Archiv der Kategorie: Arabische Welt

Die Wüste als Utopie

Ibrahim al-Koni und sein verlorenes Paradies

Von Hans Mauritz

Altes Stadttor in Ghadames (Libya)

Ibrahim al-Koni ابراهيم الكوني wurde 1948 in einer Oase in der Nähe von Ghadames in der nordwestlichen libyschen Sahara geboren. Seine Muttersprache ist Tamasheq, eine der Sprachen der Tuareg. Erst mit zwölf Jahren hat er Arabisch gelernt, die Sprache, in der er mehr als 80 Werke verfassen sollte. (1) Ibrahim al-Koni gilt als einer der berühmtesten Schriftsteller der arabischen Welt und als jener Autor, der Wüste und Nomadentum zur Metapher der menschlichen Existenz und zur Gegen-Utopie des modernen Lebens gemacht hat.

Ghadames (Wikipedia 2004)

Er hat seine Heimat sehr früh verlassen und Exil und Fremdheit kennen gelernt, ein anderes Thema seines Schreibens. Wenn er heute nach seiner Kindheit gefragt wird, in der er als Ziegenhirte an Kälte, Hunger und Durst litt und mit der Angst vor Wölfen und Schlangen lebte, antwortet er: „a lost paradise“ (2)

Der junge Journalist zog 1970 nach Moskau, um am Gorki-Institut vergleichende
Literaturwissenschaft zu studieren und sich die grossen Werke der Weltliteratur in russischer Übersetzung anzueignen. Nach einer Tätigkeit als Journalist in Moskau und Warschau liess er sich 1993 in der Schweiz nieder. Dorthin war er 1988 gereist, um sich in Bern medizinisch behandeln zu lassen. Da er kein freies Hotelzimmer fand, wies man ihn ins Dorf Hünibach. Nach der Fahrt mit Zug und Bus stand er recht verloren da. Ein Passant holte kurz entschlossen sein Auto aus der Garage, hiess den Fremden einzusteigen und fuhr ihn die wenigen hundert Meter zum gesuchten Gasthof: al-Konis erste Begegnung mit schweizerischer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. (3)

Thuner See (Schweiz)

Das Schicksal wollte es, dass er sich fünf Jahre später in genau diesem Ort niederliess, wo er „die schönsten und künstlerisch produktivsten Jahre in meinem Leben“ verbringen sollte. Die Romane, die er in seiner neuen Heimat oberhalb des Thunersees verfasst, handeln ohne Ausnahme von der Wüste und den Oasen der Sahara. „Sur la terrasse de son chalet-résidence, Ibrahim al-Koni scrute les dunes de son Sahara intérieur“. (4) Der Tuareg, der nach dem Gesetz seines Stammes nicht länger als 40 Tage am selben Ort verharren sollte, ist sesshaft geworden. „Aber die Freiheit der Umherziehenden kann man in sich selbst, in der Meditation, finden.“ Dieses Exil ist leichter zu ertragen, weil für ihn die Schweizer in ihrer Beziehung zur Natur den Tuareg nahe sind und wie sie eine poetische, mystische, sufistiche Liebe zu ihr empfinden. (4)

Der Sufismus, die islamische Mystik, prägt die Art, wie al-Koni die Wüste darstellt. Das Leben seiner Bewohner spielt sich ab an einem Ort ausserhalb des Raumes und der Zeit. Was geschieht, ist nicht spektakulär. Die Nomaden verharren an einer Wasserquelle und ziehen dann mit ihren Herden weiter. Kinder hüten die Ziegen, Männer ihre Kamele. Viele sind einsame Wanderer, fühlen sich als Fremdlinge und Eremiten. „Gott ist keinem Menschen nahe, welcher nicht nahe ist bei der Einsamkeit.“ Selbst wenn sie zu zweit oder zu dritt durch die Wüste ziehen, schweigen sie, denn die wahre Sprache der Wüste ist das Schweigen. Sie „reden“, „ohne die Worte mit der Zunge zu besudeln (..) Das Schweigen nämlich ist eine Einübung der Seele in die Ewigkeit (..) Du ahnst ja nicht, wie sehr die hässliche Zunge die Dinge entstellt, wenn sie sie ausspricht.“ Das Schweigen ist „das Reden der Ewigkeit“.

Libyen Desert (Wikipedia)

Wenn die Menschen nicht reden, redet die Wüste. Alles Sichtbare ist Metapher für Unsichtbares und spricht mit Zeichen: die unendliche Weite, die Felsen und Steine, die Gräber der Ahnen, der Himmel. Wer dahinzieht, kennt „keine Verlassenheit, weil das Wunder des kahlen Himmels über ihm grossartiger war als alle Geschenke des Schicksals“. Der volle Mond tröstet ihn und sagt ihm, „alles sei nichtig, und was bleibe, seien einzig die Körper des Himmels.“ Wichtiger als das Reden sind für die Nomaden die Musik, die Poesie und der Gesang. Der Singende entdeckt, dass „jedes Wort, das sich nicht in Gesang verwandelt, Geschwätz und Gefasel bleibt.“

Die Umherziehenden haben wenig Sinn für leeres Gerede, weil ihr Herz voll ist von Sehnsucht. „Die Sehnsucht ist das erste Schicksal des Wüstenbewohners.“ Diese Wanderer sind in der Welt Fremdlinge, weil sie wissen, dass sie seit dem Sündenfall ihre Heimat, die paradiesische Oase „Wâw“, verloren haben. Sie glauben, „dass allein der Wanderer in seinem Herzen die Sehnsucht hegen kann, die verlorene Oase zu erreichen.“ Und vielleicht ist das Erreichen nicht der wichtigste Aspekt der Wanderung. Der Umherirrende weiss, „dass das Geheimnis im Unterwegssein liegt, dass das Unterwegssein das Leben ist.“ Es gilt, sich ganz dem Weg hinzugeben, aufzuhören, von der Ankunft zu träumen, und das wahre Glück im Unterwegssein zu finden. „Wird so nicht der Weg das eigentliche Ziel des Wanderers?“ Dieses Unterwegssein ist so wichtig, weil die verlorene Oase vielleicht gar nicht im durchwanderten Raum existiert, sondern allein im Herzen des Wanderers. „Wenn du dein Wâw nicht in dir selbst findest, bei deiner Wanderung, wirst du es nirgends finden.“

Karawane

Auch wenn die Wüste als „Leere“ bezeichnet wird und wir vielen Gestalten als einsamen Wanderern und Eremiten begegnen, ist diese Welt weniger leer als wir vermuten könnten. Neben und mit den Menschen lebt ein Volk, das meist unsichtbar bleibt und sich trotzdem ständig bemerkbar macht: die Dschinnen, die in der Wüste schon lange vor den Menschen ihren Lebensraum hatten und ihre Vorrechte nicht an die neuen Bewohner abgeben wollen. „Die erste Lektion, die jedes Kind von seiner Mutter lernt, ist „dass es in die Wüste als Gast der Dschinnen gekommen ist und dass es deren Sitten respektieren muss und ihre Besitztümer nicht anrühren darf (..) Das Gold ist ihr Lieblingsmetall. Es zu besitzen ist ein Angriff auf ihr Vorrecht und eine Verletzung des unverbrüchlichen Vertrages zwischen den Wüstenbewohnern und den Bewohnern des Unbekannten.“

Wer die Dschinnen herausfordert, erregt ihren Zorn und wird bestraft. Die Konfrontation kann spektakulär und von makabrer Komik geprägt sein. Die Dschinnen lieben Masken und Verkleidungen. Um uns zu erschrecken, schneiden sie sich die Köpfe ab oder wachsen in die Höhe, bis sich ihre Gestalt im Himmel verliert. Sie können auch an uns raffinierte psychische Transformationen vornehmen. „Ja, ich möchte fast behaupten“, wird zu einem gesagt, der aus der Einsamkeit zurückkehrt, „die Dschinnen hätten dich in der Wüste ausgewechselt und hätten in deinen Körper ein anderes Geschöpf gesetzt, eines aus ihrer abscheulichen Sippschaft.“

Doch so abscheulich sehen die Dschinnen nicht immer aus. Es kommt vor, dass eine unbekannte schöne Frau in der Oase auftaucht, ein „Dschinnenweib“, dass mit ihrem Gesang die Männer in Wahnsinn und Ekstase versetzt. „Im wilden Rausch fielen Menschen von den Dächern der Häuser (..) Manche wurden von Schwermut übermannt. Sie zogen ihre Schwerter und richteten sie gegen sich selbst.“

Die Dschinnen versetzen nicht nur andere in Raserei und Wahnsinn, sondern lieben es, auch selbst in Ekstase zu geraten. Diese Leidenschaft geht schon aus ihrem Namen hervor. Die Bezeichnung „die Dschinnen“ (جنّ) ist von einem Verbstamm abgeleitet, der „besessen sein, wahnsinnig, verrückt werden“ oder „in Wut, in Raserei versetzen“ bedeutet. „al-dschunûn“ (الجنون) ist das gängige arabische Wort für „Besessenheit, Wahnsinn, Raserei, Ekstase“, und das Adjektiv „madschnûn“ (مجنون) bedeutet „verrückt“.

Was diese Dämonen aus dem Reich des Unsichtbaren praktizieren, hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Darbietungen der frommen Derwische, der Mystiker, der Gottsucher und „fous de Dieu“ . Sie schlagen ekstatisch die Trommeln, bewegen sich rhythmisch hin und her und skandieren die 99 Namen Allahs. Eine solche Zeremonie, „dhikr“ (ذكر ) genannt, findet noch heute in den Dörfern von Oberägypten statt (5). Diese „Sitzungen“, die gesittet und unblutig verlaufen, nehmen in der Welt Ibrahim al-Konis häufig urtümliche, ungezügelte und erschreckende Züge an. Die Scheichs des Tidschanîya-Ordens sind berühmt dafür, in wilde Verzückung zu geraten. „Wenn einer von ihnen den Zustand der ‚Begegnung‘ erreicht hatte, zückte er ekstatisch sein Messer und pflanzte es sich in die Brust, um die Rückkehr unmöglich zu machen.“

Diese Ähnlichkeit in den Praktiken der Ekstase macht die Verwandtschaft zwischen Wüstenbewohnern und Dschinnen plausibel, die bei al-Koni immer wieder zur Sprache kommt. „Alle Geschöpfe der Wüste sind verwandtschaftlich miteinander verbunden“, sagt Âkka, der selbst ein „Chass“, ein Mischling aus beiden Völkern, ist, „In der Wüste, die wir durchqueren, existiert kein  Unterschied zwischen Mensch und Dschinn.“ So hören wir auch von guten Dschinnen, die „weder Bosheit noch üble Machenschaften“ kennen. „Sie sind sogar besser als wir, weil sie Gutes niemals mit Bösem erwidern“. Im Zug der Islamisierung der Wüstenbewohner sind auch die Dschinnen zum Teil Muslims geworden.

