Archiv der Kategorie: Kultur

Händel hören

DER MESSIAS

So schön und ergreifend habe ich das Werk wohl noch nie gehört. Ich habe es sehr oft als Geiger  mitgespielt, und – abgesehen von vielen Kostbarkeiten – als furchtbar anstrengend empfunden, vor allem als viel zu lang. Jetzt haben wir es zu Silvester nach der Knallerei um 0:00 bis etwa 2:00 (bis zum Hallelujah) gehört, ohne Ermüdungserscheinungen, einfach mit Begeisterung und guten Erinnerungen. Man darf halt nicht an die Passionen von Bach denken, dessen Originalität in jedem Takt greifbar bist. Er komponiert „dichter“, was nicht bedeutet, dass Händels flächige Formen leer und phrasenhaft sind. So eilig er komponiert hat, für ihn gilt: Er hat Zeit und verlangt von uns: ZEIT. Ermüdungserscheinugenn einzelner Geiger interessieren ihn nicht.

Chor accentus und Insula Orchestra unter der Leitung von Laurence Equilbey

Solisten sind der englische Tenor Stuart Jackson, der amerikanische Bass Alex Rosen, der polnische Countertenor Jakub Jozef Orlinski und die französische Sopranistin Sandrine Piau.

Aufzeichnung vom 01. April 2024 beim Osterfestival in Aix-en-Provence.

Verfügbar bis 3.4.25

https://www.arte.tv/de/videos/119039-000-A/georg-friedrich-haendel-der-messias/

HIER ab 54:25 Zweiter Teil

darin ab 112:05 Thy rebuke hath broken His heart

das Rezitativ, das mich früher schon am meisten erschüttert hat. Ungewöhnlich und stark, die Intensivierung durch bloße Text-Wiederholung: „Er schaute umher, ob ein Mitleid sich regte: aber da war keiner, da war auch nicht einer, zu trösten ihn.“ Leicht gesagt, dass es wieder einmal die Wirkung eines „Neapolitaners“ und die (ungefähre!) Sequenzierung der Melodielinie ist, die für Wirkung sorgt, – es ist auch der Mut zur Einfachheit, der uns anrührt, gerade wenn wir an Bachs Koloraturen zu „und weinete bitterlich“ denken.

Aber hören Sie doch auch vorher die Chorfuge bei 1:06:55, zu deren Thema ich an anderer Stelle ähnliche Themen aus Bach und Mozart zusammengestellt habe (hier).

Ach, und viel früher: lassen Sie sich nicht die unglaubliche Alto-Arie entgehen, die mit Langeweile anzuheben, sich in kleinteiligen Wiederholungsmotiven zu verzetteln scheint, bevor ein pathetisch ausladender Melodieteil die Wahrheit sagt, „er ward verschmähet, verschmähet und verachtet“, und in dem erregenden Geißelungsmotiv der Streicher tritt die offene Agression hervor, man vergisst es nie mehr ! Ab 00:57:00 !

Unglaublich die Steigerung zum Schluss, hin zum „Hallelujah“ (1:31:06), in attacca genommenen Übergängen, während die Solisten ans stimmliche Limit gehen, mit offenbar gewollten Druckmomenten, um uns in dem berühmten Jubelsatz in erstaunlicher Gelöstheit und einer nicht forcierten Erlösungsgewissheit zu entlassen.

Wir sind bereit für eine weitere halbe Stunde, die mit einer überirdischen Arie beginnt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ – „I know that my Redeemer liveth“.

Ich rede fast wie ein Christ und bin doch sicher, dass man auch ohne bibeltreuen Glauben mit solcher Musik vollkommen glücklich sein kann. Vollkommen.

ZARLINO oder wie die Welt…

… wie die Welt des Wissens sich verändert hat

Besitzergreifung mit gerade 14 Jahren – Lesespuren

Was davon habe ich verstanden und behalten ??? Ohne die Musik hören zu können – oder zu vermissen?? Zarlino hier und dort in einer Reihe neuer Namen… Aber heute stehen fast alle in meinem Bücherschrank, abgesehen von Glarean und Zacconi. Im Zeitalter des Internets hätte ich nicht einmal der Nachschlagewerke Riemann (alt und neu), Groves (zweimal), MGG (alt und neu) bedurft, deren Anschaffung sich über „meine“ Jahrzehnte verteilt.

Zarlino 1573

Nun stellt sich heraus, dass niemand, der dieses Werk nicht besitzt, unglücklich sein muss. Denn er kann darüber im Internet nachlesen, ja, er kann es insgesamt digital durchblättern, nämlich hier.

Damit nicht genug: er/sie kann es ingesamt in deutscher Übersetzung abfragen, und zwar hier. Im Folgenden sehen Sie als Beleg nur ein Teil der Inhaltsangaben (Weiteres siehe an Ort und Stelle):

Gibt es auch Musik von Zarlino zu hören?

Wer war Jürgen Becker?

1964

Das Buch habe ich erworben, nachdem ich, aus Berlin kommend, nach Köln-Niehl gezogen war, gewillt, in der Domstadt richtig Fuß zu fassen, zumal mir das in Berlin nicht besonders gelungen war. Etwa so wie Jürgen Becker sein engeres Umfeld in dem Buch „Felder“ bestätigte und durch gute, wirklichkeitsnahe, bewusst ausdruckslose Sätze dokumentierte, so wollte ich es auf meine Weise tun. Und aus welchen Gründen auch immer – ist es mir nicht gelungen, vielleicht weil ich sonst keine Vorbilder hatte außer Benn, Proust und Musil. Und keine Heimat in Köln. Oder richtiger: weil ich die Musik hatte, die Instrumente, und zwar mit der Dauerforderung: Du sollst üben! Und zwar in Richtung virtuose Technik. Und vor allem: nie ausdruckslos.

Jürgen Becker in Wikipedia hier. † 7.11.24

Erst nach 60 Jahren diese Wiederbegegnung, absichtsvoll.

6.12.2024

Ein wunderbares Buch. Er ist nie zu spät! Dank an JMR.

Jürgen Giersch

50 Jahre sind vergangen

Hamburg 1974 (2024)

(Blick in die Ferne – ein Trost nach dem Beinbruch)

Wer ist Jürgen Giersch?

Es ist schön, den ganzen Formenreichtum vorüberstreichen zu lassen, der im Laufe eines Lebens entsteht, Bild für Bild, sehenden Auges und in der Imagination versunken. Zurückkehrend das eine Bild zur Wirkung aufsteigen zu sehen, von dem du ausgegangen bist und bei dem du verweilen möchtest. Ein Stück Welt als Abbildung, die zu dir spricht und keiner Worte bedarf. Es hat Ähnlichkeit mit einem differenzierten Klang. (JR)

Mysterien des Dionysos

Immer wieder muss ich darauf zurückkommen, zuletzt war es hier, auch wenn der Artikel auf ganz andere Themen auszuweichen scheint.

Ein neuer Blick auf Pompeji

Heute würde ich das bewunderswerte Buch von Zuchtriegel zum Ausgangspunkt für einige zusätzliche Erkundungsreisen ins Internet verwenden.

Quelle: Wikimedia Wolfgang Rieger 2009

https://de.wikipedia.org/wiki/Mysterienvilla hier

Quelle des folgenden Zitates siehe im nachfolgenden Wiki-Link:

Friedrich Nietzsche hat mit seiner Unterscheidung zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik einen wichtigen – im Einklang mit den antiken Denkern stehenden – wenn auch zu seiner Zeit kontroversen Beitrag zur Deutung des Dionysoskultes wie des Theaters geleistet. Unter dem apollinischen Prinzip versteht er das Prinzip der Individuation; das entgegengesetzte dionysische Prinzip ist daher nicht das Aufgehen des Einen im Vielen, sondern umgekehrt das Aufgehen des Vielen im Einen. Wenn also zum Beispiel Heraklit sagt:

Alles ist eins, so ist das dionysisch. Folglich kommt Nietzsche zu dem Ergebnis: Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen den Menschen wieder zusammen, auch die entfremdete und feindlich unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest ….

Dieser Rückblick auf Nietzsches frühes Werk kommt meinen autobiographischen Neigungen sehr entgegen. Zumal wenn ich den spannenden Artikel über den Dionysos-Kult studiere und einen riesigen Horizont wahrnehme, von dem ich in den 50er Jahren nicht die geringste – oder nur eine ganz dunkle Ahnung hatte, dank Nietzsche (und seinem Wagner):

hier

Quelle: Wiki a.a.O.

Nicht sicher, ob es einen nach so vielen Jahren in einer großen Ekstase heilt. Oder letztendlich zerreißt. Vielleicht etwas weniger spektakulär als Pentheus.

Zurück zur Natur, bloß nicht!

So ganz nebenbei lässt man das gern einfließen und meint es doch nur in einem klar begrenzten Bedeutungsbereich.

Etwa in einem ökologisch ausgeglichenen, harmonisch funktionierenden Bereich der Natur. Wo das Fressen und Gefressenwerden einander die Waage hält. „Von selbst“. Aber doch nicht unter den Menschen. Als Krieg aller gegen alle. Wo die Anwendung physischer Gewalt also naturgegeben wäre?

Thea Dorn verdient sicher keinen Widerspruch, wenn sie zu einer Filmserie schreibt:

Quelle: DIE ZEIT 30. Oktober 2024 Seite 45 / Der Cowboy wechselt die Seiten / Nach der US-Wahl starten die neuen Folgen von »Yellowstone«. Die Serie macht Vergnügen. Oder Angst. Oder Hoffnung? Von Thea Dorn.

Sollten wir nicht auch unsern Hobbes in diesem Sinn gelesen und verstanden haben? Was sagt er denn? Siehe Wikipedia hier. Man lese dort über „Das radikal autonomisierte Individuum“. Die Idee von einem  „Naturzustand“ des Menschen führt zu einer unzulässigen Abstraktion: diesen losgelösten Einzelnen gibt es ja gar nicht. Nie und nirgendwo.

Auch der „Krieg aller gegen alle“ existiert nur als Abstraktum, konkret denkt man von vornherein an kriegerische Gruppen, z.B. Familienverbände, die sich absichern. Und die wiederum – um ihre Chancen zu verbessern – Bündnisse schmieden. Eine Form der Politik zumindest wäre „naturgegeben“.

Aber zurück zum Wilden Westen, wie lange dauerte es denn da bis zu einer amerikanischen Verfassung?

Alfred Krings (100)

Wer erinnert sich noch an ihn im WDR? Wo finde ich eine Gedenksendung für den ideenreichsten Musikchef, der je fürs Kölner Radio gearbeitet hat? Der u.a. dafür gesorgt hat, dass der WDR zum größten und vielseitigsten Musikveranstalter in NRW geworden ist?

Für Hans Martin Müller, der seinerzeit als Solo-Flötist viele Jahre im WDR Sinfonieorchester gewirkt hat, bleibt er unvergessen, und er hat jetzt dafür gesorgt, dass der 22. Oktober 1924 als besonderer Tag ins Bewusstsein vieler Menschen rückt, die kaum bemerkt haben, dass im Radio-Programm und Im Konzertleben fast alle seine Spuren verwischt sind. Eine der bemerkenswertesten – pars pro toto – hinterließ die Reihe „Nachtmusik im WDR“, die Krings 1972 gründete: jahrzehntelang sorgte sie live für Sternstunden mit einer global ausgerichteten Auswahl.

 

Krings (ganz links) nach einer der Veranstaltungen „Alte Liturgien in Romanischen Kirchen Kölns“ (Foto WDR)

Die letzte, ganz kurze Info ist die einzige Spur seines Lebens, die sich im angeblich allumfassenden Internet leicht finden ließ. Dazu eine Auflistung aller Schallplatten, für die er verantwortlich zeichnete: hier. Ab 1960 bis 1987 bzw. indirekt weiter bis 1999, nach seinem Tode.

Nur das Collegium aureum betreffend, siehe auch hier

Von der schwierigen WDR-Wende der 60er Jahre in der Praxis Alter Musik berichtet die Chronik „50 Jahre Alte Musik“:

Quelle Thomas Synofzik: Collegium musicum und Collegium aureum /oder: Vom Rundfunk zur Schallplatte / Aus: 50 Jahre Alte Musik im WDR 1954-2004 / im Concerto Verlag mit dem Westdeutschen Rundfunk

Völlig neue Horizonte in der Weltmusik öffnete Krings 1969 mit seinem programmatischen Blick auf die Zukunft der Volksmusik, wenngleich es noch etwas vorsichtig anklang: „Durch die Zusammenarbeit mit dem Kölner Institut für vergleichende Musikwissenschaft ergaben sich verschiedene Anregungen mit Musik aus aller Welt.“ WDR-Aufnahmereisen u.a. nach Korea, Bali, Indien und Afghanistan (1974) setzten bald Maßstäbe. Krings gab der Musikethnologie eine Stimme, Marius Schneider und Josef Kuckertz traten durch Radiosendungen an die breite Öffentlichkeit.

Quelle Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk / Eine Dokumentation der Hauptabteilung Musik 1958-1968 / WDR Köln

Benares – das Buch

…und noch viel mehr aus Indien

Ich finde es wichtig, für den Laien vorweg zu klären, was es mit dem Wort LINGA auf sich hat. Gleich zu Beginn des Buches heißt es:

In Benares (…) ist kein Fleck ohne Linga, das phallusförmige Zeichen und Emblem Sivas.

Fehlverstanden, sobald man es so deutet, als sei es eben ein Zeichen für den Phallus, also eine sexuelle Reduktion der Kraft Sivas. So war es auch in der Zeit, als vom sogenannten „Bhagwan“ und seinen Praktiken mehr die Rede war, als von der Essenz jener zutiefst fremden Religion, auch trotz Ravi Shankar und Yehudi Menuhin. Vielmehr ist diese in einer so simplen Formel nicht zu fassen, sobald man  einen neugierigen Blick in den Wikipedia-Artikel wagt…

Linga unter Wikipedia hier.

Im Urlaub auf Texel wollte ich das große Lob auf dieses Buch schreiben, das ich vor Jahrzehnten verpasst habe, und zunächst ein typisch westliches Missverständnis klären, – nicht ahnend, dass das wirklich klärende Buch bereits unterwegs zu mir war: alles Nötige zu Shiva und zu der grandiosen Weite der indischen Religionsauffassung. Es genügt, zunächst ein paar Seiten aus diesem Werk wirklich zu verinnerlichen:

Niels Gutschow, Jan Pieper 

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgehen, dass noch ein dritter Autor beteiligt ist, nämlich Bernhard Kölver. Dennoch schreibe ich mein wiedererwachtes Interesse allein der Ausstrahlung des Autors Niels Gutschow zu, dessen Gesamtwerk in vielerlei Hinsicht imponierend ist. (S.a. hier.) Von ihm stammt denn auch das an Kölvers Darlegungen anschließende Kapitel über die Religiosität, das eine augenöffnende Bilderserie einrahmt und zugleich vorbereitet auf die Essays über indische Tempeltypen, deren Wesen sich mir erst hier zu erschließen begann, nicht während meiner Indien-Reisen, also in der direkten Konfrontation mit den Bauwerken. Sie hatten mich völlig ratlos gemacht. Ebenso die Überfülle eines alten Buches, das mich früher gefesselt hatte: Heinrich Zimmers „Maya – Der indische Mythos“ (1936/1952). Was mir fehlte, war ein Kapitel, dessen Fehlen man in diesem Indien-Buch, das wie ein Reiseführer aussieht, vielleicht gar nicht bemerkt hätte: „Äußerungen der Religiosität“. Es ist da!

Man könnte als Merkformel herausnehmen:

Wo war ich im Januar 1997? Wo hatte ich meine Augen?

War es dieserTempel? Tempel sahen wir nur als Touristen!

Reisenotizen JR

Ich fürchte, es war dieser kleine Tempel, den ich als „Kürmelskammer“ bezeichnet habe. Was wir noch sahen, damals im Januar 1997: Mahabalipuram. (Fotos: E.Reichow)

Infos dazu heute hier

Weiteres aus der damals versäumten Quelle des Wissens:

Jan Pieper in dem oben abgebildeten Buch: Indien Von den Klöstern im Himalya zu den Tempelstädten Südindiens / DuMont Buchverlag Köln 1978 (9.Auflage 1993) / Autoren: Niels Gutschow und Jan Pieper.

Allerdings muss ich einräumen: ich habe jetzt in der Vergangenheit recherchiert, es gibt auch neuere Indien-Führer, die ich nicht angesehen habe, ich will sie wenigstens verlinken: hier (der Norden), hier (der Süden), der Autor des ersten: Hans-Joachim Aubert. (Seine umfangreiche Reisetätigkeit überzeugt mich nicht von vornherein, – ob etwa die Expertise über indische Tempel den Kauf des Buches rechtfertigt. Als praktische Reisebegleitung ist es sicher auf dem neuesten Stand.)

(Fortsetzung folgt) über den Film (s.a. hier im Blog http://s128739886.online.de/forschung-in-nepal-und/ hier) – dort also anknüpfend:

Inhaltsverzeichnis

Das wunderbare Vorwort von Thomas Tode zu Buch und Film:

Verzeichnis der Drehort-Abfolge im beigefügten Video:

Bezugsquelle dieses Buches mit DVD „Shiva’s Places“

Verlag Peter Hess

Goebel – alte Texte wieder frisch

Oder: Ein Vermächtnis aus jungen Jahren, fortgesponnen

Wie soll man darüber reden? Der einst revolutionäre Griff nach der Alten Musik ist brisant geblieben, man staunt, dass wirklich Jahrzehnte vergangen sind, seit man sie – um Bachs und Monteverdis willen – insgesamt zur Kenntnis genommen hat. Und nicht nur dank Reinhard Goebel und in seinem unmittelbaren Umfeld. Es hat insgesamt – man kann sagen: weltweit – Schule gemacht. Man beachte, was allein die Heidelberger Schola – inspiriert durch die Neue Musik – an Projekten entwickelt hat, etwa zum Rätsel Gesualdo da Venosa („Eros und Gewalt“ ).

Zurück zu Reinhard Goebel, dem man heute vielleicht zum ersten Mal auf die Schliche kommen kann, ohne das Gesamtwerk in hundert Einzelaufnahmen und zahllosen verstreuten Quellen um sich versammeln zu müssen. Überhaupt: für seine glänzende Sprache braucht man kein Studium (das hat er selbst schon geleistet), sondern das gleiche unstillbare Interesse an lebendiger Musik, das ihn selber auszeichnet.

Geplant waren einige Anmerkungen, die ich während der Lektüre des Goebel-Buches besonders memorabel fand. So im ersten Text (Seite 15 ff) » Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…« die nicht weiter spezifizierte Quelle eines FAZ-Artikels aus dem Jahr 2009, der Goebel zu den Worten veranlasste: „Alles hier über Rezeption und Darstellung des Mittelalters Gesagte trifft auch den musikalischen Barock-Nagel mitten auf den Kopf.“ Schon ist der Goebel-Fan begierig, so detailliert wie möglich zu eruieren, worum es sich dabei handelt, und stößt dabei auf ein Buch, das in der  Anmerkung 1 des Vorwortes einen klärenden Weg zur Quelle anbietet.

¹Mittelalter-Symposion. Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. 24.09.2009−26.09.2009. Pädagogische Hochschule Freiburg. Vgl. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667 (Konferenzankündigung von Thomas Martin Buck); http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2835 (Tagungsbericht von Nicola Brauch). Siehe auch den Bericht von Maik NOLTE, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2009, Nr. 302, S. N3.

Das Werk lohnt sich insgesamt als Einübung in die Mediävistik, vorausgesetzt man lässt sich wirklich auf die echte Fährte ein: Hier ist das gesamte Vorwort und die Inhaltsangabe zu dem betreffenden Mittelalter-Symposion, das 2009 in Freiburg stattgefunden hat.

Aus fünf Kapiteln Fankreich von »Le Roi Danse« bis Spätbarock

Man definierte sich in Frankreich ganz einfach und rigoros neu, löste alle alten Bindungen und schuf neue Wege, die Musik optimal der Prosodie der französischen Sprache anzupassen. Selbst der Opern-Prolog diente nicht mehr dazu, die Götter als die das Schicksal bestimmenden Mächte einzuführen. Stattdessen sang man hier unverhohlen das Lob des Herrschers, und slbst des Göttern war es eine Ehre, dem Sonnenkönig zu huldigen: Selten wurd Musik so eindeutig zum Politikum.

Dem reinen, absoluten Gehalt der Sonate oder des Concerto jedoch standen die Franzosen weitgehend ratlos gegenüber. Frankreich geriet in Aufruhr, als nach mehr als 60jähriger Herrschaft des Sonnenkönigs mit Konzerten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« erstmals wieder unpolitische, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Musik zur Aufführung kam. (…) Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen

Nie aber ist sie intellektuelle Kunst, die um ihrer selbst willen existiert und wahrgenommen werden will. Das Absolute ist ihrem Wesen fremd. (Goebel Seite 27)

Im Jahr 1700 lag übrigens auch eine der Notenschrift im weitesten Sinne vergleichbare Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen vor, (…) basierend auf den Vorarbeiten des Monsieur Pierre Beauchamp, der 1635 geboren, noch mit allen Meistern der Frühzeit – Robert Cambert, Molière und Pierre Perrin – gearbeitet und sämtliche Opern und Ballette des königlichen Hofes bis 1686 choreographiert hatte.  (…)

Zum Debütstück für den ersten solistischen Auftritt dieser jungen Mädchen wurde nach 1715 das Werk »Les Caractéres de la Danse« des Lully-Schülers Jean-Féry Rebel, der zwanzig Jahre später mit seinem inzwischen wieder häufiger gespielten »Le Cahos« noch ein weiteres Mal Geschichte schreiben sollte. Die Tänze – sie basieren übrigens auf der Idee des Sonnenkönigs, dass alle Provinzen Frankreich[s] durch einen typischen Tanz am Hofe zu repräsentieren seien – haben alle neben einem charakteristischen Tempo ein klar bestimmtes Figuren- und Bewegungsprofil, und so wurde das Stück zum Prüfungsstück für die Tänzerinnen – nicht nur in Paris, sondern auch in London und Dresden – und obgleich man immer behauptet, dass »Les Caractéres« völlig neuartig gewesen seien, basiert das Werk dennoch auf dem Auftritt des Maître des Danse in der ersten Szene von Molières und Lullys »Bourgeois Gentilhomme«, wo der Tanzmeister dem einfältigen Bürger Jourdain einen kurzen Einblick in seine Kunst gewährt […]. (Goebel Seite 29)

Youtube-Beispiele, an dieser Stelle nicht durch das Buch autorisiert, sondern vom Abschreiber JR als Nachhilfe ausgewählt und eingefügt:

Erinnerung an die Aufnahme vom „Bourgeois Gentilhomme“ mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (1973):

Man höre sorgfältig die Ausführung der Ouvertüre, insbesondere die Punktierungen, um zu verstehen, was 10 Jahre später geschehen ist. Uns Mitspielern war oft selbst nicht recht klar, welche alten Schriften zur Überpunktierung „berechtigten“ oder warum und ab wann es doch wieder anders zu lesen oder zu interpretieren war. Der Name Neumann (Frederick) wurde genannt, ohne dass damals die leichte Internet-Orientierung von heute vorauszusetzen war, es blieb im ungefähren. Goebels Aufnahmen der Bachschen Ouvertüren entstanden in den Jahren 1982 und 1985, für mich ganz starke Eindrücke, – sie beruhten auf den neuen Überlegungen, die Goebel auch gewissenhaft dargelegt hat (Seite 150 ff). Heute könnte man das hier nacharbeiten: Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music, with Special Emphasis on J.S. Bach (Frederick Neumann 1978).

Goebel:

Diese Auffassung von den synchronisierten Überpunktierungen basiert eindeutig auf Fehlübersetzungen und -interpretationen der Flötenschule von Quantz (XVII. Hauptstück, VII. Abschnitt, § 58).

(…) Für den Tuttisten um 1720 galt genau die gleiche Regel wie für den Tuttisten des 20. Jahrhunderts: Kein rhythmischer Wert wird verändert. Wenn Quantz dennoch von scharfen Punktierungen redet, so im Zusammenhang von Tanzsätzen nach französischer Manier -aber die Ouvertüre ist nun einmal kein Tanzsatz. Quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Solisten aus augenblicklicher Caprice erlaubt ist, nämlich die Veränderung des vorgegebenen Notentextes, ist dem Tuttisten schlichtweg verboten. (a.a.O. Seite 152f)

Siehe auch hier. (=Blog-Artikel „Wie Goebel in Frankreich“.)

Neugierig geworden: Wer war „Fritz“, ein unbekannter Bach, wie klang seine Musik? Ein Anfang sei gemacht mit diesem Stück aus „Pygmalion“:

Alle Titel der Goebel-CD „Cantatas of the Bach family“ anspielen: hier

Dreißig Jahre lang stellte Johann Sebastian Bach die musikalische Speerspitze der Welt: Sie war immer genau dort, wo er war, in seinen Händen und auf seinem Schreibtisch. Um 1735 aber drängten ambitionierte Konkurrenten auf den Markt und zeigten Bach, wo das neue Vorne war: im galanten Stil, der sich ab 1715 von Neapel aus nach Norden verbreitete und der flamboyanten, religiös bedeutsam verschlüsselten und manchmal auch überlasteten Musik des Spätbarock etwas entgegen stellte – eine einfachere Musik mit leichter verstehbarer Harmonik und im weitesten Sinne singbaren Melodien mit weniger komplexer Polyphonie.

Bachs Söhne, ebenfalls gestandene Musiker, die zu einflussreichen Komponisten heranwuchsen, hatten das Handwerk bei ihrem Vater gelernt – aber bei aller Verwurzeltheit in der Tradition des großen Johann Sebastian sind diese modernen Einflüsse auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Wilhelm Friedemann Bach deutlich zu erkennen. Bei Carl Philipp ist der Prozess der musikalischen Emanzipation nur noch mittelbar nachvollziehbar, da er einen guten Teil seiner Kompositionen aus jener Umbruchzeit verbrannte – eine hier erstaufgenommene Sinfonie in F-Dur kann ihm mit der nötigen musikwissenschaftlichen Vorsicht zugeschrieben werden.

Ebenfalls eine Weltpremiere ist die Aufnahme der dreisätzigen Solo-Kantaten Carls »Ich bin vergnügt mit meinem Stande«. Eine gar dritte Erstaufführung erlebt hier die Sinfonie in B-Dur Wilhelm Friedemann Bachs. Abgerundet von Musik von Bachsohn Johann Christoph Friedrich und einer Kantate des Übervaters Johann Sebastian selbst macht diese grandiose neue Produktion der Berliner Barocksolisten und dem gefeierten Bariton Benjamin Appl unter Leitung von Reinhard Goebel die musikalische Metamorphose des 18ten Jahrhunderts akustisch erlebbar.

Weiterlesen und -suchen:

http://www.musicweb-international.com/classrev/2020/Dec/Bachfamily-Cantatas-HC19081.htm hier

(Ensemble) Pygmalion interprète la Cantate „Es erhub sich ein Streit“ de Johann Christoph Bach sous la direction de Raphaël Pichon. Extrait du concert enregistré le 7 avril 2023 à la Chapelle Royale de Versailles.

Text verfolgen nach analytischer Abschrift ©Clemens Flämig August 2022 (Quelle: https://www.bachipedia.org/werke/bwv-19-es-erhub-sich-ein-streit/ hier)

Da ich die Goebel-CD seltsamerweise übers Internet nicht bestellen kann, habe ich einen Ersatz finden müssen (27.09.24), bemerkenswerterweise schon aufgenommen 1988:

Text: Hannsdieter Wohfahrt

ENTSCHULDIGUNG! Da ich von Goebels im Buch veröffentlichten Texten ausgehe, zu denen ich mich etwas frei „auslasse“, – auch ohne alle CDs besitzen, denen sie ihre Entstehung verdankten -, kann ich in einer gewissen Konfusion enden wie JETZT. Ich hatte gehofft, mehr über „Pygmalion“ und den Bückeburger Bach-Sohn zu erfahren, fand Goebels Ausführungen wie immer erhellend, ohne recht zu bemerken, dass er sich unvermerkt gänzlich auf das die CD abschließende Werk des alten Bach bezieht, die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, mit einigen Seitenblicken wiederum auf dessen rhetorische Prinzipien docere, movere & delectare. Für uferloses Staunen und Studieren sei auch der Youtube-Link wenigstens zu dieser Aufnahme beigesteuert: hier.

In Goebels Text blieb ich u.a. stecken bei der Bemerkung:

Zauberhaft unbeantwortet bleibt die Frage: »Hat er nun, hat er nicht?«

Erst allmählich fiel der Groschen: Diese Frage kann sich nur aus dem maßlosen Wunschziel des „Pygmalion“ ergeben, – wobei Goebel seinen Kopf dezent aus der Schlinge zieht, indem er von dem sinnlichen Begehren hinüberlenkt zu der Todesfreude des trunken in den Himmel tanzenden Simeon, und damit zur „Climax“ der Kantate „Ich habe genug“. Was mir an Reinhard Goebel von Anfang an auffiel, war sein eigenartiger Humor, eine zuweilen etwas drollige Respektlosigkeit. Bei den Aufnahmeprojekten unseres Lehrers Franzjosef Maier inmitten des Ensembles Collegium aureum erlebte ich ihn 1974 zum erstenmal als jungen Kollegen, witzig, wortgewandt, aufmüpfig, belesen. „Missa Salisburgensis“! Siehe alle Mitwirkenden…

1974

Kein Zweifel: man sollte auch seine „besserwissende“ Aufnahme kennen:

1989 (2024)

(Blog-Artikel unvollendet, Fortsetzung folgt, vielleicht)

Zuschrift aus Düsseldorf-Oberkassel betr. einen SWR-Link zu aktuellsten Goebel-Sendungen, 10.10.2924, Dank an Christel H.!

https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/reinhard-goebel-der-Kopf-macht-die-musik-100.html HIER