Archiv für den Monat: Juli 2015

Fragen an Beethoven

Eine Übung

Es ist eigentlich Leonidas Kavakos, der mich mit seinen mustergültigen Interpretationen der Beethoven-Violinsonaten darauf brachte, dass mir zwei davon lebenslang fast unbekannt geblieben sind. Obwohl ich sie in meiner Studienzeit mehr als einmal gehört, allerdings nie selbst gespielt habe, auch nie den Drang dazu gespürt habe. Im Gegenteil, ich habe sie gemieden, und das war dumm: Die Sonate Nr. 6 A-dur op. 30, 1 und die Sonate Nr. 10 G-dur op. 96.

Merkwürdigerweise sieht Kavakos in seiner verbalen Einführung gerade diese beiden Sonaten innerlich verbunden. Es ist alles sehr hörenswert, was er sagt, aber man gehe auf youtube direkt an die Stelle, die der Sonate Nr. 6 gewidmet ist: HIER – ab 10:36 bis 14:51.

Leider findet man man von dieser Sonate nur den 2. und 3. Satz in der Interpretation mit Leonidas Kavakos und Enrico Pace auf youtube. Ich nehme aber gern vorlieb mit der alten Oistrach-Aufnahme HIER. Man kann auch die Einzelsätze anklicken, was später ganz nützlich ist, wenn man Kavakos wirklich an einem der größten Violinisten der Geschichte messen möchte.

Der zweite Satz mit Kavakos: HIER,
und der dritte: HIER.

Es ist sehr merkwürdig: man muss bei dieser Sonate ehrlicherweise über etwas reden, was sie unattraktiv macht! Und das tut Kavakos auf beachtliche Weise. Er sagt, dass sie keine wirkliche Melodie hat, kein wirkliches „Statement“. (Er spielt sie an: sachlich, non espressivo, setzt das Thema der Frühlingssonate dagegen.)  Es ist eher wie eine Kontemplation. Das sei wie in der Sonate 10, die beginnt wie eine „Unanswered Question“ (Ives), kontemplative Atmosphäre, – Kavakos lässt einen mit fragmentierten Sätzen spüren, dass es schwer zu sagen ist: es ist auch in der Sonate nicht klar, „dies ist das Statement, dies ist die Verarbeitung“ – gewiss, alles ist da (er springt an den Schluss, den er spielt, indem er mimisch zeigt, wie es da offen bleibt: „ist es eine Antwort, ist es eine Frage? Niemand kann es sagen.“) Und dann sagt er: das sei irgendwie magisch, dass Beethoven den ersten Satz beendet auf eine (unspektakuläre) Weise, ja … okay … lasst uns sehen, wie das läuft… und dann kommt der langsame Satz, der zusammen mit dem der Frühlingssonate zu den melodischsten Sätzen Beethovens gehört. Es ist dies Moment der Ruhe, des Nicht-Vorwärtsdrängens, diese höhere Macht („superior power“). Relaxation. A moment of calmness. (Gelassenheit!) Das sind seltene Momente in der Musik! Und wenn das kommt …, dann ist das von machtvoller Wirkung. Den letzten Satz (die Variationen!) nennt Kavakos ein „Rondo“, und das ist kein Lapsus linguae, auch die Interpretation, die ich gleich zitieren werde, spricht über „Rondo-Momente“: Da heißt es: „Gleich die erste Variation läßt eher auf eine kontrastierende Episode [wie in einem Rondo] als auf eine motivisch-thematische Veränderung schließen.“ Es ist fast, als habe Kavakos diese Ausführungen gelesen: Peter Ackermann in: „Beethoven. Interpretationen seiner Werke“ / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 / Bd. I S. 242 ff. Und hier wird auch daran erinnert, dass der ursprünglich vorgesehene Finalsatz des Werkes — in die Kreutzer-Sonate gewandert ist.

Doch deutet sich in der Substituierung des Finales zugleich ein Problem der kompositorischen Integrität des Werks an. Nicht auf die zyklische Striktur insgesamt, sondern auf Details der inneren musikalischen Logik bezogen sieht Alexander Wheelock Thayer markante Schwächen der A-Dur-Sonate. Im Vergleich mit den beiden anderen aus op. 30 stünde sie an „natürlichem Fluß, an zwingender Notwendigkeit der Entwicklung entschieden zurück. Der erste Satz zerbröckelt in zu viele gegen einander abgeschlossene kleine Sätzchen und läßt mehrfach die modulatorischen Einschiebsel, welche die Tonartordnung erfordert, unliebsam hervor treten […]. Trotz aller aufgewandten Kunst und alles fein empfundenen Detail (sic!) bleibt der Gesamteindruck der eines mosaikartigen Zusammensetzens der ganzen Sonate.“

Zur schnellen Orientierung ein Link zum (historischen) Notentext: HIER.

Dann kommt der Kommentator auf den wesentlichen Punkt (den er eher als gattungsgeschichtliche Notwendigkeit der Violin-Klavier-Sonate behandelt): die Polyphonie.

Daß die A-Dur-Sonate, den von Thayer attestierten Schwächen zum Trotz, einen entscheidenden Schritt in dem gattungsgeschichtlichen Prozeß von der Klaviersonate mit Violinbegleitung zur Sonate für zwei gleichberechtigte Instrumente darstellt, tritt an einem zentralen Merkmal zutage. Das Hauptsatzthema des ersten Satzes ist in diesem Sinne geradezu programmatisch. Drei zwischen Klavier und Geige polyphon verflochtene Linien heben die satztechnische Unterscheidung in Haupt- und Nebenstimme, in Melodie und Begleitung auf, Polyphonie selbst wird zum Signum des integralen Zusammengehens der beteiligten Instrumente.

Es ist durchaus möglich, dass Beethoven die heimliche politische Botschaft der gleichberechtigten Stimmen assoziierte und in der emanzipatorischen Tendenz dieser Jahre seinen entscheidenden Fortschritt sah. So wäre es kein Zufall, dass er gerade dieses dreigeteilte Opus, mit dieser Sonate als Auftakt, dem neuen König von Russland widmete, Alexander I., der für seine aufklärerische Haltung (seine Erziehung nach den Prinzipien Rousseaus) bekannt war.

(Fortsetzung folgt)

Das Paradiesthema kehrt zurück

Kein Tag wie jeder andere

Ich blättere die neue ZEIT durch, wie immer in der Reihenfolge FEUILLETON – WISSEN – und jetzt würde die Titelseite folgen, aber ich bleibe stecken bei WISSEN auf Seite 29 und sage mir: Schon dafür hätte sich der Preis von 4,70 € gelohnt: ein Gespräch mit Nigel Barley, dessen erstes Buch „Traumatische Tropen“ ich im Dezember 1990 von meinem Kollegen Fuhr zum Geburtstag erhielt. Nicht lange danach habe ich es zum Thema einer WDR-Sendung gemacht. Völlig unabhängig davon war meine Begeisterung für Bali, einsetzend lange vor der Anschaffung des Buches „Märchen aus Bali“ 1965, gipfelnd im Bali-Aufenthalt 1995, von Wolfgang Hamm und Ulrike Rießler vorbereitet; in Ubud erstand ich z.B. den Bildband „Perceptions of Paradise“ und die Monographie über Walter Spies, während ich ein Jahr vorher das Buch von Adrian Vickers verschlungen hatte: BALI – Ein Paradies wird erfunden. Und nun dies:

ZEIT: Nun erscheint von Ihnen ein neues Buch auf Deutsch Bali – Das letzte Paradies (…). Ist es das, eine Insel der Seligen?