Ganz wesentlich zur Wüste gehört ein drittes „Volk“, die Tiere. Diese sind ganz nahe beim Menschen und verhalten sich wie er. Sie reagieren sogar oft menschlicher als der Mensch. Die Teilnehmer einer Karawane sind erschüttert vom Klagelied eines Kamels, dessen Herr umgekommen ist: „Ich möchte wetten, dass im Leib dieses Tieres ein Mensch steckt und kein Tier. (..) Das Kamel ist das einzige Tier des Wüste, das die Trennung von seinem Herrn nicht erträgt. Es verendet aus Trauer, wenn sein Herr stirbt.“

Zwischen Menschen und Tieren kann Freundschaft und sogar Blutsbrüderschaft existieren. Eine Gazelle hat ihr Leben geopfert, um mit ihrem Blut ein verdurstendes Kind zu retten. „Wir und das Menschenkind sind Blutsbrüder geworden.“ Der Ahn der Derwische ist unter der Obhut von Wölfen aufgewachsen und hat ihre Sprache gelernt. Deshalb folgt Scheich Mussa, sein Nachkomme, dem „Ruf seiner Ahnin, der weisen Wölfin, die seinen Ahn gesäugt und zwischen ihm und dem Wolfsrudel Brüderschaft hergestellt hatte.“

In Tieren können Menschen versteckt sein, gute oder böse. Eine Hirtin erschrickt über den „unheimlichen, wilden, satanischen Blick“ einer ihrer Ziegen, „aus Augen, die fast menschlich waren“. Es scheint, „als ob sie es nicht mit einem Zicklein, sondern mit einem Geschöpf zu tun habe, dem ein böser Mensch innewohnt.“

Wer die Tiere liebt, lebt als Vegetarier. „Fleisch wurde ihm ekelhaft (..) Wie konnte nur ein Geschöpf das Fleisch eines anderen essen?! (..) Seit Assûf kein Fleisch mehr ass, weideten die Mufflons in grosser Zahl in seiner Nähe.“ Er  streichelt sie und redet mit ihnen. „Dann trösteten sie ihn mit ihren Augen, die tausend Sprachen sprachen und in tausend Zungen redeten.“ Ein anderer Nomade, Edebnân, findet „in der Gesellschaft der Tiere jene Weisheit, die uns in der Gesellschaft der Menschen mangelt.“

Unter den Tieren der Wüste nimmt der Mufflon eine besondere Stellung ein. Er ist ein heiliges Tier, das schon die Ahnen in ihren Felszeichnungen dargestellt haben, wo er majestätisch neben dem Priester steht. Die Nomaden sehen mit Erstaunen, wie die Touristen, Christen aus Europa, andächtig, fast betend, vor diesen Bildern stehen. Den Libyern aus dem Norden dagegen geht es allein um die Jagd auf Mufflons und Gazellen, nach deren Fleisch sie süchtig sind.

„Der Mufflon ist kein Tier von dieser Welt. Er ist ein himmlisches Tier, ein Engel, ein Bote.“ Die Nomaden haben erlebt, dass er Jäger, die hinter ihm her waren und über einem Abgrund hängen blieben, vor dem sicheren Tod bewahrt hat, indem er ihnen half, einen rettenden Absatz zu erreichen. „Wer von beiden war der Mensch? Wer das Tier?“ Assûf hat sogar in den Augen eines gejagten Tieres seinen verstorbenen Vater gesehen. Es ist, als ob Mensch und Tier, Jäger und Gejagter, eins geworden seien. Der Mufflon-Vater hilft ihm ebenfalls, als er von den italienischen Besatzern zwangsrekrutiert wird. Assûf entkommt, in einen Mufflon verwandelt.

Ein anderer Mann aus dem Stamm wird Udâd (Mufflon) genannt, weil er von diesem Tier so fasziniert ist, dass er nicht davor zurückschreckt, sich in seine Welt vorzuwagen, „sich an der Heiligkeit des unerreichbaren Berges zu vergreifen und sich gegen die Unsichtbaren aufzulehnen.“ Über dem Gipfel liegt nur noch der „Schlund der Finsternis“. Wer ihn erreicht und hineinblickt, so heisst es, verschwinde auf ewig.

Obwohl die Tuareg vor Jahrhunderten den Islam angenommen und selbst für seine Ausbreitung gekämpft haben, zeichnet Ibrahim al-Koni eine Wüste, in der vorislamische Glaubenspraktiken äusserst lebendig geblieben sind. „Es ist, als weigerte sie sich, die alte Religion aufzugeben, die wir mit der finsteren Vergangenheit begraben haben, als wir die Religion der Muslime übernahmen.“

Wer in der Wüste und in der Nähe der Oasen vorbeizieht, bemerkt an den Stimmen der ekstatisch singenden und trommelnden Derwische, die Allahs Namen anrufen, dass er sich in einer muslimischen Gegend befindet. Aber, wie wir gesehen haben, kann diese Ekstase so rauschhaft und selbstzerstörerisch werden, dass sie von der „heidnischen“ Verzückung und vom Wahnsinn der Menschen und der Dschinnen nur schwer zu unterscheiden ist.

Vom Freitagsgebet in der Moschee und übrigen Pflichten der Muslims (den fünf Pfeilern des Islam) ist bei al-Koni weniger die Rede als von Talismanen, Amuletten und Zaubersprüchen, mit denen man sich gegen dunkle Mächte wappnet. Ein Amulett fertigt der Faqîh (الفقيه) an, der islamische Theologe und Rechtsgelehrte. Aber lieber wenden sich die Leute an den heidnischen Zauberer, dessen „Produkte“ wirksamer sind und länger halten. Erstaunlich ist, dass die Faqîhs und die Seher der Magier sich einig sind in dem Glauben, „dass ein rückwärts gesprochener Koranvers die bösen Dschinnen bindet und die Schlangen lähmt.“ Achmâd, von einem Dschinn fortgeschleppt, denkt an dieses Wundermittel, den Thronvers. Aber er weiss diese berühmte Sure nicht auswendig und vermag sie erst recht nicht rückwärts aufzusagen.

Achmûk, ein anderer junger Mann aus dem Stamm, studiert islamisches Recht und Theologie an der Schule der Grossen Moschee in Timbuktu. Er ist seit seiner Kindheit jedoch so fasziniert von den Steinen, dass er Grossbaumeister des Sultans wird. Die Steine, so sagt er, sind die Heimat Gottes. Da sieht sich der Sultan verpflichtet, ihn zu warnen: „Im Stamm gibt es Menschen, die in den Steinen nichts anderes sehen als Götzenbilder, denen der Teufel innewohnt.“ Man sieht, die Auseinandersetzung zwischen Anhängern des Islam und jenen der vorislamischen Zeit ist noch längst nicht abgeschlossen.

Fast alles, was al-Koni über die Wüste schreibt, findet seinen Gegenpart, wenn er uns in die Welt der Oasen führt. Dabei evoziert er beim Leser nicht die romantischen Bilder, die wir mit den Oasen verbinden: Plantagen mit Datteln und Palmen, Tiere auf der Weide. Die Oase, das ist für ihn die Stadt, das sesshafte Leben, der Handel, die Märkte, das Handwerk, die „Zivilisation“.

Die Nomaden haben ihr vom Umherziehen, von Einsamkeit, Meditation und Gottsuche geprägtes Leben gegen Sicherheit, Besitz, Wohlergehen, Luxus und Vergnügen eingetauscht. All diese Errungenschaften werden bei al-Koni negativ bewertet: „Der Stamm zog in Festgebautes ein, die freien Menschen richteten sich in Gefängnissen hinter Mauern und hohen Wänden ein.“ „Die Oase, das ist die Falle des Wanderers, das Paradies der Durstigen, der Schatz der Irrenden, die Heimat der Knechte.“ „Alle Bewohner der Oasen sind Sklaven .“ Nicht Sklaven der Menschen, Sklaven des Teufels.

Der Besitz zerstört die Seele der Wüstenbewohner. „Willst du die Welt besitzen? Dann besitze nicht die Reichtümer der Welt!“ „Niemand kann einen Schatz besitzen und gleichzeitig sich selbst.“ Rettung läge allein in der Flucht zurück in die Wüste. „Hat nicht der Spross der Wüste das Recht zu fliehen(..) , um der Sesshaftigkeit zu entkommen, bei der das Eigentum an Gottes Stelle tritt?“ In den Städten wird das Verbot, Gold zu besitzen und mit Gold zu handeln, weil dies allein den Dschinnnen vorbehalten ist, gelockert und schliesslich ganz missachtet. So „ist das Gold der Gott derjenigen geworden, die beschlossen, alle Götter zu leugnen.“

Um an Gold zu kommen, machen die Städter Anleihen bei den heidnischen Stämmen des Dschungels. Diese nutzen die Chance und lassen sich in den Städten nieder. Sie verknüpfen ihr Darlehen mit der Forderung, auf den Islam zu verzichten, die alten Gottheiten wieder anzubeten und die Rituale der Magier neu zu beleben. Ein Magier ist nicht einer, der sich vor Steinen niederwirft. „Der wahre Magier ist vielmehr derjenige, der Gott um Geld verkauft und ihn in seinem Herzen für die Liebe zum Gold eintauscht.“

Wie wichtig Ibrahim al-Koni die Reflexion über die Religion der Magier ist, zeigt sich daran, dass er seinem Hauptwerk den Titel „Die Magier“ gegeben hat. Der Zufluss von Gold lockt die Menschen in die Städte, und der Handel blüht. Dieser beschränkt sich nicht mehr auf den lokalen Markt. Wer seinen Besitz vermehren will, zieht mit den Karawanen los, bringt seine Waren in die Reiche des Dschungels und kehrt mit einem Goldschatz zurück. Er bezahlt diesen Reichtum mit Selbstverlust: „Er vergass die Oase, und eines Tages hatte er auch seinen Namen vergessen.“

Der Reichtum macht süchtig. „Der Mensch giert nach immer mehr, weil es ihn gelüstet, andere zu beherrschen, zu unterwerfen und zu versklaven.“ In der Oasen herrschen nicht mehr die Noblen, die selbst Wanderer, Eremiten und Dichter waren und ihr Amt nach den überkommenen Gesetzen ausübten. Der Handel braucht einen Führer, der nur eine Puppe in den Händen der Mächtigen ist. Um ihn zu küren, kann es genügen, den Zufall walten zu lassen: der erste Fremde, der vorbeigeht, soll Führer sein. So passiert es, dass man einen Dschinnen erwählt, der in einer Vogelscheuche versteckt war und dahin zurückkehrt, nachdem er die Oase ruiniert hat. „Die Vogelscheuche ist unser Schicksal. Wir lassen uns nieder in ihr. Sie lässt sich nieder in uns. Wir sind die Vogelscheuche, und die Vogelscheuche ist wir.“

Ibrahim al-Koni weiss, dass die Wüste heute längst nicht mehr jene ist, die er als Nomadenkind kennen gelernt hat. Sie wurde entstellt durch die Konzerne, die Erdöl und andere Bodenschätze fördern. Das Erdöl ist ein Fluch, kein Segen für die Libyer. Es tötete nicht nur „die instinktive Liebe zur Arbeit, sondern erschütterte in ihren Seelen auch die ethischen Werte.“ (6) Auch der Massentourismus und die Jagd bedrohen das Leben in der Wüste. Die Schnellfeuergewehre ermöglichen es den Jägern, auf einem einzigen Jagdzug eine ganze Herde von Gazellen zu erledigen.

Im Bewusstsein, dass Kultur und Lebensweise der Tuareg verschwinden, sieht der Schriftsteller seine Aufgabe darin, Zeugnis abzulegen von dem, was er noch als lebendige Realität erlebt hat. „Und jemand müsse das festhalten, was hier als Teil der Menschheitsgeschichte ein Volk gelebt, gedacht, geträumt habe.“ (7)

Al-Koni spricht von diesem Lebensraum als „meine Wüste als Heimat und Metapher“. Er erzählt nicht in erster Linie seine Erinnerungen, sondern gebraucht die Wüste als Symbol, als Metapher der menschlichen Existenz. Die Wanderung der Nomaden meint die Irrfahrt des Lebens, die Suche nach Sinn, nach Gott, nach Glückseligkeit und Erfüllung. Umgekehrt ist ihm die Oase, die Stadt, Metapher des modernen Lebens und „Belohnung“ für alles, was wir aufgegeben und gegen den Segen der „Zivilisation“ eingetauscht haben. Sie schenkt uns, so meint er, nicht das wahre Leben, sondern die Illusion des Lebens, den Selbstverlust, das blosse Spektakel und die Knechtschaft. Die Regeln des Handels und des Marktes beherrschen uns, der Konsum macht uns gierig und süchtig, und die Medien berieseln uns mit leerem Geschwätz. Die Politik kaschiert Ungerechtigkeit und Tyrannei und bringt uns dazu, unsere Knechtschaft zu akzeptieren.

