlagt ist (Mozart hat sich eingehend mit dem «Messiah» beschäftigt und in Wien für die Pflege barocker Musik im Haus des Kunstförderers Van Swieten eine eigene, den instrumentalen und klanglichen Vorstellungen der Zeit angepasste Version hergestellt). (hier)

ab 4:49

Wikipedia hier

Ohne Pause (attacca) folgt die lebhafte Kyrie-Fuge, deren Thema – mitsamt dem Kontrasubjekt – ebenfalls von Händel übernommen ist (nämlich aus dem Schlusschor We will rejoice in Thy salvation aus dem Anthem for the victory of Dettingen HWV 265).[12] Mozart kannte dieses Thema gut aus seiner Bearbeitung von Händels Messiah (vgl. den Chorsatz And with his stripes we are healed aus dem Messiah).[13] Die kontrapunktierenden Motive zu diesem Fugenthema nehmen die beiden Themen aus dem Introitus wieder auf und variieren sie. Die zuerst diatonisch steigenden Sechzehntel-Läufe werden im Lauf der Durchführung zunehmend durch chromatische abgelöst, was eine Steigerung der Intensität bewirkt.

Auf der Webseite des Bachchors Tübingen stellt Ingo Bredenbach die Themen des Messiah-Chors und der Kyrie-Fuge einander gegenüber, mit einem instruktiven Notenbeispiel; siehe bachchor-tuebingen.de, nach unten scrollen. hier

(Fortsetzung folgt)

https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ludium_und_Fuge_g-Moll_BWV_861_(Das_Wohltemperierte_Klavier,_I._Teil) hier darin Hinweis auf Keller und dort auf Max Seifferts „Ahnentafel“ des Themas.

Das Thema bei Haydn in opus 20 Nr. 5

Kurdische Geige u.a.

Melodische Zellen erschließen (es ist nur ein Spiel). Sie können jedes andere Melodieinstrument verwenden, auch Ihre Stimme! Am besten ohne Zeugen.

Ein Beispiel in dem Band V „La Musique Arabe“ von Rodolphe d’Erlanger. Links die vollständige Skala des Modus, unterteilt in die Abschnitte, die der Reihe nach einzeln melodisch erschlossen werden. Darunter die Analyse und die Spielanleitung. Auf der rechten Seite die Darstellung einer möglich Entfaltung, soweit sie sich in Notenschrift darstellen lässt. Es empfiehlt aber , das was man tut, in Worten zu beschreiben, statt es in Notenschrift wiederzugeben, da es nicht wie eine detaillierte Übevorschrift genommen werden soll: man sollte sich an bestimmte Töne und Tonfolgen halten, aber rhythmisch und bogentechnisch völlig frei bleiben, auch Wiederholungen sind erwünscht und anheimgestellt. Die Impression ist: man tastet schrittweise voran in dem anliegenden Tonraum, jedes Detail auskostend, verändernd, umfärbend „bis zum Überdruss“, bzw. solange es Vergnügen bereitet.

Ich beschreibe, frei nach dem schriftlichen Vorbild d’Erlangers, wie ich voranschreiten möchte:

Beginn auf der A-Saite 1.Lage, mein erster Zentralton ist der Ton d“‘, mit Einstieg auf Leiteton cis, zugleich im Sinn: das leere A (a“) schwingt innerlich mit, dort werde ich zwischenlanden. Im Notenbeispiel sind das die ersten anderthalb Zeilen. Das Anspielen des Tones f“‘ ist schon ein „Angang“ (egal wie ich den kleinen Lagenwechsel mache), danach, das lange e“‘, ist sozusagen eine „Wiedergutmachung“, weil ich es am Anfang nur gestreift habe. Jetzt gebe ich seinem Ruf nach, es verlangt nämlich nach den tieferen Tönen, die noch gar nicht weiter „karessiert“ sind, in Richtung A-Saite vor allem cis und b. Zur Stärkung kann der untere Wechselton g“ kurz berührt werden.

Beispiele anderer Geiger, die den armen Nachahmer inspirieren, aber nicht indoktrinieren.

Für mich ist dies eine Erinnerung (im Sinne von Mahnung), die Geige loszulösen vom stupiden Technik-Üben. Mich zwanglos mit melodischen Formeln zu beschäftigen, die mir in schriftlicher oder praxisnaher Form gegeben sind.

 

Kunst der Fügung

Zu Bachs Spiegelfugen

Der Zufall wollte, dass es sich so gefügt hat: die Erinnerung an die Problematik der Bachschen Zusammenfügung der Fugen zu einem „Kunstbuch“, besonders im letzten Teil des Werkes. Meine Irritation, ob Zoltán Kocsis etwa die Rectus- und die Inversus Version nach der (irrigen) Leibowitz-Idee zusammengefügt hat, – alldies veranlasste mich, in aller Eile (ich hatte eigentlich anderes zu tun) die Belege zu sammeln, die ich so schnell greifen konnte. Der Zufall beruhte darauf, dass mich die Aufnahme mit Schaghajegh Nosrati sehr faszinierte, ihre Leichtigkeit plus Präzision, dass es mir keine Ruhe ließ, bis mir das ganz besondere Bach-Thema wieder präsent war.

Wikipedia:

Spiegelfugen

Beginn von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)
Gespiegelte Fassung von Contrapunctus XII (Spiegelfuge)

Mit Contrapunctus XII erscheint die erste von zwei Spiegelfugen. Unter einer Spiegelfuge wird hierbei verstanden, dass der gesamte Satz anschließend mit umgekehrten Intervallen wiederholt wird (das Partiturbild lässt manchmal bei Laien die Vorstellung entstehen, beide Versionen sollten gleichzeitig erklingen). Das Thema besteht exakt aus den Tönen der Grundgestalt, erklingt jedoch hier im Dreiertakt; die rhythmische Gestalt mit Betonung auf der zweiten Zählzeit in den beiden ersten Takten erinnert an eine Sarabande. Wahrscheinlich ist die kontrapunktische Komplexität der Aufgabe dafür verantwortlich, dass dieses Stück (bzw. diese beiden Stücke) als einziges nicht durch einen einzigen Spieler auf einem Tasteninstrument spielbar ist (eine Ausführung auf zwei Cembali, die jeweils zwei Stimmen spielen, ist möglich).

Variante des Themas in Contrapunctus XIII

Die dreistimmige Spiegelfuge Contrapunctus XIII hat einen ausgesprochen tänzerischen Charakter im Sinne einer Gigue, bei der Bach fast immer zu Beginn des zweiten Teils das Thema umkehrt. Auch dieses Thema ist aus dem Urthema abgeleitet. Nach einem Oktavsprung, der schon in Contrapunctus IX auftaucht, geht es für drei Takte in eine Triolenbewegung über. Im weiteren Verlauf wechselt diese Triolenbewegung immer wieder mit punktierten Sechzehnteln ab (die nach den Regeln der damaligen Aufführungspraxis rhythmisch an die Triolenbewegung anzugleichen sind). Dieser Satz ist auf dem Cembalo nur spielbar, wenn ein Interpret über eine gewisse Virtuosität hinaus mindestens eine Dezime greifen kann (Ausnahme: Fermate in T. 59 der forma inversa). Der Umfang einer typischen Orgel der Bachzeit wird nach oben hin mit den Tönen d“‘ und e“‘ überschritten. Es existiert auch eine Fassung für zwei Cembali, bei der Bach die drei Stimmen durch eine freie vierte Stimme ergänzte.

Hier der Notentext meiner alten Graeser-Ausgabe (Juli 1956) – andere Zählung (XVI=12) / wenn Sie die Noten verfolgen, – die richtige Fuge ist der gespiegelten unmittelbar zugeordnet, und zwar ebenso in Partitur (3-stimmig) wie in „Klavierzusammenfassung“ (untereinander!); ich verfolge hier in jedem Block die unterste Doppelzeile. Jede Seite hat 2 Blocks. (Die Pianistin spielt die gespiegelte Fassung. Sie sehen die Kontur des Inversus-Themenanfangs also in der 4. Zeile bzw. 9. Zeile.)

