Archiv der Kategorie: Akustische Kunst

Wald-Musik, späte Nachklänge und ein Glocken-Universum

Punktuelles vom Ewigkeitssonntag

HAUPTMANN
geheimnisvoll
Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denk‘. »Ewig«, das ist ewig!
WOZZECK
Jawohl, Herr Hauptmann!

Bitte klicken & lesen: der älteste Raum Solingens!

Der Ort, den ich kenne seit etwa 1966, Anlass „Weihnachtsoratorium“ unter Friedrich Gerschwitz. Damals fand ich den Raum befremdend, stilistisch falsch, heute mit Kenntnis der Geschichte und dem Hinweis auf den Düsseldorfer Baumeister Adolph von Vagedes (Klassizismus, Schüler von Schinkel), sein Ratinger Tor, sein Schaffen als Komponist (!), alles hochinteressant.

Ratinger Tor (Detail)

Jetzt bei der „Musik zum Ewigkeitssonntag“: Juwelen der Musikgeschichte. Biber, Sweelinck, Hume … Gleich zu Anfang ein absolut geniales Werk der phantastischen Monotonie, in dem Marin Marais das Geläut der Kirche Ste. Geneviéve du Mont de Paris nachzeichnet. Ausgehend von drei Tönen. Ich habe es 1970 durch die Kuijken-Brüder und Gustav Leonhardt kennengelernt: hier. Drei Glocken – wie in Solingen-Wald. Nein, da gibts noch eine vierte, lese ich … siehe unten.

  La Sonnerie du Wald?

Von den Lebenden und den Toten

Es ist Ewigkeitssonntag. Wir Lebenden verweilen nach dem Konzert im Eingangsbereich der Kirche, die uns mit zauberhaften Klängen versorgt hat, und studieren, was sie uns mit Hilfe von Inschriften und Sinnsprüchen darüber hinaus auf den Heimweg mitgeben kann. Es geht offenbar um die Toten des I. Weltkriegs, deren Namen dort in Stein aufgelistet sind. Dazu heißt es:

Habt nicht umsonst gestritten, habt nicht umsonst gelitten, wir wollen eure Erben sein.

Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde! Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande!

Was soll uns das sagen?! Die letzten zwei Sätze habe ich identifiziert, sie stammen aus  Johannes 15:13 und Psalm 101:6 . Frommer Herkunft also, aber wollen wir das so in den Mund gelegt bekommen? Angesichts der Millionen Kriegstoten? Waren das die „Treuen im Lande“ ? Kanonenfutter!

Noch deutlicher der erste Spruch. Wer hat das gedichtet? Google entdeckt ihn an anderer Stelle in folgendem Zusammenhang:

Häufig wurden an den alten Denkmälern einfach nur zusätzliche Inschriften für den Zweiten Weltkrieg angebracht. Diese Inschriften sind oft sehr fragwürdig. Ein Beispiel aus Duisburg Rumeln. Man sieht einen aufrecht knienden, nackten, toten Soldaten mit Stahlhelm, der eine nackte Frau tröstet. Darunter eine Inschrift mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg:

„Nicht umsonst habt ihr gestritten. / Nicht umsonst habt ihr gelitten. / Eure Erben wolln wir sein. / Erben Eures Herzens Brennen / für das Grösste, was wir kennen: / Deutsches Volk und Vaterland.“

Durch eine große Tafel im Hintergrund wurde nach 1945 ergänzt:

„Den Toten / die da litten / und starben / im Glauben an / eine bessere / Zukunft / 1939-1945“

Den Text des ganzen Liedes aber, aus dem die Zeilen stammen, findet man tatsächlich hier, rausgetrennt im Screenshot:

Nichts mehr davon! Doch eine andere Notiz könnte uns weiter beschäftigen: die Töne der Walder Sonnerie. „Luther“, „Hindenburg“, „Bismarck“, – doch wer ist „Klarenbach“ ? Nochmal:

Rüstungszwecke? II.Weltkrieg? 1940? Wer erblickte das Licht der Welt, hörte den Klang der Welt? Ich möchte mich grundlegend mit der Geschichte und Verbreitung von Glocken beschäftigen. Schon in den 80er Jahren habe ich damit in der Schweiz begonnen, Kirchenglocken im Engadin (das große Es-dur der Dorfkirche in Ftan!), die Kuhglocken auf den Almen, die klingelnd heimkehrende Ziegenherde mit dem kleinwüchsigen Hirten. Es klang wie die hämmernden Nibelungen bei Wagner. Ich besaß von Alain Corbin „Die Sprache der Glocken“; es betraf die „Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts“. Aber eine Weltgeschichte der Glocke???

Nichts leichter als das, seit es Wikipedia gibt. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, gründlich sein wollen: haben Sie gerade einzwei Stunden Zeit?

Die Glocke bei Wikipedia HIER

Eine Kostprobe:

Stichwort: Robin Marti aus Hergiswil „Kirchenglocken“ Schweiz / meine „persönlichen“ Stichworte: Freude… Lachen… Tölzer Knabenchor Collegium aureum MAGNIFICAT :

Das JSB-Magnificat haben wir wohl 1972 in der Pfarrkirche Lenggries aufgenommen. Aufgeführt am 21.10.72 im Kloster Einsiedeln in der Schweiz (nebst der Kantate 110 „Unser Mund sei voll Lachens“). Siehe HIER.

Aus der Klosterkirche Einsiedeln ein halbstündiges Vespergeläute (mit schönen Bildansichten):

Aus derselben Kirche ein volles Sonntagsgeläut, mit nacheinander einsetzenden Glocken:

Zum krönenden Abschluss: „La Sonnerie de Sainte-Geneviève du Monte de Paris“ MIT NOTEN HIER (oder Ansehen auf YouTube siehe unten) Ausführende:  Jordi Savall (viola da gamba) Fabio Biondi (violin) Pierre Hantaï (harpsichord & positive organ). – Warten auf Takt 170 / 4:15 = Sehen und Hören… hören… hören…

Nachklänge zum Ewigkeitssonntag: Whatsapp 27.11.23 an Kathi, die in Umeå Physik studiert  Punktuelle Defekte der Raumzeitstruktur?

(Quelle: SZ & privat)

The Queen’s Piper

… eine Frage zur Intonation

Die Queen hat mich schon bewegt, als ich erste kompositorische Gehversuche unternahm und zugleich auf der letzten Seite eines Tagebuchs alles notierte, was ich im Jahr 1953 irgendwie global bemerkenswert fand. Mount Everest, o.k., aber – Berija gestürzt? Den Namen musste ich jetzt nachschlagen. Weltbewegend: Erster Schnee in Bielefeld: 19.12.53, auch das ist für immer festgehalten…

2. Juni 53, jetzt sah ich im Fernsehen das Foto wieder, das sich mir damals eingeprägt hat. Und nahher las ich in der ZEIT:

DIE ZEIT 22.9.22 Seite 52 Vom Diesseits ins Jenseits Der Abschied von Queen Elizabeth II war mehr als ein Event: Großes Trostritual und Inszenierung von Ewigkeit.

Es war im Urlaub, als der Fernsehapparat lief, ja, und ich habe beim Lesen auch aufgeschaut, als diese ergreifende Melodie erklang, ich sah die Menschenmenge und dachte: Stört denn niemanden die fremde Klangfarbe, die abweichende Tonfolge, wird hier nicht die Frage gestellt, die ich so oft gehört habe, wenn es z.B. um arabische Musik ging, hältst Du das aus, das ist doch „schief“. Vielleicht glaubt man hier, wenn es eindeutig um Trauer geht, das muss so sein!? Und jetzt frage ich mich auch: wie erklärt man diese Intonation? In der Kirche! Doch nicht mit der Naturtonreihe, wenn selbst die Oktave des Grundtons und die Quint „abweichen“! Bloß keine taktlose Bemerkung jetzt!

Ich muss nicht über meine Gefühle reden. Es beginnt mich ernsthaft zu interessieren. Ich sollte der Frage nachgehen, sobald ich Zeit und Ruhe dafür habe.

Die oben angedeutete Fragwürdigkeit der Intonation hat gewiss einen guten Grund, und tatsächlich findet die Diskussion zum ersten Mal statt. Die folgende z.B. stammt aus 2013 und ist hier – wie andere interessante Themen – im Original nachzulesen. Ober-Titel: Why are bagpipes out of tune?

  

Des weiteren suche ich Rat in folgendem Artikel:

The Pitch and Scale of the Great Highland Bagpipe

https://publish.uwo.ca/~emacphe3/pipes/acoustics/pipescale.html HIER

Auf diesen Wegen, die noch genauer zu analysieren wäre, fand ich auch die beiden folgenden Beispiele:

Und noch einmal zum Abschied von der Queen:

Nachtrag 7. Januar 2023 Ich hatte nicht gedacht, dass ich noch einmal auf dieses Thema zurückkommen würde, da bringt die Post das neue Heft von Musik & Ästhetik, darin die fesselnde Kolumne von Christiane Tewinkel, die das Thema – als Beethoventhema –  von einer anderen Seite aufrollt. Gehen Sie im folgenden Ausschnitt auf 13:10 und hören Sie (sagen wir bis 16:50). Kennen Sie das Stück? Hätten Sie es damals im Gesamtablauf beachtet?

Die Vorlage:

in Beethovens Klaviersonate op.26

Ist das legitim als Prozessionsmusik? Warum nicht??? Es ist historisch abgesichert. Beethoven selbst hat den Anfang gemacht… Christine Tewinkel erwähnt aber auch die berühmte Melodie „Sleep, dearie, sleep“. Leicht zu lernen? Ist es als Melodie überhaupt ernstzunehmen. Versuchen Sie nur, die Töne wiedererkennen: hier.

Quelle Christiane Tewinkel: Bierzelt und Beisetzung (Kolumne) / in: Musik & Ästhetik 1/2023 S.72-73

Wo steckt denn die „romantische Sehnsucht“? Könnte es nicht auch jede andere Pipe-Tonreihe sein? Ganz anders als im Fall der Beethovenschen Marcia:

Quelle Peter Andraschke: Klaviersonate op.26 / in: Beethoven Interpretationen seiner Werke / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer /

Aber dies ist erst der Anfang des Nachdenkens. Wenn man zum Beispiel reflektiert, dass der Satz schon in Beethovens Sonate dem Interpreten unlösbare (ästhetische) Probleme stellt, die im öffentlichen Raum – flapsig ausgedrückt – wie weggeblasen sind. Die öffentliche Trauer wird auf zahllose Schultern verteilt und im Schritttempo rituell bewältigt…

Corona & Neue Musik

HIER (Zur häuslichen Isolierung)

Aktuelles zum KlangForum Heidelberg: HIER

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Web https://klangforum-heidelberg.de/ Hier

Vorab ein Hinweis: Der elektroakustischen Klänge wegen empfiehlt sich die Nutzung von Kopfhörern.

„Splendid Isolation?“ besteht aus einer persönlichen und einer statistischen Ebene. Zunächst schilderten im April 2020 vier Mitglieder des ensemble aisthesis in kurzen Handy-Videos, wie sie denjenigen Lockdown erleben, von dem wir nun wissen, dass er nur der erste war. Einzelne Sätze daraus, analysiert nach Sprachmelodie und -rhythmus, bilden die Grundlage von vier Vokalsoli. Diese wurden von Mitgliedern der Schola Heidelberg zuhause geprobt und ebenfalls per Mobiltelefon aufgenommen.

Die zweite Ebene besteht aus Statistiken zur Corona-Epidemie, abgerufen von ourworldindata.org, sowie den Kursverläufen wichtiger Wirtschafts-Indizes. Vertont durch ein vierstimmiges analoges Modularsystem, rücken sie den zeitgeschichtlichen Hintergrund der gesprochenen Texte ins Bewusstsein.

Mitwirkende:
Jörg Deutschewitz
Matthias Horn
Barbara Ostertag
Kirstin Maria Pientka
J. Marc Reichow
Svea Schildknecht
Nikolaus Schlierf
Peter Sigl

Idee, Komposition und Schnitt:

Ekkehard Windrich

Gesungene Texte:

Peter Sigl: Homeoffice ist Scheiße. Beim Kochen denke ich die noch unfertige Arbeit zuende und beim Arbeiten überlege ich das Kochrezept für den Abend.

J. Marc Reichow: Wieder waldwandernd, Ostbayern oder Böhmerwald, weiche Wege unter Kiefern. Ich will oder soll Waldstücke ordnen, als wären es große Stücke Moos. Allein weiß ich nicht für wen. Ich suche das auch damals leere Ausflugslokal, Pilsner war sehr günstig.

Nikolaus Schlierf: Draußen schreit der Frühling, die Natur explodiert. Die Welt im Stillstand, Shutdown, entschleunigt.

Kirstin Maria Pientka: Es war gar nicht so schwer, nichts zu essen und es war ein erfüllendes Moment, Tage zu haben, in denen es um nichts ging, in denen ich eigentlich nichts denken musste, nichts tun musste und bei mir sein durfte.

Musik als Universalie

Vorüberlegungen (improvisiert)

[Dieser Text ist – zunächst – nicht zu ernst zu nehmen: er soll mich vor allem verleiten, den Faden gedanklich weiterzuspinnen, bis er etwas Plausibles zum Gegenstand aussagt. Er begann beim Widerspruch zu dem ZEIT-Artikel, der weiter unten angegeben ist.]

Man könnte sagen, sobald wir verallgemeinern, beginnen wir zu lügen. Wir lösen die Unterschiede auf, damit die Dinge vergleichbar werden. Das gelingt umso leichter, je weniger dinghaft sie sind. Wenn wir zum Beispiel nicht Wörter vergleichen, sondern deren Bedeutungen. Wenn ich eine starke Erfahrung beim Musikhören mache, beginnt der Fehler damit, dass ich sage: Musik ist das Größte für mich. Entscheidend ist doch, welche Musik ich höre. Ich muss es dazusagen: war es eine Trompetenfanfare oder ein Schlaflied? Wenn ich einen Menschen kennenlerne und wir entdecken, dass wir beide uns für Musik interessieren, kann ein Gespräch über Musik schnell zu der Erkenntnis führen, dass uns Welten trennen. „Über Musik“ bringt gar nichts, es ist ein Abstraktum, zu klären ist: welche? Und das Problem ist sehr einfach, wenn wir bei der konkreten Sache bleiben. Man muss bei der konkreten Sache ansetzen (und bei Bedarf abstrahieren können, z.B. vom eigenen Musikgeschmack). Niemand der von einem Veilchen entzückt ist, wird als seelenverwandt empfinden, wenn ich einwende, dass mich Eichenwälder begeistern. Schon der Volksmund weiß: man soll Birnen und Äpfel nicht miteinander vergleichen.

Ich habe gedacht, diese Fragen seien allmählich geklärt, da entnehme ich der Wochenzeitung DIE ZEIT, die doch so vieles weiß, dass im Reich der Musik immer wieder alles von vorn beginnt. Musik ist NICHT die Sprache, die jeder Mensch versteht. Sie ist ihm so fremd wie der Tonfall jeder beliebigen Sprache, die er nicht versteht, etwa einer afrikanischen Klicksprache, wie auch die begleitende Mimik und Gestik, obwohl die Vergleichbarkeit im physischen Bereich offensichtlich ist, Gesichter, Arme, Beine. Nur im Sport scheint alles vergleichbar und messbar, weil die Leistungen auf Vergleichbarkeit getrimmt sind. Selbst die Wissenschaften, die sich professionell mit den Unterschieden befassen, erwecken leicht den Eindruck, dass die Verbindungen auf der Hand liegen. Etwa wenn von der Liebe geredet wird. Es ist wie mit dem halb vollen Glas Wasser, das man auch als halb leer betrachten kann.

Diskussion 2009

Universalien der Musikwahrnehmung?

Der Reihe nach Dieser ZEIT-Text besteht aus acht Kapiteln:

1 Steinzeit / Fazit: „dass ausgerechnet sie [die Steinzeitmenschen] sich die Zeit zum Musizieren nahmen, ist von existenziellem Wert, es hat der Spezies Homo sapiens einen unschlagbaren Vorteil verschafft und ihr, so vermuten einige Wissenschaftler, vielleicht sogar das Überleben gesichert. Es hat ihr ein Bindemittel geschenkt, das sie bis heute zusammenhält.“

Kritik: das Wort Musizieren führt irre. Bindemittel ist angemessener. Es könnte lebensnorwendig gewesen sein, muss aber nicht Vergnügen bereitet haben.

2 der Chorsänger H.R. / „die Lieder sind ihm über die Jahre zu treuen Gefährten geworden. Und der Chor bietet ihm mehr als Geselligkeit, mehr als ein Skatclub oder ein Kegelverein.“

3 Musik in der Pandemie, im Krieg oder angesichts anderer Katastrophen / „Sie spielten Tuba und Cello, trommelten auf Pfannen und Töpfen – ein Volk, das sich nicht mehr umarmen durfte, fand in der Musik Zusammenhalt.“ „Zwei verfeindete Truppen[stimmten ein Weihnachtslied an], ein und dieselbe Melodie.“ Gemeinsame Musik – nach Eckart Altenmüller – wirkt über den „Nucleus accumbens“  – Belohnungssystem – Dopamin – einige bekommen Gänsehaut, die evolutionsbiologische Funktion der Musik, sagt E.Altenmüller:  „die unentwegte Schulung der Fähigkeit, soziale Laute zu erkennen, sie richtig zu deuten und abzuspeichern. ‚Musik ist die Spielwiese, auf der wir all das üben.‘ Weil Dopamin die Verschaltung der Synapsen fördert, ist der Lernerfolg besonders groß – und eine Erinnerung, die an Musik gekoppel ist, besonders lange abrufbar.“ Gemeinschaft.  Die komplexe Arbeitsteilung verschaffte dem modernen Menschen einen evolutionären Vorteil – und stellte ihn vor ein Problem: Je größer die Gruppe, desto schwieriger wurde es, Konflikte einzuhegen. Damit die Gemeinschaft nicht auseinanderfiel, brauchte es etwas, das über die Sprache hinaus Identität und Verbundenheit schuf.  Dieses Etwas (… ) war die Kultur. Kunst, Religion – und Musik. (…) Musik als kollektive Selbstvergewisserung.“

4 In der Pandemie werden Interpreten weltweit zusammengeschaltet, um in einer Aufführung der Bachschen H-moll-Messe zu kooperieren. „Sie singen, flöten, geigen mit und filmen sich dabei. Die Videos werden einige Monate später zusammengefügt und auf dem Leipziger Marktplatz gezeigt.“

5 Bach im Weltraum: „ein beinahe universeller Komponist“, Datenplatte in Raumschiff Voyager 1. 1977. Eine „Botschaft an mögliche außerirdische Zivilisationen“. Sie dient „noch immer als Symbol für die alles transszendierende, ätherische Kraft der Musik.“ Fragwürdig! – Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann sucht „herauszufinden, ob es so etwas wie eine universelle Musiksprache [auf der Erde!] tatsächlich gibt.“ Bach und die weltweiten Unternehmungen? „All das „habe nicht nur mit der Macht der Musik zu tun – sondern vor allem mit der Macht derer, die den Kanon der europäischen Musikkultur in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet haben.“ Frühe musikethnologische Sammlungen in Berlin. Beispiel: Aufnahmen von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg. Das Koreanische Lied Arirang. Heute verwestlicht, in Dur verpackt. „Das ist ein bisschen exotische Oberfläche, aber darunter liegt das westliche Tonsystem.“ – „Die abendländische Musikkultur hat sich, spätestens seit dem Aufkommen moderner Tonträger und dem Boom der westlichen Musikindustrie weltweit breitgemacht.“

Kritik: Man sollte es nicht verallgemeinern, –  Arirang erscheint immer noch in verschiedensten Versionen, auch traditionellen. Siehe das folgende Video. – In Südindien z.B. sucht man Produkte der westlichen Popkultur vergebens, die eigene Klassik steht weiterhin hoch im Kurs. Die Überlagerungen sind viel komplizierter.

6 Im Westen gibt neue Versuche der kulturellen Begegnungen: ein Beispiel (unter vielen!) wird hier herausgegriffen: der Schlagzeuger Ketan Bhatti und sein Orchester, 15 Musiker und Musikerinnen aus sieben Ländern. „Sie nutzen traditionelle Spieltechniken ihrer Heimat, bedienen sich aus Jazz, Zwölfton- und serieller Musik. Sie improvisieren, suchen, finden und verlieren sich, ein babylonische Sprachverwirrung auf musikalischem Spitzenniveau. „Die universelle Sprache der Musik, in der Welt von Ketan Bhatti gibt es sie. Aber sie ist eine, die man gemeinsam erschaffen muss.“

Kritik: dieser Versuch wird herausgegriffen und wahrscheinlich überbewertet. Es gibt andere, die überzeugender sind, aber eben auch nur Einzelfälle. Siehe z.B. in diesem Blog hier, Stichwort „Identigration“.

7 „Tanzen ist etwas, das es in allen Kulturen gibt.“ Hier fehlt eine Differenzierung: die Möglichkeit, dass Tanzen in einem anderen Areal als die Musikalität beheimatet ist (z.B. vom Gehen/Wandern abgeleitet ist, während die Musikalität von Mund/Atmen/Sprechton). Es wird behauptet: „Und auch bei Tieren. Kakadus, Schimpansen, Seelöwen, sie alle haben in Experimenten ein zumindest rudimentär ausgeprägtes Taktgefühl bewiesen. Einige sind sogar in der Lage, ihre Gesänge in wiederkehrende Strukturen zu gliedern.“ Hat eine Wiederkehr von Strukturen zwingend mit „Taktgefühl“ zu tun, also mit einer regelmäßigen Folge oder wird das hier bewusst verundeutlicht?

8 Wiegenlieder als Archetyp der musikalischen Kommunikation – „Eine Urform der Musik, die sagen soll: Du bist nicht allein.“

Kritik: Effektvoller Abschluss des Dossiers, aber nicht von grundsätzlicher Aussagekraft

(Fortsetzung an dieser Stelle, folgt)

Siehe auch HIER (Wikipedia)

Die am Ende des Wiki-Artikels gesprochene Textfassung unterscheidet sich im Wortlaut von der gedruckten , und zwar folgendermaßen:

Die Universalien der Musikwahrnehmung sind die Elemente der Musikwahrnehmung und -verarbeitung, die als angeboren, d.h. kulturunabhängig betrachtet werden.

Vielfach begegnet uns die Ansicht, Musik sei eine universale Sprache. Dies impliziert die Annahme, dass Musik universale Merkmale besitzt, also Merkmale, die nahezu allen musikalischen Systemen auf der Welt gemeinsam sind und dass es universale mentale Strukturen für die Verarbeitung von Musik gibt. Von einem universalen Merkmal spricht man, wenn das Merkmal nicht gelernt wird, sondern spontan erscheint, latent in allen normalen Personen vorhanden ist oder angeboren ist.

Hinsichtlich der Unterscheidung angeborener oder universaler Prozesse von erworbenen, ist die Überlegung hilfreich, dass Prozesse, die schon bei der Geburt funktionieren, sehr wahrscheinlich angeboren und damit unabhängig von Erfahrung sind. Infolgedessen könnte man aus Vergleichen von Säuglingen und Erwachsenen oder von Personen aus verschiedenen Musikkulturen schließen, dass der Prozess vermutlich angeboren ist, wenn diese die gleichen Funktionsweisen zeigen, und dass bei Unterschieden zwischen den Populationen der Prozess durch Enkulturation erworben sein könnte. Aus dieser Perspektive ist Musik keine universale Sprache, sondern die Universalien der Musikwahrnehmung und -verarbeitung umschreiben vielmehr die Grenzen, innerhalb deren die Merkmale der Musik zwischen verschiedenen Kulturen variieren.

(Fortsetzung folgt)

Vom Geheimnis des Flötenklangs

Ein fabelhaftes Buch über das Material der Musik

Erinnerungen, Essays, Dokumente, Werkstattgeheimnisse, eine Welt hinter der Musik tut sich auf, ein Lebenswerk mit allen Materialien, eine magische Werkstatt und eine faszinierende Persönlichkeit, die jedes der 1000 Holz- oder Metallteile, die um ihn wahllos herumgestreut scheinen, kennt, als gehörten sie zum eigenen Körper. Nichts könnte das besser veranschaulichen als die beigefügte DVD, auf der wir Rudolf Tutz und immer wieder den mit ihm befreundeten Meisterflötisten Barthold Kuijken in Aktion erleben. Die Flöte als Mittelpunkt einer Welt, die Klang werden will. Buchsbaumäste, Holzblasinstrumente, hartnäckige, feinfühlige Arbeitshände, zauberische, unfassbare Töne im Raum. Innsbruck! Wer klassische Musik liebt, wird viel Zeit mit diesem Buch verbringen. Und wer sich vielleicht nur mit Streichinstrumenten (Stradivari!), Klavieren (Steinway!) und einer CD-Sammlung auskennt, wird den Horizont auf unerhörte Weise erweitern. Der Film ist ein Denkmal großer Handwerkskunst und selbst ein Meisterwerk.

Das Buch: die Beiträge

Aus Barthold Kuijkens Beitrag: Die Anfänge 1972, Harmonia Mundi, das Collegium Aureum und Dr. Alfred Krings, ein Name, der untrennbar zur Geschichte der „historischen Aufführungspraxis“ gehört.

Screenshots aus dem Film: die Freunde bei der Arbeit

Mit Jann Engel Max Engel u.a.

Natürlich auch direkt beim Verlag: HIER

Ich habe jetzt erst entdeckt, – der Film ist im Internet abrufbar! Bitte:

(Fortsetzung folgt)

Der Klang der Wälder und Landschaften

Hören lernen

https://www.tree.fm/forest/3 HIER

https://timberfestival.org.uk/soundsoftheforest-soundmap/ HIER

(nach Informationen aus der Süddeutschen Zeitung heute, 8.5.21, S.16 / Autor: Bernd Graff)

Fotos: Screenshots aus dem angegebenen Link s.o. „tree / forest“

Was Sie beim zweiten Link s.o. „timberfestival“ erwartet (Beispiel):

Standorte in der Welt

ZITAT

We are collecting the sounds of woodlands and forests from all around the world, creating a beautiful soundmap bringing together aural tones and textures from the world’s woodlands.

We invite you to visit your local forest or woodland, and record for us one minute of the sounds that you hear. If you already have existing recordings of forests then we’d love to hear those too.

At the start of July 2020, on the weekend we would have been at Timber Festival, we released a soundmap of forests everywhere, listening and imagining ourselves in the heart of the National Forest with you.

The sounds form an open source library, to be used by anyone to listen to and create from. Selected artists are responding to the sounds that you gather, creating music, audio, artwork or something else incredible, to be presented at Timber 2021.

So visit a woodland, recharge under the canopy and record your sounds of the forest.

Quelle (noch einmal) hier

FAUST

Damals

Ich denke oft an das Haus zurück, das meine Eltern mit uns Mitte der 50er Jahre hoch über Bielefeld bezogen, d.h. man überblickte die halbe Stadt und hatte vom Garten aus nur 50 Schritte bis zur Promenade, einem breiten, asphaltierten Kammweg, der bis zur Sparrenburg führte. Ich befand mich, ohne es benennen zu können, in der Pubertät, meine Mutter sprach von „Flegeljahren“, die angeblich ausblieben, dabei war ich zumindest gedanklich auf Höhenflüge eingestimmt, die Nachtigall sang gleich hinterm Gartenzaun und aus der Ferne kamen entsprechende Antworten. Der Eingangsbereich unseres Holzhauses war ein gemauerter Keller mit Heizungsraum, wo ich oft neben dem Kohlenverschlag Geige übte, außerdem gab es ein Klo, einen Abstellraum mit Putzgerät, eine Treppe nach oben und einen großen Keller, in dem ein Apfelregal stand, das den Duft der gehorteten Früchte verbreitete, ein großer alter Esstisch, meist mit Werkzeugen bedeckt, außerdem eine Schubkarre und verschiedene Fahrräder. Und eines Tages entdeckten die Freunde meines älteren Bruders diesen Raum als idealen Ort für Zusammenkünfte, besonders wenn man oben im Garten gefeiert hatte, vielleicht noch den Abschied hinauszögerte, ein paar Getränke aus dem oberen Wohnbereich beschaffte. Und genau dort unten entstand von einem bestimmten Abend an ein unglaubliches Zentrum, das eine neue Welt zu eröffnen schien. Vielleicht real nur zwei, drei Sommerwochen lang. Einer von den Freunden hatte ein riesiges Tonbandgerät mitgebracht, Grundig, kaum zu glauben, dass der schlaksige Junge es  von der Straßenbahnhaltestelle aus den Berg herauf geschleppt hatte. Auch Mikrophone dabei, so konnte man sich selbst beim Feiern aufnehmen und sogleich wieder abhören. Sie improvisierten kleine Szenen, es gab viel Gelächter. Und eines Tages hatte dieser Freund namens Lönnendonker etwas vorbereitet, nämlich einige Langspielplatten überspielt, Musik, sie hatten eine Band gegründet, „The Skyliners“, und erste Versuche festgehalten. Aber da gab es auch eine Aufnahme, die mehrere Spulen füllte und merkwürdigerweise uns alle in den Bann zog, vielleicht bei den Älteren dank einer nachhelfenden Schullektüre. Aber ohne die hysterische Fieslingsstimme des Mephistopheles wäre der magnetisierende Effekt wohl nicht eingetreten: es war Goethes Faust in der Gründgens-Inszenierung. Vielleicht 1957? (Der Film kam erst 1960 heraus. Es muss diese Aufnahme gewesen sein: 3 LP Box-Set mit 36-seitigem Begleitbuch (mit Texten). Die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses aus dem Jahre 1957. Mit Paul Hartmann (Faust), Gustaf Gründgens (Mephisto), Käthe Gold (Margarete), Elisabeth Flickenschildt (Marthe Schwerdtlein), Ullrich Haupt und anderen. Ich glaube, das Gerät verblieb wegen seines Gewichtes einige Tage dort bei uns im Keller, und auch ich durfte es offenbar bedienen, hörte stundenlang, konnte immer längere Passagen auswendig, die andern ebenso, und die etwas spröde Musik von Mark Lothar befremdete uns zuerst, ergriff uns schließlich genau so wie das strenge Pathos der Schauspieler. Selbst der Prolog im Himmel, den wir immer übersprungen hatten, begeisterte uns, weil die Stimme des Bösen so furchtlos und zynisch mit dem Herrn des Weltalls rechtete und räsonnierte. Unvergesslich die Szene mit den rettenden Chören: „Was sucht ihr mächtig und gelind, ihr Himmelstöne mich im Staube, klingt dort umher, wo schwache Menschen sind, die Botschaft hör ich wohl, allein: mir fehlt der Glaube!“ Das war der  packende Monolog für mich, den Nietzsche-Leser, unbeschreiblich all dies, und wenn ich durch die Wälder lief, um mich sportlich stark zu machen, waren es diese recht physisch verstandenen Übermensch-Ideen, die mich umtrieben.

Szene III

Szene II

Szene I

Was konnte man damals wissen über die Entstehung des Textes? Eine vollständige Werkausgabe hatte sich schon meine Mutter besorgt („zeitlos“ wie manche Möbel, vielleicht ähnlich motiviert wie – nach dem ersten Gehalt – das Bild der Sixtinischen Madonna, das dann lebenslang über ihrem Bett hing): 20bändig herausgegeben von Theodor Friedrich 1922, Eintragungen aus ihrer Schulzeit (Abitur 1931), Unterstreichungen von meinem Bruder und mir. Im Anhang des dritten Bandes („Faust“) die folgende Chronik:

Und die Lesespuren im Text, die meiner Mutter (beflissen) und rechts – zum Gefühl – die meines Bruders (provokativ), auf der nächsten Seite die allerletzte Unterstreichung im ganzen Faust-Band: „Auch, wenn er da ist, könnt‘ ich nimmer beten“. Von wem wohl?

Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass damals alles literaturwissenschaftliche Zubehör nicht interessant war am „Faust“. In der Gymnasial-Oberstufe gab es bei uns eine Theater-AG, der ich nicht angehörte; wir Altsprachler brachten allerdings die „Antigone“ des Sophokles auf die Bühne, mit dem Sprechchor, der die Aktionen kommentierte, archaisch, beeindruckend – die anderen dagegen spielten „Doktor Faustus“ von Marlowe, aus meiner Sicht enttäuschend abweichend von meinem schon anders gepolten Faust-Bild. Wie aber war es gepolt? In meiner Vorstellung spielte der Wissensdrang der Titel-Person eine große Rolle, die Loslösung vom leeren Ideal, von den Worthülsen des Guten, Schönen, Wahren, auch die Magie und die geheimnisvolle Phiole (über Jahre bis hin zu Gottfried Benns Verherrlichung des „Provozierten Lebens“). Aber entscheidend war seltsamerweise die Sexualität, die mir in Goethes Drama wilder und abgründiger erschien als irgendwo in der engen heimischen Außenwelt, die sich darüber vollständig ausschwieg, oder in den rüden Anspielungen aufgeklärterer Mitschüler. Im Drama gingen mir die gehässigen Bemerkungen über das „gefallene“ Gretchen nach, die unverstandenen Worte ihres Bruders „dass alle brave Bürgersleut / Wie von einer angesteckten Leichen / Von dir, du Metze, seitwärts weichen“, es war die von mir kaum begriffene moralische Bewertung im Verlauf der ganzen Verführungsgeschichte, die intensivsten Identifikationen mit dem Mädchen, mit dem leider nicht nur glorreich wirkenden Manne, dem störenden Teufel, der aber zwingend dazugehörte, ja, der alles aus nächster Nähe mitbetrieb. Die scheinheilige Rolle der Marthe. Gretchen, im Kerker, die sich nicht retten ließ, dem Wahnsinn verfallen. Lauter ungelöste Konflikte auch in mir, der ich alles immer wieder in der Phantasie auf eigene Wünsche und Vorstellungen hin extrapolierte, augmentierte, reduzierte, beschönigte. Der Zwang, im wirklichen Leben all diese inneren Bewegungen auf Null zu dimmen, Tarnkappenverhalten einzuüben. Außer in der Musik (Schumann, Puccini, „Tristan“). Merkwürdigerweise habe ich ab 1956 Einstein „Mein Weltbild“, Julian Huxley „Entfaltung des Lebens“ und Freud „Abriss der Psychoanalyse“ gelesen, ohne mich je um Widersprüche zu kümmern. Aufklärung um jeden Preis. Im Nachhinein – so dachte ich später – hätte ich eine Therapie gebraucht. (Nebenbei: meine Mutter auch, Goethe auch!)

Ich habe gelesen (aber wo?): wer Faust I auf die Bühne bringt und nicht die Szene 1 des Faust II dranhängt, hat den Sinn der Aufführung verfehlt…

Später (Faust zweiter Teil)

Im zweiten Teil bin ich immer steckengeblieben. Es war mir unmöglich, einen „klassischen“ Goethe anzubeten, ich war nicht selbst imstande, ihn wirklich  „umzudenken“. Die Rede vom „Wahren, Guten, Schönen“ – oder was so ähnlich klang – war mir zuwider. Auch ein Gedicht, das scheinbar so ähnlich anfing wie die Sinnsprüche meiner Oma, mochte ich nicht weiterlesen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Ich las Gedichte, ohne zu wissen warum. Aber dann war mir der Faust II in der Gründgens-Aufnahme auch wieder zu phantastisch und im Realismus zu hanebüchen, zu materialistisch. Ich habe ihn vollständig verfehlt! Hätte ich doch wenigstens in meiner neueren Goethe-Ausgabe der 60er Jahre mal das Nachwort gelesen: von Goethes Skrupeln und von Schillers Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faust-Dramas  um 1800. So arbeitet ja wohl kein „Klassiker“?  (Ja doch! gerade! „bis ans Ende“!)

Aus dem Nachwort von Hanns W. Eppelheimer (1962). Daran ist aber nun auch wieder nicht viel Verlockendes. Frischer Wind kam erst auf durch Friedenthals Biographie (1963). Heute würde ich jedem raten, mit dem Buch von Rüdiger Safranski (2013) zu beginnen, unvergleichlich differenziert, auch wenn man es nur nach Stichworten aufschlägt; man muss nicht von A-Z lesen, – obwohl man bald dahin tendieren wird. Und das Dümmste wäre, vorsätzlich darauf zu verzichten, als erübrige sich die von Safranski geleistete  Aufklärungsarbeit seit 2015. Man beginne mit der Figur des Mephistopheles! (Sobald man sich inhaltlich kursorisch vorbereitet hat, z.B. anhand von Wikipedia hier.) Ab Seite 606 etwa:

„Was den Teufel betrifft, so war in Goethes Weltbild für ihn eigentlich kein Platz. Er statuiere keine selbständige Macht des Bösen, pflegte er zu sagen, und als Kant das ‚radikal Böse‘ in seine Philosophie einführte, erklärte Goethe, nun habe der weise Mann aus Königsberg seinen Philosophenmantel beschlabbert. Für Goethe gab es keinen Teufel.“ Seite 607: „Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. [„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, etc.“] Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.

Faust II Gründgens-Hörfassung (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier):

Der Text von Melchinger hat mich aufgeweckt und ermuntert, den „Faust“ nicht aus den Augen zu lassen…

Heute

In solcher Deutung war Faust nicht mehr ein vom Dichter verherrlichtes Idol oder womöglich der Dichter selbst, der sich in seinem Helden als Prototyp des Menschen gezeichnet wissen wollte. Das war in weit entfernter Zeit einmal so gewesen, als der „Urfaust“ entworfen worden war, in der Epoche von „Wanderers Sturmlied“ und „Prometheus“. Inzwischen hatte der Dichter Distanz zwischen sich und seinen Helden gelegt. Fausts Streben wurde von ihm ausdrücklich als „widerwärtig“ bezeichnet. (Aus dem vorhergehenden Text von Siegfried Melchinger 1959)

Und während ich das folgende Buch studiere, schweife ich immer wieder ab in die anregenden Goethe-Biographien von Safranski oder noch einmal: Friedenthal, weiche nicht aus (wie früher), wenn die Fakten seines Lebens gerade den Weg in die Moderne vorzeichnen (nach der Französischen Revolution, dem Kolonialismus, dem Industrialismus, des Totalitarismus), also nicht nur Italien oder „das Land der Griechen mit der Seele suchend“… Ich hebe die entsprechenden Passagen hervor:

Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt: Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren. [S.614] Auch wenn Homunkulus ein Fabrikat Wagners ist, so gehört er doch in die Sphäre des Zusammenspiels von faustischer Metaphysik und mephistophelischer Physik. Ein anderes Beispiel ist die Erfindung des Papiergeldes, auch so eine moderne Idee, die Faust und Mephisto bei ihrer Weltbemächtigung aushecken. [S.614f] Goethe, der zeitweilig auch für die Finanzen des Herzogtums zuständig war, hatte sich anregen lassen von der finanztechnischen Revolution, welche die Band von England in Gang setzte, als sie dazu überging, die Menschen des umlaufenden Geldes nicht mehr allein auf Gold und bereits getätigte Wertschöpfungen zu gründen, sondern auf die Erwartung künftiger realer Wertschöpfung, wozu die vermehrte Zirkulation beitragen sollte. [S.616] … die innere Werkstatt der Einbildungskraft…. Die Machtergreifung des Eingebildeten kann sogar politisch geschehen, dann sprechen wir von der Herrschaft der Ideologien. Es kann aber auch vorpolitisch und alltäglich geschehen – auch hier läßt Goethe seinen Faust einiges voraussehen, was heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ›ersten‹ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imagination durchsetzten Wirklichkeit verbringt. Die Welt ist fast nur noch das, was einem vorgestellt wird. [S.617]

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag München 2013

Michael Jaeger: Goethes „Faust“ / Das Drama der Moderne / ISBN 978 3 406 76429 5 / oben Titelbild: Will Quadflieg u Gustaf Gründgens in Faust Schauspielhaus Hamburg©1960, mauritius images / unten: Inhaltsübersicht

Die beiden letzten Szenen erleben: GRABLEGUNG hier BERGSCHLUCHTEN hier

Wichtiger Lese-Hinweis: den guten Wikipedia-Artikel zu Faust II nicht nur überfliegen, sondern inhaltlich Satz für Satz begreifen, mindestens – sagen wir – 1 Stunde lang verinnerlichen, inklusive aller Links – etwa zu mythologisch befrachteten Namen. (Es geht z.B. nicht ohne die Antike!) Leichter als heute war der Zugang nie in unserm ganzen Leben. Aber das Internet ist kein Ruhekissen. Schwierigste Voraussetzung in diesem Fall: keine Kundenmentalität, keine vorgefasste Meinung, was ein Goethe zu liefern hat.

Ein Beispiel der typischen Schwierigkeiten: Faust Zweiter Teil „Weitläufiger Saal“

Worum gehts? Man muss die szenischen Anweisungen genau lesen, z.B. Weitläufiger Saal  mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz. Direkt vorher heißt es (der Kaiser spricht): So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan! / Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an, Indessen feiern wir, auf jeden Fall, / Nur lustiger das wilde Karneval. (Trompeten. Exeunt.) MEPHISTOPHELES. Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein. (Dann, im weitläufigen Saal, beginnt der HEROLD:)

Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen / Von Teufels-, Narren- und Totentänzen! Ein heitres Fest erwartet euch. / Der Herr auf seinen Römerzügen, / Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen, / Die hohen Alpen überstiegen, Gewonnen sich ein heitres Reich.

(Er wurde dort gekrönt, hat sich die Krone geholt, und da:) Hat er uns auch die Kappe mitgebracht.  Nun sind wir alle neugeboren. Die Narrenkappe!  Es bleibt doch endlich nach wie vor / mit ihren hunderttausend Possen / Die Welt ein einzig-großer Tor.

Die Welt der Narren also wird uns im Folgenden präsentiert, in sorgsam ausgewählten Gestalten und Symbolen.

Nach 75 Seiten beginnt die neue Szene LUSTGARTEN mit folgenden, an den Kaiser gerichteten Worten FAUSTs: Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel? Und der KAISER zum Aufstehn winkend (denn F. & M. haben gekniet), sagt: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. – (und er repetiert:) Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre: Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre. (und er beschreibt, was er gesehen hat, – auch für uns, damit wir es einordnen.)

Michael Jäger schreibt im Seitenblick auf dieses Kanevalsgeschehen: – „während zur  selben Zeit die gesamte Gesellschaft dem allgemeinen Ablenkungstrubel des Mummenschanz erlegen war.“

Die gesamte Gesellschaft also (mit Herold = Ansager) im Karneval, nämlich: GÄRTNERINNEN – OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN – ÄHRENKRANZ – PHANTASIEKRANZ – ROSENKNOSPEN – MUTTER (und Tochter) – HOLZHAUER – PULCINELLE – PARASITEN – TRUNKNER – SATIRIKER – DIE GRAZIEN AGLAIA, HEGEMONE, EUPHROSYNE – DIE PARZEN ATRIPOS, KLOTHO, LACHESIS – DIE FURIEN  ALEKTO, MEGÄRA, TISIPHONE – FURCHT – HOFFNUNG – KLUGHEIT – ZOILO-THERSITESKNABE WAGENLENKER (Begleiter des Plutus) – WEIBERGEKLATSCH – DER ABGEMAGERTE – HAUPTWEIB – WEIBER IN MASSE – PLUTUS – SATYR – GNOMEN – DEPUTATION DER GNOMEN AN DEN GROSSEN PAN

In dem oben gegebenen LINK der Gründgens-Aufnahme findet man alldies auf ein Minimum gekürzt: Sie erinnern sich? (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier), darin –

  auf Filmteil 12:36 anklicken

„Denn wir sind Allegorien“

Tipp: Man gehe dem Link zu „Knabe Wagenlenker“ weiter nach und lese die Diplomarbeit von Susanne Fuchs (Wien 2009). Da hat man den Schlüssel zur ganzen „Mummenschanz“-Szene…

*     *     *

Weiteres ZITAT aus Michael Jaeger „Goethes Faust“:

In der den zweiten Akt abschließenden Szene Felsbuchten des Aegäischen Meers ereignet sich dann im Gewande der antiken Mythologie die Lebensentstehung als die «Vermählung» des Homunkulus «mit dem Ozean», dargestellt als dessen Vereinigung mit der göttlichen Nymphe Galatee. Auf den Wellen kommt diese Meerestochter venusgleich als «lieblichste Herrin» (8378) auf einer großen, von Delphinen gezogenen Muschel angefahren. Es umkreisen Galatees Wassergefährt die Doriden und Nereiden, auf Delphinen, Seepferdchen und Meereskentauren reitend. Die Sirenen blicken auf die Ägäis und kündigen die unmittelbar bevorstehende «Muschelfahrt» Galatees an: „Leicht bewegt, in mäßiger Eile …[etc]“

Raffael (Wikimedia hier)

Oben: eine für mich höchst motivierende Schlüsselstelle (betr. 1987), jetzt zur Klassischen Walpurgisnacht. Der entsprechende  Text hier in der Gesamtausgabe meiner Mutter:

Über meine soeben bezeichnete „Schlüsselstelle“ hinausgehend, wird mir ab Seite 108 in Jaegers Werk völlig klar, dass der „Schock“, den ich für mich auf 1987 datiert habe, genau dem entspricht, den Goethe selbst in seiner Zeit erlebte und mit dem er sich vor und nach 1830 auseinandersetzte. Kapitel Système Industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus. Siehe dazu hier und hier (Saint-Simon). Entsprechend Jaeger, Seite 109:

Mit dem allergrößten Unbehagen las Goethe jene Pariser Manifeste, in denen eine technisch-industrieller Umbau von Natur und Gesellschaft angekündigt wurde. Dabei trat ihm die komplette Unzeitgenäßheit seines eigenen Wissenschaftsprinzips der Naturkontemplation vor Augen, wurde doch das neue Universalsystem von Saint-Simon gleichsam als Anwendung von Newtons physikalischem Weltbild auf die Gesellschaft konzipiert. Saint-Simon selbst gewann unter seinen Anhängern die Statur eines neuen »Newton der Geschichte«. Die Verzweiflung Goethes angesichts solcher vermeintlich naturwissenschaftlicher Sozial-, Wirtschafts- und Weltpläne, durch eine an Newtons Physik angelehnte »Physico-politique« die »Genesis zu überbieten« und das »irdische Paradies« herzustellen, muss grenzenlos gewesen sein […].

Und Rüdiger Safranski zum gleichen Thema :

Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er seinerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichleit eines kanals bei Suez und über die Verbindung von Rhein und Donau. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, sagte er, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch fünfzig Jahre auszuhalten. Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerisxcher Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß an der Spitze dieser Sekte offenbar sehr gescheite Leute stünden.

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Carl Hanser Verlag München 2013 (Seite 621)

Hier die letzten Seiten der Arbeit von Michael Jaeger: Goethes »FAUST« Das Drama der Moderne / C.H.Beck München 2021

Das hier zuletzt beschriebene „wahre Wunderwerk der Faustphilologie“ ist tatsächlich als Online-Ausgabe aufzufinden und steht zum geduldigen Studium bereit:

HIER

Ich habe sozusagen ausgesorgt bis an mein Lebensende.

*    *    *

Gründgens Faust II 3.Akt, Szene 2.2 hier  ab 16:25 Helena „…der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.“ FAUST „Erst knieend laß die treue Widmung dir / Gefallen, hohe Frau!“…

Zum Verständnis dieses Anfangs: es geht um den Ton der Rede, die „Sprechart unsrer Völker“, – die Griechin Helena kennt den Reim noch nicht. Zitat aus dem Kommentar (Schöne S.612): „Eine altpersische Legende erzählte von der Entstehung der ersten Endreime beim Liebesdialog des Sassanidenherrschers Behramgur und seiner Sklavin Dilaram (…). Hier wird dieser Vorgang in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.“ Siehe hier Stichwort „Behramgur“. Der Chor danach stimmt „den Hymenaeus an: das antike Vermählungslied, das gesungen wird, wenn die Liebenden einander zugeführt worden sind.“ (A.Schöne) Hinter der vermummten Gestalt (Phorkyas), die bei 4:10 auftritt, verbirgt sich niemand anders als Mephisto. – Man sollte sich nicht beschämt fühlen: Fausts lange Rede an die Heerführer, die Benennung ihrer Länder und dann die verbale Vorbereitung auf das Land Arkadien, all das ist ohne Text und ohne Kommentar nicht zu verstehen, – ist aber schön zu hören und zu ahnen.

Zu Peter Steins Aufführung

Die Aufführung FAUST II Szene für Szene ab hier

10. Juni – neue Phase: der Faust-Kommentar von Albrecht Schöne ist unterwegs …

Der Blick zurück – so leicht wie heute war der Zugang zum Faust II seit der (noch unvollständigen) Gesamtausgabe von 1828 noch nie. Meine (wirklich vollständige) Ausgabe von 1962 zum Größenvergleich (links).

Das alte 20bändige Original hat mir vor vier (?) Jahren die freundliche Nachbarin (*20. Juli 1943) geschenkt, die das Werk von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ist am 14. Mai dieses Jahres gestorben; ich werde an sie denken, so oft ich einen dieser Bände in die Hände nehme.

    zu guter Letzt dtv 1962 Seite 177 f

Fortsetzung folgt wirklich. Wird hier erst auf Seite 351 enden. Und die Interpretation der letzten, unerklärlichsten Verse werde ich bei Albrecht Schöne finden. „Ereignis“ = „Eräugniß“. Für immer „unzulänglich“.

In diesem Moment klingelt es, die Post ist da!!! 14. Juni 10.11 h :

Deutscher Klassiker Verlag 2017 (Antiquariat Lenzen Düsseldorf, 2 Bände neuwertig, 24.- €, d.h. wie geschenkt… nachschlagen:)

Und gleich die Probe aufs Exempel: beim Mitlesen der obigen Szene Faust II, 3.Akt, Szene 2.2. irritierte mich (abgesehen vom Inhalt, hören Sie ab 6:05 „Mit angehaltnem stillen Wüten…“) eine Abweichung im Text, – ein Fehler von Bruno Ganz oder in meinem dtv-Text? „Stahl“ oder „Strahl“ in Strophe 2 ?

Frage gelöst:

Ist es eine Kleinigkeit? Durchaus nicht! Und das Problem, weshalb sich Faust hier wie ein Oberbefehlshaber aufführt, ist auch alsbald gelöst…

Zum Abgewöhnen

Eine Besprechung hier und noch eine (Spiegel) hier

Zur abschließenden Orientierung

Das Faust-Projekt (Wikipedia)

Neue Musik liest Zeichen der Zeit

Eine Übernahme von Materialien des KlangForum Heidelberg

(…was die Musik fragt, wenn sie quasi-literarisch zwei Zitate dazu bringt, sich zu durchdringen und neu, nämlich kritisch zu erklären…)

***

Stefan Litwin (*1960)
„Among Friends“
für 6 Solo-Stimmen und präpariertes Klavier
(2014)

J. Marc Reichow (Klavier)
SCHOLA HEIDELBERG

Peyee Chen (Sopran)
Clémence Boullu (Mezzo)
Juliane Dennert (Alt)
Sebastian Hübner (Tenor)
Luciano Lodi (Bariton)
Martin Backhaus (Bass)

Walter Nußbaum (Leitung)

Auftragswerk des KlangForum Heidelberg e.V.
zum Literatursommer BW 2014, UA Heidelberg 14.09.2014
Ersteinspielung ZKM Karlsruhe, August 2020
Tonmeister: Benjamin Miller

***

„Among Friends“, gesungene Texte

Oh beautiful for spacious skies
America
Oh beautiful for patriot dream
America
God shed his grace on thee
America
God mend thine every flaw
Confirm thy soul in self-control
Thy liberty in law

(aus America, the Beautiful von Katharine Lee Bates)

Sie hören gern, zum Schaden froh gewandt,
gehorchen gern, weil sie uns gern betrügen,
sie stellen wie vom Himmel sich gesandt,
und lispeln englisch, wenn sie lügen.
(aus Faust von Johann Wolfgang von Goethe)

***

Stefan Litwin, Analecta Varia (statt eines Einführungstexts, 2014)

„Wer die Wahrheit ausspricht, begeht kein Verbrechen.“
– Edward Snowden*

“In God we trust, everybody else we monitor.”
– Geheimdienstspruch nach der Abhöraffäre

„Der Datenverkehr liefert uns die internen Video-Telefonkonferenzen der UNO (yay!)“
– Aus einem NSA-Bericht über Spionage gegen die Vereinten Nationen

„Die NSA und der britische Nachrichtendienst haben der Bundesregierung schriftlich versichert, dass sie Recht und Gesetz in Deutschland einhalten.“
– Ronald Pofalla, Kanzleramtschef (2009-2013)

„Alle Verdächtigungen, die erhoben wurden, sind ausgeräumt.“
– Hans-Peter Friedrich, Bundesinnenminister (2011-2013)

„Es ist wichtig, dass wir im Rückblick nicht allzu selbstgerecht sind mit Blick auf den harten Job, den diese Leute hatten. Viele dieser Leute (…) sind wahre Patrioten.“
– Barack Obama zum CIA-Abhörskandal 2014

“We can be a little more informal among friends!”
– Barack Obama neben Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor

„Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.“
– Angela Merkel

SelectorType PUBLIC DIRECTORY NUM
SynapseSelectorTypeID SYN_oo44
SElectorValue 49173948XXXX
Realm 3
RealmName rawPhoneNumber Subscriber GE CHANCELLOR MERKEL Ropi S2C32
NSRL 2002-388*
Status A
Topi F666E
Zip I66E
Country Name
CountryCode GE

– Digitaler Eintrag zu Angela Merkels Mobiltelefon / Spionageauftrag der NSA

„Die größte Angst, die ich habe, wenn ich an das Ergebnis dieser Enthüllungen für Amerika denke, ist, dass sich nichts ändern wird.“
– Edward Snowden

* Addenda (im Juli 2020)

»Among Friends« wurde 2014 aus Anlass des NSA-Skandals geschrieben.

Heute, 6 Jahre später, lebt Edward Snowden immer noch versteckt in Moskau, und Russland mischt sich in die US-Politik ein.

S.L. im Juli 2020

***

J.Marc Reichow
Sind Worte Taten?

Während der Projektvorbereitung wurde die – auch durch ihre anfängliche Bagatellisierung – empörenden Schändung grundgesetzlich garantierter Rechte durch NSA, GCHQ &. Co. publik, ein millionenfacher systematischer Eingriff auch in die schriftliche Privatsphäre also, der auf fast ironische Weise den Bogen zurück zu ‚Worten als Taten“ schlägt [vgl. „Worte sind Taten“, Motto des Literatursommers BW 2014]: als offenbar staatlich geduldete vorgebliche Motivfindung, Beweissicherung und präventive Aufdeckung mutmaßlicher Verbrechen unter Verletzung von Post- und Fernmeldegeheimnis – de facto strafbar nach §206 StGB.
Die Anführungsstriche um Stefan Litwins Werktitel » Among Friends « sind nicht nur Satzzeichen, sondern bezeichnen auch die überfällige Frage nach dem Wert der politischen Floskel von Freundschaft – zwischen Völkern? zwischen Geheimdiensten? zwischen Mächtigen? (Explizit fragt das nur die Musik, die quasi-literarisch zwei Zitate dazu bringt, sich zu durchdringen und neu, nämlich kritisch zu erklären.)

(aus dem Programmheft zum Literatursommerkonzert 2014)

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(jmr 05.03.2021)

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Das folgende Video im externen Fenster hier für den Fall, dass Sie während des Abspielens Texte im Zusammenhang nachlesen wollen.

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Und noch etwas – ein Werk für Violine solissimo von René Leibowitz

René Leibowitz (1913-1972):
Fantaisie pour violon seul op.56 (1961)
– Ersteinspielung nach dem Autograph –

Ekkehard Windrich (Violine)

Aufnahme im ZKM Karlsruhe, August 2020
Tonmeister: Benjamin Miller

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Visuelle Gestaltung: J. Marc Reichow

Das im Video verwendete Gemälde „Le Parloir de la Prison“ von André Masson (1961) aus dem Besitz von René Leibowitz nach der Reproduktion im Katalog (Livres-Correspondances-Estampes-Peintures des bibliothèques René Leibowitz et Henri Michaux) des Auktionshauses Eric Couturier (Paris 1999).

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Die Ersteinspielung der Fantaisie pour violon seul op.56 nach der autographen Reinschrift knüpft an die langjährige Auseinandersetzung des KlangForum Heidelberg unter Leitung von Walter Nußbaum mit dem kompositorischen Oeuvre von René Leibowitz an, deren Höhepunkt die Produktion der CD „Leibowitz – Compositeur“ zum 100. Geburtstag des Komponisten 2013 (divox) war.

Ekkehard Windrich führte die Fantaisie op.56 erstmals (in Deutschland?) beim Veranstaltungswochenende „Nah, jetzt fern – Stimmen, Musik und Gesellschaft zur Zeit von Corona“ am 2. August 2020 in Heidelberg auf.

Krimi Kurzkritik

Notizen nach einem dürftigen Tatort

Spontanes Urteil am Ende (die vorübergehend spannenden Momente zählen nicht mehr):

Hanebüchen!

( Das gilt im Nachhinein für alles, nach den Vorschusslorbeeren, auch für die Einzeldarsteller, die Musik, die Handlung, das Drehbuch, die Regie, die Insel, die Logik, – alles …)

Irreführendes in der Presse nachher:

Vorher Infos hier + Zuschauer-Echo

Vorab-Werbung im Kölner Treff HIER ab 42:50

W.W.Möhring ab 44:50: „Die Musik ist Hauptdarsteller und die Insel. Norderney.“ Meint er das Kleine-Terz-abwärts-Glissando, das derart bedeutungsvoll tut? Und das hüfthohe Wasser bei steigender Flut, das glücklicherweise keinerlei Sog entwickelt. Am Ende liegt man am Strand, die Handschellen haben sich wundersam aufgelöst, nur die eine lästige Frau ist verstorben. Die andere jedoch ist im Dunkel der Nacht genau hier zur Stelle.

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Fundstücke aus dem Programm

Hat nichts damit zu tun, aber: Ein ähnlicher Schock heute Mittag im Auto, offenbar ein neuer Trailer für Sendehinweise: WDR3 Kultur-Ambulanz.

Erste Reaktion: O Gott, dahinter steckt eine nagelneue Programmreform. Ja?! Es macht mich krank! Spontan, nach 25 Jahren oder nach 18 Jahren? Wird daher die Ambulanz als Vorhut geschickt?

Ein Missverständnis: man hilft der notleidenden Kultur. Kulturambulanz geht in eine neue Runde. „Wir streamen Kultur in Zeiten von Corona – Online, im Radio und über Facebook präsentiert WDR 3 Konzerte aus NRW, die wegen der Corona-Pandemie nicht öffentlich stattfinden können.“

Aber warum ein Etikett aus dem Krankenhaus-Bereich? Stopp, durchaus nicht, warum denn so negativ: wir beziehen uns auf den Bereich „Gesundheit, Bildung, Kultur“. Wie hier. Eine aussagekräftige Kombination. Wird so in Zukunft auch negative Musik gemieden? Zu ungesund! Nur noch gesundheitsfördernde Klänge. Vergleichbar der Aktion: Mozart im Kuhstall!

Bei dieser Gelegenheit stoße ich auf eine noch gar nicht so lang zurückliegende Reaktion auf Reformen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Richard David Precht. Bemerkenswert! Habe ich damals nicht mitbekommen, hier also nachzuholen: HIER

Noch etwas über die Geschichte von WDR 3 hier (Wikipedia)

Ich sollte mal wieder WDR 3 hören…

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ARTE Indien hier ein ungeschickter Film, die Musik Rajasthans – Fehlanzeige… so unbedarft präsentiert man auch bei uns gern „Wunderkinder“. Auch hier ist es dilettantisch in den Wind geschossene Sendezeit. Mit dem Anschein der Weltoffenheit.

*    *    *

Natürlich kenne ich die Argumente mancher Cineasten: in diesem Film gibt es die besten Dialoge, in jenem die hinreißendsten Autorennen oder die gelungensten Hochgebirgsabstürze, dort die unheimlichsten Szenen mit Türeknarren, hier Mondschein in der Sahara oder wilde Stürme um Helgoland. Es interessiert mich alles nicht, wenn die Geschichte nicht stimmt! Der Faden von A bis Z. Siehe Mozart: il filo.

*    *    *

27.01.2021 Es gibt tatsächlich allerhand Neues im Kulturradio. Am neuesten fand ich aber früher immer die Abschaffung von etwas. Ich mag mich geirrt haben, ich klebte zu sehr am Alten. Aber jetzt verstehe ich um so besser die reformatorische Sprache: es wird ja nichts abgeschafft, alle Inhalte bleiben, sie werden nur konsumentenfreundlicher verteilt.

Zur Info studiere die verbreiteten Vorurteile:

Süddeutsche Zeitung 25. Januar 2021 Thema:  Öffentlich-rechtlicher Rundfunk Verrat am Kulturauftrag / Der WDR streicht sein Literaturprogramm zusammen. Weiß der öffentlich-rechtliche Rundfunk, welchen Schaden er anrichtet? Von Felix Stephan /  Hier (Leider mit Bezahlschranke)

ZITAT

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der immer noch ein paar wichtige Kultursendungen unterhält, hat panische Angst davor, als „elitär“ zu gelten, deshalb entfernt er aus dem Programm immer mehr angeblich Kompliziertes und ersetzt es durch Gefühltes. In Wahrheit aber tritt gerade in diesem Paternalismus eine narzisstische Öffentlichkeitsverachtung hervor. Um als nicht elitär zu gelten, verdunkeln die Verantwortlichen den Himmel und versuchen, dem Publikum die Illusion zu vermitteln, es gebe keine Geisteswissenschaft, keine Kritik, keine Sprachanalyse, nur noch Landschaften, Luft und Laune.

Nun auch noch die FAZ, und zwar: HIER

ZITAT

Wenn etwas abgeschafft wird, geht das oft mit einer Verbrämung einher. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und insbesondere, wenn es um die Abschaffung von Kultursendungen geht, ist man darin besonders geübt. Als der Hessische Rundfunk 2019 plante, seine Kulturwelle HR2 zu einer „durchhörbaren“ Klassikwelle zu machen, nannte er den geplanten Abriss natürlich „Transformationsprozess“ und die Abrissbirne nicht Abrissbirne, sondern „Kultur-Unit“. Als sich starker Protest dagegen regte, musste der Sender erst noch eigens hervorheben, HR2 werde „selbstverständlich nicht ‚wortfrei‘ sein, sondern stärker um die Klassik zentriert“.

Eine ANTWORT:

Mehr Vielfalt für die Literatur

Die Literaturberichterstattung bei WDR 3 steht nicht zur Diskussion. Sie soll vielmehr vielfältiger und innovativer werden und nicht auf einem vereinzelten Sendeplatz am Morgen im immer gleichen Format ausgespielt werden. Wir haben mit WDR3-Programmchef Matthias Kremin gesprochen.

Abrufbar insgesamt hier.

Und in der Tageszeitung heute, am 27.01.2021, ärgert mich ein Bibelwort in der Standard-Rubrik SERVICE. So überflüssig und in sich unwahr wie das Etikett „Kultur-Ambulanz“. Wie auch der vorsorgliche Hinweis, dass der chirurgische Notdienst dies Jahr an Heiligabend, Silvester und Rosenmontag nicht zur Verfügung steht. Wo bleibt die Ambulanz für Nervenzusammenbruch?

Bachs Vivaldi

Was nicht sein kann und doch geht

Hören Sie doch bitte das berühmte Vivaldi-Konzert so, wie es im Original geklungen haben könnte: HIER

Oder springen Sie in den rasanten letzten Satz und achten Sie dort ab 8:25 auf die Melodie der zweiten Solo-Geige. Wie deutlich soll sie sein? Und wie expressiv?

Und versenken Sie sich dann in Bachs Orgelfassung desselben Werkes:

Das Werk in der Orgelfassung hören Sie extern z.B. HIER

Oder wie folgt, – falls Sie lieber die schönen Bilder sehen und auch den Künstler bei der Arbeit beobachten wollen:

Mir geht es gleich um den Anfang, siehe oben in den Noten, in der zweiten Zeile im drittletzten Takt: nach den Sechzehnteln die Achtel in der Oberstimme, die lang gehaltenen Töne im „Unterbau“, – kann das denn so von Bach gemeint sein, dass man nur noch den Unterbau hört, aber kaum noch die einzig bewegte Oberstimme? Muss man sie nicht auf einem eigenen Manual / Register, wie auch immer, um jeden Preis herausheben? Hier und bei anderen Stellen.

Oder auch im letzten Satz ab etwa 9:40, wo uns im Original der Klangzauber der Violinen erfasste: die starke Melodie der zweiten Geige, eingewebt ins Tongeschwirre der ersten, aber doch durch legato gut hervortretend. Wo bleibt sie auf der Orgel?

Solche Probleme können einen durchs ganze Leben begleiten. Ich habe das Vivaldi-Konzert kennengelernt durch eine Aufführung, in der ich die zweite Sologeige spielte, vielleicht 1956 oder 57, bei Bielefeld, (jawohl!) in Jöllenbeck, die Leitung hatte ein netter Kantor namens Vollmer. Ich begriff, dass man in der Begeisterung für das schöne Thema höllisch aufpassen muss, es nicht expressiv zu dehnen, sondern haarscharf im Takt zu bleiben. Es war ein tüchtiges Laienensemble, aber vermutlich spielte man damals Barockmusik grundsätzlich etwas ruhig, und ganz besonders in Jöllenbeck. Als ich es Jahrzehnte später in Solingen an der Orgel hörte – von Konrad Burr, dem ich umblätterte – fand ich es viel zu langsam und war der Ansicht, dass man bei der oben wiedergegebenen Stelle den „Unterbau“ einfach nicht durchhalten dürfe, sondern in wenige Akzente auflösen müsse, um die Oberstimme hören zu lassen usw., ich hatte ein unbehagliches Gefühl, und habe es bis heute, wenn ich Bachs Orgelfassung höre. Kann man ihn denn kritisieren? Völlig klar war, dass es mindestens zwei Tempi für dieses Werk gab. Selbst sehr bedächtige Ostwestfalen würden als Streicher niemals ein auf der Orgel durchaus vernünftiges Tempo wählen. Und heute auch dynamisch flexibler spielen, in den 50er Jahren untergrub das Diktum der „barocken Terrassendynamik“ und die Vorstellung vom richtigen „Bachstrich“ so manche inspirierte Interpretation.

1975, JR 1985

Das ist grundlegend, lässt aber meinen recht neuen Scanner etwas alt aussehen. Einen deutlich neueren Stand haben wir, wenn wir ins MGG (neu) Personenteil BACH (1999 Werner Breig) schauen:

Jetzt würde ich mich noch im Internet kundig machen, was es über Vivaldis op.3 mitzuteilen gibt, etwa hier, merken wir uns also: Konzert Nr.8 a-moll, RV 522, es war die Vorlage für Bachs BWV 593. Und diesen hochbegabten Prinzen Johann Ernst sollte man gesondert zur Kenntnis nehmen: vielleicht erst einmal in lexikalischer Kürze hier, dann in netter journalistischer Form hier.

Da ich immer mal wieder von einem Bach-Fieber erfasst werde, und zusätzlich zu meinen Cis-Werken des Wohltemperierten Claviers, die ich seit Monaten übe, kamen heute von RG Vorlesungsunterlagen zu den Brandenburgischen Konzerten, und ohne direkten Zusammenhang fiel mir das Wort „Vivaldi-Fieber“ ein, das ich irgendwo gelesen hatte. Was bedeutete Vivaldi denn genau für Bach, was hat er da gelernt? Das war auch ausschlaggebend für die Brandenburgischen Konzerte! Und ich erinnerte mich an die eigene Dummheit, dass ich Vivaldi nicht begriffen habe, wann war das etwas? vielleicht 1965, als Franzjosef seine vier besten Schüler das Vivaldi-Konzert für 4 Geigen aufführen lassen wollte, an vielleicht 2 Proben erinnere ich mich: und ich habe mich unglaublich gesträubt, nicht recht geübt usw. weil ich die Musik so unbedeutend fand. Dieser dümmliche Umgang mit Vivaldi war damals noch weitverbreitet („V. hat nur 1 Konzert geschrieben und das 100mal!“). Damals hatte der Hype um die „Vier Jahreszeiten“ noch nicht eingesetzt (das begann erst mit Nigel Kennedy). Gut, ein massenpsychologisches Seminarthema. Also: jetzt kam ich auf das Buch von Geck, darin musste etwas stehen, was mir im Augenblick – auch „psychologisch“ – auf die Beine hilft. Auch: das aktuelle Bach-Fieber auszunutzen, und da sehe ich: die entscheidenden Stellen habe ich schon vor 15 Jahren bei Martin Geck rot vorgemerkt. Manche Wege muss man mehrmals im Leben entdecken.

Und genau dank des soeben genannten Namens „Ahnsehl“ bin ich per Internet überhaupt darauf gekommen, in den analogen eigenen Bücherschrank zugreifen. Was mich ermächtigt, Martin Geck weiter zu zitieren:

Peter Ahnsehl äußert dementsprechend die Vermutung, Bach müsse das „etwa 1712 oder früher einsetzende Vivaldi-Fieber“ aus einem „so weltoffenen Hof wie dem Weimarer unbedingt [von Anfang an] zur Kenntnis genommen haben“. Was die genannten Vivaldi-Übertragungen angeht, so ist deren hohes Maß an Souveränität für Klaus Hofmann Anlaß zu der Vermutung gewesen, Bach habe damals „wohl selbst bereits über kompositorische Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt oder sich zumindest mit der Gattung nicht zum ersten Mal auseinander[ge]setzt.“ Da diese Bearbeitungen augenscheinlich Auftragsarbeiten für einen der beiden Weimarer Dienstherren darstellen, sagt ihre Entstehungsgeschichte jedenfalls nichts über ihren inneren Stellenwert innerhalb des Bachschen Konzertschaffens aus.

Quelle Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahrenes Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 (Anmerkungsziffern in meinem Zitat weggelassen)

Man darf es sich also nicht zu einfach machen und sagen, das Vivaldi-Fieber habe Bach auf einen neuen Weg gebracht, und das Datum 1713/14 sei als Wegscheide eines neuen Formgefühls anzusetzen. Ich will mich auch hüten, den anfangs hervorgehobenen starren Klang des „Unterbaus“ aufheben zu wollen, indem die bewegte Oberstimme registermäßig stärker beleuchtet wird. Ist nicht gerade dieser „fast“ ereignislos durchgehaltene Klang das Charakteristikum eines emphatisch betonten Formwillens, ein offensives „Stop and go“, das seine Antwort in der absteigenden Basschromatik und dem parallelen Oberstimmengang der nächsten Zeile bekommt?

Hinzu kommt, dass man in der Orgel kein unbeholfenes Orchester sehen sollte, dem dennoch nachzueifern sei. „Organum Plenum“ ist ein gutes Ideal und spielt im Barock eine Rolle, die einer späten Klangfarben-Ästhetik unbehaglich sein mag.

Noch etwas fiel mir heute morgen auf, als ich den neuen Beitrag der Orgelserie zum Advent aus der Ohligser Kirche St. Joseph (Sebastian) abrief. In unserm Laptop ergab der zweite Satz der Orgelsonate in G-dur eine unsäglich dissonante Kontrapunktik, die mich vermuten ließ, dass man den wirklichen Bass gar nicht hört, obwohl man die Fußarbeit des Organisten visuell deutlich erkennen konnte. Das Phänomen veranlasste mich, eilends zum Computer in meinem Zimmer hinaufzulaufen, der mit einem besseren Lautsprecher-Ensemble ausgestattet ist. Und meine Ahnung bestätigte sich. Das Pedal war mit einem Aliquot-Register gekoppelt, was besagt, dass parallel zu der tiefen Bass-Stimme eine Verdopplung im Abstand Oktav+Quint mitläuft, reine Quint-Parallelen, die also im Obertonbereich der tiefen Basstöne angesiedelt sind und normalerweise schwach wahrgenommen werden, als seien sie deren reale Bestandteile. In Wirklichkeit sind sie durch echte Pfeifen extern „angekoppelt“. In diesem Fall (den ich nicht vorführen kann, zumal ich auch nicht den Organisten denunzieren will, der es garantiert richtig hört) muss man sagen: vom Hörer aus misslingt es, denn er hört die Obertonlinie viel zu stark, zudem („natürlich“) in der falschen Tonart (nämlich in h-moll statt in e-moll), so dass sie mit einigen Tönen der Melodiestimme regelrecht kollidiert. Der reale Bass aber (in der richtigen Tonart) erscheint nur als dumpfes Stör- oder Brumm-Element. Sobald nun die wirkliche 2. Stimme erscheint, ist das tonale Chaos perfekt. In den folgenden Notenzeilen sehen Sie diese parallel zum Bass verlaufende „falsche Stimme“ in roter Farbe notiert und zwar bis genau zum Einsatz der 2. Stimme:

Sonate G-Dur BWV 530 2. Satz

Dies hat nicht mit unserm Thema zu tun, zeigt allerdings die Tücken des Orgelklangs, der im Raum (draußen) leicht etwas andere Wirkungen zeitigt als am Spieltisch, wo die wirklich mit den Füßen gespielte Basslinie auch psychologisch eine so dominierende Rolle spielt, dass man ihr Aliquotregister vollkommen wegblendet.