Barley: Natürlich nicht, der Titel ist ironisch gemeint. Das Paradies ist immer anderswo, niemals hier und jetzt. Deshalb werden auch absolutistische und totalitäre Regime immer irgendwann unterminiert: weil sie das Paradies nicht erschaffen können.

Eine typische Barley-Antwort, – wer denkt schon bei der Vorstellung vom Paradies zuerst an ein solches Regime? Dahinter stecken mehrere Gedankensprünge, und unmittelbar anschließend folgt der nächste:

Kürzlich war ich auf einer Konferenz in der Schweiz, da ging es um die Idee der Utopie. Wir saßen also da, in diesem wundervollen Tagungshaus am See, die Blumen blühten, es war angenehm warm, ein sanfter Wind strich übers Land, die Vögel sangen, die Fischer jodelten über den See … und wir zermarterten uns die Köpfe und diskutierten verbissen die Frage, wo wohl das Paradies sei.

Quelle DIE ZEIT 30. Juli 2015 Seite 29 „Da stimmt doch was nicht“ Nigel Barley ist passionierter Ethnologe – aber genervt von seinen Fachkollegen. Warum genau? Ein Gespräch über Forscher auf Reisen und die Insel der Seligen.

BALI Barley Man kann den Anfang des Buches online lesen: HIER.

Bali Paradise  Bali Vickers BALI Walter Spies BALI Märchen Paradiese Edgerton

Ich überlege: wann hat das eigentlich in meinem Fall begonnen? Am Anfang stand das Jugendbuch „Mut Mafatu!“, die Geschichte eines Jungen, der Anerkennung sucht, die Insel Hikueru, die Südsee – und ein seriöser Anhang, der belehrend gemeint war, aber mir als ein Siegel der Wahrhaftigkeit erschien. Das war vermutlich etwa 1950. Und 1960, zu Beginn des Studiums in Berlin, war es der folgende Film, der mich umgehauen hat, kein Zufall natürlich, dass früher der Junge, jetzt das Mädchen die Titelfigur war.

Südsee Film 1955 Südsee Film 1955 2 Südsee Film 1955 3 Der obige Text leichter lesbar plus Fortsetzung:

Südsee 4 Text Südsee Film 1955 4

Welche Rolle spielte die Musik dabei (für mich)?

Continente perduto war 1955 einer der damals erfolgreichsten und einflußreichsten Dokumentarfilme, zudem der erste italienische Film überhaupt, der in Farbe und Cinemascope gedreht wurde und im 4-Kanal-Stereoton-Verfahren in die Kinos kam. Über mehrere Monate hinweg war die Filmcrew unter der Regie von Enrico Gras und Giorgio Moser im indonesischen Archipel unterwegs gewesen, um von dort eine Fülle an atemberaubenden Naturaufnahmen zurückzubringen und eine so nie zuvor auf der Leinwand gesehene exotische Welt voll fremdartiger Gebräuche und Rituale vor den Augen der Zuschauer auferstehen zu lassen, in der seelische Kraft und religiöser Kult die Triebfeder allen Handelns sind. Lavagnino, der zusammen mit dem Filmteam sechs Monate in Indonesien verbrachte, um dort die Folklore des Landes zu studieren, komponierte für diesen Film eine seiner herausragendsten Arbeiten: Eine außergewöhnlich faszinierende, abwechslungsreiche und sinnlich-exotische Musik, die durch ihre brillanten Themen, ihre mitreißende Rhythmik und ihre farbenprächtige Klangpalette begeistert. Ethnisches Lokalkolorit wird in eine abendländische sinfonische Tonsprache integriert, wobei Lavagnino als erster italienischer Filmkomponist zu dieser Zeit ganz besonders mit innovativen Ton- und Aufnahmetechniken aller Art experimentierte. Die Realisierung dieses CD-Projekts war nur möglich mit der Unterstützung der drei Töchter des Komponisten – Alessandra, Bianca und Iudica Lavagnino -, die uns die im Nachlaß sogar in Stereo erhaltene Masterband-Kopie des Scores für diese CD-Veröffentlichung freundlich zur Verfügung stellten. Diese CD erscheint in einer limitierten Edition von 500 Exemplaren.

Quelle siehe HIER.

Wespen greifen nicht an, aber sie stechen

Was mich dort ärgert und hier freut

Wespen Meldung 150728

Heute im Tageblatt auf Seite 3 – die Meldung ist zu kurz und daher falsch und irreführend.

Der WDR hat es fast richtig gemacht, indem er meldet:

Kleiner Fehltritt mit großen Folgen: Bei einem Spaziergang war ein Kind des Monheimer Waldkindergartens am Montag (27.07.2015) in ein Wespennest am Erdboden getreten. Die aggressiven Insekten attackierten daraufhin die gesamte Gruppe.

Nur fast richtig, weil die Tiere nicht von Natur aus aggressiv sind, – sie werden aggressiv, wenn sie sich angegriffen fühlen, ganz ähnlich wie wir. Ich habe das als Kind gelernt, als ich zusammen mit meinem Bruder beobachtete, wie Wespen auf Hobergs Wiese ein Mauseloch aufsuchten, ja, dass sich dort ein lebhaftes Raus und Rein abspielte. Das wollten wir genauer untersuchen, nahmen kleine Ästchen und stocherten in diesem Loch herum. Das dauerte nicht lange: in kürzester Zeit hatte jeder von uns einen Stich, es wimmelte plötzlich von Wespen, und wir rannten so schnell wir konnten, aber der Schwarm war ebenso schnell und wir wurden übel zugerichtet. Das vergesse ich nie und erzähle es jedem Kind: mit Wespen spielt man nicht! Und trotzdem: im Ernstfall läuft es eben immer wieder anders, wie man in Monheim sehen konnte.

Ich kann nicht sagen, dass Wespen meine Lieblingstiere sind, Hummeln aber durchaus, auch Bienen, Käfer, Heuschrecken, Schmetterlinge, überhaupt alles, was kriecht und fliegt ohne mich zu stechen, und eine Wespe auf meiner Hand vertreibe ich nicht, sondern beobachte sie, fast wie damals, aber ohne Stöckchen.

Ich finde sie wunderschön, deshalb habe ich auch diese beiden Screenshots gemacht und

Wespen Screenshot 2015-07-28 12.11.02 Wespen Screenshot 2015-07-28 12.11.07

bin dem WDR dankbar, dass unter der ausführlichen Meldung über den Monheimer Wespenvorfall gleich noch ein Film zu finden ist, der zweifellos zu wachsendem Wespenwissen führt. Darf man Wespen töten? NEIN. Klicken Sie HIER.

Ich widme mich aufs neue meinem kleinen Lieblingsbuch, aus dem ich ja schon mehrfach zitiert habe, jetzt aber, um mich ab Seite 152 über „Hummelkriege“ zu informieren.

Hummeln Cover

Nachtrag 23.08.15

Weiterhin Sommerthema: Wespen, Hornissen …

Wespen SZ c x 150823 SZ 22./23.August 2015 (Seite 34)

Sehr interessanter Beitrag über die sozialen Fähigkeiten der Insekten, nachlesbar HIER.

In der Zeitschrift NATUR 09/15 (Seite 84) Beobachtungstipp Friedlicher Fleischfresser / über die Hornisse:

Hornissen haben den Ruf eines Killers. Wahlweise drei, fünf oder sieben Stiche reichten aus, um einen Menschen, ein Pferd oder einen Elefanten zu töten.

Genau! Mein Freund KG wandelte diese Mär gern ab, indem er feierlich anhub: „Wussten Sie schon, dass der Biss eines Pferdes ausreicht, um eine Hornisse zu töten?“

In dem lesenswerten Artikel von Peter Laufmann erfährt man:

Und ihr Gift ist sogar weniger gefährlich als das von Bienen oder Wespen. Sie sind eher scheu und leben im Verborgenen. Obendrein gehen sie nicht einmal an unseren Kuchen, die Limo oder den Gin and Tonic. Hornissen machen sich nichts aus Süßem. Sie sind eingefleischte Jäger. 500 Gramm Insekten vertilgt ein Volk – pro Tag.

Schwarz-Weiß-Malerei

Neger (Ernst & Unernst)

Der deutsche Name Neger stammt vom Begriff Näher ab,“ lese ich im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 24. Juli, „er hat nichts mit dem ethnischen Wort Neger (von negro: schwarz) zu tun. Aber die Kunden mochten sein Logo, und Ernst Neger behielt es auch bei, als er so bekannt war, dass er keines mehr brauchte, dank seines Fastnachtshits: Humba Täterä.“

Ich habe den Beitrag „Wer Böses dabei denkt“ (über geschwärzte Gesichter im Theater, den Sarotti-Mohr, das Logo der Firma Neger etc.) in das Buch „Unser Shakespeare“ von Frank Günther gelegt, Kapitel (Seite 94-118): „Othello, der POC von Venedig oder Pippi Langstrumpfs neuer Papa oder vorauseilender Nachruf auf ein bald unspielbares Stück“. Doch weiter im SZ-Magazin:

Als er das Lied 1964 zum ersten Mal sang, musste die Sendung Mainz, wie es singt und lacht um eine Stunde überziehen, die Leute wollten sich einfach nicht beruhigen. Humba schwang sich zur Fastnachtshymne auf, überall war es zu hören, selbst in Akrika, wo es, wie der Spiegel schrieb, allerdings missverstanden wurde: „Deutsche Entwicklungshelfer mussten Aufklärungsarbeit besonderer Art leisten. Die Eingeborenen hielten den Song im stampfenden Rhythmus für die deutsche Nationalhymne.“ Ob der Spiegel das wohl heute auch so schriebe?

Damals nahm niemand daran Anstoß, so wenig wie an Ernst Negers Logo, das jahrzehntelang über den Dächern der Stadt thronte.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin: Wer Böses dabei denkt / Geschwärzte Gesichter im Theater, der Sarotti-Mohr, das Logo der Firma Neger: Was ist harmlose Tradition, was Alltagsrassismus? Eine Deutschlandreise / Von Thomas Schmoll und Lorenz Wagner. (S.16 f)

Zur Ehre des Spiegels sei gesagt, dass die betreffende Meldung damals (am 16.12.1968) anders lautete, nämlich so:

TONI HÄMMERLE, 53. Am Klappenschrank fielen dem blinden Telephonisten der Gießener Universität, der 1933 ein Staatsexamen als Musiklehrer bestanden hatte, Texte und Melodien zu Karnevals-Liedern ein. Die Fernsehsendung „Mainz wie es singt und lacht“ machte Hammerle-Lieder — wie „Hier am Rhein geht die Sonne nicht unter“ und „Mir hawwe immer noch Dorscht“ — zu Schlagern. Zum nationalen Schlachtruf in Fußballstadien und bei allen lauten Festivitäten wurde „Humba, humba täterä“. „Bild“ wußte über Hämmerles Erfolg gar zu berichten: „In Afrika hatten deutsche Entwicklungshelfer Mühe, Eingeborene im Busch davon zu überzeugen, daß ‚Humba humba täterä‘ nicht die deutsche Nationalhymne ist.“ Unter den Mainzer Amateur-Karnevalisten war Toni Hämmerle der Spitzenverdiener: Allein das „Humba“-Lied brachte ihm 60 000 Mark an Tantiemen ein.

Also: es war natürlich die Bild-Zeitung, die das aufgebracht hat. Aber rund 20 Jahre später weiß das selbst der Spiegel nicht mehr und schreibt im Nachruf für Ernst Neger (23.01.89):

Den unsterblichen Ruhm errang der Besitzer von 1000 blechernen Karnevals-Orden und einer Gutenberg-Plakette jedoch weder mit „Rucki-Zucki“ noch „Babberlababberlabab“, sondern seinem 64er-Hit „Humba, humba, täterä“, der eine enthemmte Fernsehnation in Hysterie versetzte. Deutsche Entwicklungshelfer in Afrika mußten anschließend Aufklärungsarbeit besonderer Art leisten: Die Eingeborenen hielten den Song im stampfenden Rhythmus für die deutsche Nationalhymne. Ernst Neger starb am vorvergangenen Sonntag in Mainz.

 Woher ich das weiß? Ich bin den Quellenangaben bei Wikipedia nachgegangen, siehe hier. Siehe dort unter „Einzelnachweise“. Auch eine Zeile drüber findet man Sehenswertes: „Typisches Humba-Ritual im Fußballstadion“. Aber wohlgemerkt: ich referiere nur und bin nicht für Schmerzensgeld zuständig.

Die griechische Statue

Der Interpret spricht über den Interpreten

ZITAT

Im fünfzehnten der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, nachdem uns gerade versichert wurde, dass das freie ästhetische Spiel Begründer einer neuen Lebenskunst wäre, stellt uns Schiller imaginär vor eine griechische Statue, die als die [N.N.] bekannt ist. Die Göttin, sagt er uns, ist in sich selbst eingeschlossen, untätig, frei von jeder Sorge und jedem Zweck. Weder befiehlt sie, noch widersteht sie. Wir verstehen, dass diese „Abwesenheit von Widerstand“ der Göttin den Widerstand der Statue bestimmt, ihre Äußerlichkeit in Bezug auf die normalen Formen der sinnlichen Erfahrung bestimmt. Weil sie nichts will, weil sie außerhalb der Welt des befehlenden Denkens und Willens steht, weil sie alles in allem „unmenschlich“ ist, deswegen ist die Statue frei und präfiguriert eine Menschheit, die wie sie von den unterdrückenden Bindungen des Willens befreit ist. Weil sie stumm ist, weil sie nicht zu uns spricht und sich nicht für unsere Menschheit interessiert, kann die Statue „dem Ohr der Zukunft“ das Versprechen einer neuen Menschheit „anvertrauen“. Das Paradox des Widerstands ohne Widerstand äußert sich also in seiner ganzen Reinheit. Der Widerstand des Kunstwerks, welches die Göttin darstellt, die nicht widersteht, ruft ein kommendes Volk an. Aber er ruft es in dem Maße an, indem das Werk in seiner Distanz, seiner Entfernung von jedem menschlichen Willen beharrt. Der Widerstand der Statue verspricht den Menschen, die, gleich ihr, aufhörten zu widerstehen, die aufhörten ihr Leid und ihre Klagen zu übersetzen, eine Zukunft.

Quelle Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Merve Verlag Berlin 2008 (Seite 22 f)

Ich lese mit großer Zustimmung und glaube, die Statue vor meinem inneren Auge zu haben. Ich sehe die Göttin in lässiger Haltung dasitzen, mit seitlich ruhenden Armen, sehe die fließenden Falten ihres Gewandes, ihren Blick – an mir vorbei – auf den Horizont gerichtet.

Alles passt. Aber mein Bild ist falsch. Warum?

(Fortsetzung folgt, ich werde zunächst bei Schiller nachlesen…, dann das von mir eingefügte Kürzel N.N. durch den wahren Namen ersetzen.) Bei Schiller nachlesen? Bitte! (Gutenberg, Spiegel-Texte.)

Und so finde ich die Stelle in meiner wohlfeilen Ausgabe aus dem Jahr 1954, vom Schulgebrauch gezeichnet:

Schiller Juno Ludivisi

Ist es nun eine Statue? Ist es ein „Antlitz“ oder „die ganze Gestalt“? Oder wäre das ganz gleichgültig? Eine „Statue“ ist eine frei stehende Plastik, die einen Menschen oder ein Tier in ganzer Gestalt darstellt, sagt der Duden. Bei der Juno Ludovisi aber handelt es sich nun mal um einen Kopf. Ändert sich dadurch die Argumentation? Siehe auch bei Wikipedia hier, insbesondere dort, wo es Schillers Freund Goethe betrifft.

Und plötzlich spüre ich einen Keim des Misstrauens: was hat es eigentlich mit dem Wort „Menschheit“ auf sich? Ist das denn nicht die Gesamtheit aller Menschen? Aber was soll dann die Differenzierung „unsere Menschheit“? Ist es die der Gegenwart unserer Zeit – im Gegensatz zu der der alten Griechen? Oder geht es darum, dass „unserer Menschheit“ in diesem Fall eine Gottheit gegenübersteht? Ist es das richtige Wort? Was sagt denn der Franzose, wenn er „Menschheit“ unterscheiden möchte von „Menschlichkeit“ oder „Menschentum“? Immer nur „humanité“?

Es ist auch von einer neuen Menschheit, einem kommenden Volk die Rede…

Soll ich abbrechen? Weiterlesen und abwarten, welche Konnotation sich im Gesamttext herausbildet? Das französische Original besorgen? (Ich habe weitergelesen, kursiv gelesen bis zum Schluss.)

Was mich stört: dass der Autor sich unentwegt auf der Ebene der Abstraktion bewegt, die sinnlichen Einzelheiten – wie eben diese „Statue“ – sind nur als Begriffe vorhanden. Wie Meinungsplaketten. Dass er andererseits eine eigene Nomenklatur benutzt, die man nur versteht, wenn man nicht nur ihn, sondern auch die von ihm bevorzugten Autoren kennt (Deleuze, Lyotard, Baudrillard). Er zitiert Voltaire, mehrfach, aber nur mit einem einzigen Satz: „Der Mensch von Geschmack hat andere Augen, andere Ohren, einen anderen Takt als der grobe Mensch.“ Dazu keinen Thorsten Veblen, keinen Nietzsche. Man hat den Verdacht, dass er auch nur den einen Brief von Schiller kennt; erst im Gespräch mit dem Herausgeber wird von diesem die Quelle in „Sämtliche Werke“ angegeben, die Rancière sicherlich nicht benutzt. Es ist ihm egal, ob er vom widerständigen Stein der Pyramiden oder vom Marmor der Statue spricht, die in Wahrheit eine Büste bzw. ein Haupt (mit Hals) ist.

Er benutzt Kennmarken, keine sinnlich angeschauten oder vergegenwärtigten „Rüschen am Kleide“ (Benjamin), – so scheint mir. Mag er auch vom „Käfer im Zimmer Gregor Samsas“ sprechen oder vom Künstler „mit den geröteten Augen“.

Juno bei Goethe

JUNO bei Goethe Quelle: Wikimedia (Ausschnitt)

Gebrandmarkte

Bildnotizen zu Kirchen in Lemgo 19. Juli 2015

Lemgo St Marien Chor  Lemgo St Marien Nebeneingang

Lemgo Jude mit Spitzhut St. Marien, Lemgo

Erläuterung auf einer beigefügten Schrifttafel: Diese Figur aus der Bauzeit der Kirche (um 1313) ist ein Zeugnis mittelalterlichen Antijudaismus. Mit dem thronenden Christus am rechten Wandpfeiler bilden beide Figuren zusammen die personifizierte Darstellung der jüdischen und christlichen Religion: Synagoge und Ecclesia. Die Synagoge ist in der Person eines Juden mit Spitzhut (mittelalterliches diskriminierendes Bekleidungsmerkmal für Juden) zu erkennen. Sie hält ein aufrecht stehendes Schwein in Händen. Damit verhöhnt die Darstellung das dem Juden heilige Gesetz, das Gott seinem Volk durch Moses gegeben hat. Das Schwein gehört zu den unreinen Tieren (3. Mose 11,7), das weder gegessen noch im toten Zustand angerührt werden darf.

(Der Rest des Textes ist identisch mit den entsprechende Absätzen auf der unten wiedergegebenen Tafel.)

Lemgo Säule Jude & Jesus  Lemgo Jesus & Juden

Lemgo Tafel Jesus, Juden Passion

So wurden aus den beschämenden Selbstzeugnissen einer verwirrten Theologie gewissermaßen Gedenksteine. Zu sehen in der sehenswerten Kirche St. Marien. Sobald man die andere, schon in der Außenansicht spektakuläre Kirche St.Nicolai betritt und sich an die mystische Beleuchtung des Innenraums gewöhnt hat, fällt der Blick bald auf den tiefschwarzen Stein mit dem quer durchgeschlagenen Riss, der zunächst kaum auffällt, wie durch Blitzschlag hineingebrannt: ein Kainsmal . GOTT WIRD ENDLICH MEIN HAUPT AUFRICHTEN UND MICH WIEDER ZU EHREN SETZEN / ANDREAS KOCH, 1647 – 1665 Pfarrer an St. Nicolai.

Was ist ihm widerfahren?

Pfarrer Andreas Koch Riss (Bitte anklicken)

Man kann es kaum entziffern, ganz unten stehen die grausamen Fakten:

Pfarrer Andreas Koch Bio

Er ist hingerichtet worden, weil er sich gegen die Hexenprozesse gewandt hat, und zwar als sogenannter „Teufelsbündner“. Ein „Sympathisant“ der Gebrandmarkten? Ganz so einfach ist die Sachlage nicht: er hat den Glauben seiner Zeit durchaus geteilt, sein Ziel war nicht die Auflösung des Hexenwahns, – er wollte nur mehr Gerechtigkeit in das Verfahren bringen.

Die Lektüre des lutherischen Theologen und Erfurter Professors Johann Matthäus Meyfarth wird später ausdrücklich erwähnt, doch hat er möglicherweise auch die „Cautio Criminalis“ von Friedrich Spee gekannt. Wie diese beiden Autoren bestritt Andreas Koch nicht die Existenz von Hexen oder die Möglichkeit zu Schadenzauber, doch sah er wie sie die Gefahr, daß durch ein fragwürdiges Prozeßverfahren Unschuldige ihr Leben verlören. Damit stand er repräsentativ für die Lemgoer Oberschicht, die in der Prozeßwelle 1653-1656 erstmals nicht mehr bereit war, Beschuldigungen gegen ihre Familienangehörigen fraglos zu akzeptieren, und sich mit allen juristischen Mitteln dagegen wehrte.

Quelle  siehe HIER  (www.historicum.net).  In den historischen Details auch nachzulesen bei Wikipedia (Artikel Andreas Koch).

Lemgo St. Nicolai Bus  Lemgo St Nicolai fern St. Nicolai

(Handyfotos: JR)

In diesem Zusammenhang habe ich mich eines Buches erinnert, das mein Bruder 1955 von Verwandten aus Greifswald zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte; ich las damals viel Historisches (angefangen mit Quo Vadis) und so auch dies, das sich nachhaltig einprägte:

Hexen Bernsteinhexe 1 Wilhelm Meinhold

Heute neu: Schubert 1815

Probe

Streichquartette Nr. 9 g-moll (D 173) und Nr. 14 a-moll (D 804)

Zur Vorbereitung hören: Coolidge Quartet (ca. 1940) youtube

Langsamer Satz ab 3:45 – erinnert woran? „Füllest wieder Busch und Tal“ (An den Mond D. 259)

Entstehungszeiten nachprüfen: im gleichen Jahr 1815, aber: das Streichquartett, 25. März, ist früher als das Lied, 19. August. Ist die Ähnlichkeit Zufall? Oder von mir übertrieben wahrgenommen? Untereinanderschreiben! (Lied nach B-dur transponiert.)

Schubert 2 Melodien

Zu klären wären auch die Anklänge an die Sonatinen für Violine und Klavier (D 384, 385 & 408); diese sind ebenfalls später als das Streichquartett entstanden, nämlich März und April 1816.

***

Einschub F-dur im Quartett a-moll vor Reprise:

Schubert Melodien a-moll Qu

Anfang des Liedes „Hoffnung“ (Goethe) D. 295

Schubert 1 Melodie F Lied

„Schaff‘, das Tagwerk meiner Hände, hohes Glück, dass ich’s vollende! Lass, o lass mich nicht ermatten! Nein, es sind nicht leere Träume: jetzt nur Stangen, diese Bäume geben einst noch Frucht und Schatten.“

In Schuberts Freundeskreis heißt es:

Das Quartett von Schubert wurde aufgeführt, nach seiner Meinung etwas langsam, aber sehr reich und zart. Es ist im ganzen sehr weich, aber von der Art, daß einem Melodie bleibt wie von Liedern, ganz Empfindung und ganz ausgesprochen.

Schwind an Schober (Dok., S. 230), von Arnold Feil zitiert, der vor allem die Beziehung des Andantes zum „Rosamunde“-Thema und die Bedeutung des Satzes im Ganzen hervorhebt (Seite 251). Merkwürdigerweise erwähnt er an dieser Stelle nicht den Zusammenhang mit dem Lied „Die Götter Griechenlands“ (D 677), den Walther Dürr auf Seite 89 hervorhebt, wenn auch in fragwürdiger Verkennung der Qualität des Liedes:

Dagegen beschwört die Strophe aus „Die Götter Griechenlands“ eine vergangene Vollkommenheit: „Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur…“ Zwischen elegischem a-Moll, sehnsüchtiger Klage, und gleichsam unwirklichem A-Dur, der Vergegenwärtigung jener „fabelhaften“ Zeit, die „nur in dem Feenland der Lieder“ noch lebt, schwankt das kleine Werk, das Schubert, so scheint es, doch für bedeutsam genug hielt, es in seinem Streichquartett in a-Moll (D 804) vom Februar/März 1624 zu zitieren: die elegischen Rhythmen im Menuett, die heitere Evokation hingegen im Trio dazu.

Quelle Reclams Musikführer Franz Schubert von Walther Dürr und Arnold Feil – Stuttgart 1991

Dabei lohnt es sich, den gedanklichen Suggestionen nachzugehen, die mit diesen Liedern gegeben sind, – andere aber strikt zurückzuweisen, wie etwa die, denen Werner Aderholt in seinem Vorwort zur Neuen Schubert-Ausgabe Aufmerksamkeit widmet:

Schubert a-moll Vorwort a' Schubert a-moll Vorwort a''

„… eine Musik, die durch ihren Auftrag, die Vorbereitung auf den folgenden (dritten) Aufzug, mithin die Erfassung von dessen inhaltlicher Erwartung, klar definiert war. So knüpft Schubert mit dem Thema des zweiten Satzes im Quartett auch an das Idealische seiner Bühnenmusik an: …“

Was für eine Überschätzung des Auftrags und der vorgegebenen inhaltlichen Erwartung! Schuberts Musik übersteigt alles Erwartbare, sie ist in keiner Weise vom Inhalt des schwachsinnigen Textbuches her zu deuten. Wesentlich plausibler wäre es anzunehmen, dass er mit dem Streichquartett die lächerliche Funktion seiner Musik in dem pseudo-dramatischen Machwerk der Hermine von Chézy korrigieren wollte. Die Themen und Motive stehen nun – und nur hier – in der ihnen gemäßen Umgebung.

(Fortsetzung folgt)

Reinhard Goebel (2012), neu gelesen

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit …

Aufführungspraktische Betrachtungen

Von Reinhard Goebel

Hätte man mich vor 25 Jahren um Gedanken zur Frage »Was ist AP« [= Aufführungspraxis; Anm. d. Red.] gebeten, wäre eine flammende forensische Rede entstanden. Ich will nicht sagen, dass meine Gedanken heute lahmer wären – das festzustellen überlasse ich anderen – aber das »Gschmäckle«, dass das Wort AP durch seinen inzwischen inflationären Gebrauch provoziert, lässt mich nicht ganz kalt. An jedem Dirigentenpult hängt heute ein Mäntelchen mit einem in müllmännchenrot-fluoreszierenden Aufdruck vorne und hinten: »AP« – und wenn der Dirigent sich diesen Paletot umgeworfen hat, dann weiß selbst das Orchester in der Provinz: absolut kein Vibrato, Bogenstriche von abstrusester Art, mehr in der Luft als auf der Saite und vor allem Doppel-Punktierungen und auf dem zweiten Schlag betonte Sarabanden! Das ist AP praktisch: Irgendwo Aufgeschnapptes möglichst sofort und ungeprüft in die Praxis umsetzen, plagiieren, irgendwie auch immer zeigen, dass der Komponist ein Depp war und noch nicht korrekt schreiben konnte, was er hören wollte. Zur Kennzeichnung derartiger Kenner und Könner, zur Unterscheidung der vermeintlich Klugen von den vermeintlich Dummen, hat sich im englischen Early-Music-Milieu inzwischen die Bezeichnung H.I.P., »historically informed player« durchgesetzt. Wo und vor welchem Gremium man eine H.I.P.-Prüfung ablegen kann, ist indes noch unklar!

AP ist – so wie ich sie verstehe – die Wissenschaft von der umfassenden Verortung eines musikalischen Kunstwerks an seinem ursprünglichen Ort in seiner ursprünglichen Zeit. Diese Wissens-Aneignung ist in zweierlei Richtung neutral: Zum einen habe ich mit der Komposition kein Liebesverhältnis, sie ist nicht meinem Ausdruckswillen kongenial, sondern ich muss Sie kennenlernen – zum anderen aber verpflichtet mich nichts, das erworbene Wissen in musikalische Tat umzusetzen. Im Grunde ist der Aufführungs-Praktiker erst einmal ein Dramaturg, der sämtliche erreichbaren Quellen und auch Aussagen zu einem Werk findet und zusammenstellt; ob der Regisseur – im Glücksfall ist der Konzertmeister bzw. der Dirigent Dramaturg und Regisseur in Personalunion – später all das Wissen in Anwendung bringen will und kann, ist allein seine Entscheidung.

Die »Ortung« ist rein physikalisch und umfasst Fragen des Raums und der Besetzung, der Wahl der Instrumente, ihrer Aufstellung und auch der Beziehung Klangquelle – Hörer. Gerne wüsste man beispielsweise etwas zum Grundriss des Leipziger Kaffeehauses Zimmermann, in dem Bachs Collegium Musicum auftrat!

Die »Zeit«-Frage ist komplexer: Zum einen verortet sie die Komposition in der Biografie des Komponisten, wesentlicher aber ist die Frage nach der Eingebundenheit des Kunstwerks in das oder in ein zeitgenössisches Theoriegebäude. Die Historizität der Notationsmöglichkeiten muss geprüft werden und sicher stellt sich auch die Frage nach den Rezeptionsmöglichkeiten der ursprünglich adressierten Hörer.

Allein der Versuch einer Beantwortung dieser Fragen kommt dem Kampf des Herkules mit der Hydra gleich: Aus jeder Frage wachsen gleich mindestens zwei weitere nach. Man geht irgendwann auf die physische Beurteilung der Materialüberlieferung zurück – und muss sich fragen, ob das, was die Neue Bach-Ausgabe und die Schwester-Editionen der Werke Telemanns, Händels und Mozarts als klinisch reinen Druck vorlegen auf eine Kompositions- und Konzept-Partitur, eine Partitur nach einem gespielten Stimmensatz oder eine finale (Dedikations-) Reinschrift zurückgeht.

Kein selbstbestimmter und in den Methoden der diplomatischen Quelleninterpretation erfahrener Künstler liefert sich heute noch bedingungslos den Meinungen eines Herausgebers aus: Er wird sich – es mag sich um bachsche Sopran-Kantaten, Beethovens Violinkonzert op. 61 oder Mozarts quellenmäßig besonders heikle Linzer Symphonie handeln – immer selbst den Originalen zuwenden (müssen) und feststellen, wie radikal und rücksichtslos in dem Spagat, »für Wissenschaft und Praxis gleichermaßen« brauchbare Texte zu liefern, originale Befunde verändert wurden.

Zu den Arbeiten im »Zeit«-Sektor gehört zweifellos auch die Befragung und vor allem die Evaluation der aufführungspraktischen Originalquellen: Wer schreibt hier für wen, wer kannte diese Quelle im 18. Jahrhundert, wie maßgeblich war sie – war sie gar ein Ladenhüter oder vielleicht völlig unbekannt? Nur ein Beispiel: In den heute tonangebenden Zirkeln der »vrais partisans de la musique ancienne« werden die Strichanweisungen von Georg Muffat, gedruckt im Jahr 1698 im Vorwort zu der Tanzsammlung Florilegium Secundum, wie goldene Worte, wie die zehn Gebote des Barockbogens gehandelt und wahllos auf alles zwischen Monteverdis Orfeo und Brahms’ Requiem angewendet. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man im Fernsehen ein Kammerorchester mit Muffat-Strichen höchst anachronistisch durch den dritten Satz von Beethovens Erster Symphonie hüpfen sehen. Man hatte ganz offensichtlich »nur« vergessen, in der 1834 erschienen Violinschule von Pierre Baillot, dem ersten großen französischen Apologeten Beethovens, nachzuschauen, welche Stricharten hier für Punktierungen empfohlen sind. Zeitlich noch näherliegend wäre allerdings die (heute schwer aufzutreibende) dritte, von fremder Hand korrigierte Auflage (Leipzig 1806) von Leopold Mozarts Violinschule. Und last not least hatte sich der Berliner Johann Friedrich Reichardt schon 1776 in seinen Pflichten des Ripien-Violinisten explizit zu diesem Tatbestand geäußert.

Erstaunlicher aber noch ist, dass die Sammlung Florilegium Secundum im Gegensatz zu ihrem ersten Teil in keinem der maßgeblichen Lexika (Walther, Zedler, Gerber) des 18. Jahrhunderts Erwähnung findet, ja selbst ein so raffinerter Büchernarr wie der Straßburger Komponist Sébastien de Brossard kein Exemplar besaß – mit anderen Worten: Die heute grandios überbewertete Quelle ist das Werk eines nie-und-nimmer-Lully-Schülers, eines Organisten, der glaubte, aus Ranküne mit seinem ehemaligen Salzburger Kollegen Heinrich Ignaz Franz Biber einen öffentlichen Zweikampf ausfechten zu müssen!

Weitaus bedeutender für die AP sind hingegen die bisweilen atmosphärischen Texte Giuseppe Tartinis, der als Paduaner »maestro delle nazioni« ein Halbjahrhundert lang eine schier unendliche Schülerschar aus ganz Europa lehrte und über Ausstrahlung und Einfluss bis hin zu seinen Enkelschülern Bartolomeo Campagnoli und vielleicht auch Wilhelm Friedemann Bach verfügte. Gleichwohl ist auch hier zu beachten, dass Tartinis Lehrmeinungen nicht nur von väterlicher Milde triefen, sondern immer in Richtung jener Kollegen gezielt sind, die es anders machen, vor allem die des vermutlich etwas robusteren Antonio Vivaldi in der Nachbarstadt Venedig.

Eine kleine Fortsetzung dieser ständigen Auseinandersetzung wurde von dem Vivaldi-Freund Johann Georg Pisendel und dem Tartini-Schüler Johann Gottlieb Graun um 1725 in Dresden dargeboten: Letzterer blieb auf Weisung Pisendels so lange vom »orchestra di Dresda« ausgeschlossen, bis er seinen tartinischen Manieren abgeschworen hatte und wieder zur Lehrmeinung der Desdener Schule zurückgekehrt war.

Je feiner die Methoden der Quellenbefragung sind, umso klarer erscheint, dass die Aufführungsstile vor der Erfindung von Tonträgern weitaus mehr chronologische, lokale und nationale Eigenarten und Unterschiede aufgewiesen haben müssen, als uns heute auch nur annähernd vorstellbar ist – und dass unsere moderne AP älterer Musik ein synthetischer Idealstil ist, der Textbausteine von 1600 bis 1800 miteinander verknüpft und (viel) Fehlendes mittels eines zwischen 1950 und 1970 entwickelten Jargons ausgleicht. Ultima Ratio war das bedingungslose Anderssein. Sämtliche musikalischen Äußerungen des spätest-romantischen Karajanismus, besonders aber Karl Richters, der ja das Zentrum der Alten Musik beackerte, galten a priori als »impossible« – und neben einigem Gutem bescherte uns diese radikale Abkehr empathie- und pathos-freie, kammermusikalisch durchhörbare Matthäus-Passionen sowie einen Lastwagen voller unmanierlicher Aufnahmen der Vier Jahreszeiten, die pseudo-rezitativische Larmoyanz und naturalistisches Gekratze ohne klar erkennbare Tonhöhen als »authentisch« an den Hörer zu bringen versuchen.

Wenig Wertschätzung beim Studium der AP haben leider die umfangreichen Dokumentensammlungen zum Leben und Schaffen Bachs, Mozarts, Haydns und Beethovens gefunden. Zweifellos quält man sich bei der Lektüre durch einen Berg von Taufbelegen, Brennholz-Rechnungen und belanglosem Klatsch, trifft jedoch auch auf Sätze, bisweilen nur Satzfragmente, von zentraler Bedeutung, denen nachzugehen ungeheuren Gewinn bringt.

So schreibt Johann Adolf Scheibe 1737 in seiner Kritik an Bachs Kompositionsweise: »Alle Manieren, alle kleinen Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, drücket er mit eigentlichen Noten aus […]« Man überliest das, hakt es schnell als bekannt ab – anstatt sich auf die Suche nach dieser »ausgeschriebenen Methode« zu machen. Man findet sie überreichlich in den nach authentischen Stimmensätzen erstellten Partituren der Neuen Bach-Ausgabe in Form von artikulatorischer Durch-Ästhetisierung der Chöre und Arien, mag überrascht sein von dem gestalterischen Furor Bachs, der zumindest in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten mit dem heute als »authentisch« betrachtetem schwer-leicht-Getrampel wohl seine Probleme hätte. Und mit Vorsicht noch weiter ausgeholt: Scheibe schreibt nicht »alles, was man unter seiner Methode zu spielen versteht«, sondern »unter der Methode«! Und so eröffnet sich ein weiter Gestaltungsraum – nicht unbedingt für die Spielart vivaldischer Konzerte im authentischen Stil des »prete rosso«, vielleicht aber doch für ihre Darbietungsweise im vermutlich gänzlich anders gearteten Stil des »orchestra di Dresda«.

In den von Pisendel für Dresden »bearbeiteten« Werken fremder Komponisten – in Sonderheit solchen von Vivaldi, Telemann und Fasch – fällt auf, dass immer wieder an entscheidenden Stellen die ursprüngliche, in den vorliegenden Widmungs-Partituren ersichtliche Notation des Komponisten verändert ist, man weder um »Werk-Gestalt« noch gar »Authentizität« irgendwie bemüht war, sie zumindest nicht nur im philologisch einwandfreien Text verortete, wie wir das heute zu tun gewohnt sind.

Zudem scheint es in den »großen« höfischen Klangkörpern der Zeit – Dresden, Wien und Darmstadt, später Mannheim, Berlin und München – eine Ebene der künstlerisch-organisatorischen Durchgestaltung gegeben zu haben, die sich der Schriftlichkeit »per definitionem« entzieht. So lässt z. B. Johann Sebastian Bach in seiner im August 1730 erfolgten Eingabe an den Leipziger Rat erahnen, dass diese »in schwerem Solde stehenden« Musiker ihre Sachen »ja fast auswendig können«. Vorsichtig mit anderen Worten ausgedrückt: dass sie nicht am Sonntagmorgen eine kaum fertige Kantate eben mal durchsägten, sondern eine ganze Woche auf das Hofkonzert hinarbeiteten und dabei auch eine eigene Darbietungsart entwickeln konnten, die man bisweilen ganz tief zwischen den Zeilen und ganz weit hinter den Worten zeitgenössischer Beschreibungen zwar nicht entdecken, wohl aber erahnen kann.

Da bis weit ins 19. Jahrhundert hinein chorisch besetzte Streicherstimmen das »grosso« des Orchesters bilden, halte ich persönlich deren Spiel- und Gestaltungsweise bestimmend für den wesentlichen Klangeindruck eines Ensembles. Und so interessieren mich vorrangig Methoden und Bogen-Organisationen eines Bach, Biber, Vivaldi und vor allem Jean-Marie Leclair. Bei ihm – der als professioneller Tänzer erst mit 20 Jahren zur Violine kam und dennoch Frankreichs Apoll wurde – ist am ehesten eine sinnvolle Choreografie und Geometrie des Bogens für Tanzmusik »à la française« zu erwarten.

Untersucht man Leclairs Œuvre (eine Oper und etwa 80 sehr genau bezeichnete Kammermusikwerke), so wird man auf allenfalls nur ein Dutzend jener violinistisch-aufführungspraktischer Details stoßen, die normalerweise nicht notiert wurden. Aber so, wie wir in Johann Philipp Kirnbergers Schriften das Theoriegebäude seines Lehrers Johann Sebastian Bach erkennen, so finden wir in den 1761 publizierten Principes du Violon von Leclairs Schüler Joseph-Barnabé Saint-Sevin genau die gesuchten praktisch-organisatorischen Lehren seines Meisters: weit weg von all dem aufwändig-äußerlichen Bogen-Klimbim, der heute im Pseudo-Muffat-Stil inszeniert wird, dafür völlig »modern« in der geometrischen Handhabung des Streichbogens, der von Virtuosen – wie in Leopold Mozarts grafischer Darstellung eindeutig ersichtlich – (übrigens wie heute!) direkt am Frosch und nicht kurz vor der Mitte gehalten wurde.

Nein, das war jetzt nicht »alles«, gleichsam der lange ersehnte Schnellkurs »Historische Aufführungspraxis«, es war nur ein minimaler Einblick in die Methoden und Probleme der AP. All diese sachlichen Trouvaillen – und noch viele, viele mehr! – müssen zu einem wohlgemerkt heute wirkenden und heute künstlerisch beeindruckenden Ganzen verbacken werden. Denn AP hin oder her: Weder können sich die Einen darauf herausreden, »man« habe damals »anders« gespielt, habe sich bedeutungsloses Violinspiel und inkohärente Ensembleleistungen schon »irgendwie« zurecht gehört, noch kann die Gegenseite weiter behaupten, der Cembaloklang sei starr, die Barockoboe hässlich und die Darmsaite unerträglich. Die historische AP hat unser Musikleben doch enorm bereichert und auch verändert. Leider tritt sie augenblicklich ein wenig auf der Stelle …

Der Autor ist einer der führenden Vertreter der Alte-Musik-Szene. Von der Gründung bis zu seiner Auflösung leitete er über Jahrzehnte das Ensemble Musica Antiqua Köln, das mit maßstäblichen Interpretationen der Musik Bachs und seiner Söhne, Telemanns und den Komponisten der Dresdner Hofkapelle aber auch mit Werken italienischer und französischer Komponisten des Barock Interpretations- und Schallplattengeschichte geschrieben hat. Heute ist Goebel als Dirigent und Lehrer (für Barock-Violine) tätig. Nach wie vor basieren seine Interpretationen auf intensiven musikologisch-aufführungspraktischen Forschungen.

Nachweis: © Reinhard Goebel; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Berliner Philharmoniker.

Website Reinhard Goebel: Hier. Wikipedia Hier.

Tagesthemen

Es gibt Zeiten, nein: einzelne Tage wie diese, an denen man mit „Aufträgen“ (inneren) überschüttet wird, die Themen betreffen, die festzuhalten und zu bearbeiten wären. Es genügt ein Weg zum Bahnhof (wo es Brötchen gibt), und schon mischt sich eine Zeitung ein (oder zwei), begleitet mich nach Hause und diktiert mir die Themen:

1) Spaß am Zerstören / Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Macht von Institutionen bedroht ist. Das ist ein Grund zur Freude.

(Stichwort: Institutionen)

2) Von klingenden Bilder / Die Londoner National Gallery bringt mit ihrem Programm „Soundscapes“ Kunst und Musik zusammen – Komponisten lassen sich von ausgewählten Gemälden zu mehr oder minder suggestiven Klangerfindungen inspirieren.

(Blickfang: Holbein „Die Gesandten“ / Stichwort: „unpassende Musik“ bei 100 Gelegenheiten, z.B. „Deutschland von oben“ oder „Dschungel im Baggersee“ gestern abend – Elsass, Nähe Rhein)

3) Ein kurzer Rausch reinsten Glücks / In „Euphorie“ erzählt die US-amerikanische Schriftstellerin Lily King von drei Ethnologen und ihrer Begegnung mit dem Stamm der Tam – der Roman vom Leben der berühmten Anthropologin Margaret Mead inspiriert.

Mead rororo am 24. Aug. 1960 in Mainz gekauft und mit Begeisterung gelesen. Die Relativierung durch die Ethnologie:

Mead Hahn Hans Peter Hahn „Ethnologie“ Suhrkamp 2013 S.98

4) Tücke und Segen des Mausklicks / Piketty-Papier zu Griechenland (Leserbriefe)

5) FADO Mariza kommt am 15.11. in die Kölner Philharmonie. (Ihre erste CD Fado em mim habe ich 2001 mit Begeisterung im WDR vorgestellt.) In der WDR „Nachtmusik“ und  „Matinee der Liedersänger“ waren zu Gast: Amália Rodrigues, sowie Carlos do Carmo und Camané (beide auch beim WDR-Weltmusikfestival Köln bzw. Bonn).

6) Reinhard Goebel (erinnert und wiedergelesen!) – er hat am 31. Juli Geburtstag!

Alte Heimat

LOHE 19. Juli 2015 gegen Abend

LOHE 21 P1040159    LOHE 32 P1040183 LOHE 37 P1040194 Fernblicke

LOHE 14 P1040148 Nachbarschaften

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LOHE 34 P1040192 Sonnenuntergang

LOHE 33 P1040185

Opas Fabrik-Haus Rückblick in dunkle Zeiten

Opas Haus Giebelseite

(Alle Farbfotos: E.Reichow)

Es ist schwer zu sagen, worin die Faszination dieser Bilder liegt, ohne von den Personen zu wissen, die sie betrachten und bedeutsam finden, ja, mit Bedeutung befrachten. Jede könnte zu jedem Bild eine oder viele Geschichten erzählen. Diejenige, die uns Nachbarskinder von einst eingeladen hat, legte ein Foto auf den Tisch, das sie vor allem wegen der Holzwand bedeutsam fand: mein Großvater hatte diesen Schuppen als Möbeltischlerei rund um das Haus gebaut, das in früheren Jahren, wie meine Oma gern im Klageton beschwor, eins der schönsten auf der Lohe war. Außerdem errichtete er den gewaltigen Mistbehälter vor dem Anbau, in dem er zwei Kühe hielt (manchmal auch noch Schafe und in Kriegszeiten ein Schwein obendrein, obwohl er Vegetarier war): „ich habe die schönsten und am besten gepflegten Kühe auf der ganzen Lohe“; sie waren seine geheiligten Tiere, denn er war der geborene Bauernsohn, hatte aber Tischler werden müssen. Er blieb ein Sonderling bis ins hohe Alter, und die Nachbarn wussten das, achteten ihn und ertrugen seine Hausverschandelung ohne Murren. Das Kind ganz links hat nun 5 Kinder aus der engsten Nachbarschaft nach 65 Jahren zusammengeführt, und wir haben gemeinsam in die Vergangenheit und in die seltsam verklärte Landschaft ringsum geschaut.

Nachbarfamilie