Archiv für den Monat: Juni 2020

Radikale Musik zu Corona

Zwei Viertelstunden Leben

Es ist vielleicht keine schlechte Idee, sich in dieser außergewöhnlichen und latent (oder offen) beunruhigenden Zeit, während sich die meisten notgedrungen (oder in selbstbefreiender Absicht) in Richtung Urlaub bewegen, zu einer Konzentration aller Kräfte motivieren zu lassen. Woraus sich nicht unbedingt ein Erfolgserlebnis ergibt, im Gegenteil, man kann leicht Schiffbruch erleiden, wenn man fremde Höchstbegabungen bei Gipfelleistungen erlebt. Also: Bescheidenheit ist angesagt.

Hier Carolin Widman im WDR-Gespräch / Leider ist die Musik, um die sich das Gespräch dreht, nicht zu hören, immerhin habe ich mir große Mühe gegeben sie zu finden – ohne Erfolg. Vielleicht ein andermal: Gloria Coates Sonata No. 2 for Violin Solo (2020). Bei dieser Gelegenheit kam es für mich zur späten Entdeckung der atemberaubenden Aufnahme eines Solostücks, das Luciano Berio 1976 geschrieben hat, die Sequenza VIII, und ich möchte diesem Werk die nächste Viertelstunde widmen. Die Interpretin schrieb dazu:

„Die Sequenza VIII für Violine solo von Luciano Berio ist eines meiner Lieblingswerke, seitdem ich sie 2004 anläßlich einer DVD-Produktion in Paris kennenlernen durfte. Ich spiele sie, so oft sich die Gelegenheit dazu bietet.

Sie kreist ewig um den Ton a, sie stellt sich dem Konflikt mit dem Nachbarton h mutig, modifiziert, variiert, sequenziert, spinnt volle 10 große UE-Seiten lang durch alle Seinszustände, bis sie wieder auf dem 10 Sekunden langen Doppelgriff a–h endet: 10 Sekunden a–h, die die Ewigkeit sind.

Aber da haben die Dissonanz und der Widerstand schon längst ihren Schrecken verloren, und a–h klingt sogar nach Auf- und Erlösung. Das zunächst unlösbare Grundproblem wurde also im Laufe von 10 Minuten Spiel- und Lebenszeit zur Auflösung desselben. Große Kunst.“

Carolin Widmann (Quelle: hier) Folgendes Video ©2005

Dasselbe Video im externen Fenster HIER.

Die NMZ hat kürzlich in ihrem Newsletter dankenswerterweise ein Interview zugänglich gemacht, in dem die wunderbare Künstlerin sich zu den Schwierigkeiten der Corona-Zeit äußert, und das oben erwähnte WDR-Konzert (Redakteur: Harry Vogt) spielt da für sie eine maßgebende Rolle. Zugleich wird erschreckend klar, dass die Kunst in Corona-Zeiten eben nicht nur von der Begeisterung der Menschen lebt: man könnte von Hoffnung reden, aber „das Zauberwort“ – so schließt der Beitrag – „heißt: Geld.“ Hören Sie Carolin Widmann HIER .

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Kleine Kombinationsaufgabe: Wo liegt der genaue Anfang des Stückes Sequenza VIII ? Wenn jemand Ihnen gesagt hätte: jedenfalls nicht dort, wo das Video beginnt, hätten Sie zugestimmt?

Eine Hilfe: Hören Sie aus heuristischen Gründen eine zweite Aufnahme, deren Faszinosum heute – „in Corona-Zeiten“ – auch darin besteht, dass sie in einer echten Publikumskonzertsituation stattfindet. Jennifer Koh.  Performed live Thursday, March 12, 2015 at Heritage Hall | Vancouver, BC Kanada.

Dasselbe Video im externen Fenster HIER .  (Das Stück beginnt bei 0:49 / Carolin Widmann beginnt das reale Stück in ihrem Video bei 1:59, ab 8:39 erlebt man also zum zweitenmal, was ganz am Anfang schon unter dem Vorspann zu hören war. Ein fabelhafter Vorspann, und die Bedeutung des Wiedererkennens ist nicht zu unterschätzen. Man vergisst es nie. Wo steckt es bei Jennifer Koh?)

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Heute kam Post, deren Absender eigentlich immer nur Gutes zu vermelden hat. Ein fleißiger Kölner Konzertveranstalter. So auch jetzt, obwohl er gerade – wie viele Kollegen – mit der Stornierung von Konzerten beschäftigt ist. Paradoxerweise bietet er uns nun in diesem so schwierig gewordenen Beethoven-Jubiläumsjahr keine Trostpreise und Sahnebonbons an, sondern einen besonders schwierigen Brocken.

KONZERTBÜRO ANDREAS BRAUN

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde des Asasello-Quartetts,

das Asasello-Quartett, das als „Quartet in residence“ der Hochschule für Musik und Tanz Köln am Mittwoch, 17. Juni 2020 das Eröffnungskonzert seiner  Meisterklasse hätte geben sollen, die Corona-bedingt nach 2021 verschoben wurde, hat stattdessen unter Einhaltung aller Abstands- und Hygieneregeln eine beeindruckende Video-Produktion von Ludwig van Beethovens Großer Fuge B-dur op. 133 eingespielt, die Sie meiner Meinung nach keinesfalls verpassen dürfen.

Ich bin sicher: Sie werden es nicht bereuen, sich eine Viertelstunde Zeit genommen zu haben!

Mit besten Grüßen

Ihr

Andreas Braun

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HIER finden Sie das gleich unten ebenfalls abrufbare Video im externen Fenster. Sie können, während es läuft, zurückkehren und weiterlesen, aber das ist nicht der Sinn der Sache, und es ist ohnehin unmöglich, bei der Großen Fuge irgendetwas zu lesen. Sie stört!!! Nur wenn Sie Noten lesen können, haben Sie einen Ausweg: Sie können sich auf das bloße Tonmaterial konzentrieren, mit dem uns das Quartett eine Viertelstunde lang beschäftigt. Wer will, kann dann abbrechen und beginnen, sich gedanklich mit dem Thema „Musik und Gewalt“ auseinanderzusetzen. Oder meinen Sie, das sei unpassend „in Coronazeiten“?

Für manche durchaus musikalische Menschen hat das Werk heute noch eine eher abschreckende Wirkung, der Wiener Rezensent von damals wurde berühmt für die Worte, es sei ihm so unverständlich „wie Chinesisch“. Und ich lese heute den einstweilen wohl letzten Stand, der jede Wertung vermeidet:

Das kolossale Stück ist in charakterlich völlig heterogene Abschnitte gegliedert, in denen man einerseits funktional Glieder eines formalen Organismus (mit expositions-, durchführungs- und reprisenartigen Zügen) oder sogar eine zyklische Satzfolge innerhalb des Satzes (Kopfsatz, langsamer Satz, Scherzo, Finale) sehen kann, aber auch die Errungenschaften einer weiter intensivierten Auseinandersetzung mit der Technik der Variation zu würdigen hat.

Quelle Hans-Joachim Hinrichsen: Beethoven Musik für eine neue Zeit / Bärenreiter Metzler Kassel und Berlin 2020 (Seite 307)

… zu würdigen hat, jawohl! Also halten wir uns daran!

     

Kein Zweifel: Man darf das Unternehmen, eine solche Fuge mit Verstand anzuhören, keinesfalls gering einschätzen. Es ist eine Riesenaufgabe! Insofern liebe ich die Analogie, die Oskar Kokoschka zwischen Beethovens Großer Fuge und Altdorfers Alexanderschlacht herstellt. Niemand käme auf die Idee, dieses gewaltige Gemälde anzuschauen und zu erwarten, dass es ihn im Detail erfreut wie eine Schäferszene von Watteau. Und auch eine Aufzählung aller Einzelteile vermittelt keinen blassen Schimmer von der wilden Zumutung, die das Ganze darstellt (die roten Zeitangaben beziehen sich auf die obige Aufnahme):

I Takt 1-30 Overtura 0’00-1’03 das schiere Material / es ist wichtig, das als letztes hingetupfte Thema dann auch weiterhin zu erfassen, also in der Fuge zu verfolgen, und nicht nur den heftigen Kontrapunkt zu beobachten. (Diesen nenne ich intern „Hauen und Stechen“, das Thema dagegen „Erbarm dich mein“, – das Ergebnis muss einem wirklich am Herzen liegen: es geht ums Überleben.)