Eine andere Druckeinteilung (nur jeweils 1.Seite) zum Vergleich

Boosey & Hawkes

die Doppelfassung à 2 Clav. (nur jeweils 1. Seite)

Kolneder: Kunst der Fuge Bd.I / II (betr. den Irrtum aufgrund der Druckanordnung, – fraglich ob Leibowitz von K. korrekt interpretiert wird )

Hier folgt die Fuge in der Fassung für 2  Cembali bzw. hier mit 2 Klavieren, ebenfalls in der Inversus-Fassung, jedoch hat Bach (!) zu den 3 Stimmen eine freie vierte hinzugefügt.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/bach-die-kunst-der-fuge/hnum/11625752 (Rousset) hier

Kunst der Fuge Reihenfolge nach dem „Schmieder“-BWV Verzeichnis

Zur Reihenfolge der Aufnahme 1984 + Text, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

Bemerkungen (aus der Henle-Ausgabe):
Ursprünglich schrieb Bach die dreistimmige Fassung (in kurzen Notenwerten) und arbeitete diese dann in eine vierstimmige Version für zwei Cembali um. Dann revidierte er die erste, dreistimmige Fassung für den Druck, wobei er die Notenwerte verdoppelte. Die Version für zwei  Cembali dient als Sekundärquelle für die dreistimmige Fassung für ein Cembalo. Ähnlich dient der inversus als Sekundärquelle für den rectus und umgekehrt, da ja rectus und inversus zwei Versionen desselben Stückes darstellen.
Es gibt für diese Komposition also insgesamt acht Quellen, die in der Reihenfolge ihrer Bedeutung vorgestellt wurden (s. o.).
Im Originaldruck ist keine Fassung der Fuge nummeriert – die Nummerierung hört ja, wie erwähnt, mit Cp 12 auf. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Fuge die Nr. 13 sein sollte.
Einige Fachleute haben vorgeschlagen, sie vor Cp 12 zu stellen, da sie nur dreistimmig ist. Aber Bachs Autograph und die Druckausgabe platzieren sie übereinstimmend hinter die Nr. 12 – und, was schwerer wiegt, in kontrapunktischer Kunstfertigkeit übertrifft sie die Nr. 12 bei weitem.
Die Taktvorzeichnung lautet C für den rectus und X für den inversus. Der Vergleich mit anderen Fugen, die ursprünglich in 5 notiert waren und dann in ihren Notenwerten verdoppelt wurden (Fugen Nr. 8 und 11), ergibt, dass die Vorzeichnung für den inversus korrekt ist und für beide Versionen also X gelten muss. (Vgl. die Bemerkungen zu Cp 9.)
Ein Hauptproblem für die Erstellung einer modernen Edition sind die punktierten Noten. In zahlreichen Fällen hat Bach die Punktierungen vergessen oder die Notenbalken für die kurzen Noten nicht genau bezeichnet. Besonders in dieser Frage habe ich alle verfügbaren Quellen heranziehen müssen, um eine „Urfassung“ für die dreistimmige rectus-Fuge zu eruieren, von der alle Fassungen abhängen müssen. Bach kann keine rhythmischen Inkonsequenzen zwischen rectus und inversus beabsichtigt haben; und da die vierstimmigen Bearbeitungen für zwei Cembali unmittelbar aus den dreistimmigen Fassungen für ein Cembalo entstanden sind, bin ich davon ausgegangen, dass Bach alle Punktierungen, die in einer der acht Quellen vorkommen, grundsätzlich als für alle anderen Fassungen verbindlich erachtete. Ich habe jedoch Rhythmen, die in keiner der acht Quellen punktiert sind, auch unpunktiert belassen. (In
Takt 46 z. B. sollte der Spieler jedoch zweifellos die fehlenden Punkte selbst hinzufügen und die raschen Noten dem vorherrschenden punktierten, d. h. Triolen-Rhythmus anpassen; vgl. den inversus.) Die Dutzenden von kleinen rhythmischen Abweichungen zwischen den Quellen sind weiter unten nicht eigens aufgeführt, es sei denn, sie sind in anderer Weise von Belang. Hingewiesen sei auf die fehlende Übereinstimmung zwischen rectus (Bass) und inversus (So-
pran) in Takt 15.

Kunst der Fuge: das Rätsel, um das ich mich nie (wirklich) gekümmert habe:

Gräser-Ausgabe

Im Sinn behalten! Diese Interpretation (Kunst der Fuge Robert Hill, haenssler Classic 2000) ist also nicht identisch mit Tr. 20 auf der MAK-CD unter Goebel: dort spielt Andreas Staier solo (etwas langsamer). Robert Hill spielt solo nur den Contrapunctus 3 (Tr. 3). Es folgt dieser Canon in der Taschenpartitur-Ausgabe von Boosey & Hawkes. Meine Übung: in diesen Noten auch die direkt angeschlossene Version mit den vertauschten Stimmen mitzulesen und mitzudenken: jetzt beginnt also die linke Hand, die rechte folgt 4 Takte später.

Ausgabe Boosey & Hawkes

Dem entspricht:

Aber was ist dies?

1 gute Tat zum Jahresanfang (Fuge in D)

(Nicht dramatisch, gehört zu den normalen Vorsätzen)

Diese majestätische Fuge in BWV 850 ist nicht so einfach zu „verstehen“, wie es mir bisher schien, – und dann doch wieder sehr einfach.

Die Fuge in D-dur (BWV 850) aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, – die Kroll-Ausgabe, ein anonymes Geschenk 1960 (bereitgelegt in der Berliner Hochschule auf dem Tisch der Garderobe); sie hat sich seitdem bewährt, nur nicht in dieser Fuge, die ich bis dahin aus der Czerny-Ausgabe meines Vaters geübt hatte. Diese neue Version (mit guten Fingersätzen) schien mir insgesamt unantastbar, ich habe sie neu binden lassen und im Laufe der Jahre alle Praeludien und Fugen daraus erarbeitet, gelegentlich auch die Integrität des Notentextes überprüft, – aber hier wollte ich keine Fehler entdecken, – und einfach weiterüben. Die Noten zerfallen allmählich, besonders der erste Teil. Neuer Vorsatz Neujahr 2024: neue Noten, kritische Urtext-Ausgabe mit guten Fingersätzen. Erster Schritt jedoch – Nachbesserung in der seit „Urzeiten“ geübten Fuge in D-dur. Sie ist nicht so einfach wie sie aussieht. Durchführung / Zwischenspiel / Durchführung / Zwischenspiel / „übersteigerte Scheindurchführung“.

Das Praeludium (siehe hier und vor allem hier) ist seit Jahren mein Prüfstein der Fingerfertigkeit, sowohl die rechte Hand allein (Fingersatz!), als auch dieselbe Stimme mit der linken Hand (Fingersatz!), dann auch in Oktaven (langsam). Dagegen erscheint die Fuge wie ein Kinderspiel. – Weit gefehlt. Jetzt erste entdecke ich meine mit Bleistift eingetragene Änderung unten auf der ersten Seite, Verweis auf Czazkes … hatte ich sie für gegenstandslos oder beliebig gehalten? Nein, ich fand es gut, wie hier im Bass die Themenversion des 1. Taktes zitiert (!) wird. „Vor-echo“ des Sopraneinsatzes. Endlich ein Punkt, in dem Czazkes mal nicht recht hat.

Ich gehe noch einmal mit Rotstift an seinen Text, sehe die alarmierende Anmerkung, und selbst die früher nicht geglaubte Analyse der Fuge will mir heute einleuchten, – was für ein Esel ich doch war! (Sogar die schwer lesbare, aber gerade an dieser Stelle gut entzifferbare Kopie des Faksimiles lag mir vor – dank Adlatus Wolfhard Wirtz: Anfang des dritten Systems. Später auch die kleine Taschenpartitur aus Budapest, letzter Takt unten rechts. Ich wollte es nicht sehen! und ließ es ungeprüft.)

Praeludium und Fuge hören:

Die folgenden analytischen Markierungen in der Fuge ( B, S, A = die realen 3 Stimmen Bass, Sopran und Alt, sowie die Durchführungen I,II,III,IV) verdanke ich zum Teil der Lektüre der recht komplizierten Gedankenentwicklung in der Analyse von Ludwig Czazkes, ziehe allerdings Folgerungen, die dort so nicht stehen. Sie entsprechen lediglich den formalen Vorstellungen, die mir beim Spielen hilfreich erscheinen. Z.B. der Hinweis auf die Mitte, der die Bedeutung des oben behandelten Oktavsprunges ins Licht hebt und auch der Sonderstellung der „überlangen“ Durchführung  IV entspricht. (Sie umfasst zugleich eine neue Verarbeitung des Zwischenspiels und eine gesteigerte „Reprise“ des Bassthemas in der Grundtonart.) Darüber wird noch zu reden sein.

Czazkes macht mit fremden Analysen meist kurzen Prozess, und meistens hat er recht:

Nachdem ich eingesehen habe, dass im Bass des Taktes 13 der Oktavsprung ein bemerkenswertes Signal darstellt (Mitte) – auch:  dass hier die Durchführung IV beginnt, obwohl dadurch die Durchführung III „zu“ kurz wirkt – auch: dass das „Vor-Echo“ in Takt 13 dem in Takt 11 entspricht -, erkenne ich auch, dass es nach der Themen-Folge der Durchführung IV (mit Kadenzerweiterung in Takt 16) einer bemerkenswerten Kraftanstrengung bedarf, den mit Hilfe des Zwischenspielmotivs gestalteten Höhepunkt der Fuge (Takt 24 +25) aufzurufen: sie ist markiert durch die Interjektion des Dezimsprungs im Sopran Takt 17, der den Oktavsprung im Bass des Taktes 13 überbietet und: eine Phase himmlischer Ruhe einleitet, indem er zugleich das Zwischenspielmotiv (aus Takt 9) in der Basslage anheben lässt…

Warum der Ausdruck „überlange“ Durchführung IV? So wie das Zwischenspiel, das den Takten 9 und 10 folgte, zu den Durchführungen I und II gehört, so gehört die Wiederkehr in den Takten 17 ff zu dem Gespann der Durchführungen III und IV, gewissermaßen (wie Czazkes andeutet) mit überzähligem Bass-Einsatz in Takt 24. Man kann in diesem Höhepunkt natürlich auch die krönende Coda der Fuge sehen!

Zu beachten der (revolutionäre) Quartaufstieg im Bass: H – E – A – D – G → , Fortsetzung folgt, ich möchte glauben, mir vertraut seit … wieviel Jahren?

Quelle Ludwig Czazkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers, Form und Aufbau der Fuge bei Bach, Wien I: 1956, II: 1956 (unveränderte 2.Auflage Wien 1982)