Ibrahim al-Koni weiss, dass der Weg zurück in die Wüste verschlossen ist. Was uns als Ausweg bleibt, ist ein Leben, in dem Genügsamkeit, selbstgewählte Einsamkeit, Schweigen und Meditation die Stelle des Spektakels und der Betriebsamkeit einnehmen, ein Dasein, in welchem die Suche nach Sinn, „die Suche nach einem anderen Leben, das hinter dem Leben liegt“, die Gier nach Macht und Besitz einschränkt. Ein Leben wie das der Sufis, der islamischen Mystiker, die in Musik, Gesang und Bewegung aus ihrem Kerker ausbrechen, um einer höheren Wirklichkeit zu begegnen.

Foto: Wikipedia / Elian – Eigenes Werk. Übertragen aus de.wikipedia nach Commons.

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(1) Die Zitate stammen aus folgenden Werken des Schriftstellers, alle erschienen im Lenos Verlag und übersetzt von Hartmut Fähndrich:
„Blutender Stein“, „Goldstaub“, „Ein Haus in der Sehnsucht“, „Das Herrscherkleid“, „Die Magier“, „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara““, „Nachtkraut“, „Die Puppe“, „Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara“, „Die steinerne Herrin“, „Die verheissene Stadt“.
Ferner: „The Scarecrow“, translated by William M. Hutchins, AUC Press 2015 und „The Desert Also Keened“, translated by Dima El Mouallem, in „Arablit“, December 13, 2023
(2) „Thirst of the Desert“, a Conversation with Ibrahim al-Koni, WramcoWorld, March/April, 2023
(3) „Palast der Gastlichkeit“, NZZ 24/5/2008
(4) Isabelle Rüf, „Le désert comme destin“, „Le Temps“, 26/3/2005
(5) Vgl. Hans Mauritz, „Allahs Namen nennen“, „Zikr“, „Sufi-Rituale in Oberägypten“, April 2023, in „Leben in Luxor. Autorenforum“)
(6) „Ein Festschmaus am Leichnam der Mutter“, NZZ 11/5/2007
(7) Hartmut Fähndrich, Nachwort zu „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara“

Wir „Migranten“ in Oberägypten

Ägyptern helfen, von Ägyptern lernen

von Hans Mauritz, Luxor, Januar 2024

„Assuan, Familienraum“ Foto ©Hans Mauritz

„Wer einmal Wasser aus dem Nil getrunken hat…“ Manchem Ausländer, der Ägypten besucht hat, ist Merkwürdiges geschehen: er hat sich verliebt in einen Menschen, ein Volk, eine Sprache, die Landschaft, die Kunst der Pharaonen. Er ist wiedergekommen, ist geblieben, monate- und jahrelang, ein ganzes Leben. Und weil der Wertverlust des ägyptischen Pfundes unsere europäischen Währungen so stark gemacht hat, konnten und können wir uns hier ein angenehmes Leben leisten. Übertriebene Sparsamkeit oder gar Geiz sollten für uns kein Thema sein. Das könnte man vermuten.

„Geiz ist geil“. Der Werbeslogan einer deutschen Elektrohandelskette, im Oktober 2002 lanciert, hatte unerwarteten Erfolg. Ähnliche Werbesprüche wurden in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien und Frankreich kreiert. Ein grosser Non-Food-Discounter machte Filialen auf, die den Namen „Mäc-Geiz“ trugen. Sogar ein Bordell auf der Hamburger Reeperbahn wählte den Namen „Geiz-Club“, weil es seine Dienstleistungen zu einem besonders günstigen Preis anbot. (1)

Diese neue Mentalität machte auch vor der Reisebranche nicht halt. Ein Tourismusunternehmen gab sich den Namen „Reisegeier“ und ermunterte seine Kunden , „Geizreisen“ zu buchen. Meinungsinstitute stellten ein „Geiz-Ranking“ auf, das zeigte, dass die Deutschen sich unter den europäischen Urlaubern als besonders geizig erweisen. (2)

Diese Kampagne hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Aber sie hat bewirkt, dass eine neue „Geiz-ist-geil“-Mentalität offen und schamlos zur Schau gestellt werden kann. „Supergeile Preise“, „Ausverkauf“, „Aktionen“, „Tiefpreise“, „sottocosto“ oder „Black Friday“ haben für manche Menschen eine existentielle Bedeutung bekommen. Es sieht so aus, als ob wir Deutschen ein Volk von Schnäppchenjägern geworden seien.

Dabei gilt doch der Geiz seit altersher in der christlichen Lehre als eine der Todsünden. Den Geizigen droht die Hölle. Im Alten Testament wird gesagt, dass „ein geiziges Auge die Seele austrocknet“ (Sir 14,9). Für Paulus ist der Geiz die Wurzel allen Übels und der Geizige ein Götzendiener. Augustinus definiert den Geiz als „Wahnsinn der Seele“. Der Kirchenvater Thascius Cäcilius Cyprian erklärte im 3.Jahrhundert: „Die Geizigen besitzen ihr Geld weniger als es sie besitzt. Sie sind Sklaven ihrer Schätze“ (3)

So wird die „Geiz ist geil“-Kampagne auch von heutigen Theologen verurteilt. Die Erzdiozöse Wien prangert den Geiz als Lebensverneinung an, und das Hilfswerk „Adveniat“ lanciert seine Gegenkampagne unter dem Motto“Geiz ist gottlos“. (4)

Wie die christlichen Kirchen geisselt auch der Islam dieses Laster. Der Koran preist den Frommen, der seinen Besitz hingibt, um sich zu läutern, und warnt den Geizigen und Selbstherrlichen vor dem lodernden Feuer (Sure 92). „Geiz und Glaube kommen im Herzen eines Muslims nicht zusammen“, sagt ein Hadith des Propheten.

  Ramadhan-Tafel Foto: ©Asmaa Waguih für Reuter

Weil der Geiz „harâm“ und Sünde ist, fordern beide Religionen vom Gläubigen, freigebig zu sein und einen Teil seines Reichtums für die Ärmeren zu spenden. Im Islam wird von ihm eine Spende verlangt, die 2,5 % des Einkommens betragen soll. Dieses Gebot der زكاة „Zakât“, einer der fünf Säulen des Islam, bedeutet „Reinheit, Lauterkeit“ und „Zuwachs“. (4a) Wer spendet, reinigt sich und bekommt einen Zuwachs an Wert. Gespendet wird vor allem im Fastenmonat Ramadhan. Die Vermögenden stellen für die Armen مائدة الرحمان (mâ’idet ar-rahmân), „eine Tafel des Barmherzigen“, auf. Man sieht dann ganze Strassen, in denen solche Tische aneinander gereiht sind. Weniger Reiche übergeben einem Armen aus der Nachbarschaft einen Geldbetrag.

Auch das Christentum verlangt, Almosen zu geben. Im Alten Testament heisst es: „Mit deinem Hab und Gut hilf den Armen und wende dich auch nicht von einem einzigen ab (…) Wo du kannst, hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich. Hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen.“ (Lutherbibel, Tobias 4)

  „Tod des Geizhalses“ von Hieronymus Bosch, 1494

Die Geizigen werden seit eh und je verspottet und verlacht, nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in der Literatur. Was wäre das Welttheater ohne jene Figuren, über die sich das Publikum seit Jahrhunderten amüsiert: Pantalone in der „Commedia dell’arte“, Volpone in Ben Jonsons gleichnamiger Komödie, Shylock in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ und Harpagon in Molières „L’Avare“. (5) Auch die arabische Welt spottet über „al-bakhil“, den Geizhals, und in der Literatur ist das „Kitâb al-Bukhalâ'“ (Das Buch der Geizigen) von al-Jâhiz zu einem Klassiker geworden.

Unter den erzählerischen Darstellungen des Geizes ist der Roman „Eugénie Grandet“ von Honoré de Balzac die berühmteste. Hier wird vor allem der Altersgeiz behandelt, ein Phänomen das letztlich auf der Angst vor dem Tod beruht. Der französische Moralist Vauvernagues nennt ihn „die letzte und tyrannischste unserer Leidenschaften“, und Schopenhauer meint, dass „das Geldraffen im Alter an die Stelle der abgestorbenen Lüste tritt.“ (6) Den Altersgeiz verurteilen zahlreiche Redensarten und Sprichwörter, europäische wie arabische. „Der Gedanke an den Tod macht knausrig, obwohl das letzte Hemd keine Taschen hat“. „Der gierige Mund wird nicht gefüllt, ausser mit der Erde des Grabes.“

 Detail aus „l’Avaro“, Druck von Antonio Piccinni, 1878

Grosszügig, edel und würdig

Das Gegenteil von „geizig“ ist in der deutschen Sprache „großzügig“, „freigebig“, „wohltätig“. Im Arabischen steht dafür das Adjektiv كريم (karím), das ein breites Bedeutungsfeld abdeckt. Es bedeutet auch „freundlich“, „gütig“, „gastfreundlich“, „vornehm“, „edel“ und „ritterlich“. حجر كريم „hagar karîm“ ist ein Edelstein, كاتب كريم „kâtib karîm“ ein berümter Schriftsteller. „karîm“ ist einer der 99 Namen Allahs, und „Karim“ oder „Abd-el-Karim“ und „Karima“ sind beliebte Vornamen. Das Adjektiv „karîm“ ist eines der am häufigsten gebrauchten Wörter der arabischen Sprache. In der nach ihrer Häufigkeit geordneten Rangliste des arabischen Wortschatzes (7) nimmt „karîm“ den Rang 381 ein. „Großzügig“ dürfte in einer Häufigkeitsliste der deutschen Sprache an einem wesentlich späteren Platz figurieren.

Die entsprechenden Substantive sind كرم (karam) und كرامة (karâma). „Karam“ bedeutet Großzügigkeit, Freundlichkeit, Güte, „karâma“ Ehre, Würde, Adel, Ansehen, Prestige. Dass beide Begriffe vom selben Stamm gebildet sind, deutet an, dass nur der Grosszügige ein edler, würdiger, angesehener Mensch sein kann. „(8) Großzügig, freigebig, wohltätig sein ist eine Grundbedingung für den Araber, der etwas auf sich hält. Der Geizhals dagegen ist ein gemeines, verächtliches Exemplar der Gattung Mensch.

Was Geiz und Großzügigkeit angeht, stimmen also die Urteile der europäischen und der arabischen Ethik weitgehend überein. Freilich nimmt freigebiges, wohltätiges Verhalten in der islamisch geprägten Welt einen weit höheren Rang ein als bei uns, und kaum jemand würde dort wagen, sich schamlos zu seinem Geiz zu bekennen. Das ethische Verhalten ist durch die Religion bestimmt, während der Westen weitgehend laizistisch denkt und handelt.

Unter den Fremden, die bei uns in Luxor leben, gibt es nicht wenige, die großzügig helfen. Ein Engländer baut auf der Strasse eine Schiefertafel auf gibt den Kindern des Dorfes Englisch-Unterricht. Diese machen begeistert mit, aber schliesslich kommen so viele, dass er den Unterricht einstellen muss, bis er einen Helfer findet, der die Aufgabe mit ihm teilt. Eine Dame aus Deutschland verschaffte sich gebrauchte Nähmaschinen und liess sie von der Egyptair kostenlos nach Luxor transportieren. So konnte sie mittellosen jungen Frauen helfen, sich einen kleinen Verdienst zu verschaffen. Einige der Niedergelassenen, freilich viel zu wenige, übernehmen Patenschaften, damit Kinder aus bescheidenem Milieu eine Privatschule besuchen statt die hoffnungslos überfüllten und wenig effizienten öffentlichen Schulen. Eine Dame, die vor ein paar Jahren verstorben ist, hinterließ ihr Erbe einem Hilfswerk, das sich um behinderte Kinder kümmert.

Geiz-Strategien

Leider engagieren sich längst nicht alle in solcher Großzügigkeit. Dabei gehört doch jemand, der in Europa bescheidene Einkünfte hat, in Ägypten zu den Reichen und könnte es sich leisten, einen Teil seines Reichtums abzugeben. Indessen hört man Sätze wie „Mach‘ bloss die Preise nicht kaputt“ oder „Hier ist ohnehin alles viel zu teuer“. Die Preise sind tatsächlich kaputt, denn für Ägypter ist wegen der Geldentwertung alles sehr teuer geworden. Der Fremde, der heute bis zu 50 ägyptische Pfund für einen Euro bekommt, lebt wie im Schlaraffenland. „Wir Europäer können die Probleme Ägyptens nicht lösen“, sagt eine andere Ausländerin. Recht hat sie, aber das heisst nicht, dass nicht jeder in seinem Umkreis sein Bestes tun kann. Im Restaurant hört man über das Trinkgeld diskutieren. „Geben wir etwas oder nicht? Sind 50 Pfund zuviel?“ Dabei wird ausgeblendet, dass 50 Pfund nur noch wenig mehr als einen Euro wert sind.

Um Geld zu sparen, hat sich einer dieser Fremden einen fast genialen Trick ausgedacht: er lehnt das Umrechnen einfach ab. Für ihn bleibt ein Pfund gleich einem Euro. Damit vermeidet er große Ausgaben und bleibt beim Schenken und beim Trinkgeld bei unglaublich kleinen Beträgen. Alle anderen wissen natürlich genau, wieviel ihre Währung wert ist. Im täglichen Leben schaffen sie es dennoch, dieses Wissen auszublenden. Der uneingestandene Geiz hat seine eigenen abstrusen Strategien.

Eine solche Sparsamkeit wird dadurch erleichtert, dass man über das Leben und die finanzielle Situation der Einheimischen wenig weiss und vielleicht wenig wissen will. Der Verdienst der Leute bleibt weit hinter der Preissteigerung zurück. Die Ärmsten verdienen 2000 Pfund (etwa 40 bis 50 Euro), was nicht mehr reicht, um ihre Familie zu ernähren.

Toleranz

Unwissenheit in Bezug auf die Einheimischen geht einher mit Unverständnis und Besserwisserei. Die Unterschiede im Leben und Denken zwischen Ägyptern und Ausländern sind riesengross. Es gibt Dinge, die wir Europäer nur schwer akzeptieren können. Aber als Gäste in diesem Land ziemt es sich, mit der Kritik zurückzuhalten. Es ist anzunehmen, dass die Einheimischen auch nicht alles verstehen und akzeptieren, was ihnen an uns auffällt. Wer miteinander lebt, muss Toleranz üben und sich bemühen, auch das Gute im Verhalten der Anderen zu sehen. Er wird erkennen, dass wir manches von den Ägyptern lernen können. Wer hier lebt, erkennt sehr schnell, wie gross die Anteilnahme untereinander ist. Wenn man sein Gegenüber nicht mit dem Vornamen anspricht, sagt man أخويا „akhûya“ (mein Bruder), عمّي „‚ammî“ (mein Onkel) oder حبيبي „habîbî“ (mein Liebling). Wer krank ist, wird sofort besucht. Wer hungert, wird unterstützt. Wer dringend Geld braucht, bekommt es geliehen, auch von Verwandten und Freunden, die selbst Schulden haben. Die Alten bleiben in ihrer Familie, verrichten kleine Aufgaben und haben die Gewissheit, ein sinnvolles Leben zu führen. Behinderte, Blinde und alte Menschen werden mit einer Zärtlichkeit behandelt, die wir fast als peinlich empfinden. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Trauerzelt aufgeschlagen, in welchem die Leute drei Tage lang zusammenkommen, kondolieren und schweigend dasitzen, wobei die Nachbarn für das Essen sorgen. Solche Kranken- und Kondolenzbesuche, „wâgib“ (Pflicht) genannt, können mehrmals in der Woche anstehen. Niemand beruft sich darauf, unabkömmlich zu sein. Für andere da zu sein, ist Pflicht, auch weil Einsamkeit das Schlimmste ist, das man sich vorstellen kann. „Wer allein ist, der hustet auch allein.“ Ein anderes Sprichwort sagt: „Sogar ein Frommer würde aus dem Paradies entfliehen, wenn er dort allein bleiben müsste.“ Dieses Bestreben, nicht allein zu sein, führt zu einem beständigen Bemühen um die anderen, in der Familie und der Dorfgemeinschaft.

  „Trauerzug in Ägypten“ Foto ©picture-alliance/Hervé Champollion/akg-image

Was manchem Fremden zu schaffen macht, ist die Religion und die Art, wie sie das Leben bestimmt. „Jetzt fängt der schon wieder an!“ ruft eine Touristin aus, als der Muezzin zum Gebet ruft, wie er es fünfmal am Tag zu tun hat. Eine andere Europäerin vergnügt sich damit, den Gebetruf „Allah akbar“ zu verballhornen, indem sie daraus „Ulla in der Eckbar“ macht. Wer Gast ist in einem Land, sollte den Glauben seiner Gastgeber respektieren, so gross auch seine Vorbehalte sein mögen. Dasselbe verlangen wir ja von den Fremden und Migranten, die bei uns leben. Wir sollten uns hüten, gängige Stereotype ungeprüft zu übernehmen. Einen fanatischen und gewaltbereiten „Moslembruder“ habe ich in den 25 Jahren meines Lebens hier noch nie erblickt. Der Glaube in Oberägypten ist stark geprägt vom Sufismus, der islamischen Mystik, die nicht das Dogma in den Mittelpunkt stellt, sondern die Meditation, das Gebet, den Gesang und die rhythmische Bewegung (9). Dieser Islam schenkt, das ist unverkennbar, den Gläubigen Sicherheit und Zuversicht. Aus den Gesichtern der Alten strahlt eine Gelassenheit, welche keine Angst vor dem Ende verrät.

„Kinder in Assuan“ Foto: ©Hans Mauritz

Wir Fremden sollten dankbar sein dafür, in diesem Land freundlich empfangen und verwöhnt zu werden. Viele Migranten und Flüchtlinge in Europa werden wohl weit weniger wohlgesonnen und tolerant behandelt als wir „Luxus-Migranten“ in Ägypten.

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Quellen

(1) Wikipedia, „Geiz ist geil“. Siehe auch Erzdiozöse Wien „Todsünde: Geiz und Enge“

(2) Heute.at: „Deutsche besonders geizig beim Reisen“

(3) Rosa Luxemburg Stiftung: „Geiz ist geil! Wieso auf einmal?“

(4) Wikipedia: „Almosen“ und „Zakat“

(5) Wikibrief: „Geizig“

(6) Rosa Luxemburg Stiftung, s. (3)

(7) Abdulghafir Sabuni, „Wörterbuch des arabischen Grundwortschatzes. Die 2000 häufigsten Wörter“, Helmut Buske Verlag, Hamburg 1988

(8) Vgl. Hans Mauritz, „Ägypten verstehen – seine Sprache erleben“, p.53 ff. (Kubri Verlag, Zürich 2016)

(9) ders., „Arabische Volksfrömmigkeit. Allahs Namen nennen“ http://s128739886.online.de/volksfroemmigkeit/ hier

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Veröffentlicht am 5. Februar 2024, am 85. Geburtstag des Autors Dr. Hans Mauritz (s.a. hier)

Herzlichen Glückwunsch, lieber Hans, „ad multos annos“ und lieben Dank für Jahrzehnte der Freundschaft, die – wenn ich es recht erinnere – in Langeoog1955 begann („Klingsors letzter Sommer“). Erinnerungsfoto von unserm Wiedersehen im Sommer 2010 in der Toskana:

Syrien hören…

Arabische Nuancen auf einer neuen CD

Zuerst orientieren und entziffern:  Wo finde ich die fürs Hören entscheidende Information? 1) der Ablauf 2) die „Tonarten“ (Maqame) 3) die Schönheit

  Fotos: Dieter Telemans / Booklet : Fawaz Baker, Mahmoud Jaber, Anthony Lockett / Erläuterungen folgen!

Leicht unterschätzt man diese CD, wenn man sie in Händen hält, daher habe ich sie durch Vergrößerung sichtbar und lesbar gemacht. Die ganze Aufmachung, bis in die individuellen Fotos hinein (niemand lächelt offensiv gewinnend, alle freundlich) verrät Ernst und Understatement. Kein Wort ist überflüssig. Wer durch die religiös-weltanschauliche Bindung abgeschreckt wird – tanzender Derwisch -, sei beruhigt: es ist für Außenstehende (für uns in der Welt der Moderne) nicht verpflichtender als der Pietismus bei Johann Sebastian Bach. (Siehe auch Wikipedia-Artikel über den Mevlevi-Orden hier. Andere Informationsquelle hier.)

Zum Begriff „Wasla“:

Quelle: Salah el Mahdi „La Musique Arabe“ Alphonse Leduc Paris 1972 (JR 1973 hier)

Info über „JAWA – LAST BREATHS FROM SYRIA“ mit der Möglichkeit, in die einzelnen Titel hineinzuhören und die CD zu erwerben: HIER und bei Edition muziekpublique.

Das CD-Booklet enthält zu jedem der 18 Titel eine Textzeile (wie diese ↑ ) in flämischer, französischer, englischer und arabischer Sprache. Weitere Hinweise am Anfang der einzelnen Abteilungen, die durch rote Schrift gekennzeichnet sind: 1-4 Wasla Hijaz, 5-7 Waslaw Awj, 8-11 Wasla Bayati-Husaini, 12-14 Wasla Ajam ‚Ushayran und 15-18 Wasla Rast. Die hier hervorgehobenen Worte sind die Namen der verwendeten (Maqamat = „Tonart“). Wasla bedeutet „Stücke“, bezeichnet auch eine Reihe von Stücken, wie das Wort Suite oder Tawsih. Es ist zu empfehlen, sich jeden einzelnen Maqam einzuprägen, sagen wir : wie eine Beethoven-Sinfonie, obwohl die Realisation von einer Aufführung zu anderen nur in Umrissen (und in der „Tonart“!) identisch bleibt. Mein Lieblingsmaqam wurde vor 55 Jahren der Maqam Sikah (Sah-gah), über den ich daraufhin 4 Jahre lang arbeitete, bis eine Dissertation daraus wurde (1971). Er hatte eine verwandschaftliche Tendenz zu Maqam Rast, der arabischen Grundton-„Tonart“, die unserer traditionellen C-dur-Tonart entspricht, – allerdings mit zwei um einen Viertelton erniedrigten Tönen, der Terz und der Septime, was ihm seine typisch arabische Färbung verleiht. Es gibt im Tonsystem der arabischen Musik, durchaus auch Skalen, die unserem Dur oder Moll ähneln, aber als zwei Möglichkeiten unter vielen anderen. Siehe auf dieser CD Tr. 12 (Ajam ‚Ushayran) und Tr. 15 (Maqam Rast).

Um eine Übersicht zu bekommen, habe ich mir in den 60er Jahren das sechsbändige Werk von Baron Rodolphe d’Erlanger („La Musique Arabe“ 1949 und später), von denen ich 4 historische (mit Übersetzungen der arabischen Klassiker) kaum gebrauchen konnte. Während seine Liste der Maqam-Skalen nebst zahlreichen notierten Musikstücken mich fortan „durchs Leben begleitet“ hat. Ich gebe die Liste hier wieder, weil sie für jeden Notenleser von unschätzbarer Hilfe sein kann, um sich in der Fülle zu orientieren:

die eben genannten Namen sehen Sie unter Nr. 14, 26, 27, 53, 57, 76, 108 …

CD Tr. 1 Den Maqam Hijazi (der am Anfang unserer CD zu hören ist) wird man leicht identifizieren: an seinem übermäßigen Sekundschritt, der auch vom westlichen Publikum als „typisch arabisch“ erkannt wird. Im vorliegenden Fall (Hijaz Humayun) handelt es sich um eine Variante, die auf den iranischen Modus (Dastgah) Homayun anspielt; wobei ich dieser Verwandtschaft mit anderen (iranischen) Quellen oder Koinzidenzen nicht weiter nachgehen will. Die Ausgangsformel jedenfalls ist der Tetrachord (die Viertonreihe) mit Namen Hijaz, in der Weiterführung könnte eine der Varianten hineinspielen, wie sie in d’Erlangers Beispiel der Entfaltung des Modus Hijaz aus dem Grund-Tetrachord ebenfalls zu finden sind (dort z.B. Busahlik und Rast als Tongruppe II):

Wenn Sie Noten lesen können, sind Sie in der glücklichen Lage, die wunderbare Melodie anhand der gegebenen Skala zu lokalisieren: sie beginnt mit dem Ton unterhalb des Grundtons, um sich danach sofort auf diesen, den Ton d und sein Umfeld zu konzentrieren, mit den Tönen es und fis (der übermäßigen Sekunde), um nach einer winzigen Pause den Rahmenton g zu präsentieren, ihn zu umspielen und im Abstieg sogleich ein Variante des Tones es zu gebrauchen (einen Viertelton höher), ebenso ein paar Sekunden später bei 0:20 noch einmal. Bei 0:54 nach einem Ausbau der Tonreige bis zum b und schließlich einer deutlichen melodischen Kadenz abwärts wird der Grundton d wieder erreicht, ohne dort auszuruhen. Teilwiederholung, bei 1:26 noch einmal Gundton plus „Neuland“: die leittönige Erhöhung des darunterliegenden Tones plus Teilwiederholung dieses Abschnittes. Damit ist das Ende dieser Einleitung erreicht, der Sänger kann auf einem neuen, höheren Schwerpunkt beginnen (Tr. 2).

Das alles klingt in Worten kompliziert, in Tönen aber vollkommen einleuchtend. Man kann es dabei bewenden lassen, – wenn nicht im Text der Hinweis auf den rhythmischen Zykus 24/4 geben wäre. Man kann – mit dem Ohrenmerk auf der Folge schwerer und leichter Anschläge in der Percussion die formale Einbettung der Melodie spüren. Ein schöner langer Atem.

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Sehr gute neue Einführung in das Maqam-System: hier

Zum Rhythmus CD Tr. 4 „Muhajir“ 14/4 siehe hier

(Fortsetzung folgt)

Was ist uns Kurdistan?

Ein Blick zurück

Tobias Matern

Der Anlass war gestern dieser wichtige Leitartikel der Süddeutschen Zeitung zur heutigen Lage der Kurden. Die Erinnerung an meine erste Begegnung im Jahre 1974, was hat das nicht alles aufgerührt, ein freundlicher kurdischer Journalist, der am Ü-Wagen auftauchte, – ich war noch „freier Mitarbeiter“ des WDR, alles andere als ein politisch motivierter Mensch – plötzlich war klar, wie brisant dieses Thema war, es genügte nicht, nach den Texten der Lieder zu fragen oder die Übersetzung in Auftrag zu geben. In Kürze würde ich zum Frühlingsfest nach Afghanistan geschickt werden, der ersten ganz großen Reise nach der Tournee 1967, die nach dem Schulmusik- und dem Violin-Examen – mein ganzes Leben auf eine neue Spur gesetzt hat (von Musikwissenschaft zur Musikethnologie). Ich muss das kurz rekapitulieren, diese frühen Eindrücke, die mich in eine merkwürdig zwiespältige Erregung versetzen. Allein schon der Anblick der damaligen Arbeitsblätter, die gewöhnlich erst nach der Sendung in ein ordentliches Typoskript verwandelt wurden. Was mich damals am meisten bezauberte, waren die lyrischen Texte, die erst dank der fähigen Helfer zugänglich wurden.

     

Übersetzung der Liedtexte: Darwich Hasso (Mitarbeit 1973/74: Kamal Saydo)

Am Ende dieser Rekapitulation kommt mir eine dunkle Erinnerung: habe ich diese (oder eine ähnliche Recherche) schon einmal durchgeführt? In der Tat: hier, im Februar 2017. Wie gehe ich damit um? Mit Freude oder mit Selbstzweifeln? Zumindest habe ich heute den Namen korrigieren können…

Nachtrag 28.11.22 Zuschrift eines Lesers:

Ich finde es sehr schön und gut und wichtig, dass Sie im Blog Kurdistan erwähnen. Ich glaube, ich habe das schon mal geschrieben, wie sehr mich die Situation in Kurdistan deprimiert. Gerade in den selbstverwalteten Gebieten um Rojava gibt es ja das schönste, edelste und wichtigste demokratische Projekt nicht nur im Nahen Osten. Die Selbstverwaltung, die Rolle der Frauen, Bildung und Gesundheitssystem, und gleichzeitig der Kampf gegen den IS – und das alles unter dauerndem Beschuss, im Wortsinn wie auch sonst. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sich an der Kurdistan-Frage die Frage Zivilität („civilisme“ ist das schöne französische Wort) oder Barbarei für unsere Zeit entscheidet – so wie zum Beispiel vor mehr als einhundert Jahren in Armenien, oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien. Sind vielleicht etwas pathetische Worte, aber wie können „wir“ („der Westen“) noch von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung faseln, wenn wir nicht nur zuschauen, wie der türkische Diktator völkerrechtswidrige Angriffe gegen die Kurdengebiete führt, sondern „wir“ ihn dabei auch noch massiv unterstützen (wie diese Woche zum Beispiel die sich immer furchtbarer gerierende Innenministerin – die SPD-Bundestagsfraktion entblödete sich nicht, nicht einmal 48 Stunden, nachdem Frau Faeser der türkischen Regierung Unterstützung bei der Ermordung der kurdischen Urheberinnen des Slogans „Frau – Leben – Freiheit“ zugesagt hat, eben diesen Slogan zu posten). Und die Kurden stehen völlig allein, wenn man von manchen geringfügigen taktischen Unterstützungen etwa mit dem Iran befeindeter Nationen absieht – die USA haben sich ja auch wieder zurückgezogen, nachdem die Kurden den wesentlichen Teil des Kampfes gegen den IS noch mit ihrer Unterstützung geleistet haben – jetzt muss man wieder den NATO-Partner Türkei pampern, der ja auch „uns“ Deutschen einen guten Teil der Flüchtenden vom Leib hält. Wie gesagt, es ist alles nur noch deprimierend. Wenn ich zwei, drei Jahrzehnte jünger wäre, würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, nach Kurdistan zu gehen und die dortigen Bestrebungen unterstützen – auch im Kampf. Wie gesagt: Spanien 1936… (in der Realität werde ich einfach nur 3000 Euro an medico international überweisen zur Unterstützung von Projekten in Rojava – ohne mich deswegen irgendwie besser zu fühlen…)

JR: Dem möchte ich nichts Relativierendes hinzufügen, empfehle nur dringend, alles zu lesen, was es an Aufklärung unter dem Stichwort ROJAVA zu finden gibt. Ich beginne hier : Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp: Revolution in Rojava /
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo.

Große Gefühle, türkisch

Wo war eigentlich der Orient? (Begegnungen)

Teheran im Lauf der Tournee April 1967

Der östlichste Punkt der „Orient-Tournee“ 1967

Istanbul 1967

Istanbul, unser Hotel & die Umgebung

Was schlimm war: fast einen Monat getrennt zu sein von der gerade erst entstandenen Familie (Marc *1.4.66). Und was malte er 5 Jahre später? Eine orientalische Stadt…

1971 1972

20 Jahre später:

Wir waren gewarnt worden: die massentaugliche Präsenz von Theodorakis würde den feinen Musiker Livaneli erdrücken. Und noch viel mehr, aus ganz anderen Gründen, wurden wir vor Ibrahim Tatlises gewarnt. Das entspreche einem deutschen Konzert in Istanbul, bei dem Fischer-Dieskau gemeinsam mit Heino auf der Bühne stehen müsste. Wir kannten das unten zitierte Verdikt von Fazil Say noch nicht. Und es hätte uns auch nicht irritiert. Ich persönlich war es gewöhnt, von Freunden, denen ich meine liebste arabische Musik vorspielte, ausgelacht zu werden. Ich wusste, dass solche Geschmackswelten nicht einfach durch gute Worte überbrückt werden können. Das „Gefühl“ spielt nicht mit. Bzw. der Schritt vom „ganz großen Gefühl“ zur Lächerlichkeit ist winzig. In der Show von Harald Schmidt wird all dies listigerweise zur Unkenntlichkeit vermengt. Man kann schlecht sagen, dass ein vor Begeisterung rasendes Publikum sich irrt. Jedenfalls nicht, wenn man Chef der Show ist. Man fühlt sich unbehaglich und weiß nicht warum…

55 Jahre später in Solingen: Konzert der Bergischen Symphoniker 7.6.22 (vorige Woche)

siehe hier

Istanbul Sinfonie beim hr mit Einführung des Komponisten Fazil Say:

Hilfe auf Youtube, wenn man Einzel-Sätze anklicken will (Helfer: Ath Samaras vor 8 Jahren)

For better accessibility: Fazil Say – Istanbul Symphony (1. Sinfonie) 00:00 Intro by Fazil Say
07:10 I. Nostalgie 17:20 II. Der Orden 21:25 III. Sultan-Ahmed-Moschee 28:55 IV. Hübsch gekleidete junge Mädchen auf dem Schiff zu den Princess-Inseln 33:10 V. Über die Reisenden auf dem Weg vom Bahnhof Haydarpaşa nach Anatolien 37:16 VI. Orientalische Nacht 44:18 VII. Finale 50:42 Applause
.
*    *    *
.

Fazil Say Wikipedia / Zitat:

Ebenfalls für heftige Diskussionen sorgte seine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des in der Türkei bei bestimmten Gesellschaftsschichten populären Arabesk-Pops. Arabesk-Musik sei „eine Last für Intellektualität, Modernität, Führungskraft und Kunst“ und weiter: „ich schäme, schäme, schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen Volk“.

Über Arabeske hier / Wikipedia über Ibrahim Tatlises hier Harald-Schmidt 1998

Wie lautet noch eine der größten menschenfreundlichen Lügen? „Ich liebe euch alle!“

Eine frühe Radio-Sendung über kulturelle Relativität; heute würde ich wohl anders herangehen:

usw. Was aber hätte ich als erstes lesen sollen?

Licht aus Indien? 1997 (Foto E.Reichow)

Ägypten Luxor Street Art

Impressionen aus einem wirklichen Leben

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_essays_street_art.html hier

Glück in Ägypten: Scheich Hans

Aus dem Alltag von Scheich Hans

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_kultur_arbeiterdorf_deirelmedina.html hier

(Besonders interessant seit dem Terra X-Film über die Pyramiden und insbesondere über das zugehörige Arbeiter-Dorf!)

Bachs Lamentoformel

Ein Vortrag von Wilibald Gurlitt 1950

Nicht zu verwechseln mit Cornelius, dem Neffen: Erinnerung also an Wilibald Gurlitt . Er nannte es nicht Lamento-Formel, das kam erst viel später auf. Aber hätte ich davon schon in den 50er Jahren gewusst (wäre mein Leben anders verlaufen), nein, so wollte ich es nicht sagen.  Aber ich kannte es doch schon früh von Bachs Invention  f-moll, „O Haupt voll Blut und Wunden“ und – von Carl Orff (Die Kluge „Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt„.)

Aber da es schon längst auf eine Formel gebracht worden war, hätte ich vielleicht auch schon früher auf den arabischen Maqam Kurdi kommen können, statt erst 1967. Oder zu einer Obsession wie in der Sendereihe von der „Reise des Ohrs“, und dort am 23. Mai 1987:

Immerhin war ich Anfang der 50er Jahre schon mit Kara ben Nemsi durchs wilde Kurdistan gereist. Ich kann genau sagen wie: wenn man heute von der Autobahnabfahrt Exter nach Bad Oeynhausen fährt, die gewundene Detmolder Straße hinab, dann kommt man in Lohe zu der Abbiegung eines breiten, heute asphaltierten Weges, der zur Rossittener Straße führt oder selbst schon so heißt, und genau dort, an der Ecke rechts, gab es einen Schreibwarenladen mit Leihbücherei und darin jede Menge Lesestoff, ja, und ich begann dann, im Haus Nr. 171 arabische Sätze abzuschreiben, die ich später vielleicht sogar bei meiner Orienttournee 1967 hätte anwenden können, wenn man mich rechtzeitig in der Aussprache unterwiesen hätte. So aber ist das Wissen meiner Kindheit untergegangen, und nach Selbsteinschätzung nahm es erst in Bielefeld festere Formen an, als ich die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach in die Finger bekam, womöglich gleichzeitig mit „Quo vadis“ und „Die Kreuzritter“ von Sienkiewicz.

Bach-Forschung 1950

Und jetzt also 1950, Leipzig, Bach-Tagung, mit einer Reihe illustrer Referenten…

und alles in Licht und Schatten getaucht (aus meinem Scanner):

Quelle Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung Leipzig 23. bis 26. Juli 1950 / Im Auftrag des Bach-Ausschusses 1950 / Herausgegeben von Walther Vetter und Ernst Herrmann Meyer / Bearbeitet von Hans Heinrich Eggebrecht ( C.F.Peters Leipzig

Das Buch

Dies ist nicht „Das Buch“, konnte und kann es nicht sein. Ein wissenschaftlicher Kommentar, mit eher abweisenden Eigenschaften. Das Skript daneben war wohl der erste Anlass, den Versuch zu wagen. Der Versuch eines Lernvorgangs, von dem die Begeisterung für den freien, musikalischen (nicht nur deklamierenden) Koran-Gesang in Erinnerung blieb. Viele Jahre später das Buch „Gott ist schön“ von Navid Kermani. Sehr verlockend. Ein unbekannter Verfasser aus Siegen. Ich kann gar nicht glauben, dass es erst 1999 kam. Was mich früh (1967) faszinierte, war der Bildband von H.G. Farmer: heute sind es – das sei zugegeben – seit gestern vor allem die Trompeten auf der Titelseite:

 

Mein Lieblingszitat aus der Einleitung (übrigens handschriftlich falsch korrigiert):

Einen solchen Bildband zu erwerben, war damals kostspielig, auch Wissenserwerb allgemein war schwieriger als heute: Kopieren nicht möglich oder teuer; ich saß viele Stunden in der Uni-Bibliothek und schrieb ab, was das Zeug hielt. Z.B. über Henry George Farmer aus dem alten MGG (heute besitze ich das alte und das neue Lexikon MGG, außerdem Groves u.a., selbstverständlich, und noch selbstverständlicher seit etwa 1995 – das Internet). Machen Sie sich also nicht die Mühe, meine Schrift zu entziffern: H.G. Farmer ist jederzeit einen Klick wert.

damals…

Heute (4.11.2021) – vorläufig (!) letzte Station:

Autor: Arnfried Schenk

Der Beitrag über die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink beginnt mit einem sehr einprägsamen Beispiel, das die Problematik der Übersetzungen blitzartig beleuchtet:

Ein Wort nur, aufgeschrieben vor über tausend Jahren, beendete im Jahr 2017 in Indonesien eine aussichtsreiche Politikerkarriere: Basuki Purnama wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sein Vergehen: Beleidigung des Islams, so seine Ankläger. Was Purnama damals während des Wahlkampfes um das Gouverneursamt von Jakarta, Hauptstadt des bevölkerungsreichsten muslimischen Landes, gesagt hatte, klingt eigentlich harmlos: der Koran verbiete es Muslimen nicht, bei Wahlen für Nichtmuslime zu stimmen. Wer anderes behaupte, missbrauche den Koran. Purnama ist Christ.

Die Hardliner, die es behauptet hatten, organisierten Massendemonstrationen gegen Purnama und strengten ein Gerichtsverfahren an. Sie beriefen sich dabei auf Sure 5, Vers 51 und fanden Gehör bei den Richtern: Der Vers brachte den Ex-Gouverneur ins Gefängnis. Genauer gesagt, seine Übersetzung ins Indonesische: »Oh ihr Gläubigen! Nehmt nicht die Juden und Christen zu Führern«, heißt es da.

Für Johanna Pink, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Freiburg, ist dieser Fall das Paradebeispiel für die Relevanz ihres Forschungsthemas: der muslimischen Koranübersetzungen. Ein bislang kaum beackertes Feld.

Quelle DIE ZEIT 4. November 2021 Seite 55 Auf Surensuche Der Koran ist ein mächtiges Buch. Wer ihn übersetzt, verfolgt damit auch politische Ziele. Die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink untersucht, welche gesellschaftlichen Auswirkungen das hat. Von Arnfrid Schenk.

Was liegt näher als nun erstmal nachzuschlagen, was mein Paret von 1970 dazu hergibt, – und ich sage es gleich: er sagt nicht „Führer“ sondern „Freunde“; aber ich tue, was noch näher liegt, ich google, komme in den Wikipedia-Artikel der Sure 5 und begegne dort ebenfalls der Paret-Übersetzung: nämlich hier. Lesen Sie hier z.B. ab dem Satz:  Die saudi-arabische Übersetzung hingegen nutzt das Wort „Beschützer“ statt „Freunde“ – schon sind Sie mittendrin im Problem der Übersetzung…

(In dem Wikipedia-Artikel über den indonesischen Politiker finden wir keine klärende Stellungnahme.)

Aber es beruhigt mich auch hinsichtlich meiner damaligen Paret-Lektüre, wenn ich heute in der ZEIT folgendes lese:

Und dementsprechend lese ich weiter über Nasr Hamid Abu Said: hier. Ihm erging es allerdings nicht viel besser als dem indonesischen Politiker…

Noch ein – heutzutage – brisantes Zitat:

»Wer den Koran übersetzt«, sagt Pink, »muss sich positionieren.« Dabei kommt es zu ausdauerndem Streit zwischen Salafisten und traditionellen Gelehrten, geht es etwa um die Attríbute Gottes: Soll man Gottes Hand oder Gottes Thron wörtlich nehmen oder metaphorisch? Für notorische Spannungen sorgt Sure 4 Vers 34: »Die Männer stehen über den Frauen (…). Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, (…) und schlagt sie«.

Wie geht man damit um? Pink sagt: Versteht man den Vers wörtlich, gibt er scheinbar den Männern die Erlaubnis, ihre Frauen zu schlagen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Mildert man den Vers durch Übersetzung quasi ab? Oder sagt man, der Vers stehe so da, sei aber nur im Kontext seiner Entstehungszeit zu verstehen, und fragt sich, welche Bedeutung er heute hat? Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt dieser Vers nicht als Problem, sagt Pink. Bei Übersetzungen in westliche Sprachen sei aber der Versuch zu erkennen, die Aussage abzuschwächen. Die Bandbreite, wie das Verb »daraba« übersetzt wird, ist groß: sie reicht von »schlagen« bis »strafen« zu »symbolisches, nicht schmerzhaftes  Schlagen« oder auch »trennt euch von ihnen«. Generell werde der Wunsch nach egalitären Lesarten des Korans größer.

Die Paret-Übersetzung (1962) wählt (natürlich) keine mildere Form, sondern die offenbar naheliegende. An anderer Stelle (Goldmann Verlag 1959) lese ich das Wort „züchtigen“.

Unter dem Artikel steht ein Link-Hinweis, mit dessen Hilfe man Quellen zu den Themen der WISSEN-Rubrik der ZEIT finden kann: www.zeit.de/wq/2021-45 d.h. hier , von dieser Seite aus kommt man auch direkt zum interessanten Projekt „The Global Qur’an“  hier.

Ich erinnere mich an eine schöne Initiative des WDR bzw. meiner Kollegin Anke Remberg aus der Redaktion RTK, einem größeren Publikum den Koran in einer dreiteiligen Sendereihe näherzubringen. Dabei sollte auch die Frauenfrage nicht ganz ausgespart bleiben. Wir sind also schnell wieder bei der angesprochenen Sure 4.

Vielleicht nicht ganz überzeugend. Die saudi-arabische Version dagegen kann man in der Gesamt-Rezitation der Sure 4 bei 17:05 mitlesen. (Mehr über Saad al-Ghamdi hier).

Die neue Nähe „von fremden Ländern und Menschen“!

Serien unerhörter Klangreisen

Zugabe (1 Minute live)

Was ist eine Kamancheh? Zum ersten Kennenlernen siehe hier.

Als Robert Schumann die wunderbare Einleitung seiner „Kinderszenen“ op.15 mit dem Titel versah „Von fremden Ländern und Menschen“, hat er wohl nur ein Gefühl unbestimmter Sehnsucht gemeint, ohne die Fremdheit wirklich musikalisch darstellen zu wollen. Hier haben wir nun Gelegenheit, die andere, fremde Seite der Musik aus eigenem Herzen reden zu hören, und das kann vielleicht ganz ähnliche Gefühle auslösen. Wenn der Künstler dabei die Erkundung seines Instrumentes in den Vordergrund stellt, tut er nichts anderes, wenn wir seine Worte recht verstehen: Er spricht von den Geheimnissen der iranischen Musik, von der verzweigten Theorie des Dastgah (Modus) und den Formen der Improvisation, die sich im Daramad einer Tontraube aus wenigen Tönen manifestiert. Äußerlich betrachtet, spricht er zwar von den Techniken seines Instrumentes, alten und jetzt von ihm neu erfundenen, aber, so hebt er hervor, „es versteht sich von selbst, dass [sie] nicht an sich das Ziel des Musizierens darstellen. Sie sind […] notwendige Mittel für die Entstehung neuer musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.“ Und am Ende findet er sie „in einer unaussprechnlichen Sehnsucht nach etwas Unbekanntem […], das dennoch dem Künstler seelisch so nah ist. Er möchte diese unbekannte Nähe berühren.“ Misagh Joolaee : Unknown Nearness.

UNKNOWN NEARNESS

IDENTIGRATION

(und – eben angekommen: dieses Foto)

Post von Hans Mauritz aus Assuan

Zu dem Namen Parviz Meshkatian, der oben in der CD „Unknown Nearness“ in Tr.5 erscheint, kommen mir unauslöschliche Erinnerungen, die sich mit dem folgenden Link hier verbinden. Und in der Wiki-Biographie von P. Meshkatian taucht ein weiterer Name auf, der mich in meine Kölner Studienzeit bei Prof. Marius Schneider und Prof. Josef Kuckertz zurückversetzt; lebendige Gespräche und die ersten Begegnungen mit lebendiger iranischer Musik im WDR (Khatereh Parvaneh, Faramars Payvar, Hossein Tehrani,1972), eine Atmosphäre der Sympathie, die bis heute nachwirkt: Mohammad Taghi Massoudieh.

und darin folgendes Daramad:

Was für eine Gelegenheit, die Liebe zur iranischen Musik nun auch von der Verpflichtung zur universitären Theorie zu lösen und in neuen, intelligenten Erscheinungsformen wirklich zu genießen! Im bloßen Hören! Wobei ich keineswegs den Gebrauch der Notenschrift kritisieren möchte, der hier im Umgang mit einer vor allem mündlich und in realer Spielpraxis überlieferten „Musik des Orients“ wichtig wird. Es ist ein dialektischer Prozess (geworden).

    *    *    *    *    *

Der Begriff „Identigration“ ist ein Kunstwort, sicher kein besonders schönes, aber die Bestandteile Identität und Integration sind heute in aller Munde und geben Stoff für härteste Diskussionen. Hier  scheinen sie versöhnt; oder sie sind es sogar. Mit den Worten des Booklets:

Alle Musiktitel machen Mehrfachidentitäten hörbar und sind von Orchestermitgliedern maßgeschneidert komponiert bzw. arrangiert für die einmalige Besetzung von Instrumenten und Musiker*innen-Persönlichkeiten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen musikalischen Ausbildung vermitteln die Orchestermitglieder europäische, arabische und persische Klassik sowie Jazz, Folklore und zeitgenössische Musik. Damit trägt das Bridge-Kammerorchester einen eigenen Beitrag zur Erweiterung.

Das Bridge-Kammerorchester entstand 2019 als Klangkörper der transkulturellen Frankfurter Musikinitiative Bridges – Musik verbindet, die seit 2016 Musiker*innen mit und ohne Flucht- und Migrationsgeschichte zusammenbringt.

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, aber jedes einzelne Stück der CD erzählt vom Gelingen des Projektes. Es entstand keine leicht konsumierbare  World Music, wie sie in den 80er Jahren vielfach zusammengerührt wurde, indem man Gitarren-Akkorde untermischte und Pop-Rhythmen einbezog, und tatsächlich ist es wohl auch die Verschriftlichung, die eine musikalische Professionalität garantiert. Der hörbare Erfolg beruht nicht einfach auf einer cleveren Management-Idee. Man liest und betrachtet auch das Booklet mit Freude. Kein Wort zuviel, keine Farbe zu wenig, keine humanitäre Aufschneiderei, es geht um nichts als Musik. Und während ich bei mir ab Tr. 8 relativierende Tendenzen beschwichtigen musste (Achtung – karibisch-gefällige U-Musik), rate ich heute manchen Freunden, lieber bei Tr. 8 zu beginnen und dann erst auf Anfang zu gehen. Und bitte sie, nicht von Vierteltonmusik sprechen, das klingt fast so abschreckend wie einst Zwölftontheorie. „Die persische Vierteltonskala Chahargah“, so zu „Silk Road“ Tr.1, die „auf europäische Harmoniekonzepte von Dur- und Molltonalität“ trifft, gibt es nicht; es gibt darin einzelne Töne, deren Intonation von westlichen Skalen um etwa einen Viertelton abweicht. Und das ist von einer wunderbaren Wirkung, wenn man es weiß – und nicht für ungenau intoniert hält. Auch wenn man einen Grundton hört, dem nicht ein Leiteton vorausgeht, sondern die kleine Terz darunter, sagen wir: wie bei einem umgekehrten Kuckucksruf, aber eben nicht die „korrekte“ kleine Terz, sondern der um einen Viertelton tiefere, abweichende Ton, eine sog. neutrale Terz. Man hört es auf Anhieb in dem folgenden kleinen Lehrbeispiel, passen Sie nur auf: Sie verstehen die iranische Sprache!

Ich liebe diese Skala bzw. diesen Dastgah, seit er mir 1972 in der ersten iranischen „Nachtmusik im WDR“ so unglaublich expressiv entgegentrat, im kleinen Sendesaal des Funkhauses (später füllte ein iranisches Konzert spielend den großen Sendesaal, und dann ebenso die Kölner Philharmonie).

WDR-Karteikarte mit Kopie aus dem Buch von Ella Zonis „Classical Persian Music“ Harvard 1973.

Wie schön eröffnet dieser Dastgah auch die CD mit einem großen Thema, das zu dem Stück SILK ROAD gehört, komponiert von Pejman Jamilpanah: „Seidenstraße“; das ist also der alte Handelsweg, der für den jahrhundertelangen Austausch von Waren und Kultur zwischen Orient und Okzident steht. Hier wird am Anfang der Grundton umkreist, und der höhere Ton (von dreien) klingt ebenfalls „neutral“, es ist keine kleine Sekunde und keine große, sondern ein 3/4 -Tonschritt. Und die von mir hervorgehobene, zum Grundton aufspringende Terz ist so – kadenzierend – erst ganz am Schluss zu hören. Aber er ist als Ton natürlich fortwährend in der Skala präsent, in diese ist er ja oft genug melodisch eingebunden. Es wäre gar nicht dumm, an einem so gut gelaunten Stück auch das genaue Hören bzw. das Hören einer klaren Skala zu üben. Ausgangsmaterial einer wohlgeformten Melodie. Ich habe sie mir provisorisch notiert und wundere mich, dass sie nicht symmetrisch ist. Wahrscheinlich stimmt meine Takteinteilung nicht. Aber so kann ich synchron mitsummen und eine korrekte Intonation üben auf den Tönen d und a, die in Chahargah eben einen Viertelton tiefer intoniert werden, daher in den Vorzeichen die Striche durch den „b-Hals“.

Dann setzt der Rhythmus ein, und die Melodie wird auf verschlungenen Pfaden fortgeführt, unberechenbar, ein fragiles Miteinander, feine Kontrapunkte, und darin immer wieder diese süßen Intervalle, die eine Missdeutung in Richtung Dur oder Moll unterbinden. Ich spiele die CD selten ohne solche Stücke sofort zu wiederholen, und wenn ich mich unterwegs daran zu erinnern versuche, habe ich zuerst diese Töne und ihre besondere Farbgebung im Ohr.

Das nächste Stück, dem die CD ihren Titel verdankt, enthüllt erst ganz allmählich seinen Jazz-Hintergrund, in dem Peter Klohmann zuhaus ist. „Gleichzeitig entstehen durch die Verwendung von Fusion-Skalen und Harmonien mit uneindeutigem Geschlecht tonal-heimatlose, schwebende Klänge und eine stilistische Breite, die von Klassik über Jazz mit Einflüssen indischer und orientalischer Couleur bis zu Disco- und Funk-Sounds reicht.“ So steht es im Booklet, Werbeslang denke ich und bin vom ersten quasi improvisierten, rufartigen Flöten-Einstieg gefesselt, dann von den parallel geführten Clusterakkorden, komplexen Mixturen aller Art, Tablarhythmen, werde fortwährend sinnlich und irgendwie sinnvoll beschäftigt: im Nu sind spannende 11 Minuten vorüber. Die Neugier bleibt.

Tr. 3 erinnert auf Anhieb an den Orchesterklang der großen Aufnahmen mit Oum Kalthoum, der „eingetrübte“ Dreiklang, das folgende Streicher-Unisono, – schwierig für ungeübte westliche Hörer aus heiklen Gründen… es bedarf einiger Worte. Mit meiner Begeisterung für arabische Musik bin ich in den 60er Jahren oft auf Unverständnis gestoßen, selbst gute Freunde haben mit verlegenem Kichern reagiert. Und ich wusste warum! Aber ich konnte die Ursache nicht „weg-erklären“. Eine frühe WDR-Sendung, in der ich es versuchte, hieß „Trivialität und Finesse“. Denn meine musikalischen Freunde lachten nicht über „Fremdheit“, sondern über scheinbar „Triviales“ oder sogar Banalitäten. Z.B. über Sequenzen, das allzuleicht Vorausberechenbare (mit kleinen „Fremdheitspartikeln“ darin), die „schmalzigen“ Tonübergänge. Ich wusste, da hilft nur eins: Hören, immer wieder und noch einmal: Hören. Dann verändert sich die Musik in unseren Ohren. Ich hatte arabische Musik aufgeschrieben und dabei jede Wendung 10mal, 20mal und öfter vom Tonband abgehört. Ich vergesse nie das Lautensolo „Taksim Souba Bouzk“, – und noch keine Ahnung hatte, dass der Aufdruck bedeutete: „Vorspiel im Maqam Saba auf dem Bouzok (Zupfinstrument)“, und dass Saba mein Lieblingsmodus werden sollte, – bis ein libanesischer Musiker behauptete, das sei die Hure unter den Maqamat. In der vorliegenden Komposition kommt er auch vor, wenn ich mich nicht irre (obwohl das Stück insgesamt im „Bayati“ steht):

Und wenn die Terzparallelen in Flöte und Klarinette auftauchen, könnte ein Kind sagen: sowas  kenne ich doch aus unserm Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“. Die Mutter stimmt zu: Nein, das kann nicht echt arabisch sein!  Als ich klein war, staunte ich auf Schulbusfahrten, wenn lauthals „Hoch auf dem gelben Wagen“ angestimmt wurde und die Mädchen es immer fertigbrachten, die Schlusszeile in Terzen hinzukriegen! Ich sage das nicht, um mich lustig zu machen. In andern Weltregionen hat diese Zweistimmigkeit eine andere Bedeutung. Und ich traue mir selbst nicht, wenn ich sage, dieses „Sama’i Bayati“ auf der CD „Identigration“ gefällt mir besser als die „authentische“ (?) Version des Syrischen Nationalorchesters, die lange vor dem furchtbaren Krieg entstand:

Und ich wünschte, ich hätte Gelegenheit, eine liebevolle Beschreibung dieser Komposition, ihrer Substanz (!), von einem syrischen Musiker zu lesen; schon das neue Arrangement erzählt einiges, z.B. dass trotz des ersten Taktes in „d-moll“ keine Harmonik im westlichen Sinn zur Kolorierung verwendet wird. Sie würde die melodische Charakteristik des Maqam Bayati zerstören:

 ©Walid Khatba

Ich liebe dieses Stück. Aber warum – bleibt mir ein Rätsel. Ich höre es mit Vorliebe zweimal hintereinander, genieße die Nuancen der verschiedenen Melodieabschnitte, samt Terzenparallelen. Ich liebe aber auch den Übergang zum nächsten, einem der berühmtesten Stücke „unseres“ Barock-Zeitalters. Ich selbst habe oft die Corelli-Variationen darüber gespielt, aber immer in dem Bewusstsein, dass die Melodie (als feierlicher, stolzer Tanz) aus Spanien stammt. Ebensogern identifiziere ich mich mit dieser neuen Version, genieße die phantasievoll angereicherten Variationen, die Rolle der orientalischen Instrumente, die Oud-Terzen, die wunderschöne Bläser-Kombination in der langsamen Variation, in der darauf folgenden das herrliche Gewimmel, das Blech, die Mandoline (?) usw.usw. – darf man das Stück so vertändeln? Gewiss doch, mehr denn je! Und vor allem das Ensemble als Ganzes in Aktion zu erleben.

An dieser Stelle sei ganz kurz erläutert, worin musikalisch gesehen des Problem einer Ost-West-Fusion liegt: Die Vielfalt der orientalischen Skalen – Maqam, Dastgah, Raga, wenn man dafür überhaupt das Wort Skala anwenden darf – findet ihren westlichen Widerpart nicht in der Dualität von Dur und Moll, sondern in deren Harmonik, die nicht von ihrer Geschichte ablösbar ist. Die entsprechenden Skalen gibt es im Orient, wenn man sie so pauschal bezeichnen darf, unter hundert anderen auch. (Samt ihren „Vierteltonabweichungen“.) Aber deren feine Abstufungen kann man mit den 3 – 4 Kadenzakkorden nach den Regeln des Generalbasszeitalters leicht zugrunderichten. Und das ist vielleicht implizit im folgenden Text mitgedacht, der nur von Skalen handelt, oder von den tonalen Mustern, die sie bilden. Harmonik oder Kontrapunktik – gegenläufige Stimmen – gibt es nur andeutungsweise, mit Vorsicht und Geschmack eingesetzt.

Termeh ist eine typische persische Webkunst mit traditionellem Bothe-Muster, das in Europa als Pasley-Muster bekannt wurde. Jamilpanah vertont die Farbenvielfalt des Temeh in der typischen Vierteltonskala Afshari und thematisiert am Ende des Stücks die Begegnung von Orient und Okzident, indem er das Stück in einer Dur-ähnlichen Skala enden lässt.

Zu den erwähnten Mustern siehe hier und hier  Zur Biographie des Komponisten/Instrumentalisten hier, über eine andere „Bridges“-Formation hier.

Ein im Westen ausgebildeter Gitarrist wie Dennis Merz hat selbstverständlich eine enge, professionelle Beziehung zur westlichen Harmonielehre und wird sie auch anwenden, wenn er Musik arrangiert. Im Fall der Bulgarischen Volksmusik gibt es bereits eine Tradition, dass sie innerhalb der Kunstmusik von bulgarischen Komponisten so eingesetzt wird, dass ihre besondere Charakteristik respektiert wird, ähnlich wie es Béla Bartók mit der ungarischen Bauernmusik gehalten hat. Der von B.B. oft behandelte und so genannte „Bulgarische Rhythmus“ im 7/8 (aus 4 + 3) ist, wie er natürlich wusste, nur einer von vielen asymmetrischen Rhythmen, die gerade in der bulgarischen Musik besonders geläufig sind, was ein kurzer Blick in den MGG-Lexikon-Artikel „Bulgarien“ von Lada Braschowanowa zeigt. Davon sollte eigentlich jeder musikalische Mensch eine gewisse Kenntnis haben. Und der Track 6 unserer CD, „Bucimis“, gibt dazu attraktiven Stoff. Man versuche einmal, das Hauptthema einzuordnen. Die Takbezeichnung ist 15/8, bestehend aus 8 + 7 Achteln, darin die 8 in 4mal 2 gruppiert, die 7 in 3 plus 4 .

Oben: Anfang der Partitur von Dennis Merz

MGG Art.Bulgarien

In dem zweiten der auf der rechten Seite gegebenen Rhythmen müsste also in die Reihe der Zweier-Gruppen nun noch eine weitere eingefügt werden, so hätten wir den 15er-Takt (statt 13). Um einen Fachbegriff zu erwähnen: man nennt diese Rythmen additiv (statt divisiv wie in klassischen Taktarten). Kleiner Tipp, dieses Thema beim bloßen Hören recht zu verstehen (Musiker*innen versuchen gern mitzuzählen): Der allererste Ton ist kein Auftakt, sondern der Taktbeginn. Man beginne das Stück so oft von Anfang, bis man es genau erfasst hat. Das ist keine private Pedanterie, es macht uns alle musikalischer, und man spürt das bereits beim bloßen Zuhören, noch besser: es physisch nachzuvollziehen.  Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem WDR-Konzertmeister Paraschkevov, der mir einen Rhythmus demonstrierte, indem er die Tanzschritte ausführte. Das gehört bei uns zum Musikunterricht der Streicher und Pianisten, sagte er, und als ich eines Tages ein Kammermusikfestival in Plovdiv besuchte, kaufte ich mir dort die täglichen Studien von André Stoyanov, die ich heute noch übe. Leider bin ich weit davon entfernt, ein Meister zu werden; ich bin allenfalls ein – Liebender. Ein Dilettant im besten Sinne des Wortes. Ich liebe diese Übungen:

Die bulgarische Tanzfolge, die Dennis Merz erarbeitet hat, ist natürlich trotzdem nicht als Etüde für ein gelehriges Publikum gedacht: sie erzählt eine Geschichte. Sie beginnt „folkloristisch“und „migriert“ im zweiten Satz in die europäische Klassik.

Später stoßen Elemente aus andern Kulturen wie Flamenco und Latin hinzu, bis letztlich alle Stile in einem Schluss-Kanon verschmelzen: Inklusion. Die bewusst gewählten Satzbezeichnungen Herkunft – Migration – Inklusion zeigen im übertragenen Sinne die Bereicherung von Kultur durch Migration.

Ein optimistisches Programm also, das vielleicht reichlich  didaktisch wirken würde, wenn es nicht so hinreißend interpretiert wäre; zudem auch eine schöne gedankliche Brücke zu dem übernächsten, lateinamerikanisch inspirierten Werk darstellt, „La Suite“ von Andrés Rosales. Allerdings lauert nach den bulgarischen Rhythmen eine ganz andere Gefahr für Leib und Seele: „Spiegelung in der Ferne“, eine melodische Vision sondergleichen, angeblich ein bekanntes mongolisches Volkslied, aber sobald man begreift, was für eine gewaltige Melodie diese Sängerin da über den ruhenden Haltetönen ausspannt, in den Himmel zeichnet, aus der gurgelnden Tiefe lockt, es ist fast nicht zu begreifen. Vielleicht ist es für mongolische Ansprüche ganz normal und seit alters vertraut, – von ganz anderer Wirkung jedoch, wenn man diesem offengelegten, kraftvoll zelebrierten „Naturpathos“ zum ersten Mal begegnet , – man braucht sich der Tränen nicht zu schämen! Es ist wirklich ein Wunder. Vielleicht irre ich mich und bin doch durch Hörerfahrungen mit Musik aus Tuva, dem winzigen Nachbarland der Mongolei vorgeprägt, zuletzt hier. Aber zum Glück ist es nicht nur ein „Intro“, es dauert, eine wunderbare 5-Minuten-Spanne, und man nimmt ebenso dankbar noch den angehängten Tanz mit dem Rhythmus der Pferdehufe entgegen…

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Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solch bunt gemischtes CD-Programm auch Widerspruch erzeugt. Als würde hier auf Biegen und Brechen etwas zusammengebracht, was nicht zusammen gehört, als sei süffiges Lateinamerika die Belohnung für befremdende Asiatica. Und die allzu eiligen Versöhner – das eine wir das andere missverstehend – erwiesen sich doch als die Grobiane, die von den feinen Unterschieden nichts begreifen. Aber da macht man es sich zu einfach und sieht nicht die Arbeit, die in einem solchen Unternehmen steckt, die scheinbar heillosen Diskussionen, die vorausgegangen sind, die gescheiterten Zwischenlösungen, die Skizzen und Vorstudien, aus denen am Ende eine akribisch notierte Partitur hervorging. Und dann kommt jemand und sagt: die Notation ist das Ende aller wildwüchsigen künstlerischen Hoffnungen, die Figur des Dirigenten da vorn erübrigt den Traum einer Gemeinschaft von Individuen und autonomen Künstlern. Wissen wir denn, wie strikt die Regeln der Tradition den Einzelnen bevormunden, welche rhythmischen Freiheiten ein 15/8-Rhythmus dem bulgarischen Trommler überhaupt noch einräumt?

Es sind übrigens gerade die besonders engagiert Musikbeflissenen, die kaum je mit „echter“ Volksmusik zu tun gehabt haben und dann doch als erstes „Authentizität“ einklagen. Auch wenn man den Verdacht hegt, dass sie im Leben nicht eine halbe Stunde opfern würden, um einem bulgarischen Schäfer, der Kaval oder Gajda spielt, aufmerksam zu lauschen. Und gehört nicht die Einsamkeit, die Stille, die Schafherde, der Dorfplatz, die Kenntnis der Tanzschritte dazu? Hat Béla Bartók seine geliebten Bauernweisen etwa einem westlichen Publikum einfach so vorgepfiffen, wie er sie in aller Präzision im Gedächtnis bewahrte? Genau so, wie er sie aufgezeichnet hatte? Nein, er hat sich an den Steinway im Konzertsaal gesetzt, oder ein ganzes Orchester bemüht, um gerade die städtisch geprägten Ohren zu erreichen und zu überzeugen.

Ich habe viel über Bartók nachgedacht, nachdem ich aufgehört hatte, „von fremden Ländern und Menschen“ nur zu träumen und eines Tages sogar in die glückliche Lage kam, für den WDR in die entlegensten Dörfer Rumäniens oder Ostserbiens reisen zu müssen. Oder auch 1974 zum Frühlingsfest in Mazar-e-Sherif, dem heute vielgenannten Ort, der damals noch am Ende der Welt lag, und als ich zurückkehrte, war das für mich die schönste Volksmusik, die ich je gehört hatte, und zwar von Menschen, die mir weniger fremd erschienen als die meines westfälischen Heimatdorfes, wo die Welt noch einfach gewesen war, – nur eben ohne Musik. Bei meinen Großeltern gab es nach dem Krieg immerhin ein von Mäusen zerfressenes Harmonium und eine Fabrikgeige mit dem Zettel „Stradivarius me fecit“. Musik als Rätsel des fernen Vaters.

„Bucimis“ Letzte Seite (51) Fine 9:25 Partitur von Dennis Merz (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis)

©Dennis Merz

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Ein Versuch zu erklären, weshalb ich in dieser Form über eine so rühmenswerte und schöne Serie von Aufnahmen schreibe, statt den Text auf genau das zu beschränken, was zur Sache gehört. Ich arbeite ja nicht für eine Schallplatten-Revue, verteile keine Noten, mache kein Ranking, würde mir nicht erlauben, den Track 8 negativ zu beurteilen, weil er mich an Operettenstil erinnert; natürlich würde es mich ärgern, wenn jemand eine afghanische Melodie ins Hip-Hop-Genre überträgt, diese Art von Fusion hat eine Null-Bedeutung. Es ist zu leicht, das eine dem andern zu überstülpen, ohne es verstanden zu haben, wenn also nur ein gewisser Wiedererkennungswert ausgenutzt wird. Es kommt auch immer drauf an, wer sich was „unter den Nagel reißt“. Und ich bin nicht prädestiniert, die Reinheit der Musikkulturen zu überwachen, weiß allerdings, dass es angreifbar ist, von einer Kultur in die andere zu switchen, als sei das ein Leichtes, es ist Mangel an Respekt. Wenn jemand den bulgarischen Rhythmus 12 12 123 so interpretiert, dass die 123-Gruppe eine Triole ergibt, so kann ich mich ohne Hochmut distanzieren. