Archiv der Kategorie: Kultur

Wahlverwandtschaften (Lebende Bilder)

Eine vergessene Kunst? Oder bloß ein Spiel?

Wie mein Interesse begann

Schubert und das lebende Bild

Eine andere Beschreibung, die ich durch Zufall in Goethes „Wahlverwandtschaften“ fand und für meine Entdeckung hielt:

Damals gab es doch schon Wikipedia…

https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant hier

Aber wohl noch nicht diese unvergleichliche Website (mit den Erläuterungen zu den lebenden Bildern ab dem Fünften Kapitel):

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Wahlverwandt/kultur.htm HIER

ZITAT aus dieser Arbeit:

Das Titelblatt der Erstausgabe

Die Aufmerksamkeit, die der Roman fand, war groß, das Urteil jedoch keineswegs nur positiv. Von den moralischen Bedenken abgesehen, wurde auch die nicht immer konsequente Erzählweise beanstandet. Wilhelm Grimm schrieb am 22. November 1809 an seinen Bruder: „Ich begreife auch, daß das ganze Verhältnis sehr langsam und sorgfältig mußte entwickelt werden, nur nicht langweilig, wie es mir durchaus ist. Ich erkläre mir es aus der Art der Entstehung des Buchs, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist.“

Goethe in seinem Arbeitszimmer

Auch wenn Goethe stehend und nicht sitzend diktierte, muss man wohl wirklich die oft umständliche Allgemeinheit der Aussagen auf diese Arbeitsweise zurückführen. Zur Besinnung auf plastische Einzelheiten wird man bei einem vorwärtsdrängenden Diktieren kaum veranlasst.

Zitat-Ende / der Autor:

SEILER Bernd W. Seiler, Januar 2015 hier

Zu Humboldts Kritik: Mir waren bei der Goethelektüre durchaus auch stilistische Schwächen aufgefallen, die sich aus der Praxis des Diktierens ergeben, z.B. die stereotype Verwendung des Wortes „entgegnen“ statt entsprechender Varianten. Andererseits: las er denn das Diktierte nachher nicht mehr durch? –  Mir fiel jedoch das Wort vielleicht nur deshalb auf, weil es heute so viel auffälliger klingt als  „antworten“, das ich nicht moniert hätte.

Ein anderes Thema dieses interessanten Autors:

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Lesmona/ hier

Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Zum Beispiel Goethe bei Blumenberg

Einige Notizen

Siehe Blog „Blumenberg lesen“ hier (gegen Ende)

„Eckermann liest in der Bibel“ (Seite 46)

Wie Goethe seinen Eckermann hingehalten hat, um ihn nicht als getreuen Dokumentar zu verlieren (z.B. durch Heirat). Auch deshalb lockt er ihn mit Faust II. Siehe Erwähnung tags zuvor und danach.

Quelle Eckermann: Gespräche mit Goethe / Aufbau-Verlag Berlin 1956 (JR Sept.58)

Zu „Das Hohelied der Rezeption“ (Seite 16) Albrecht Schöne

„Alexis und Dora“ siehe hier (Weiland über Goethes Rätselgedicht)

Wikipedia zu „Alexis und Dora“ hier

Blumenberg „Goethe zum Beispiel“ Seite 70

In der Altersfreundschaft Goethes mit Zelter ist der Berliner Tonmeister mit seinem Part unterbelichtet geblieben. Dabei sind seine Briefe unvergleichlich, an Frische und Wahrheit der Empfindung denen Goethes im letzten Jahrzehnt überlegen. Und wäre dies alles nur zu lesen, um das einzige Rätsel lösbarer zu finden, wie er Goethes innigstes Gedicht „Um Mitternacht“ adäquat vertonen konnte, dürfte keine Mühe verdrießen, Zelters Part auszuleuchten.

Goethe/Zelter im letzten Lebensjahr S.61 Briefwechsel ?hier (geht nur bis 1827)

Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern an Sterne
Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
    Um Mitternacht.

Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten mußte, mußte, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
    Um Mitternacht.

Bis dann zu letzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins [Finstere]1 drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Sich ums Vergangne wie ums Künftige schlang;
    Um Mitternacht.

Noch einmal zitiert bei Blumenberg Seite 211 („Auch ihn einmal weinen gesehen“) Zelter las ihm die Marienbader Elegie vor:

…jetzt hört er es vom Freund, der ihm so vieles hörbar gemacht, ihm »Um Mitternacht« vertont hatte: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, / Der ich noch erst der Götter Liebling war …

Blumenberg Seite 70 „Das unerlebbare Letzte“

Wiki Quelle hier / Friedrich Preller der Ältere

Zitat Seite 71f

Noch auf der ausgeführten Zeichnung schönster Überhöhung stand n. d. Natur gezeichnet 1832. Die dazu bekannte Skizze, die diesen Vermerk nicht trug, zeigte olympische Retusche. Erst 1949 ist Prellers ›Original‹ ans Licht gekommen, das er, vielleicht mit Rücksicht auf Ottilie, die zunächst gänzlich widersprochen hatte, für sich verbarg und gegen die sanftere Skizze vertauschte.

s.a. hier Auktionskatalog 1926 „Eine Goethe-Sammlung“ Nr.33

Blumenberg Seite 82 „Goethe, zum Beispiel“, die Nietzsche-Quellenangabe ist irreführend (Bd, XIII, 244), muss heißen: § 279. in „Menschliches, Allzumenschliches“.

279.

Von der Erleichterung des Lebens. – Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.

Seite 76 Santa Maria della Minerva in Assisi

… denn sie ist und bleibt das Stück Heidentum im Christentum, das Goethe bleibend adaptieren wird, bis hin zum Schluß des zweiten »Faust«.

Selbst der gerühmte Palladio, auf den ich alles vertraute (Goethe)

Aus Goethes Text hier

Wenn man die erste poetische Idee, daß die Menschen meist unter freiem Himmel lebten und sich gelegentlich manchmal aus Not in Höhlen zurückzogen, noch realisiert sehen will, so muß man die Gebäude hier herum, besonders auf dem Lande, betreten, ganz im Sinn und Geschmack der Höhlen. Eine so unglaubliche Sorglosigkeit haben sie, um über dem Nachdenken nicht zu veralten. Mit unerhörtem Leichtsinn versäumen sie, sich auf den Winter, auf längere Nächte vorzubereiten, und leiden deshalb einen guten Teil des Jahres wie die Hunde. Hier in Foligno, in einer völlig homerischen Haushaltung, wo alles um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer großen Halle versammelt ist, schreit und lärmt, am langen Tische speist, wie die Hochzeit von Kana gemalt wird, ergreife ich die Gelegenheit, dieses zu schreiben, da einer ein Tintenfaß holen läßt, woran ich unter solchen Umständen nicht gedacht hätte. Aber man sieht auch diesem Blatt die Kälte und die Unbequemlichkeit meines Schreibtisches an.

Blumenberg Seite 88

Man fragt sich, warum sich diese Seite im Goethebuch befindet und nicht in Blumenbergs „Matthäuspassion“ (1988), wo er sich von Seite 208 bis 222 mit diesem Thema befasst (›DER RUFET DEM ELIAS‹). Er verrät es hier aber doch in den letzten 5 Zeilen, wo er sich dem ›ungeheuren Spruch‹ Goethes zuwendet: Nihil contra deum nisi deus ipse – Nur ein Gott gegen einen Gott. Und da bleibt die Leserschaft von Gott verlassen, sofern sie nicht an Blumenbergs unendlicher Belesenheit teilhat oder – wie ich – unverdrossen das Internet befragt. Dort würde man fündig unter folgendem Link des Goethe Jahrbuches 13 Weimar 1952: Momme Mommsen: Zur Frage der Herkunft des Spruches „Nemo contra deum nisi deus ipse“.

Das bedeutendste Kapitel dieses ganzen posthum erstellten Goethe-Buches von Blumenberg scheint mir das dem Prometheus-Syndrom gewidmete zu sein: „Ein Geschlecht das mir gleich sey“, Seite 112 – 138. Es betrifft die Wechselwirkung mit Schopenhauer bzw. dessen Auseinandersetzung mit der Farbenlehre. Und damit einen philosophischen Diskurs angesichts der Wirk- und Fliehkräfte zwischen den Monumenten Kant und Newton.

Wunderbar auch die Richtigstellung zu dem berühmten Ausspruch Goethes über die Kanonade bei Valmy, – sein Hang, dem Sinnlosen, das ihn tangiert, durch Umwidmung eine höhere Bedeutung abzugewinnen. Seite 113ff: „Gelübde auf dem Rückzug„.

Vorgemerkt: Schachnovelle

Der neue Film

ziemlich viel Dunkelheit?

Mediathek HIER

Spielfilm Deutschland 2021 +++ Österreich, 1938. Der Wiener Dr. Josef Bartok verdrängt die Gefahr der NS-Machtübernahme. Erst kurz vor dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich entschließt er sich zur Flucht. Während seine Frau entkommt, gerät er in die Fänge der Faschisten. +++ Mit Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Andreas Lust, Samuel Finzi u. a. | Regie: Philipp Stölzl

Bild: ARD Degeto/Studiocanal / Julia Terjung

Lesen: Abstract hier Wikipedia Inhalt hier auch: der Weg zum Buch von Stefan Zweig.

Dunkle Erinnerung JR :

Nicht die Schachnovelle, sondern Dostojewski war für mich die Brücke zwischen Primanerzeit und Studium, Bielefeld und Berlin, 1959 und 1961. Zitat:

Dieser Proletarier, dieser Taglöhner der Arbeit, dieser Sklave des Vorschusses, der in der Zeit seiner ärgsten Not drei gigantische Romane hintereinander schrieb, ist innerlich der bewußteste Artist. Er liebt fanatisch die Goldschmiedearbeit, das Filigran der Vollendung. Noch unter der Peitsche der Not feilt und bosselt er stundenlang an einzelnen Seiten, zweimal vernichtet er den »Idioten«, obzwar seine Frau hungert und die Hebamme noch nicht bezahlt ist. Unendlich ist sein Wille zur Vollendung, aber auch die Not ist unendlich.

Stfan Zweig in „Drei Meister“ über Dostojewski (a.a.O.Seite 149)

Aber unterstrichen habe ich nur einen einzigen Satz auf Seite 163, mit dem Lineal, also hier in Rot:

Das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens.

Vom Lachen

Eine glücklicherweise nicht zu kurze Philosophie des Humors

Ich habe mich schon oft mit Komik beschäftigt: wie entsteht sie, wozu brauchen wir sie, warum verstehen manche Leute keinen Spaß, haben Mühe, über einen Witz zu lachen, erkennen keine Doppeldeutigkeit? Worauf beruht die erlösende oder beleidigende Wirkung der Pointe? Was ist heute anders als früher? Bei Yves Bossart wird uns manches klarer. Ich zitiere:

Wir haben gesehen, wie wichtig der jeweilige Kontext für die Beurteilung von Komik und Satire ist. Dieser Kontext wird nun aber durch die Digitalisierung zunehmend aufgelöst. Mithilfe des Internets und der Sozialen Medien kann ein blöder Spruch, eine Anspielung oder ein Witz ohne Weiteres aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball transportiert werden. Die Pointen hängen damit im leeren Raum und laufen Gefahr, falsch oder feindselig interpretiert zu werden. Hinzu kommt eine verstärkte Polarisierung durch die vielzitierten Filterblasen, also durch die Tatsache, dass uns Soziale Netzwerke gern mit Information und Desinformation versorgen, die in unser Weltbild passen. Dadurch verlieren wir zunehmend die Toleranz für andere Weltsichten ebenso wie für Zwischentöne und neigen immer mehr zu einem empörungsgetriebenen Freund-Feind-Denken.

Hinzu kommt ein Phänomen, das man gerne als »Tocqueville-Paradox« bezeichnet. Der französische Publizist Alexis de Tocqueville machte Mittte des 19. Jahrhunderts die Feststellung: Ja geringer die gesellschaftlichen Missstände, desto höher ist die Empörung über die verbleibenden Missstände. Ähnliches beobachten wir heute. Es ist kaum zu leugnen, dass wir sensibler geworden sind gegenüber Ungleichbehandlungen in Alltag und Sprache. Begriffe und Phänomene wie »Political Correctness«, »Safe Space«, »Triggerwarnung«, »Mikroagression« und »Wokeness« sind auch hierzulande angekommen. Wir sind wacher geworden, was Diskriminierungen aller Art betrifft, nicht nur handfeste Ungleichbehandlungen wie etwa die Lohnungleichheit zwischen Mann unf Frau, sondern auch subtilere Formen der Abwertung. Man denke etwa an die Phänomene »Mansplaining« oder »Manspreading« – also daran, dass Männer gerne mehr Platz einnehmen als Frauen, sowohl beim Reden als auch beim Sitzen. Oder an die vielen Debatten über gendergerechte Sprache. Die entscheidende Frage lautet meines Erachtens: Wann kippt der wichtige und verdienstvolle Kampf gegen Diskriminierung in ein Gerangel um bloße Empfindlichkeiten?

Mit Blick auf die Komik stellt sich also die Frage: Wer bestimmt eigentlich, was noch geht und was bereits zu weit geht? Ist ein Witz bereits dann moralisch schlecht, wenn es einzelne Personen gibt, die sich davon verletzt, beleidigt oder herabgewürdigt sehen?

Quelle: Yves Bossart a.a.O. Seite 83 f – s.a. hier

Es geht nicht immer lustig zu, in diesem  Buch über das Trotzdemlachen, zum Glück. Es ist ja nebenbei eine kleine Philosophie des Humors, und jede Zeile ist ein Lesevergnügen.

Für mich ein Anlass, den bisherigen Stand der Komik im Blog zu sichten, bierernst, fürchte ich:

Lachen mit Schopenhauer?

Kein Witz für Kinder (warum?)

Wie war denn Ciceros Witz?

Witze verstehen

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Sonderbeitrag Satire

Humor und Virus

Humor und Tragik

Der Effekt des Zeitunglesens

Nicht lachen wollen

Scherzverwandtschaft

Lachen – worüber?

Osterlachen – mit Vorsatz

Comedians

Zu guter Letzt wenden wir uns noch einmal an den Schweizer Autor Yves Bossart, mit dessen Buch der heutige Blog-Artikel begann. Er hat einmal in einer der „SFR Kultur Sternstunden“ in aller Kürze erläutert, was es mit dem Humor auf sich hat:

Koinzidenz ZEIT 7.6.2023 Seite 46 Ein Gespräch mit der Philosophin Rosi Braidotti: »Ich halte das westliche Denken für überholt« Zitat:

Französische Lektüre

Keine Notsituation, aber höchste Zeit (zum Lesen)

Aussicht aus dem Klinikum. Viel heller liegt das schmale grüne Buch vor mir, und etwas über 40 Jahre entfernt. Damals las ich: „Überwachen und Strafen“ sowie „Sexualität und Wahrheit 1“ von Michel Foucault. JMR wusste das, er war erst 16. Und dieses, warum las ichs nicht? Kaum, – vielleicht zu theoretisch für mich. Heute werde ich es bis zum Ende mit gleicher Aufmerksamkeit lesen (dank Erinnerung an Kant). Ich werde die Sätze abschreiben, die ich richtig gut fand, die auf dem rückseitigen Cover nicht). Das zweite Werk „Schriften zur Literatur“ ist heute nur Beifang – an derselben Stelle im Regal, wo das andere sich versteckt hatte, sträflich missachtet, unglaublicher Fehler, gerade wo es mir seit damals hätte helfen können, Flaubert näherzukommen! Siehe unten den Link zum Artikel „Die ernste Geschichte der Figura“….

1970/1976

Wie Flaubert arbeitete …. / aus dem letzen Kapitel des Buches Schriften zur Literatur von Michel Foucault: Un »fantastique de bibliothèque« / Nachwort zu Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen AntoniusSchriften  zur Literatur / Übersetzung: Karin von Hofer / Ullstein Materialien 1979 ISBN 3-548-35011-9

Die ernste Geschichte der Figura

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses

Zitate

S.32 Es könnte sein, daß der Gedanke des begründenden Subjekts es erlaubt, die Realität des Diskurses zu übergehen. Das begründende Subjekt hat ja die Aufgabe, die leeren Formen der Sprache mit seinen Absichten unmittelbat zu beleben; indem es die träge Masse der leeren Dinge durchdringt, ergreift es in der Anschauung den Sinn, der darin verwahrt ist; es begründet auch über die Zeit hinweg Bedeutungshorizonte, welche die Geschichte dann nur noch mehr entfalten muß und in denen die Sätze, die Wissenschaften, die Deduktionen ihr Fundament finden. In seinem Bezug zum Sinn verfügt das begründende Subjekt über Zeichen, Male, Spuren, Buchstaben. Aber es muß zu seiner Offenbarung nicht den Weg über die besondere Instanz des Diskurses nehmen.

Diesem Thema steht der Gedanke der ursprünglichen Erfahrung gegenüber, der ein analoge Rolle spielt. Er setzt voraus, daß in der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in einem cogito, vorgängige, gewissermaßen schon gesagte Bedeutungen die Welt durchdrungen haben, sie um uns herum angeordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiedererkennen geöffnet haben. Eine erste Komplizenschaft mit der Welt begründet uns so die Möglichkeit, von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und zu benennen, sie zu beurteilen und schließlich in der Form der Wahrheit zu erkennen. Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht; und diese Sprache sprach uns ja immer schon von einem Sein, dessen Gerüst sie gleichsam ist.

S.35 Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft – und wahrscheinlich auch in allen anderen, wenn auch dort anders profiliert und skandiert – eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.

Vgl. im Blog: Kant-Artikel über das „Gewühl“ hier.

S.36 Ein Prinzip der Spezifizität. Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplitze unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welcher uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.

S.37 (…) zwei Bemerkungen (…) Geschichtsschreibung. Man behauptet häufig von der heutigen Historie, daß sie die einstigen Privilegien des einzelnen Ereignisses aufgehoben und die Strukturen der langen Dauer zur Erscheinung gebracht habe. Gewiß. Doch ich bin nicht sicher, daß die Arbeit der Historiker genau in diese Richtung geht. Oder vielmehr, ich glaube nicht, daß zwischen dem Ausfindigmachen des Ereignisses und der Analyse der langen Dauer ein Gegensatz besteht. Gerade indem man sich sich auch den geringsten Ereignissen zugewendet hat, indem man die Erhellungskraft der historischen Analyse bis in die Marktberichte hinein, in die notariellen Urkunden, in die Pfarrregister, in die Hafenarchive vorangetrieben hat, die Jahr für Jahr, Woche für Woche verfolgt werden, hat man jenseits der Schlachten, der Dekrete, der Dynastien oder der Versammlungen massive Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite in den Blick bekommen.

Die letzten 5 Seiten des Diskurses gehören Hegel und – Jean Hyppolyte .

S.50 Nicht nur ich schulde Jean Hyppolyte Dank: denn er hat für uns und vor uns den Weg durchlaufen, auf dem man sich von Hegel entfernt und Distanz nimmt, auf dem man aber auch wieder zu ihm zurückgeführt wird, aber anders und so, daß man ihn von neuem verlassen muß.

Zunächst hatte sich Jean Hyppolyte bemüht, dem großen und etwas gespenstischen Schatten Hegels, der seit dem 19. Jahrhundert herumgeisterte und mit dem man sich im Dunkeln herumschlug, eine Gegenwart zu geben. Er tat dies durch eine Übersetzung der Phänomenologie des Geistes. Daß Hegel in diesem französischen Text gegenwärtig ist, beweisen jene Deutschen, die ihn gelegentlich konsultiert haben, um seine »deutsche Version« besser zu verstehen.

Quelle Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses / Inauguralvorlesung am Collège de France – 2.Dezember 1970 / Anthropologie – Herausgegeben von Wolf Lepenies und Henning Ritter / übersetzt von Walter Seitter / Carl Hanser Verlag München 1974 / Ullstein Buch Nr. 3367 Verlag Ullstein Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1977

Wie normal ist Diversity?

In den 80er Jahren, so scheint es uns heute, war es noch einfach, mit der Vielfalt der Kulturen zu argumentieren. Wie in der Natur, sollte eine Koexistenz der verschiedensten Völker denkbar sein. Die verschiedensten Weltbilder kennenzulernen, sollte nicht zu Verwirrung, Distanzierung oder einer willkürlichen Bewertung führen, sondern zu einer subjektiven Bereicherung des Denkens. Nicht das Eigene, von Jugend an Eingeübte, das Geläufige sollte für Richtigkeit bürgen, sondern das Neue, das kritisch Geprüfte, alles, was nach menschlichem Ermessen über das fehlbare Ego hinausweist. Es gab völkerkundliche Bestseller, die diese Haltung stützten. Nur mit der Musik war das eine andere Sache. Da muss es ja viel tiefer gehen, die Nuancen des Nachbardorfes können abstoßend wirken, die Gesänge eines fernen Volkes faszinierend. Wenn man dies wusste, konnte man sich zu einer geheimen Avantgarde zählen.

So konnte man endlos weiterphantasieren. Allerdings: heute ist alles anders. Warum?

ZITAT aus DIE ZEIT 20. April 2023 Autor: Ijoma Mangold

Diversity ist ja keineswegs ein Ausdruck von Subversion, sondern es ist die Ideologie der Macht und des Kapitals. Es sind die größten Weltkonzerne, die sich Diversity auf die Fahnen geschrieben haben, und es sind die Verwaltungen und Gremien der staatlichen und halbstaatlichenn Institutionen, die über ihre Durchsetzung wachen, also die, die öffentliche Mittel oder Sponsorengelder zu vergeben haben.

Woher kommt das Bedürfnis nach formierter Moral? Die tiefe Befriedigung, die es auslöst, wenn alle dasselbe Vokabular verwenden und durch den Gebrauch bestimmter Schlüsselwörter ihre Gesinnung ins Schaufenster stellen? Da lässt sich nur spekulieren. Vielleicht hat uns Social Media zu unserem Erschrecken vor Augen geführt, wie heterogen wir Menschen in Wahrheit sind, und diese tatsächliche Verschiedenheit (die man nur so lange gepriesen hat, wie sie ein theoretisches Phantom war) soll nun durch ein großes sprachsymbolisches Pädagogik-Programm gezähmt werden. Als hätten die Funktionseliten Angst, dass ihnen sonst alles um die Ohren fliegt.

Quelle DIE ZEIT 20.April 2023 Seite 47 Alles so schön keimfrei hier Warum die Künstler sich nicht mehr trauen, die Bürger zu erschrecken und den gesellschaftlichen Konsens aufzustören / Von Ijoma Mangold / hier

Heißt das nicht Wokeness… Was versteht man denn ansonsten unter Diversity, wenn man die gute Sache verfechten will? Z.B. hier Zitat:

Diversity bedeutet Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Menschen. Wir leben in einer Welt, in der die Vielfalt von Lebensformen stetig zunimmt. Diversity schätzen zu lernen stellt den positiven gesellschaftlichen Gegenentwurf zu Diskriminierung dar.

Wikipedia hier

Noch einmal Ijoma Mangold, der nach einigen Beispielen aus Literatur und Musik ausführt:

Der außerkünstlerische Maßstab ist in all diesen Fällen die Identität. Sie ist die heilige Kuh, vor der alle das Knie beugen. Da sind keine Frivolitäten erlaubt. Niemand will hier bei einer Blasphemie ertappt werden. Deshalb legen Schriftsteller ihre Manuskripte sogenannten Sensitivity-Readern vor, die überprüfen, ob der Roman auch so geschrieben ist, dass die Gefühle etwaiger Minderheitengruppen nicht verletzt werden. Was gibt den Sensitivity-Readern ihre Kompetenz und moralische Autorität? Nun, es ist natürlich wieder die Identität, die zu einem umso mächtigeren Phantasma aufgebläht wird, je mehr die westlichen Gesellschaften angeblich divers und fluide werden. Wer sich öffentlich äußert, gilt als Stimme einer bestimmten kollektiven Grupe, nicht mehr als eigensinniger Denker mit einer alle überraschenden Meinung zu den Dingen.

Quelle a.a.O. DIE ZEIT 20.April 2023 Seite 47 (Ijoma Mangold)

Mehr zur Identität: hier / Zitat daraus:

Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromißbildung zwischen „Eigensinn“ und Anpassung dar. Das Problem der „Gleichheit in der Verschiedenheit“ beherrscht auch die aktuellen Identitätstheorien.

Neue Kraft fühlend

Die alten Quellen

(Kurze Erinnerung JR 22.02.23 – 10.03.23 Klinik und danach)

Wie oft in einer Krisensituation, musste ich jetzt obsessiv an eine bestimmte Musik denken, konnte aber bisher ohne Partiturzugang nicht genau sagen, warum. „Neue Kraft fühlend“ im „Dankgesang“ natürlich, versteht sich innerhalb des Großen Zusammenhangs, – nur wenn ich von da nach außen vor- und zurückdenke, so stocke ich: was ist mit dem Riesensatz, der sich – wenn ich mich recht erinnere – auf ein einziges kurzes Motiv stützt? Wie „macht“ das Sinn? Ich muss es intensiv extensiv lesen und vor allem: hören, wenn ich wieder zuhaus bin. Verhält es sich als Tanzsatz (?) zu seinem Trio etwa so wie der Dankgesang zu „Neue Kraft fühlend“? Beginnen wir also mit der faszinierenden Monotonie dieses Satzes! Leisten wir uns die grandiose Beethovensche Monomanie!

Trio-Teildas „Savoyardlied“ (s.u. „La Marmotte“)

die Ländler-Partie

Was Cooper (grüne Tinte!) über das Wiener Großstadttreiben vermerkt, darf man durchaus verallgemeinern. Und tatsächlich ein verlässlicher Beobachter des Volkstreiben, der Goethe-Sohn August 1830 aus Frankfurt auch „den Savojard mit einem Murmelthier“:

Quelle Stephan Oswald: Im Schatten des Vaters / August von Goethe / C.H.Beck München 2023 S. 248

Ich brauche, von wem auch immer, Anknüpfungspunkte, nein, mehr: eine kurze, plausible Darstellung des roten Fadens, die Andeutung eines inneren Sinnes, etwas „Inhaltliches“. Sagen wir so:

Mainard Solomon S. 364

Eine andere Blickrichtung findet man im alten Beethovenbuch des gar nicht hoch genug zu schätzenden Walter Riezler (Vita!):

Walter Riezler (Atlantis 1936)

Zum Nachhören der einzelnen Sätze von op.132 (Alban-Berg-Quartett):

00:12 First Movement 10:45 Second Movement (Trio ab 14:39 Dacapo ab 16:46)  20:25 Third Movement (Heiliger Dankgesang) 36:56 Fourth Movement 39:01 Fifth Movement

Unvergesslich: der Beethoven-Zyklus mit dem Alban-Berg-Quartett 1989

Beispiele Solomon : „Ah perfido!“ Szene und Arie op.65 hier / op.48, 3 „Vom Tode“ hier

Zum „Savoyardlied“ (La Marmotte) hier ! Es heißt nicht, dass eine Verwandtschaft zwischen den Melodien behauptet wird, es geht um die Sphäre, die beide beschwören. – Ähnlich, wie es im folgenden um die Sphäre des Ländlers geht, die Gerd Indorf (Beethovens Streichquartette 2007, S.394) sogar dingfest macht:

Dieses Achtelthema (T. 141 – 149) gestaltet den zweiten Teil eines Deutschen Tanzes, den Beethoven in den 90er Jahren für die Redoutenbälle des kaiserlichen Hofs komponiert hatte (WoO 8, vgl. TDR V, S.265).

In WoO 8 nicht gefunden JR hier (siehe neuen Nachtrag betr. WoO 3 und WoO 81 !)

„What actually follows is not an answer but a turning aside into purely musical fantasy – a whole piece made out of the double theme contained within two bars“ (siehe im folgenden).

Jedenfalls sind wir den Sphären-Zitaten auf der Spur, wie einst in der Partitur notiert (s.o. grüner Eintrag in die Noten), verschiedenen Hinweisen von Basil Lam folgend (die ersten beiden Absätze im folgenden Text beziehen sich noch auf Satz I und ein Fidelio-Zitat):

Um so erstaunlicher, wenn Standardwerke wie das von Gerd Indorf solchen offensichtlichen Zusammenhängen ausweichen und sich auf eher technische Angaben beschränken, als gebe es ein Berührungsverbot, sobald es eindeutig die Sphäre der Volksmusik betrifft:

Es beginnt dolce mit einer Introduktion (….), einem elftaktigen Violinduo, das aus 3 Takten Einleitung und einer schlichten Melodie von zweimal 4 Takten Vordersatz und Nachsatz besteht. Die 1. Violine erzeugt einen bordunartigen Drehleiereffekt, indem sie die leere A-Saite zur Melodie kontinuierlich erklingen läßt. Die unteren Instrumente beteiligen sich an der Wiederholung und verstärken den Bordun-Effekt durch zwei weitere Oktaven.

Violinduo? Drehleiereffekt? Bordunartig? Bordun-Effekt? Hat das weiter nichts zu bedeuten?

Und der heftige Einbruch der „Viertongruppe in diesen harmlosen Satz hinein“: was soll uns an dieser Stelle die motivische Beziehung zum anderen Quartett, – entscheidend ist allein, dass die Harmlosigkeit der Umgebung grob in Frage gestellt wird! Die technischen Mittel interessieren überhaupt nicht, nur: was sie bedeuten!

Man könnte mit Maynard Solomon antworten:

Wir brauchen diese Analyse allerdings nicht, um zu spüren, daß Schmerz und seine Überwindung das Wesen dieses Quartetts sind. Eben von einer ernsten Krankheit genesen, überschrieb Beethoven das Choralthema des langsamen Satzes »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart«. (Die Musik scheint hier zu einem heilenden Wesen, zu einem Talisman gegen den Tod zu werden.) Der kontrastierende tanzähnlich (oder besser tanzen wollende) Abschnitt trägt den Titel »Neue Kraft fühlend«, eine Überschrift, die auch den Grundcharakter der übrigen Sätze trifft, des Alla Marcia und des beschließenden Rondos, Allegro Appassionato, dessen drängende, fließende Walzermelodie wie eine ins Ätherische erhobene und tänzerische Vollendung jenes Abschnittes mit seinem zögernd-drängenden Dreiachteltakt erscheint [»Neue Kraft fühlend«].

Maynard Solomon „Beethoven“ Gütersloh 1979 (Seite 364)

Zurück also zum 2. Satz. Man höre mit Liebe die endlose Permutation ein und derselben Motive. Wer fragt, wer antwortet? Wohin geht die Fahrt?

Am Ende geht es unvermittelt ins Trio: die große Ruhe breitet sich aus, der Ländler schafft eine allmähliche Belebung, kommt endlich an ein Ziel, da bricht ein rüpelhaftes Element hervor, Mutwille: man merke sich die Gänge im Bass, ein Taktwechsel, aber „L’istesso Tempo“. Hat Martin Cooper (grüne Tinte!) recht, wenn er offen lässt, ob es als „joke“ oder als private Anspielung auf ein künftiges Quartett gemeint sei?

Martin Cooper: Beethoven The Last Decade / Oxford, New York 1970, 1985 / S. 361

Noch einmal die kristalline Stille des „Savoyardelieds“, doch die Bass-Gänge sind noch im Ohr, und sobald das Dacapo des Satzes beginnt, erkennt man die auf zwei Takte verteilte Wiederkehr der Bass-Gänge: T.1 Gis, T.3 Ais / T. 7 Ais, T. 9 His – beschwichtigt; ich wage zu sagen: der Heilungsprozess darf fortgesetzt werden. Mit der bewährten Zauberformel.

Worauf zielt meine Betrachtung des Beethovenschen op.132 ???

Zu formulieren, wodurch das Ungenügen an vielen verbalen Interpretationen des Werkes verursacht wird. Es fehlt am Wesentlichen, und zwar gerade dadurch, dass das scheinbar Unwesentliche – die kleineren Zwischensätze – über Gebühr vernachlässigt wird, als sei die entscheidende Aussage allein in den spektakulären großen Sätzen konzentriert: im Kopfsatz, im Choral des „Dankgesangs“ und im Finale. Ganz im Gegenteil! Und seien es Schimären, denen Beethoven hier Gestalt gewährt, – s.o.: „Ein kleines Haus allda so klein, dass man allein nur ein wenig Raum hat. . . Nur einige Tage dieser göttlichen […] Sehnsucht oder Verlange, Befreiung oder Erfüllung“ (1817/18) – , sie spielen in seinem Denken eine Rolle, auch wenn es für uns „Moderne“ näher liegt, allein in Tönen und Motiven allen Sinn zu sehen. Ausgerechnet bei Beethoven, der über alles Kommensurable hinausgeht.

Naturgemäß nimmt in den meisten Interpretationen der Dankgesang „in der lidischen Tonart“ den meisten Raum ein. Aber wie kann es danach weitergehen? Im Ernst: mit diesem naiv-jugendlichen Wanderlied, „Alla Marcia“? Geradezu einer Schülerarbeit gleichend, mit demonstrativen Kadenzen und Zäsuren. Beide Teile wiederholt, dann aber – als sei die Zeit knapp geworden – „attacca subito“, mit dem soeben eingeübten aufsteigenden Motiv von einer Taktlänge. Es führt zu dem bewegenden Rezitativ, das – wie in der Neunten, für die Beethoven das folgende Thema ursprünglich skizziert hatte – die Musik mit dem finalen „Allegro appassionato“ zu neuen ungeahnten, unerhörten Höhepunkten treibt. Am Ende ein Presto, in dem noch ein letztes Mal das Ländlermotiv aufleuchtet.

(Zwischengedanken)

Beethoven: WoO 13 nr.11 aus „Zwölf Deutsche Tänze“

Beethoven: WoO 81 Allemande in A-dur

Fazit?

Mir ist klar, dass alle diese Details nicht darüber hinweghelfen, dass wir einstweilen die drei Haupsätze ausgelassen haben, die jedoch alllenthalben bis zum Exzess erörtert wurden. Ich belasse es bei wenigen Hinweisen: (xxx).

Doch wenn alldas nicht zur Hand ist, so genügt mir – vor dem wiederholten Hören des ganzen Werkes die wunderbare, abschließende Suggestion von Basil Lam:

No other composition in all Beethoven’s works shows the unintegrated contrasts of this quartet, but once he had become possessed by the unique vision of the ‚Heiliger Dankgesang‘, no solution of the formal problem was available other than to surround it with sound images united only by their total diversity. The only common factor, itself made obligatory by the diatonic severity of the Lydian sections, is an extraordinarily narrow range of tonality, far more restricted than would be possible in mature Haydn or Mozart, though familiar in the Baroque concerto.

Basil Lam: Beethoven String Quartets / Ariel Muc BBC Publications London 1975 (1786) / S.98

Basil Lam

Lese ich (oder träume ich)?

Bin ich (bei) ein Bewusstsein? Oder habe ich es nur?

Kaum hatte ich die Überschrift erfasst, wandte ich mich zur Vergewisserung um: ist das Buch noch griffbereit? meine Instanz seit 1995. Als man noch „Bewußtsein“ schrieb.

Doch unser Traum beginnt so (nach Thomas Nagel):

Geht also nur alles von vorne los? Auf einer neuen Ebene? Der oben plakatierte ZEIT-Artikel wird folgendermaßen eingeleitet: „Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat?“ Ein Artikel von Ann-Kathrin Nezik.

Ich will diese Geschichte nicht unbedingt im Detail memorieren, von Black Lemoine, dem Senior Software Engineer bei Google, der dort rausflog, aber immer noch mit dem Computerprogramm LaMDA redet, das er folgendermaßen kennzeichnet: es ist „empathisch und wissbegierig, wenn auch manchmal etwas unbeholfen. Wie ein Kind, das sich tastend durch die Welt bewegt. Er befürchtet allerdings, dass „sie der Maschine inzwischen alles Menschenähnliche, das sie entwickelt hatte, wieder genommen haben.“ Für ihn war es klar, dass der Computer Bewusstsein entwickelt hat.

Man kommt sicher bald auf das Leib-Seele-Problem, vermute ich, ja, und natürlich auf die Rolle der  Perspektive: schaue ich von außen auf diese lebendige Sache oder erlebe ich sie von innen.  Und da ist auch schon die berühmte Fledermaus:

Thomas Nagel (betr.: Fledermaus)

Damals (1995) war ein anderes System im Gespräch, am Ende des Buches „Bewußtsein“ (herausgegeben von Metzinger) gab es den großen Aufsatz von Daniel Dennett und das Stichwort COG:

Im Internet konnte ich damals noch nichts vertiefen, heute rate ich mir (und anderen), z.B. den Artikel aus Planet Wissen zu lesen, hier, dann hätten wir schon eine Art Zweitmeinung:

Aber im Prinzip ist heute noch nicht klar, was den menschlichen Geist oder menschliches Bewusstsein eigentlich ausmacht. Vermutlich ist es eine Meta-Ebene, die in der Lage ist, die Informationsverarbeitungsvorgänge in den einzelnen Gehirnzentren übergeordnet zu betrachten und zu bewerten.

Vielleicht kommt der Großhirnrinde diese Funktion zu. Sie erhält Informationen aus den sensorischen und motorischen Arealen, die hauptsächlich in den Tiefen des Gehirns liegen.

Andererseits verweisen viele Forscher auch darauf, dass es eben rein strukturell ein übergeordnetes Zentrum im menschlichen Gehirn nicht gibt, sondern dass alle Areale parallel miteinander verschaltet sind.

Oder:

Ohne Körper, meint der Vater des humanoiden Roboters „COG“, Rodney Brooks, kann sich keine Intelligenz entwickeln. Intelligenz ist nur dann nötig, wenn sich ein Wesen in seiner sich ständig verändernden Umwelt behaupten muss. Dies sei die Triebkraft für die Intelligenz-Entwicklung.

Ich hätte auch oben (im METZINGER bzw. Dennett) einfach umblättern und weiterlesen können:

Über die Jahrhunderte hinweg ist jedes andere Phänomen, das anfänglich als „übernatürlich“ und geheimnisvoll erschien, einer nicht mehr umstrittenen Erklärung unter dem weiten Rock der Naturwissenschaften gewichen. Thales, der vorsokratische Proto-Wissenschaftler, glaubte, daß der Magneteisenstein eine Seele besäße, aber wir wissen es besser; der Magnetismus ist eins der am besten verstandenen physikalischen Phänomene, wie merkwürdig seine Erscheinungsweisen auch sein mögen. Sogar die „Wunder“ des Lebens und der Vermehrung werden heutzutage in der molekularbiologischen Analyse mit bekanntermaßen verwickelten Analysen erklärt. Warum sollte das Bewußtsein eine Ausnahme darstellen?

Wäre ich glücklicher? (Darum geht es nicht!!!)

Weniger positivistisch klingt es im letzten Aufsatz des Buches, wenn Dieter Birnbach über „Künstliches Bewußtsein“ schreibt (Achtung: Fledermaus!):

[Es sind …..) Zweifel daran erlaubt, ob sich die Bedingungen des Bewußtseins jemals so eindeutig aufklären lassen, daß die entsprechenden psychophysischen Verallgemeinerungen Gesetzesähnlichkeit beanspruchen können.

Die epistemischen Schwierigkeiten, die wir heute bereits mit exotischen Bewußtseinswesen (wie Thomas Nagels Fledermäusen) haben, würden sich für Maschinen noch verschärfen. Auch wenn wir uns vorstellen, daß wir uns Hirntransplantate einbauen lassen könnten, die an unser Zentralnervensystem „angekoppelt“, uns das Innenleben anderer, heute noch hermetisch verschlossener Wesen aufschließen, wäre das Problem nicht aus der Welt, wie sicher wir sein können, daß das, was wir mittels dieser Transplantate erleben, tatsächlich das ist, was Fledermäuse oder Maschinen erleben.

Quelle Dieter Birnbacher: Künstliches Bewußtsein (Seite 728) in: Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie / herausgegeben von Thomas Metzinger (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn, München, Wien, Zürich 1995)

Übrigens kann man den Fledermaus-Text (1974) von Thomas Nagel vollständig im Internet nachlesen: und zwar hier. Des weiteren wäre empfehlenswert, auch wenn es vielleicht den aktuellen KI-Utopien zuwiderläuft:

Inhaltlich schön referiert→ hier.

Klappentext lesen: … ein Generalangriff auf die etablierte naturwissenschaftliche Weltsicht. Ihr Problem, so Nagels These, ist grundsätzlicher Natur: Das, was den menschlichen Geist auszeichnet, – Bewusstsein, Denken und Werte – , lässt sich nicht reduzieren, schon gar nicht auf überzeitliche physikalische Gesetze. Daher bleibt eine Theorie, die all dies nicht erklären kann, zwangsläufig unvollständig, ja, sie ist mit Sicherheit falsch.

Suhrkamp 2013

(Fortsetzung folgt: zurück zur neuen ZEIT)

Weiter im Artikel, aber mein Bewusstsein driftet ab: ich liebe es nicht, Wissensinhalte über Geschichten vermittelt zu bekommen (das hat Enzensberger schon früh als Charakteristikum des „Spiegel-Stils“ herausgestellt: im Erzählertonfall zu beginnen, um die Lesenden einzufangen, – captatio benevolentiae). Auf der zweiten ZEIT-Seite notiere ich mir das Wort „Simulation“, auch „Mimesis“ hätte als Merkwort dienen können: an den Körper und seine Imagination gebundene Vorstellungen. Die Assoziation, dass der Mensch durch seine Fähigkeit zu lügen vor den Tieren ausgezeichnet sei, wobei die Vorgeschichte der „Mimikry“ zu bedenken ist, Stichwort Signalfälscher. Dann die immer interessante Erfahrung der getäuschten Erwartung im Witz, quasi befreiend, und in der Tat – da kommt sie schon als Kriterium:

Als Witz erinnert das an die Kinderseite der Tageszeitung, wo bis zum Gehtnichtmehr, die Doppelbedeutung von Worten ausgenutzt wird, die keinem gewieften Wortspieler ein müdes Lächeln abringt. Leicht vorstellbar wie man diese minimalen Lacheffekte einprogrammiert. Und auf der nächsten Seite folgt auch erwartungsgemäß, aber spät, das Stichwort „Simulation“, die Anthropologie stand Pate:

Der Zweifel nistet sich ein, kaum abzuweisen: bin ich es, der schreibt? Verhalte ich mich wie ein künstlicher Mensch, der Bewusstsein simuliert?  Ich nehme mir die Freiheit, zurückzuspringen, zu unterstreichen, zu assoziieren, ganze Blöcke zu überspringen:

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Es wäre die Geschichte eines Computerprogramms, das zweifellos ein erstaunliches Maß an Intelligenz erreicht, ohne dass man zweifelsfrei sagen kann, ob damit so etwas wie ein Bewusstsein einhergeht. Allerdings wäre es eine unvollständige Geschichte, weil die Frage nach dem Bewusstsein nicht die einzige Frage ist, die sich hier stellt. Es geht auch um etwas anderes: darum, ob LaMDA womöglich gefährlich ist. (…)

In seiner Wohnung in Montreal malt er sich Szenarios aus, die er durchaus für realistisch hält: Autokraten und Demokratiefeinde könnten mit Charbots wie LaMDA Propaganda wie am Fließband produzieren. »Es reicht, dem Programm zu sagen: Schreib mir eine Studie, warum Impfen schlecht ist. Oder warum Weiße allen anderen Menschen überlegen sind.« Jeder könnte mit LaMDA und vergleichbaren Programmen Wähler täuschen, Märkte manipulieren, Leute betrügen. Für Menschen mit bösen Absichten sei die Entwicklung von Chatbots wie die Erfindung des Maschinengewehrs für den Krieg. (…)

Quelle DIE ZEIT Dossier Seite 13 ff 12. Januar 2023 HAST DU EIN BEWUSSTSEIN? Ich denke schon, antwortet der Rechner / Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat? Von Ann-Kathrin Nezik

Das Virus wirkt weiter, verbreitet sich, auch in harmlosen Musikkritiken oder- Abschiedsartikeln, wandert in die Musiken selbst hinein. Wer hat da gesprochen, wenn man Schumann hört? Es spricht so zehrend und so menschlich, man kann alles hineinlegen. In der Musik verschwinden steht drüber, an den chinesischen Maler erinnernd, der in sein selbstgemaltes Landschaftsbild hineinsteigt und in der Ferne verschwindet. Hier zu Barenboims Abschied oder Weiterwirken- „am Ende allen Dauerkonzertierens, für das er berüchtigt war. Premiere in Berlin, rein in den Flieger, Konzert in Chicago, rein in den Flieger, Proben in Paris, Mailand oder Wien, so ging das ein Leben lang.“ Und weiter:

Herrlich, ja aufregend, wie Barenboim in Schumanns Klavierkonzert das Geschehen nun weitgehend Argerich und den ersten Philharmoniker-Pulten überantwortete, die prompt alles virtuose Rauschen und Gedonner fahren ließen. Ein seiner Außenhaut entkleideter Romantiker trat so zutage, mal störrisch, mal fahrig, mal feinster Gesang. Frei von eigenen Sentimentalitäten ließ sich das kaum miterleben, die Generation Argerich / Barenboim steht für eine Hochzeit der klassischen Musik, die es so wohl nie wieder geben wird.

Armer Schumann! Ohne Außenhaut! Mit ihm lässt sich alles behaupten, er spricht immer unüberhörbar, aus weiter Ferne ebenso tönend wie aus unserm eigenen Innern. Da muss man den ersten Philharmoniker-Pulten rein gar nichts unterstellen, nicht einmal die eigene Trauer über den Untergang einer Ära. Das würde kaum mit Reger oder Pfitzner funktionieren, bei denselben Interpreten, vielleicht geht das wirklich nur mit Schumann und Brahms.

Das zu feiern stärkt und erfreut. Nach der Pause, in Brahms‘ 2. Symphonie, macht Barenboim faktisch nichts mehr, kleine, kleinste Gesten genügen, oft ruht sein Taktstock ganz, wie bei vielen großen Alten vor ihm. Denn das ist die höchste Kunst: in der Musik zu verschwinden. Selbst die Blumensträuße, die man ihm am Ende reicht, rupft er und verteilt sie so akribisch an die Damen des Orchesters, bis von der floralen Pracht nur mehr Gemüse übrig ist.

Quelle DIE ZEIT 12. Januar 2023 Seite 43 In der Musik verschwinden Daniel Barenboim ist wieder da – mit Martha Argerich (von Christine Lemke Matwey).

Der letzte Satz allerdings könnte auch von einem LaMBDA-Programm stammen, das den eingestreuten Witz als Reiz anzuwenden gelernt hat. Für das Leser-Bewusstsein bleibt vorrangig die Erinnerung an das Wort „Gemüse“ und will und will nicht mehr verschwinden.

(Vorläufiges Ende)

Aktueller Hinweis: WDR 3 Hörfunk 17.01.23 HIER (abrufbar bis 22.05.23) (https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-forum/audio-kulturelle-herausforderungen-des-posthumanen-zeitalters-100.html hier)

Und noch etwas: Was ist ChatGPT? Ich hatte Zweifel, ob der junge Mann, der hier mit uns spricht, real oder virtuell vorhanden ist (in der Welt da draußen), aber mir wurde klar, dass dies in der Schönen Neuen AI-Welt wirklich von nachrangiger Bedeutung ist.

Noch etwas: Hier (ein Grundkurs mit 5 Beispielen für die Verwendung des Chatbots)

Des weiteren hier (ein Testgespräch mit einem Open AI Chatbot)

Zu KI (oder AI =Artificial Intelligence) wie immer nützlich (auch betr. Für und Wider) nachzulesen bei Wikipedia HIER

Anmut und Würde?

Komponenten der Schönheit

Bevor wir Schillers philosophische Schriften gründlich zu lesen anfangen, sollte uns klar sein, in welchem Maße unsere Klassiker vom Geist des Griechentums besessen waren. Was immer sie darunter verstanden, – keine Skepsis kann uns darüber hinweghelfen, dass wir allzu wenig darüber wissen und doch glauben, uns davon distanzieren zu können. Kein Wort mehr in dieser Richtung. Wollen wir etwa die Weisheit des Genderismus dagegensetzen, wenn uns jemand mit den Grazien kommt, oder sein Schönheitsideal aus den Proportionen der Venus ableiten will?  Halten wir doch erstmal inne, sobald wir wissen, dass uns einiges an notwendigem Wissen fehlt, wenn Friedrich Schiller also anhebt:

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, Dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttin von Cnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht. Juno, die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt (den man der Gattin Jupiters keineswegs abspricht), ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Was ist mit dem Gürtel? Wer genau ist die Göttin von Cnidus? Hier ist der erste Schritt zum Verständnis. Hätte jemand geahnt, dass die griechische Nackheit durchaus nicht so selbstverständlich war, wie seit den Jahren der Wiederentdeckung vorausgesetzt wurde? Wiedergeburt, Renaissance. Dass die Scham, zumindest die weibliche, ein Thema war? Nichts falscher als an die Kriterien einer FKK-„Kultur“ zu denken. (Siehe am Ende des Artikels zum David hier). Wohlgemerkt, bei Wikipedia heißt es:

Der Bildhauer habe dann zwei Versionen angefertigt: eine vollständig bekleidete und eine völlig nackte. Die schockierten Einwohner von Kos hätten die Nackte zurückgewiesen und die bekleidete Version gewählt.

Von der letzteren ist keine Kopie überliefert. Nimmt uns das wunder?

Der Gürtel! Verstehen Sie, was er bedeutet? Siehe dazu hier. (Nebenbei auch hier.) Was also ist der Unterschied zwischen Schönheit und „Anmuth“? Hat Anmut immer mit Bewegung zu tun? (Ist es unanständig, in diesem Zusammenhang an Sex appeal zu denken? Man schaue nur auf das Knäblein an der Seite der weiblichen Figur, eine Priapus-Gestalt, die jedoch – wie die ganze Skulptur – aus römischer Zeit stammt. Man mag sie nicht geil nennen.)

Weiter mit Schiller:

Die Schönheitsgöttin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne übergehen.

Die nämlichen Griechen empfahlen Demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein Neigung einflößen kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern als folgenden Sinn einschließen.

Bemerkenswert übrigens, dass Schiller auch von „Demjenigen“ spricht, und dass die Grazien auch dem Manne gewogen sein sollten, ja unentbehrlich sind, wenn er gefallen will.

Anmuth ist eine bewegliche Schönheit; eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz Besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig sei, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft aufdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deßwegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweitens etwas Zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bei dem Minderschönen und selbst bei dem Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minderschöne, auch das Nichtschöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas Zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön sein, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben; die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es gibt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Eine andere Zwischenfrage, die noch nicht im Text anklang: Was ist eigentlich Moral?

Wir verstehen darunter oft – sehr vereinfacht – ein menschenfreundliches Wertesystem, gern auch (einfach) ein christliches. Und wenn Nietzsche Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen“ bezeichnet, hat er sich offenbar dieses Vorurteils bedient. Obwohl gerade er wusste, was alles ins Gebiet der Moral fällt, eben auch die von ihm präferierte „Herrenmoral“. Im philosophischen Sinne halten wir uns an das Metzler-Lexikon: demnach bezeichnet Moral

den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. Moralen differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der Moral ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede Moral ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv.

Ich füge diese (unvollständige) Definition an dieser Stelle nur ein, um daran zu erinnern, dass man Schillers Begrifflichkeit nicht allzu intuitiv auffassen sollte, sie bezieht sich ja unmittelbar auf KANT; wobei aber nun die leichtere Lesbarkeit nicht ohne Tücken ist. Verstehen wir nicht zu schnell! Folgen wir Schiller in bedächtiger Leseweise. Ich wechsele auch regelmäßig zu anderen Schriftbildern (Dünndruckausgabe der 50er Jahre) oder in die Wiedergabe des Projekts Gutenberg . Und folge Schiller weiter in seiner Antwort auf die zuletzt gestellte Frage:

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazie nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttin von Cnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da, wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur: darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft: darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel zu entwickeln und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sei mir erlaubt, zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in so viel andern Fällen, wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahnet und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Bevor Schiller nun einen neuen Begriff einführt, den der architektonischen Schönheit – wohlgemerkt: des Menschen –

Mit diesem Namen will ich denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

möchte ich mich einschalten, um jenseits aller modernen Wokeness-Bedenken ein paar Beobachtungen zu verbalisieren, die sich aus alten Gewohnheiten heraus nicht eliminieren lassen. Man registriert andere Menschen nicht, ohne insgeheim ihr Aussehen zu bewerten (oder auch zu relativieren). In welche Runde man auch immer gelangt, – ob real oder als Fernsehzuschauer/in – man weiß, wer gut aussieht, oder bei wem man, sagen wir, von einer instinktiven Bewertung absieht, oder auch abstreitet, dass dies überhaupt eine Rolle spielt. Immer wieder kommt man aber zu der Erfahrung, dass jemand im Laufe eines Gespräches auf geheimnisvolle Weise sein/ihr Aussehen ändert. Klartext: wer hässlich wirkte, erscheint plötzlich ausdrucksvoll, um nicht zu sagen „schön“. Die Gesprächsbeiträge haben den naturgegebenen Ausdruck des Gesichtes überlagert. Ich kann natürlich grundsätzlich jede Äußerung über „gutes Aussehen“ oder gar „Schönheit“ unterlassen oder zurückweisen, was aber nicht garantiert, dass die Einschätzungen im Untergrund nicht um so heftiger ihr Unwesen treiben. Eine Frau, die noch keinen Ton gesagt hat, kann mir die Kehle zuschnüren. Angesichts eines (jungen) Mannes neutralisiert man sich gern mit Spott (und der Melodie: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön!“).

Ganz verpönt ist der Ausdruck von der „schönen Seele“ (anders noch als: „Gutmensch“), er wirkt ebenfalls sofort ironisch, und wenn er bei Schiller auftaucht, muss man ihn fortwährend „passend“ paraphrasieren.

Ich bin allerdings glücklich über Schillers Begriff von der architektonischen Schönheit des Menschen. Und würde ihn auch anstandslos auf das Tier übertragen, auf ein edles Pferd, natürlich auch auf einen Schmetterling, sogar auf eine Raupe oder eine Kröte; bei deren Charakterisierung wir vielleicht das Wort Anmut vermeiden würden, außer bei übertrieben poetisierender Tendenz. Bei Gelegenheit schaue ich nochmal in das Buch von Josef H. Reichholt (der wohl immer schon gut aussah).

  s.a. hier (u.a.Bredekamp)

Was ist es nun, das sich verändert, wenn ein Mensch nach einem Gespräch anders aussieht als vorher?

Wir folgen Schiller:

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt, diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues ( architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt), sondernder auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur, welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück, welches das Bildungsgeschäft der Natur vor jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grunde liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke, noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues  [← Achtung: im Gutenberg-Text steht an dieser Stelle sinnloserweise das Wort „Balles“] durch den Begriff, der demselben zum Grunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isoliert doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein rein ästhetisches Urtheil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn, sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann nie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur in sofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses Letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, welches einen Widersprach einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höhern Bestimmung ist; denn wäre dieses, so würde die nämliche Bildung aufhören, schön zu sein, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte; so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt; man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in sofern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung, zugleich mit den Bedingungen zusammentrifft, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

(Fortsetzung folgt)

Wenn man vielleicht etwas schockiert wahrgenommen hat (siehe Wikipedia-Artikel oben), wie realistisch „man“ in der Antike die Weiblichkeit einer Statue zur Kenntnis nahm,

Der Überlieferung zufolge war die Figur derart lebensecht, dass sich ein junger Mann in der Cella des Tempels einschließen ließ und mit ihr zu verkehren versuchte. Ergebnis dieser Bemühungen sei ein unauslöschlicher Fleck auf der Rückseite eines Oberschenkels gewesen, der offenbar tatsächlich vorhanden war und den Anlass zu dieser Erzählung gegeben haben könnte.

wird man auch Schiller leichter zugestehen, dass er die antike Kunst nicht nur unter dem Aspekt der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gesehen hat, und dass in seiner Zeit ebenso wie 100 Jahre später fortwährend das Frauenbild moralistisch justiert oder entmythologisiert wurde. Daher habe ich an dieser Stelle für mich auch andere Lektüren interpoliert, in denen es um die Bedeutung der Renaissance für die deutsche Klassik geht  und zugleich um die Gender-Motivik der heutigen Forschung. Z.B. in dem lesenswerten Buch Interkulturellr Transfer und nationaler Eigensinn Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften / Herausgegeben von Rebekka Habermas und Rebekka v. Mallinckrodt. Darin besonders interessant der Beitrag von Michael Wenzel über „Das weibliche Bildnis der Italienischen Renaissance“. (Siehe auch hier.)

  Wallstein Verlag ISBN 3-89244-731-4

  Flora, Frühling, Braut, Schauspielerin, Kurtisane?