Vorsätze beim Üben der Harfen-Etüde

Sie gehört zu den Etüden, die mich mein Leben lang begleitet haben. Mein Vater spielte sie (er hatte kleine Hände, vielleicht wie Barenboim, wir hörten kritiklos bewundernd zu, und wir versuchten es früh selbst, weil die erste Zeile leicht scheint, natürlich mit beiden Pedalen und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich erstand 1960 in Ost-Berlin die eigenen 10 Chopin-Bände der Paderewski-Ausgabe, übte in den frühen 70er Jahren „in der alten Wohnung Querstraße“ alle Etüden, die ich schon teilweise auswendig konnte, diese erstmals mit genauer Rhythmik, also auch 4 : 6, auch mal ohne vertuschendes rechtes Pedal, stolz, einsam pfuschend, dann des öfteren als Fingerpräzisionsübung in den 90er Jahren, und jetzt im „Projekt Neuanfang Technik“, sehr genau, unter Verzicht auf jedwede Schwelgerei. Daher schließlich diese YouTube-Sammlung – ohne lang zu suchen – einfach, um nachzuprüfen was andere machen, wo sie „im Ernstfall“ auch versagen oder gar keine Probleme zu kennen scheinen. Ich meckere nicht, ich objektiviere meine eigenen Fehler williger, – zugleich bin und bleibe ich natürlich ein recht kleines Licht am Klavier.

Was mir an der damals handschriftlich vorangestellten Schumann-Charakteristik besonders gefallen hatte, war der Hinweis, dass „in der Mitte […] neben jenem Hauptgesang auch eine Tenorstimme aus den Akkorden“ deutlich hervortritt. Ich habe sie immer beachtet, gleichwohl immer falsche Töne gespielt, sowohl in der rechten Hand Takt 15 und 16 als auch in der linken Hand Takt 16 und Takt 20 (Daumen!). Diese Stelle hören Sie im 4. Beispiel (mit Notentext) ab 0:39 bis 0:59. Bitte noch weiterspielen bis zur – für mich seit der Kindheit – schönsten Stelle bei Eintritt des Taktes 29 genau auf 1:18.

Eine Live-Aufnahme, mit deren Veröffentlichung der einst hervorragende Pianist nicht zufrieden sein kann. Empfindlich falsche Töne in Takt 12 zweite Hälfte, und in der oben erwähnten Stelle, wo eine Tenorstimme aus den Akkorden hervortritt (Takt 17 bis 20): Daumen-Motiv Fehlanzeige. Takt 28 zweite Hälfte in der linken Hand verfehlte Töne. usw. all das kann passieren, sollte aber nicht als  (geglückter) ‚Musical Moment‘ des Meisters präsentiert werden.

Zu schnell, zu brillant, fast kein ritenuto in Takt 24, dafür Takt 25 vierte Zählzeit falscher Bass-Ton, falscher Akkord auch vor dem Klimax-Ton im Takt 34, was man dank ungewöhnlicher  Kamera-Perspektive gern überhört, aber dann die anmutige Körpersprache, wenn auch weiterhin im allzu strengen Tempo in die Schlussphase. Ruhe erst im abschließenden Basstriller plus Arpeggio-Akkord, was in anderen Aufnahmen eher verlegen wirkt. Selbst in der folgenden Aufnahme mit Rubinstein, der das Tempo des Stückes ähnlich strikt auffasst, aber sich Zeit lässt für wunderbare Rubati und in den Akkord-Arpeggien der Coda ein hinreißendes Leggiero-Spiel zeigt.

Es folgt Maurizio Pollini (von wann?), überzeugend die Begleit-Arpeggien, kein Mulm, klares Tempo mit dezenter, aber zwingender Agogik

Jetzt wird’s mehr al-fresco. Sympathisch, aber zuviel Gefühl, unzuverlässige Technik. Tenorstimme ziemlich deutlich, Takt 27 vierte Zählzeit mulmig (Angst vorm Blättern),T.32 auf vier falscher Melodieton (es statt f, das „nachgeliefert“ wird), die 16tel kommen mehr als eilige Tontraube mit Anspring-Pause vor Melodieton. Groteske Hörfehler in der englischen Nachschrift des Textes (2mal Schann statt Schumann, singer statt finger) – Leise und sehr zart üben, ohne Pedal? damit man bei Hinzuziehung des Pedals keine Einzeltöne mehr hört? halbe Tastentiefe? [aber kein Ton darf ausfallen!] „Illusion eines  Legatos“ (spielt Melodietöne mit Bleistift und Pedal). Aber nun zu dem Takt 8, in dem er das Anspiel der Etüde abbricht (17:14, es begann bei 16:46), und ich meine diese Zeile mit Takt 7 und Takt 8 (vorm Umblättern), genauer: die linke Hand in Takt 8, die auf dem tiefen ES landet und trotzdem mit dem Daumen wenig später als Spitzenton den Ton DES erwischen soll. Tut sie das? (wir können die Hand beobachten). Die beiden Daumen rechts & links müssten sich kreuzen….

davon später mehr.

Die Schumann-Besprechung der Chopin-Etüden hatte sich schon mein Vater vorgemerkt, aus seinem Buch (Auswahl Paul Bekker 1922) sei sie hier wiedergegeben (samt inliegendem Merkzettel):

Zum Takt 8. Mir scheint das schwierig, und ich überlege, ob ich die Daumentöne links= DES und rechts= B nicht einfach vertauschen darf, und mir eine fast unvermeidlich heftige Hilfsbewegung des linken Unterarms sowie die unfallträchtige Kreuzung der beiden Daumen sparen darf. Ich kannte einst Pianist_innen, die in diesem Punkt skrupellos waren, aber – sollte Chopin dafür zu dumm gewesen sein? Es ändert sich doch nichts real?  Mein Gegenargument wäre: die Aufwärts(hilfs)bewegung des linken Arms soll ein Bewusstsein für die Sonderstellung des Moments schaffen, ein winziges technisch bedingtes Zögern, das „von selbst“ einem musikalischen Ritenuto, das nicht befohlen wird, Raum gibt. Wenn es sich gut anfühlt, ist es auch schön. (Etwas anders liegt der Fall Takt 33/34 .)

Was sagt das irgendwo von Chopin gegebene poetische Bild (Schäfer, der aus dem Stall das ferne Geräusch von Winde und Regen hört und dazu die Melodie auf der Flöte spielt) über die Ausführung des Stückes? (21:45)

Ab 23:25 die schöne Mittelstimme (genau genommen Alt und Tenor). Dann über „the goal“ der passionierten Entfaltung – wie er die Hände öffnet – so sind sie geöffnet beim Spiel der Begleitung, die Finger weit gespreizt (ist das die Idee?). Das Spiel des Überreichens und Zurückziehens beim Präsentieren eines Geschenkes. Und dann: alles Erzählte vergessen. Er macht vor, wie es chromatisch weitergehen könnte, wenn man der unbewussten Tendenz nachgäbe. Höher und höher. (Gut gedacht.) Und beim dritten Mal „I love you“. Er meint die Verwandlung nach Von As- nach A-dur. Aber: Down completely down“ – doch er bemerkt nicht die Funktion des einen viel später erfolgenden Akkordes, der dies z.B. zu meiner Lieblingsstelle macht. Nach der Climax! „little down“ (genau beim Blättern 31:24). Ich denke einen Moment an Beethoven, der diese Wirkung zuerst entdeckt und „inszeniert“ hat.

Beethoven V, 2 Takt 12

(Unser Pianist dagegen denkt schon an „another Climax“, was auch im Sinne des Spannungsverlaufs o.k. ist). – – – 32:29 Coda –  da fehlt die reminiszierende Tenor-Nachahmung Daumen… Hinweis auf „Exercise“ der Arpeggien, die fälschlich leicht erscheinen, –  „magic“? (sie sind bei ihm auch „löcherig“,  mit falschen Tönen durchsetzt und zu laut). Ab 34:15 nach Atemholen abschließend nochmal alles von vorn.

Ich produziere am zuverlässigsten falsche Töne – hier (ausgerechnet bei der Climax):

*    *    *

Weiter zum nächsten YouTube-Beispiel. Cool! Wie man die technische Seite trainiert (Kämmerling-Schule), vielleicht auch abschreckend; die 16tel-Trauben funktionieren wie ein feines Räderwerk. Gut: Tastatur und Hände von oben gefilmt. Bewundernswert. Vollständig ab 15:15.

(Fortsetzung folgt, siehe zunächst auch hier)