II Takt 30-158 B-Dur-Fuge 1’03-4’41 Vier Durchführungen (die 2. beginnt bei 1’50, die 3. gleich nach 3:14, die 4. bei 4’03)

III Takt 159-232 Ges-Dur-Fugato 4’41-7’26 meno mosso

IV Takt 233-272 „Alla marcia“-Episode 7’27-7’54 Scherzo? Einleitung zur Fuge

V Takt 272-413 As-Dur-Fuge 7’54-9’37 Zerlegung in Fragmente

VI Takt 414-492 Reprisenelemente der B-Dur-Fuge 9’37-10’40

VII Takt 493-510 Reprisenelemente des Ges-Dur-Fugatos 10’40-11’17

VIII Takt 511-532 Überleitung: Rückkehr nach B-Dur 11’18-11’45 Auflösungsfeld

IX Takt 533-564 Reprise der „Alla marcia“-Episode 11’46-12’08

X Takt 565-741 Satzcoda 12’08-15’20 (darin Zitat Overtura rückwärts = Epilog)

(Schema nach Gerd Indorf: „Beethovens Streichquartette“ Verlag Rombach 2007 Seite 433 und 435, ergänzt durch Hinweise in meiner Partitur, die auf eine Radio-Analyse mit Robert Levin & LaSalle in den 80er Jahren zurückgehen)

Der Ausdruck „Alla marcia“ bezieht sich auf Erinnerung an op.132, 4. Satz s. Indorf S.399, dort: „… der Sprung ‚zurück‘ in die schlichte, selbstgenügsame ‚Volkstümlichkeit‘.“

(Dieser Blogbeitrag wurde bis heute – 30. Juni 2020 – erst 11 Mal angesehen. Und das ist gut so, denn wir haben Ferien wie noch nie, und diese Coronazeit, ganz niederdrücken soll sie uns uns gewiss nicht, – so ähnlich schrieb schon Beethoven, allerdings über das Schicksal, dem er in den Rachen greifen wollte. Ich nehme mal diese Große Fuge als Rachen oder Drachen. Ich werde ihn mindestens 11 Mal besuchen, in tiefster Verehrung, aber für das Zählwerk gelten nur externe Besucher.)

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Ich kann nicht verhehlen, wie wenig eine mehr oder weniger numerische Analyse mir im Fall Beethovens vermittelt, weder an Inhalt noch an Bedeutung, und doch lässt es sich wohl nicht vermeiden, um auf diese Weise eine erste Übersicht zu gewinnen. In diesem Fall greife ich nach langer Zeit einmal wieder auf eine historische Arbeit über Beethoven zurück, die etwas Wesentliches leistete, so oft ich sie zu Rate zog: nämlich den Durchblick und die Begeisterung zugleich zu steigern (was natürlich kausal miteinander verbunden ist). Es ist das Buch von Walter Riezler aus dem Jahre 1934. Ich beginne mit den Sätzen über Variation, danach folgen die beiden letzten Seiten des Buches, die ich als Faksimile wiedergeben möchte.

Bekanntlich hat Beethoven in seinen großen Spätwerken häufiger als früher die Form der Variation angewendet, vor allem für langsame Sätze: Neunte Sinfonie, Klaviersonaten op. 109 und 111, Streichquartette op. 127, 131, 132, 135. Nicht etwa die Freude am kombinatorischen Spiel der Fantasie trieb ihn dazu, eher das Bedürfnis nach einer gewissen Entspannung, für die gerade diese Form besondere Möglichkeiten bietet. Hier steht nicht das eine gegen das andere, sondern eines ist dem anderen nebengeordnet, Länge und Gliederung des Themas bestimmen in hohem Grade alles Kommende. Die Form ist an sich flächenhafter als irgendeine andere bei Beethoven – aber das Wunderbare ist, wie er diese Flächen nach der Tiefe zu durchleuchtet, wie er auch hier den ganzen Reichtum der Gegensätze und Vieldeutigkeiten entfaltet. Am großartigsten ist dies in op. 127 und 121, während er in op. 111 und 132 in einer immer intensiveren, immer durchseelteren Figuration sein Genüge findet. (In op. 132 legt ⇓

  

Bemerkenswert auch die Assoziation: „ein ekstatisches Stampfen wie in gewissen orgiastischen Tänzen der Naturvölker“… (S. 260 unten)

Selbst bei Riezler, der insgesamt zu einer heroischen Auffassung neigt, fehlt nicht diese Beschwörung des Fremden, eines eher ethnologisch auflösbaren Anteils beim letzten Beethoven. Eine sehr komplexe Analyse wie die von Klaus Kropfinger nimmt unvermerkt  eine so undurchsichtige Gestalt an, dass dem gutwilligen Leser jede vereinfachende Übersicht wie ein Verrat erscheint. Das Rätselhafte beginnt bei Beethovens Vorstellung vom „Ganzen“ (Seite 300) und seinem verbal skizzierten Vorsatz: „letzes Quartett mit einer ernsthaften und schwergängigen Einleitung“. (Seite 301)

Quelle Beethoven Interpretationen seiner Werke. Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Laaber 1994 bzw. 1996) Band II (ab Seite 312 im Zusammenhang des ganzen Quartetts, ab Seite 338 als separate „Große Fuge“).

Des weiteren zu empfehlen der Wikipedia-Artikel über die Große Fuge (HIER), nicht zu vergessen die Wirkung in Beethovens Zeit: das Wort „Chinesisch“ steht ja nicht allein, – „wenn die Spieler, gegen sich selbst misstrauisch, wohl auch nicht ganz rein greifen, freylich, dann ist die babylonische Verwirrung fertig; dann giebt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können, denen bey ihrer hiesigen Anwesenheit in der italienischen Oper nichts wohlgefiel, als das Accordiren der Instrumente in leeren Quinten, und das gemeinsame Präludiren aus allen Tonarten zugleich.“ [Allgemeine Musikalische Zeitung 1826.]

Zuletzt ein beliebtes und von überzeugten Abendländern gern wiedergegebenes Narrativ, das auch auf eine javanische Delegation bezogen auftaucht. (Ihr gefiel das allererste Stück des Sinfoniekonzerts am besten von allen: westliche Konzertbesucher nennen es Einstimmen.) Die Ganzheit der Menschheit im Blick? Eine ethnologische Betrachtung fremdartigster Phänomene an den Grenzgängen Beethovens ist gar nicht so absurd, wenn sie auch immer wieder gern ins Witzig-Absurde transponiert wird. Hier liegt noch ein Ausschnitt aus der Süddeutschen auf dem Schreibtisch, von mir extra kunstvoll drapiert:

Zitate zu afrikanischer Musikauffassung  Eine Übung des planlosen Assoziierens

Was ist ein Ganzes?

In westlichen Musikkulturen wird beim Erlernen von Musik gezählt und metrisiert, eine Praxis, die in den Lernprozessen afrikanischer Musik unbekannt ist. Hier gilt das pattern als Ganzes, determiniert durch seinen Anfangspunkt, seinen Einsatzpunkt, seine Länge und Innenstruktur, ausgedrückt in Nennwerten, seine Relation zu anderen patterns, zur gleichförmigen, rasenden Pulsation der Nennwerte und manchmal zu einem Beat.

Was ist Emotion?

Nach den bisherigen Untersuchungen scheinen die meisten afrikanischen Musikarten emotional neutral zu sein.

Wir wirkt Musik?

Während in der abendländischen Musik die Bewegungen des sein Instrument spielenden Musikers vornehmlich im Hinblick auf das zu erwartende Ergebnis sinnvoll sind, werden in der afrikanischen Musik die Bewegungsmuster selbst als sinnvoll wahrgenommen. Sie sind in sich eine Quelle des Vergnügens, ob dabei Klang entsteht oder nicht.

Wie hört ein afrikanischer Rezensent europäische Kammermusik?

„Vor wenigen Tagen gab es in Lomé ein besonderes Ereignis. Fünf Musiker waren aus Deutschland gekommen, um uns ihre Kunst vorzuführen. Die Insttrumente, die sie spielten, sind hierzulande unbekannt. Es waren auch nicht gewöhnliche Musiker, sondern durchaus ehrenwerte und würdige Herren. Obwohl sie nicht mehr die jüngsten waren, gingen ihre Finger flink und exakt wie Maschinen. Es war eine Wonne zu sehen, welche Freunde sie selbst an den hervorgebrachten Tönen hatten. Jedermann weiß, daß bei den Deutschen von Faulheit keine Rede sein kann: Flöten und Hörner wurden geblasen für eine Stunde und vierzig Minuten.“

Quelle Gerhard Kubik: Verstehen in afrikanischen Musikkulturen / in: Musik in Afrika herausgegeben von Artur Simon / 1983 Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin Museum für Völkerkunde / Zitate: Seite 323 und 340

Rap gegen Rassismus

Run the Jewels 

Das einzige Rap-Stück, für das ich mich begeistert habe, war in der Anfangszeit wohl eins von Bob Marley. Reggae der 70er Jahre? Ich musste es gar nicht genau verstehen und wünschte heute, ich fände es wieder, denn jetzt ist mir jedes Wort wichtig und meine spontanen likes oder dislikes völlig unwichtig. Es geht allein um die Sache. Um den Ernst der Sache. Und um den Sprachrhythmus. Daher habe ich ausgerechnet diese ttt-Sendung wiedergesucht, deren Repräsentanten ich sonst meide, weil der raue MM-Verkünderton mir nicht zusagt. Im Fall dieses Films war es anders, sowieso, durch den neuen Schock der Bilder, die ich schon aus den Nachrichten kannte. Zudem wollte ich noch die am unteren Rand des Filmes durchlaufenden Texte des Raps nachlesen.

