Scheidemanns Orgelkunst

(In Arbeit) 

Ich brauche eine Motivation, um mich ans Arbeiten zu bringen, – warum aber habe ich jetzt plötzlich alle Orgel-CDs hervorgesucht, die ich besitze? Unmittelbarer Anlass: die Buxtehude-Box mit Harald Vogel, die mich noch länger beschäftigen wird (siehe hier). Die Erinnerung daran, dass ich Ähnliches vor Jahren angefangen hatte, als ich die Präsentation alter Orgeln bei Dabringhaus & Grimm kennenlernte (2012), auch auf der Rückfahrt von Juist in Norden Station machte (beeindruckende Ludgeri-Kirche, dort war damals gerade wieder eingebrochen worden), ich hatte drei CDs des amtierenden Organisten-Ehepaares gekauft. Im Blog habe ich das irgendwie reflektiert, aber 2014 ist das System zusammengebrochen, (m)ein Desaster. Vorteil: ich muss es neu erinnern, es wird sich um so tiefer eingraben. – Ein Hauptanreiz ist für mich seltsamerweise immer etwas Didaktisches, wie in der Buxtehude-Box die DVD, auf der Harald Vogel die Orgel-Disposition im Detail erklärt (ich werde seinen Text noch notieren müssen), in der vorliegenden Scheidemann-CD der schöne, aber im Booklet mühsam zu entziffernde Text (ich werde ihn vergrößern, um ihn jederzeit gern zu repetieren); habe die Hoffnung, eines Tages den ganzen Wunderbau einer Orgel zu verstehen. Eigentliche Ursache: der wiederentdeckte Klang der alten Orgeln, das Geheimnis der rechten Stimmung. (Ich hole nach, was ich 1955, in der kurzen Zeit der Orgellektionen in Bielefeld, versäumt habe. Wichtigste Anregung – nach Albert Schweitzer und seinem Bachbuch – der Pauluskirchen-Kantor Eberhard Essrich. Was für ein Glück, an das „Treffen in Telgte“ erinnert zu werden. (In den 80er Jahren hat Werner Ehrhardt mir das Büchlein nahegelegt!)

Über Bach in der Kirche St. Katharina siehe Wikipedia hier. Eigene Erinnerung 2017:

 Fotos JR  

   

Über Wim Kloppenburg hier .

Die Orgel der Pieterskerk in Leiden:

Vorführung der Orgel Track 14 bis 30:

Siehe auch hier (Wikipedia „Liste von Orgelregistern, darin z.B. die im Text erwähnten „Quintadena“, „Terzian“ oder „Sifflet“) Prestant (Prinzipal) siehe hier.

Der von Leo van Doeselaar bei der Registervorführung gesprochene Text:

Ich werde jetzt mal die drei Prinzipal 8′ zeigen, Prinzipal 8′ vom Oberwerk #14# Prinzipal 12 vom Hauptwerk #15# Prinzipal 8, Prestant 8 aus dem Rückpositiv #16# was sehr besonders ist an dieser Orgel, ist die Möglichkeit 24 und 12 Fuß zusammen zu spielen, und das ergibt einen sehr besonderen, gravitätischen Klang #17# Zusammen mit Prinipal 8 aus dem Rückpositiv #18# und ich zeige dann jetzt das originale Blockwerk #19# zum Oberwerk, Holpijp gedackt 8 #20# zusammen mit Gemshoorn 2′ #21# eine Oktave tiefer gespielt klingt Gemshoorn wie ein Blockflörenquartett #22# und dann haben wir noch zwei besondere Zungen: Schalmei im Rückpositiv #23# und dann oben Vox humana #24# aber weil es von der Regalfamilie ist, kann man auch wunderbar Consort-Musik spielen #25# Diese Orgel hat zwei Quintadeen, zuerst mal Oberwerk und dann Rückpositiv #26# Holpijp 4′ gedackt auf Rückpositiv #27# Eine sehr schöne Kombination: 4′ Holpijp und Sifflet 1′ #28# Plenum Aufbau im Rückpositiv: Prinzipal 8′ Oktave 4′ Superoktave 2′ Mixtur scharf #29# Aufbau vom Oberwerk Plenum: Prinzipal Prestant 8′ Oktave 4′ Superoktav 2′ und dann Terzian #30#

Zum Punkt der Motivation (siehe Anfang) muss ich noch etwas hinzufügen: diese Orgelklänge sind einzigartig schön, delikat und kraftvoll, man muss sie hören lernen, in ihren feinen Qualitäten unterscheiden, nicht laienhaft undifferenziert vorüberpfeifen lassen: „so ist halt Orgelklang“ – nein, dies sind die unverwechselbaren Farbtöne, an die ich mich erinnere, auch wenn ich im Walde spazieren gehe. Ich sehne mich nach dem Raum der Kirche, der dem des Waldes, in dem die Buchfinken miteinander wetteifern, nicht ganz unähnlich ist. Wohlgemerkt, ich werde nicht fromm davon, sondern sehr aufmerksam.

Sobald ich anderen Interessenten ein echtes Studium der einzelnen Orgelstücke empfehle, – und das tue ich natürlich -, würde ich hervorheben, dass es mindesten eine Voraussetzung gibt: man muss die Choralmelodien wiedererkennen, wo auch immer sie auftauchen, man muss sie kennen und lieben gelernt haben. Jeder Bach-Freund hat sie mit seinen Passionen und Kantaten wie mit der Muttermilch aufgesogen. Ansonsten beginne man damit, die Choräle dieser CD zu notieren und aus dem evangelischen Gesangbuch zu kopieren oder abzuschreiben; das Gesangbuch braucht man, – ob man in die Kirche geht oder nicht! (Ich finde immer wieder einen Grund, einen Choral Ton für Ton zu betrachten z.B. hier.)

Und wenn der Tr. 1 der Scheidemann-CD auf Hans Leo Hasslers Motette „Verbum caro factum est“ verweist und ich kenne sie nicht, höre ich sie in irgendeiner Youtube-Fassung und präge sie mir ein. Z.B. hier. Was aber bedeutet – Tr. 2 – eine Intavolierung desselben Werkes?  Wikipedia weiß Rat: hier. Unter den dort angegebenen Weblinks findet man die folgende Arbeit, die man als pdf abrufen kann: DIE KUNST DES INTAVOLIERENS: GEBUNDENHEIT UND FREIHEIT von Johannes RING. Die Arbeit beginnt mit den Sätzen:

Es ist gut vorstellbar, wie Heinrich Scheidemann einem interessierten hanseatischen Publikum mit der kunstvollen Bearbeitung bekannter Motetten prominenter Komponisten seine musikalische Kompetenz unter Beweis stellte und die klanglichen Möglichkeiten der großen Orgel der Hamburger Hauptkirche St. Katherinen vorführte. Ähnlich muss der Englander Peter Philips in Antwerpen die wohlhabende Bürgerschaft am Virginal mit der virtuosen Bearbeitung populärer italienischer Madrigale beeindruckt haben. Als Scheidemann und Philips in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre kunstvollen Intabulierungen erklingen ließen, schaute die Praxis des Intabulierens von ihrem letzten Höhepunkt auf eine dreihundertjährige Geschichte zurück.

Zu Tr. 4 „Kyrie summum“ siehe Wikipedia hier zu „Kyrie, fons bonitatis“, darin letzter Teil zu „Kyrie summum“.

Zu Tr. 5 vgl. John Dowland’s berühmtes Lied „Lachrimae“ hier.

Und nun die Choräle! Ich habe eben so groß getönt … vom Gesangbuch, – aber manche Choräle findet man darin einfach nicht mehr. Z.B. zu Tr. 7 „Erbarm dich mein, o Herre Gott“. Dann empfehle ich in jedem Fall als Quelle den, für den wir diesen ganzen Aufwand betreiben: Johann Sebastian Bach. In diesem Fall BWV 305, da steht auch seine Quelle drüber (Walter 1524), hier der Anfang:

Wenn Sie die vollständige Melodie bei Scheidemann verfolgen wollen: also Tr. 7, – die Melodiestimme tritt nach den ersten (absteigenden) 3 Tönen auf, merken Sie sich die „Farbe“ und folgen Sie zwanglos den sieben weiteren, gleichlangen Zeilen.

Erbarm‘ dich mein, o Herre Gott
Nach deiner gross’n Barmherzigkeit,
Wasch‘ ab, mach‘ rein mein‘ Missethat,
Ich kenn‘ mein‘ Sünd‘ und ist mir leid.
Allein ich dir gesündigt hab,
Das ist wider mich stetiglich;
Das Bös‘ vor dir nicht mag bestah’n,
Du bleibst gerecht, ob man urtheile dich.

Und wenn Sie in unserem Notenbeispiel an die Stelle des dritten Tones (g) der Melodiestimme ein gis einfügen, damit die Bitte um Erbarmen dringlicher wird – die absteigende Chromatik dementsprechend in der fünften Zeile auf gesündigt“ -, so tun Sie genau das, was Bach in seinem ungeheuerlichen Choral BWV 721 tat (Tonart einen Ganzton höher, also jetzt mit dem Gang a-ais-h nach dem ersten Melodieton):

Wer weiß, ob Bach nicht auch Scheidemanns „Fantasia in d“ (Tr. 3, Notenbeispiel Booklet Seite 14) gekannt und das Thema der Fuge als verkürztes Choral-Zitat aufgefasst hat, hier noch einmal zur Verdeutlichung:

In Scheidemanns Praeambulum in d (Tr. 9), „komponiert am 10.1.1637“, überrascht wiederum der freie Einsatz der Chromatik, inklusive einer mehrfach chromatisch auf-und absteigenden Tonleiter (ab 2:17 bis 3:30).

(Fortsetzung folgt)