DIE SCHLECHTEN NOTEN HABEN DIE ÄRMSTEN UND DIE, DIE SO AUSSEHEN WIE ICH. JEDEN ABEND IN DEN NACHRICHTEN FÜTTERN SIE EURE ANGST KOSTENLOS, UND ICH SEHE TEILNAHMSLOS ZU, WENN EIN POLIZIST EINEN MANN WIE MICH WÜRGT, BIS AUS MEINEM KREISCHEN EIN FLÜSTERN WIRD: „I CAN’T BREATHE“.

DIE KISSEN UND DECKEN BRENNEN, WO BLEIBT DER WÄRTER? FINDEN WIR IHN, ERMORDEN WIR IHN NICHT, WIR MACHEN WATERBOARDING. WIR TÖTEN SIE FÜR DIE FREIHEIT, DA SIE UNS AUS LANGEWEILE FOLTERTEN.

MEINE KÖNIGIN SAGT, DASS SIE EINEN KÖNIG BRAUCHT, KEINEN JUNKIE RAPPER-FREUND. FREUNDE SAGEN IHR, „ER KÖNNTE DER NÄCHSTE MALCOLM X SEIN“, „DER NÄCHSTE MARTIN LUTHER KING“, SIE SAGTE, ICH BRAUCHE EINEN EHEMANN MEHR ALS DIE WELT EINEN MÄRTYRER.

HIER ttt im TV DAS ERSTE Bericht: Ulrike Bremer / Abrufbar bis 21.06.2021

  HIER

  HIER

 HIER (Video „Ooh LA LA“)

… we shot this video only a few weeks before the pandemic hit with no clue as to what the future held. the fact that we got the chance to do it is damn near miraculous in hindsight. in conceptualizing the video with our friends Brian and Vanessa Beletic we imagined the world on the day that the age old struggle of class was finally over. a day that humanity, empathy and community were victorious over the forces that would separate us based on arbitrary systems created by man. this video is a fantasy of waking up on a day that there is no monetary system, no dividing line, no false construct to tell our fellow man that they are less or more than anyone else. not that people are without but that the whole meaning of money has vanished. that we have somehow solved our self created caste system and can now start fresh with love, hope and celebration. its a dream of humanity’s V-DAY… and the party we know would pop off. love, RTJ

WITH LOVE, HOPE AND CELEBRATION

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Inzwischen habe ich einige alte Aktenordner meiner WDR-Arbeit durchwühlt (siehe auch HIER) und den ersten „Rap“ wiedergefunden, an den ich mich oben erinnerte. Er stammte gar nicht von Bob Marley, sondern von Linton Kwesi Johnson und hieß „Reality Poem„. Der Autor selbst hatte es – ein Glücksfall, das gehört zu haben! – unserem damaligen Mitarbeiter Christian Scholz auf Band rezitiert.  Und dieser hatte mir auch das Original vermittelt, das ich heute – Wunder der Technik nach 35 Jahren – binnen weniger Sekunden auf Youtube wiederfinden konnte:

Textwiedergabe nach anderer Quelle (hellbilly billy):

We are in the age of reality but some are still in mythology / We are in the age of science and technology but some are still in Antiquity / When we can’t face reality we let go of clarity / Some latch on to vanity others into insanity / Some get vision start to preach religion / But they can’t make decision when it comes to a fight / And can’t make decision when it comes to your rights mon! /

We are in the age of reality but some are still in mythology / We are in the age of science and technology but some are still in Antiquity / But when they have gone off line they’re not living for your time / Cause them say they get sign and now they’re blind in the eye to the light of the work and the search within and at the dark of the moon they’d rather shout about sin instead of fight to win mon! 

This is the age of decision so make we let go religion / This is the age of decision so make us let go division / This is the age of science and technology so make we let go Me-cology always relevant; a shining , clear-headed, beacon of rational humanity. ‚make me whole with clarity‘.  / Make we whole with clarity Make me whole with clarity.Reality Poem

Was bewirkt guter Journalismus?

Er beflügelt

Nie im Leben hätte mich „Vom Winde verweht“ interessiert. Jetzt nach den empörenden Bildern aus Amerika ist der Film (und das Buch) ins Gerede gekommen. Ad acta, denkt man. Aber darüber hinaus bedarf es eines intellektuellen Funkens, der eben aus den ernsthaft arbeitenden Medien kommt, mehr oder wenig durch Zufall: weil man sich plötzlich mehr Zeit nimmt als geplant. Hier und heute zum Beispiel:

   Hier

Ich weiß, dass man über die Verlinkung an eine Bezahlschranke kommt, soweit reicht meine Aktivierung nicht, aber ich habe den Artikel in Papier gelesen (gestern Abend bei REWE gekauft) und werde ihn eines fernen Tages auch digital wiederfinden. Warum er mich beflügelt? Ehrlich gesagt: es liegt am ersten Absatz und an den beiden schönen Menschen.

Nein, an den vielen Denkanstößen.

Ich überlege, wie ein nichtrassistischer Film aussehen müsste, wieviel schwarz, wieviel weiß, wie schwarzweiß dürfte er zeichnen, wie heftig mit dem neutralen Zaunpfahl winken. An welches Publikum müsste er sich richten? Wie ließe es sich motivieren, bei der Sache zu bleiben? Wie langweilig dürfte das Gleichgewicht aller mit allen wirken?

Was habe ich heute getan, ehe ich mich meinen privaten Vorhaben widme? (Beethoven, Kant, Hinrichsen, Gartenarbeit). In Wikipedia über „Vom Winde verweht“ (das Buch) nachgeschaut, was wird dort über Schwarz und Weiß gesagt? Ich muss einiges festhalten:

Anders als das Lesepublikum der 1950er und 1960er Jahre war der deutsche Literatur-Nobelpreis-Träger Heinrich Böll von dem Roman wenig angetan. Das Buch habe „jenen unbestimmbaren flutschigen Inhalt, der sich nicht genau definieren läßt, niemals genau zu definieren sein wird.“[7]

Die Darstellung der historischen Abläufe im Roman erfolgt aus der Perspektive der Protagonisten, also der der besiegten weißen Südstaatler. Alan T. Nolan kritisiert daher in The Myth of the Lost Cause and Civil War History, dass die Darstellung einem einseitig prosüdlichen Narrativ folge. Die Sklaverei und die Rolle des Ku Klux Klan nach dem Sezessionskrieg würden beschönigt, die Reconstruction und die nordstaatlichen Soldaten dagegen negativ dargestellt. Der Roman folge in diesem Sinne den typischen Topoi des Lost Cause und gebe nicht die historischen Tatsachen wieder.[8]

Sonja Zekri beurteilt den Roman als „modern in der Frauenfrage und archaisch im Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß“: Mit der repressiven Idealisierung der Südstaatenfrauen habe Mitchell nichts anfangen können, das zeige schon ihre Protagonistin. Scarlett O’Hara habe sie als eine lebenshungrige, unzerstörbare, mehrfach verheiratete, erfolgreiche Geschäftsfrau gezeichnet, habe ironisiert „die übliche männliche Enttäuschung darüber, dass eine Frau über ein Gehirn verfügt“ (so Mitchell). – Auf der anderen Seite sei es ein rassistisches Buch. Entgegen entschuldigender Rede sei die Sklaverei durchaus Thema gewesen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der der Süden die Rassentrennung gesetzlich verankerte, habe Mitchell den Weißen alle Schuldgefühle genommen. In Form einer „Romancing Slavery“ strahle Sklaverei im warmen Licht einer idealen Gemeinschaft. Mammy, Pork und die anderen Sklaven wüssten die Geborgenheit und Fürsorge der weißen Besitzer zu schätzen und fürchteten nichts so sehr wie die Yankees. „Die Besseren unter ihnen verschmähten ihre Freiheit und litten genauso wie ihre weiße Herrschaft“, so Mitchell.[9]

Die französische Autorin Annie Ernaux bezieht sich in ihrem Lebenswerk Die Jahre wiederholt positiv auf den Roman, der wenige Jahre vor ihrer Geburt erschienen war und dessen Lektüre sie immer wieder beeindruckt hat.[10]

Das ist genug Wikipedia-Stoff, um mich beim Rekapitulieren dieses Blog-Artikels zu motivieren. Bölls Wort „flutschig“ ärgert mich ebenso wie seine resignierende Weigerung, genau das genauer zu definieren.

Und es stört mich, dass Annie Ernaux, die mich so beeindruckt hat (hier und hier), von diesem Kitsch-Roman so beeindruckt gewesen sein soll. Ihr Buch „Der Platz“ steckt heute noch zwischen den Papieren auf meinem Schreibtisch, weil ich mich nicht trennen konnte. „Eine lebensverändernde Lektüre“ (Didier Eribon) steht auf dem Umschlag, und ich frage mich, ob ich das eigentlich bestätigen kann. Da muss ich erst wieder ein bisschen rekapitulieren…

Und bei allem Lob des guten Journalismus, muss ich erwähnen, dass die Klassik-Kolumne zum Stichwort Venedig auf der Rückseite desselben Blattes der SZ mich so geärgert hat, dass ich sie auf keinen Fall genauer bezeichne.

Etwas ganz anderes: wenn Sie sich für investigativen Journalismus interessieren und erfahren wollen, weshalb man sich nicht nur ständig über Trump aufregen muss, sondern mindestens ebenso über gewisse Zustände und Vorkommnisse im eigenen Land (Stichworte: FLEISCH und AMTHOR), dann widmen Sie sich doch der Lanz-Sendung von gestern Abend. Die Zeit wäre sehr sinnvoll angelegt: HIER

Beethovens Kant-Notiz

„das Moralische Gesetz in unß . . .“

„u. der gestirnte Himmel über unß“

Rückblick im Blog hier / Beethovens Original sehe ich heute zum ersten Mal:

Die Anführungsstriche habe ich etwas abgewandelt. Es ging mir ohnehin um etwas anderes, was steht denn dort noch? „Kant!!!“, gewiss. Und dann? der Name Littrow, des weiteren: Direktor der Sternwarte.

Ich habe das Faksimile und die Entzifferung im neuen Beethoven-Buch von Hans-Joachim Hinrichsen auf Seite 271 gefunden. Gerade dort wird einem klar, dass man nicht von einer kontinuierlichen Kant-Lektüre bei Beethoven ausgehen kann. Natürlich nicht. Er empfing Kants Geist durch Schillers Hände.

Kant lag bei denkenden Menschen der Zeit „in der Luft“. Wurde auch grob missverstanden, wie im Fall Kleist.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 5. April 2022 Kritische Besprechung des Hinrichsen-Buches in „Musik & Ästhetik“, Autor: Guido Kreis, sehr lesenswert!

Hundert Jahre Einsamkeit

Warum ich den Roman doch nicht aufgebe

Ich war schon einmal drauf und dran, diese Lektüre abzubrechen. Die Überfülle der Ereignisse, Geschichten und Personen. Ich unterscheide sie nicht mehr, es ist mir zuviel, und ich bin noch nicht mal über die Hälfte hinaus. Rettende Idee: Wikipedia. Von meinen Schwierigkeiten hat das Literarische Quartett nichts gewusst, sonst wäre da ein Tipp gekommen; ich werde mir jetzt Thea Dorns bzw. Eugen Ruges Eloge noch einmal anhören, nämlich hier ab 20:20. O-Ton: „Dieses Buch noch zu bewerben, ist eigentlich müßig; es hat sich 30 Millionen mal verkauft“. – Vielleicht lese ich falsch und erfasse das Wesentliche nicht. Jetzt also mit Wikipedia hier. Das Wichtigste habe ich mir schon kopiert und ins Buch gelegt, die Generationen der Buendias und ihres Umfeldes. Bitte klicken:

 Quelle: Wikipedia Diary88

(Zugegeben: es gibt ein paar ärgerliche Druckfehler, angefangen mit „Ziegeuner“.)

Grobe Übersicht zur Form des Ganzen

1. Auszug der Buendías und Gründung Macondos

2. Auftauchen des Landrichters und Verlauf der Bürgerkriege

3. Die Bananenfabrik

4. Der langsame Verfall und die völlige Zerstörung des Dorfes

Die entsprechenden Abschnitte der kolumbianischen Geschichte

  1. Entdeckung, Eroberung, Kolonialzeit (1492–1830)
  2. Republik: Beginn der Bürgerkriege (1830–1902)
  3. Beginn des Imperialismus: Bananen etc. (1899–1930)
  4. Aktualität – Neoimperialismus (1930–Gegenwart)

Immerhin weiß ich jetzt, wo genau ich mich befinde: das Kapitel (Überschriften gibt es nicht), das auf Seite 279 beginnt, verrät es auf Seite 281:

Bei Tisch fiel keinem etwas Besonderes an ihm [Mr Herbert] auf, bis er das erste Büschel Bananen gegessen hatte. Aureliano Segundo war ihm zufällig begegnet, als er sich in gebrochenem Spanisch darüber beschwerte, dass (…).

Aber wann endlich ist – wenn ich schnell vorausblättere – von einer Bananenfabrik die Rede? Etwa erst auf Seite 373?

Der große Streik brach aus. Der Anbau wurde nur zur Hälfte ausgeführt, die Früchte verdarben an den Stauden, und die Züge mit hundertzwanzig Waggons blieben auf den Nebengleisen stehen.

Nein, schon auf Seite 338 wurden all die Schönheitsprodukte erwähnt, „die den Konsumladen der Bananengesellschaft erreichten.“ Aber eigentlich wird in diesem Kapitel eine gewisse Meme behandelt, die Klavichord spielt, sogar eine Virtuosin sein soll, die täglich zwei Stunden übt, so dass mir Zweifel kommen, ob es sich hier wirklich um ein Klavichord handelt. Immer wieder gibt es sonderbarste Ausflüge der Phantasie, die mich veranlassen zurückzublättern oder vorauszueilen, schließlich das Lesetempo erheblich zu beschleunigen, um die vage Ankündigung zu Beginn eines neuen Kapitels weiterzuverfolgen, wie Seite 362:

Die Ereignisse, die Macondo den Todesstoß versetzen sollten, kündigten sich schon an, als Meme Buendías Sohn ins Haus gebracht wurde.

Nichts da, bei manchen der folgenden Episoden könnte es sich um bloßen Nonsens handeln, aber man weiß es nie, ob ein Detail zu wuchern oder aufzublühen beginnt, die Idee des Zurückblätterns oder der Beschleunigung des Lesetempos scheint sich zu bewähren.

Also was geschah bis hierher? Da war von der Überflutung Macondos durch die Fremden die Rede und von dem unglaublich liederlichen Treiben einer Frau, genannt Remedios die Schöne, die über todbringende Kräfte verfügt. Und dann hieß es plötzlich auf Seite 292:

Die Gelegenheit, das zu überprüfen, ergab sich Monate später, als Remedios die Schöne eines Nachmittags mit einer Gruppe von Freundinnen die neuen Plantagen besichtigte. Für die Leute aus Macondo war es seit Kurzem ein Zeitvertreib, durch diese feuchten, endlosen, von Bananenstauden gesäumten Alleen zu spazieren, in denen die Stille wirkte, als habe man sie von woanders hergebracht, als sei sie noch nicht benutzt und daher so unbeholfen beim Weiterleiten der Stimme. Zuweilen war das, was man auf einen halben Meter Entfernung sagte, nicht recht zu verstehen, während es am anderen Ende der Plantage deutlich zu hören war. Den Mädchen aus Macondo gab dieses neue Spiel Anlass zu Gelächter und Bestürzung, Schrecken und Spott, und abends erzählten sie von dem Ausflug wie von einer Traumerfahrung.

Es ist dieser kleine Einschub, der mich plötzlich an Johann Sebastian Bach denken ließ, dem ja auch die Kenntnis akustischer Geheimnisse nachgesagt wurde (siehe hier): dieser Roman ist auf jeder Seite so dicht gearbeitet, so prall mit Leben gefüllt, dass es für zahlreiche andere Werke reichen würde, aneinandergereiht wie in dem Buch von Tausenundeinernacht, ich denke an die Fuge in cis-moll, die von extremen Momenten überquillt, an Peter Schleunings Wort von Bachs Musikalischem Urwald (siehe hier), weiteres siehe hier und hier, bis hin zu gestern Abend hier. Vor langer Zeit schon in einer andern Fuge – es war BWV 891 b-moll, wo plötzlich in Takt 83 ein Liedlein aufzutauchen schien, wie heute Remedios die Schöne … Was für ein gewaltiges Formdenken, das jenseits aller historischen Strömungen Linien zwischen den entferntesten Regionen unserer Welt ins Auge springen lässt. Wie lange musste ich fruchtlos lesen, um endlich dahin zu gelangen, wo jede Seite eines riesigen Romanwerkes gleichermaßen unmittelbar zu mir spricht, wie jeder Takt einer Fuge. (Zum Weiterspinnen siehe hier.)

*    *    *

Eugen Ruge: „Worum geht es? Schwer zu beschreiben natürlich… es geht eigentlich darum, wie dieses Dorf seine Unschuld verliert, in den Bürgerkrieg gerät und nachher in die Hand von Ciquita, wie diese Bananenfabrik das Dorf verwüstet, es ist eine Parabel auf die lateinamerikanische Geschichte, es ist aber auch eine Parabel auf den Fortschritt überhaupt, und ich lese es auch als Parabel auf die Globalisierung, und zwar aus der Sicht der Globalisierten. Es sind zwei Wunder, die der Autor dabei vollbringt: bei diesem doch irgendwie politischen Inhalt bleibt er irgendwie völlig amoralisch, wenn man das so sagen darf, er wertet eigentlich nichts, es passieren die ungeheuerlichsten Dinge   …. das zweite Wunder: dieses Buch ist von einer geradezu tropischen Phantasie – der Autor ist ein Fan von Ritterromanen … das ist eine Mischung aus Tausendundeiner Nacht, aus allem, was man sich überhaupt vorstellen kann, überbordende Phantasie, man hat dafür den Namen magischer Realismus gesunden, und der Name ist deswegen so gut, weil dieses Buch trotz der überbordenden Phantasie realistisch ist. Denn tatsächlich erzählt es ganz wesentliche Dinge über unsere Welt. Ich empfehle das unbedingt, dies Buch, es weitet das Herz, es schärft den Blick für die Dinge, die auch außerhalb unserer Ängste und Interessen liegen.“ Thea Dorn: „Frau Menasse, haben Sie das auch  …  Globalisierung …“ Menasse: „das ist wahrscheinlich eins der besten Bücher der Geschichte und zwar, weil es diese ungeheure literarische Dichte hat. … da ist nicht nur die Geschichte gut, da sind nicht nur die Figuren gut, da ist nicht nur die Sprache genial, jeder kleine Übergang, jeder Dialog, jedes Adjektiv ist handverlesen, soweit ein Roman eine große Maschine ist … jede Schraube ist noch mit der Hand lackiert …“

JR Ich breche ab, das sind nicht die Stichworte, die mich motiviert haben, mir das Buch eilends zu besorgen… was habe ich erwartet, was hat mich enttäuscht?

Matthias Brandt: „…ich kann mich dem Lob nur anschließen  …  dass es sich um eine Wahrnehmungs- und Gedankenwelt handelt, die sich von unserer total unterscheidet … da wird mir gewissermaßen die Tür geöffnet, sehr weit geöffnet, und das ist natürlich ein unglaubliches Geschenk.“ Thea Dorn (ab 26:41): „Die Grundkonstruktion ist ja völlig irre von dem Buch. Da gibt es ja eine große Inzestangst, das ist ja eines der großen Tabus, also wir hauen ab vor Geistern, darum wird dieses Dorf überhaupt gegründet im Dschungel, die zweite große Angst ist, dass Geschwister zu eng verwandt sind,  miteinander sich fortpflanzen könnten, denn da ist mal ein Kind auf die Welt gekommen mit so einem Schweineschwänzchen, – das ist doch völlig aberwitzig, da geht eine Suppe …    Globalisierung ist das Mittel gegen Inzest …. eigenwilliges Paradox jetzt beim Lesen, dass der Marquez …  der Fluch der Buendias, sie kommen ja aus ihrer Einsamkeit nicht raus … wahnsinnig  verwirrendes, kompliziertes Buch über die Frage wie wir es überhaupt in der Zivilisation aushalten, was wir da alles an Tabus verdrängen … “ -Menasse: „es ist nicht verwirrend, aber es ist sehr kompliziert, es hat ja mehrere solche ganz großen Themen, es hat ja auch das Thema der Zeit, die Patronin Ursula, 140 Jahre oder was weiß ich noch älter … die denkt ja immer wieder über die Zeit nach, weil ja die Typen immer wiederkehren  interessant – ich hab mir einen Stammbaum gemacht  [liest sie nicht Wikipedia?]  am Ende geht ja alles den Bach runter … einer dieser Romane, das macht ihn ja auch so groß, versucht die Totalität abzubilden… die Welt, die Menschheit, alles hat diesen kreisförmigen Gang, und so ist es eben.  Sanskrit  und am Schluss, so eine geniale Volte,  Nabokov, dass der letzte Buendia, während er das endlich zuende entziffert – passiert es auch, und er stirbt aus… also der ganze Zweig. Das ist grandios.“ Dorn: „… das Maximalwunder, das gelingt, auf so merkwürdig tröstliche Weise … wie ein Untergang beschrieben wird.“ Brandt „Ein Buch über alles!“ 30:05

Ja, waren es etwa diese Plädoyers, die mich in Bewegung gebracht haben? Aber wodurch? Inzest hat mich nur eine kurze (romantische) Zeit interessiert, Wagner u Thomas Mann „Wälsungenblut“, auch Musil, aber dann nie mehr (schon in Ermangelung einer Schwester)… Nein, eigentlich war es zu wenig…

Es ist für mich auch ein Hinweis auf die Subjektivität meines eigenen Urteils, die geringe Verlässlichkeit, denn als ich die Sendung live erlebte, fand ich das Niveau hoch, die Erzählweise der Protagonisten sehr überzeugend. Heute, nachdem ich die Hälfte des Buches gelesen habe, mit vielen Zweifel (auch Selbstzweifeln), finde ich die Behandlung dieses größten Buchs aller Zeiten (so ungefähr der Tenor, der mir in Erinnerung blieb) sehr dürftig, selbst Thea Dorn, – es ist ihre selbstbewusste Stimme, die den Zuhörer nur zaghafter stimmt – , ich merke es aber daran, dass ich die Geduld verliere, Weiteres zu verschriftlichen. Ähnlich ging es mir in einer anderen Folge des Literarischen Quartetts, als dessen Effekt bei mir sich wiederum der Kauf eines Buches ergab. Ich war also äußerst positiv gestimmt und hoffte etwas über die Gemütslage meiner Mutter (oder meiner Eltern) nach dem Krieg zu erfahren …

 HIER ab 34:00 bis 43:21

Bei der Besprechung kristallisiert sich heraus: das Buch stammt von einer Zeitzeugin (1948!), die von vornherein unsere Sympathien auf ihrer Seite hat. Und diese politisch-moralische Situation überstrahlt alles andere. Trotzdem vermisse ich bei all dem Positiven, was hier gesagt wird, eins: das Buch ist nicht gut geschrieben. Genau darüber müsste doch – zumindest auch – gesprochen werden in einem Literarischen Quartett. Stattdessen dekretiert Thea Dorn von vornherein: „Ich halte es für ein Wunder!“ Bei allem Respekt, mir verursacht dieses Buch Schmerzen, aber nicht nur die unumgänglichen, die sich einstellen, wenn uns diese Zeit vor und nach meinem Geburtsjahr vergegenwärtigt wird, darum ging es mir ja gerade, sondern auch – es tut mir leid – die eines stilistischen Unvermögens. Das könnte man natürlich als symptomatisch und völlig adäquat empfinden. Aber im Gegenteil: da werden Formulierungen hervorgehoben, die ich als krampfhaft bemüht empfinde, z.B. „das wundervolle Wort des frisch gefallenen Opportunistenschnees“ (Thea Dorn) oder: „alle sprechen in behandschuhter Weise von Schuld“ (Fleischhauer). Die Bebilderung des Abstrakten macht Texte nicht unbedingt aussagekräftiger:

 Er ist der Typ des Schaukelpferddeutschen, der heute wieder summt: „Deutschland, Deutschland über alles!“

Ein Schaukelpferd ist nun einmal kein Sinnbild des politischen Wankelmutes, sondern kindlichen Frohsinns. Und diesen Text da summt man nicht. (Seite 62)

Ich schrieb Dir, daß  w i r in den Radien, die die SED ausstrahlt, zu Atem kommen können. Unsere Genossen sind auch in ihren Reihen zu finden. Aber wieviel verantwortungslose Freunde wirbeln den Staub der russischen Heere noch einmal auf, anstatt der Verständigung und der Arbeiterfreiheit zu dienen!

Wozu das Bild vom „Staub der russischen Heere“, der aufgewirbelt wird, wozu der geschraubte Plural von den „Radien“? Es liegt auf einer Ebene mit den geziert schräg gestellten Seitenzahlen oder der Zeile mis en bouteille au château  im Impressum des irgendwie kostbar ausgestatteten Büchleins.

Es sind lauter Kleinigkeiten, aber sie mindern die wohlwollende Konzentration. Es ist ja eine Schriftstellerin, die sich äußert, wenn auch eine lang vergessene, deren Stimme als ehrliche Zeitzeugin Aufmerksamkeit verdient. Was leise Vorbehalte nicht ausschließt, sie müssten zumindest im Nachwort durchschimmern. Oder in einem Literarischen Quartett.

Das Thema ist ernst, es dürfte mir nicht in den Sinn kommen, dabei über Kanzleisprache nachzudenken; aber das muss ich ausklammern wollen. Jemand könnte mir dabei helfen, ohne dass ich gleich auf die falsche Seite (des Schaukelpferds) gestellt werde.

(Fortsetzung folgt)

Jürgen Giersch

Ausstellung in Freiburg

Siehe auch Hier 2018 (Ein ferner Freund) oder Hier 2019 (Mitleid und Freiheit) oder Hier 2020 (Zeichen lesen)

Ich habe mich mehrmals in meinem Leben mit seinen Bildern beschäftigt, und dann plötzlich jedes Jahr. Jetzt aber wäre endlich die Gelegenheit, eine ganze Werkschau „in echt“ zu besichtigen. Mal kurz nach Freiburg fahren?

Hier  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐  ⇐

Bach cis-moll – vorläufiges Fazit

BWV 873 (zur Analyse und zum Vortrag)

Ich bin mehrfach zu diesem Werk zurückgekehrt und möchte mich nicht allzusehr wiederholen, jedoch die Beiträge, die mir wichtig sind, schnell zur Hand haben, bevor ich weitermache. Daher die folgenden Links:

Hier 7. Juni 2016 Musikanalyse fürchten? (betr. Fuge, ansonsten Chopin)

Hier 25. April 2020 Der Schwarze Tod (betr. im letzten Teil die Fuge u. „Wer Sünde thut“)

Hier 26. April 2020 Bach am Cembalo und am Flügel (betr. die Fuge und das Präludium)

Hier 29. Juli 2018 Bachs Kontinuität (betr. ein anderes Werk BWV 888, passt analytisch)

Hier 2. Juni 2018 Ermutigung mit Bach (betr. anderes Werk BWV 890, Fugen-Form)

Heute geht es mir um das Praeludium cis-moll BWV 873, einerseits um Überlegungen zum Vortrag (nach Badura-Skoda), andererseits um die formale Gliederung (nach Alfred Dürr und Christoph Bergner)

 S.211   S.318

 S.375

Quelle Paul Badura-Skoda: Bach Interpretation / Laaber Verlag 1990

Badura-Skoda – sein Buch ist nach 30 Jahren noch ebenso empfehlenswert wie damals, zumal es nicht mechanisch verfährt, sondern zum Denken verführt – gibt kurz vorher, nachdem er ausführlich über die schwierige Frage nachgedacht hat, „ob Vorschläge lang oder kurz ausgeführt werden sollten“, den entwaffnend einfachen, aber auch gefährlichen Ratschlag:

Auf die Musik übertragen, führt diese Beobachtung zu einer einfachen Faustregel: Wenn eine Melodie auch ohne Ornamente als schön empfunden wird, dann sollen die Vorschläge, Doppelschläge, Triller etc. möglichst leicht und kurz ausgeführt werden. Nur dort, wo ein Ornament die Expressivität  steigert und sein Fehlen einen Leerraum entstehen läßt, soll es „bedeutend“, das heißt lang und betont wiedergegeben werden.

Man sollte aber keineswegs glauben, dass mit Hilfe eines solchen Buches oder gar eines Nachschlagwerkes mit einem Schlag alle Zweifel beseitigt seien. Und selbst wenn die Lösungsvorschläge von Bachs eigener Hand vorliegen, wie hier auf Seite 428, das andere cis-moll-Praeludium, das ich wirklich „seit Menschengedenken“ mit Vergnügen und Verzierungen spiele, – was tue ich denn am Anfang des zweiten Takte?

Die Imitation der linken Hand sollte durchaus pünktlich kommen, aber der Vorhalt in der rechten Hand – gleichzeitig, vor der Zeit oder sehr schnell? Nicht wahr? Ich will rechts die Töne a-gis nicht als Achtel spielen, um die falsche Parallele zur den Tönen gis-fis der linken Hand zu vermeiden. Das löst mir auch Badura-Skoda nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle. Und wenig weiter folgen in seinem Buch die verschiedenen Bach-Notierungen für meine dreistimmige Lieblingssinfonia BWV 791, und ich finde (vielleicht) nebenbei am Anfang von Takt 2 eine Lösung für meine Frage: ich spiele 1 Sechzehntel (!) Vorhalt vor dem Ton d, damit er schon angeschlagen ist, bevor der gleiche Ton im Bass kommt, und zwar genau zu dessen b nach der Sechzehntelpause.

Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Dürr S.275f)

   

Formale Gliederung des Praeludiums cis-moll (nach Bergner S.124)

Zugegeben: solche Schemata sehen nicht verlockend aus. Es reizt einen nur, wenn man das Stück schon sehr gründlich geübt hat. Es wird ja immer schöner dabei, aber auch immer rätselhafter: warum diese inständige Wiederkehr des Gleichen, warum diese Unberechenbarkeit in der Wiederkehr bei gleichzeitiger Abwandlung des Gleichen, warum die Veränderung der Proportionen?

Ich greife immer wieder gern auf dieses Buch aus dem Jahr 1986 zurück, weil es ideenreich zu neuen Gedanken über Bachs Formdenken anregt, von einem Autor, der die Laufbahn des Musikwissenschaftlers letztlich vermieden hat, – um Pastor zu werden:

Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft Hgg. Georg von Dadelsen / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986

Insbesondere das Phänomen der Abweichungen (?) von einer symmetrischen Gliederung und der Begriff der Dehnung  waren für mich besonders aufschlussreich. Ich zitiere einige Sätze aus dem Kapitel über das Praeludium B-dur, das dem über unser cis-moll-Praeludium vorausgeht (Bergner Seite 117f) .

Für den 3. und 4. Abschnitt gilt: 4 + 4 + 8. Wenngleich manche Formvorstellungen an die Wiener Klassik erinnern, denkt Bach offenbar nicht in diesen Bahnen.

Auch bei Jacobus Kloppers (1966) findet man schon solche Hinweise, die einen vor voreiligen Analogien bewahren.

Die Gliederung nach Dürr scheint auf dem Papier sehr übersichtlich und klar:  A – B – A – B – A.  Aber wenn man es spielt und mitdenken will, drängen sich andere Schwerpunkte in den Vordergrund. So kommt Bergner zu dem Schluss:

Das Stück scheint in seiner Anlage nicht proportioniert. Die Gliederung zeigt 3 Teile von 16 + 16 + 29 (+1 Schlußtakt).

Jedoch wird durch die Wiederholungen nach T. 32 eine bestimmte Struktur sichtbar.

Es tauchen Motive auf (kehren wieder), die eine andere Struktur ahnen lassen als die, die offen zutage zu liegen schien.

(Fortsetzung folgt)

Geheimnisse des Gambenspiels

CD Le Secret de Monsieur Marais (reinhören hier)

Luca Pianca / Il Suonar Parlante Orchestra / Vittorio Ghielmi

DLF-Sendung Hier

Fotos: D.R. und Z.Hanakova, Cover Foto Plainpicture/Nordic Life/Terje Rakke

Die Werk-Kommentare des Booklets, die im Original kaum leserlich sind, wurden in der folgenden Kopie vergrößert (bitte anklicken):

  

Blick in ein altes Lehrwerk, herausgegeben von Albert Erhard (München-Salzburg 1980):

    

Das letzte farbige Bild gibt die Seite des CD-Booklets wieder, auf der Beispiele der neu entdeckten und entschlüsselten Einzeichnungen zu sehen sind. Als Nr. 2 erkennt man das Thema des schnellen Teils aus dem Prélude Tr. 17, dieser Teil beginnt bei 2:24, die dritte abgebildete Zeile hört man ab 3:07; dort sollen also die folgenden Techniken realisiert sein: tapé, jetté, enflé, élevé, appuyé, mordant, was in der DLF-Sendung folgendermaßen verstanden wird:

Die Kürzel, die jetzt entziffert werden konnten, bedeuten „tapé“, „jeté“, „enflé“ und „élevé“, übersetzt „geklopft“, „geworfen“, „lauter werdend“ und „erhöht“. Jeder Ton soll also seine eigene Charakteristik bekommen.

An manchen Stellen übertreibt Marais regelrecht und notiert sechs Kürzel über einem einzigen Ton. Demnach soll er gleichzeitig „springend“, „gezogen“, „anschwellend“, „unterdrückt“, „abgeschnitten“ und „still“ gespielt werden. Wie das gehen soll, erklärt Vittorio Ghielmi im Begleitheft: Die Kürzel seien keine statischen Anweisungen, sondern Marais habe versucht, das Gambenspiel in Aktion zu beschreiben. Er meine nicht den Klang, sondern die Gesten – die dann den richtigen Ton automatisch erzeugen.

Leider kann ich Ihnen jetzt kein Video zeigen – aber man kann sich gut vorstellen, wie der Spieler den Bogen aufsetzt, ihn zieht oder springen lässt, wenn man diese Klänge hört.

Man sollte niemanden am Staunen hindern, welches ja die Mutter aller Weisheit sein soll. Aber ich kann keinen grundsätzlichen Unterschied erkennen zwischen dem, was Ghielmi an neuen Hinweisen entdeckt hat, und dem, was 1980 schon bekannt war. Beziehungsweise dem, was Marin Marais schon in den Vorworten seiner gedruckten Werke seit 1686 offengelegt hat. Es ist ja nicht unmöglich, dass in einer Musikertradition Werkstattgeheimnisse gehütet werden, die den eigenen wirtschaftlichen Erfolg sichern. Warum jedoch sollte ein Komponist technische Tricks verbergen, wenn sie zum sinnvollen Vortrag seiner Werke gehören, die er in die Welt hinausschickt? Und dass dies wiederum erst ans Licht kommt, als er längst gestorben war (1728) und die Gambe als Träger ästhetischer  Ideen mühsam verteidigt werden musste (1740). Nebenbei: diese Rolle übernahm ein Jurist (Hubert le Blanc), kein Musiker, geschweige denn einer der Söhne des alten Marin Marais.

Ich liebe den Ton der Viola da Gamba, denke allerdings als erstes an Bach, an die ergreifende Aria „Es ist vollbracht“, die an schmerzlichem Ausdruck nicht zu überbieten ist, nein, auch an einziges anderes Werk, das Konzert von Telemann, mit einem bestimmten Interpreten, ein bestimmtes Datum, Wieland Kuijken mit dem Collegium aureum im Gürzenich zu Köln, 70er Jahre, ich kannte ihn flüchtig, aber ich hatte noch nie ein solch gequältes  Mienenspiel bei einem Barocksolisten erlebt, es gab ungläubiges heimliches Kichern, bis wir begriffen, dass da ein Virtuose und Meister des Espressivo-Spiels am Werk war. Bei Telemann! In Kirchheim (Bayrisch-Schwaben) bedeutete das Alarius-Ensemble mit den Kuijken-Brüdern für mich ein kleines Damaskus-Erlebnis: so also kann Alte Musik interpretiert werden, – eine neue Welt, ein im wahrsten Sinne unerhörter Ausdruck ohne die gängigen romantischen Hilfsmittel wie Bogendruck und Vibrato. – Es wundert mich nicht, dass jemand solche Wendepunkte der Perspektive auch heute noch auferstehen lassen will, aber er dürfte verbal nicht allzu starke Worte wählen, schon die Überschrift lässt Schlimmes ahnen: EIN „STEIN VON ROSETTA“ DER FRANZÖSISCHEN MUSIK. (Zum Stein ohne Anführungsstriche hier. Was für ein Fehlgriff als Anspielung!) Und wenn dann im Text die Anführungsstriche sich mehren, frage ich mich, ob der Schreiber der Zeilen den alten Wieland Kuijken überhaupt nicht kennt? Oder ob er gar bei ihm – studiert hat… (ja, er hat).

Viele Untersuchungen zur Interpretation „Alter“ Musik, die in letzter Zeit veröffenlicht wurden, zeigen, dass die von den „Pionieren“ in dern 1970-er Jahren entwickelten Aufführungsformeln, die heute universell eingesetzt werden, den alten Notentexten nicht gerecht werden. Leider erscheint die Distanz zwischen der Musikwissenschaft und der Welt der Interpreten inzwischen unüberbrückbar zu sein. Die Klangvorstellungen ersten Musikergeneration, die sich in den 1970-er Jahren der Wiederentdeckung der europäischen Musik aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert widmeten, war nicht ausreichend, um diese Musik expressiv umzusetzen, obwohl sie heute zum Mainstream geworden ist. Im Booklet zu einer früheren, Marais gewidmeten Einspielung schrieb ich ich ich einmal: „Da es sich um eine lang zurück liegende musikalische Rhetorik handelt, die mit der modernen unvereinbar ist, können wir annehmen, dass eine von Marin Marais selbst à la Marais eingespielte CD heutzutage wohl kaum einen Kritikerpreis erhalten oder höchstens in einer Reihe musikalischer Völkerkunde Platz finden würde.“

Wie bitte? Hat das Wort „Rhetorik“ in der Musik nicht gerade damals, „in den 1970-er Jahren“ seine Renaissance erlebt? Die „Pioniere“ lasen als erstes das folgende Buch, – das seit wann existierte? Seit 1941 !

Quelle: Hans-Heinrich Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert / Würzburg 1941 / Nachdruck Georg Olms Verlag 1985

Man las natürlich auch Quintilian im Original. Aber auch etwa ein solches Buch:

Quelle: Jacobus Kloppers: Die Interpretation und Wiedergabe der Orgelwerke Bachs / Frankfurt am Main 1966

Und nun kommt jemand und erklärt, dass die Rhetorik der Schlüssel jeglicher Marais-Interpretation sei… Hervorzuheben wäre in jedem Fall, dass mit „Rhetorik“ im Fall Marais etwas ganz Spezielles gemeint ist, was bei uns in die Rubrik „Deklamation und Vortrag“ fällt, also mit dem Verzierungswesen und der Artikulation zu tun hat. Neu ist allenfalls die Hervorhebung eines Teilaspekts, der Gestik, die dem Charakter der melodischen Formel (Figur) oder des Einzeltones zugute kommen soll. Andererseits auch gerade nicht neu: normalerweise gehört das zu den Themen, die im Instrumental- oder Gesangsunterricht der Hochschulen geradezu omnipräsent sind. Mit einem Fremdwort: MIMESIS. Ein Sänger z.B. müsse also nicht nur „über eine schöne Stimme und gute Intonation sowie über expressiven Ausdruck verfügen, sondern seinen Gesang auch mit Gesten und Bewegungen unterstützen (…), um die Affekte noch besser darzustellen.“ (So schon E. de Cavalieri in Rappresentatione di anima et di corpo, Rom 1600.)

Wunderbar, wenn nun gewisse Vortragshinweise des Interpreten Marais ans Licht kommen, die sich detailliert auf einzelne Töne beziehen, ja, das ist zweifellos interessant, aber auch nicht sensationell; wenn sie sich dort nun sogar doppelt einfinden und einander widersprechen, so muss man das nicht mystifizieren, als gebe es einen Trick, den Bogen zugleich springen und nicht springen zu lassen.

Sobald ich diese CD auflege, erscheint mir doch alles – trotz manchen Effekts – im Bereich des interpretatorisch Möglichen, ja – Gewohnten. Allerdings sehr, sehr gut gemacht. Trotzdem werde ich die CD beim nächsten Mal erst mit Tr. 9 (Gigue) beginnen lassen, ich finde auch die kompositorische Substanz manchmal etwas schwach. Aber das liegt an Bach, bzw. an meiner Einseitigkeit, nicht an mangelnder Kunst der Interpreten.

Ein Gutes hat die ganze Übung mir gebracht: ich habe Lust, Couperins „L’art de toucher le Clavecin“ mal ganz gründlich am Klavier durchzugehen und anhand der Bachschen h-moll-Partita zu überlegen, welche ungewöhnlichen Bogentechniken ich mal in den Doubles ausprobieren könnte.

Rückblick: Mein vielleicht allzu überhöhtes „Damaskus-Erlebnis“ 1976 im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, wo alternierend zu den Aufnahmen des Collegium Aureum die Aufnahmen des Alarius-Ensembles stattfanden. Und dort – in dem provisorischen Technik-Abhörraum hinter der schweren Türe – haben einige von uns (Helmut Hucke, Klaus Giersch und ich) die ersten Fassungen der neuartigen „Musica Instrumentalis“ kennengelernt. Die Begeisterung war groß.

(Foto: Daniela Maria Brandt für harmonia mundi)

Und eines Tages werde ich noch einmal zu dieser neuen CD, zu „Le Secret de Monsieur Marais“ und auch der dort erwähnten Dokumenten-Forschung des Gambisten Dr. Christoph Urbanetz zurückkehren. Denn es ist nicht das Projekt „Vatermord“, welches ich witterte. Die Urheber denken bescheidener als manche Journalisten, die nun mal Schlagzeilen brauchen:

Von: „Vittorio GHIELMI“ <Vittorio.GHIELMI@xxx>
Betreff: R: Fwd: Ghielmi
Datum: 17. Juni 2020 um 12:01:15 MESZ
An: <goebel-musik@xxx>

 

My dear,

I never diminish the pioneers, on the contrary, I always say we are dwarf on their big shoulders. But I try to wake up my and next generation to go on with the same spirit of research and intelligent innovation, as these venerable musicians made in their period.

The manuscripts we are studying, with a sign on EACH note, made by Marais and his school, is a real Rosetta stone; we do not have any other example so detailed in the history of music, or not in this form, as far as I know.

I hope not to be misunderstood and hope you can explain it to your friend, to whom I send my deepest respect, as, you know, is in my style.

Abbraccio
Vittorio

Gedanken zu Janáček, Tolstoi, Smetana

Booklettext JR 1995

  

In diesem Booklet der Erstausgabe (bei Intercord 1995) wurden Seiten vertauscht, die richtige Reihenfolge habe ich mit blauer Tinte eingetragen. In der Neuausgabe bei TACET 1999 wurde diese Reihenfolge wiederhergestellt.

Diese CD ist noch erhältlich, siehe bei TACET hier. Neues Impressum:

Signum – einzigartig

 .    .    .    .    .    .    . 

Programmhefttext von Verena Großkreutz. Die schöne Kurz-Charakteristik des Schubertwerkes D 703 aus der Feder derselben Autorin sei hier noch zitiert:

(…) Schuberts einzeln gebliebener Quartettsatz c-Moll beginnt ausgesprochen rau. Geisterhaftes, kaltes, wildes Moll-Tremolo und auffahrende Gesten stehen auf der einen Seite, auf der anderen ein verträumtes, sehnendes Lied in Dur. Beide artikulieren sich nicht als festumrissene Themen, sondern eher als Klanggestalten, die zunächst relativ unvermittelt miteinander konfrontiert werden – ein interessantes Experiment mit der Sonatenform. Erst in der Durchführung durchdringen sich beide gegenseitig, mit dem Ergebnis, dass ihre Reihenfolge in der Reprise vertauscht wird. Weshalb der Satz mit dem wüsten Tremolo-Gedanken schließt.

Dies war das Quartett in der früheren Besetzung (über den Wechsel 2016 hier).

Das zu erwartende Programm hatte ursprünglich etwas (bzw. grundlegend) anders ausgesehen, mit dem großen G-dur-Quartett von Schubert im zweiten Teil, und genau dies war ausschlaggebend für mich, als mir mein Freund von heute auf morgen ermöglichte, das Konzert an seiner Stelle wahrzunehmen. Als zweites kam der Punkt Janáček, – dessen Quartett „Kreutzersonate“ ich auswendig zu kennen glaubte, seit der ersten LP mit dem Smetana-Quartett, dann mit dem Kreuzberger Quartett (in dem ein ehemaliger Solinger Spielfreund als Cellist mitwirkte), schließlich die Nonplusultra-Aufnahme mit dem Belcea-Quartett. Außerdem hatte ich in den 90er Jahren mit der Substanz dieses Streichquartetts viel Zeit verbracht, als ich den Booklettext für das Abeggtrio schrieb, das eine rekonstruierte Klaviertrio-Fassung des Werkes eingespielt hatte. Ach, und das Bonbon des Tolstoi-Walzers. Kurz: nachdem ich telefonisch erfuhr, dass es nicht möglich war, eine zweite Karte für das unter Corona-Bedingungen veränderte Konzert hinzuzukaufen (meine Frau hat im selben Semester wie York Höller Musik studiert, als ich sie 1964 kennenlernte), wollte ich den ganzen Plan fallen lassen. Die nagende Aussicht auf Janáček war letztlich ausschlaggebend, um 18 Uhr doch ins Auto zu steigen und allein nach Köln zu fahren. Zusätzliche Motive: der Quartettsatz in c-moll von Schubert, dem ich seit der Gymnasialzeit (im Laienquartett 1957) immer wieder begegnet bin, und Schulhoff ist immer interessant – und die Schubert-Lieder… der Streichquartettklang überhaupt … und und und …

Übrigens: die Realität von Kammermusik im Konzertsaal ist eine völlig andere Sache als in einer youtube-Aufnahme, die einer letzten Probe gleicht (s.u.). Der ferne Klang – real – aber völlig anders fern als auf dem nahen PC-Bildschirm, kaum zu beschreiben, wie man da in einem coronabedingt weit auseinandergezogenen Publikum sitzt, das sich mucksmäuschenstill verhält, – was für eine beklommene Intimität da zwischen Saal und Bühne entsteht, in der fahlen rosa-beigen Beleuchtung. Ein seltsamer, fast magischer Zauber. (Das vielfach bemühte Wort „magisch“ beruht meist auf Sprachnot; bitte: an dieser Stelle nicht.)

Tatsächlich glaubte ich, das Janáček-Quartett noch nie im Leben so gehört zu haben, das wilde Mosaik der Motive so disparat in den Raum gesplittet und doch so eng aneinander gekettet wahrzunehmen, eine hinreißende Polyphonie, so bohrend repetitiv sie sich auch gibt. Es ist eine Kombination der verschiedenen Ebenen, wie man sie von keinem andern Komponisten jener Zeit kennt. Adorno bezeichnete seine Kunst mit großem Respekt als exterritorial, und sie ist uns heute so nahe gerückt wie wenig anderes. Und dies gerade in einer solchen, wahrhaft kongenialen Interpretation, bei der mir auch die einzelnen Instrumente – ähnlich wie die Menschen im Publikum – weiter als sonst voneinander entfernt schienen, was den gelegentlichen Zusammenprall der Klänge um so kompakter wirken ließ.

Es waren diese Tugenden, die auch das neue Werk von York Höller zu so hervorragender Wirkung brachten. Es ist im Programmheft sehr treffend charakterisiert, frappierend, wie die Beethoven-Zitate, auch das schiere Dreiklangsthema der Zweiten, auftauchten und verschwanden, ohne den geistreichen, funkelnden Zusammenhang zu stören. Ich kenne kein einziges anderes Werk dieses Komponisten, würde mir jetzt aber für jedes andere Gelegenheit und Zeit nehmen. Aber schauen Sie hier, – ich glaube, ich schaffe das nicht mehr. Mehr zum Signum-Quartett HIER.

Bewegend, wie dieses kaum 200köpfige, im weiten Rund verteilte Publikum begeisterten Applaus spendete, buchstäblich nicht enden wollend, als das Quartett zuletzt noch einmal auf die Bühne zurückkam und die erhaltenen Blumen auf den Boden legte: jeder wusste, warum, und der Primgeiger Florian Donderer blieb vorne stehen, sichtlich gerührt, um seinen Dank auszusprechen: dass sie heute zum ersten Mal wieder nach drei Monaten ein Konzert geben dürfen, unter veränderten Umständen, so dass das große Werk, das ursprünglich am Ende des Programms stehen sollte, Schuberts letztes gewaltiges Streichquartett in G-dur, nicht in die vorgeschriebene Zeit von anderthalb Stunden passte. So hatten sie den Musikablauf grundlegend umgestaltet. Natürlich sei klar, dass sie die Wochen und Monate eisern geübt haben, ohne zu wissen, was folgen wird. Und viel nachgedacht, auch gezweifelt haben an der Rolle, die ihnen künftig noch offensteht. Dass sie rausmüssen, Musik ist alles, was sie haben und dazu gehören Menschen, die es miterleben wollen. Ich bin nicht sicher, ob ich alles akustisch korrekt verstanden habe, aber er schloss etwa folgendermaßen:

„…vielleicht ist auch die Musik, die wir machen und die Konzerte, die wir spielen, sehr in eine Routine eingebettet. Natürlich versuchen wir immer Besonderes herauszufiltern, aber dadurch, dass es nun ein so sonderbares und besonderes Konzert wurde, hat es mir, nein, ich glaube: uns allen besonders viel bedeutet. Und weil Sie so viel geklatscht haben, und weil Sie dies alles so durchhalten, – ich weiß, in welcher künstlichen Situation Sie hier sitzen und es so annehmen wie es ist -, deshalb spielen wir nach dem C-moll-Satz in diesem wunderschönen Raum, der – dieser Zugabe angemessen – so groß und schön klingt, ein letztes Schubert-Lied: „Du bist die Ruh“.

Und so geschah es. Dieses Streichquartett versteht es wirklich, und gewiss  in jedem Saal, ein Schubertlied, ohne jeden Espressivo-Druck, auf unvorstellbar eindringliche Art zu singen. So dass es keines Textes mehr bedarf.

Du bist die Ruh,
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du,
Und was sie stillt.

Ich weihe dir
Voll Lust und Schmerz
Zur Wohnung hier
Mein Aug' und Herz.

Kehr' ein bei mir,
Und schließe du
Still hinter dir
Die Pforten zu.

Treib andern Schmerz
Aus dieser Brust.
Voll sey dies Herz
Von deiner Lust.

Dies Augenzelt
Von deinem Glanz
Allein erhellt,
O füll' es ganz.

Dank an den Kammermusik-Freund Hanns-Heinz für Überlassung der Abonnementskarte!!!

Ein Denkmal auch dem Singdrosselherrn, der mich von der Gartenseite her bei geöffnetem Fenster während der Schreibarbeit begleitet; hier sein Stellvertreter: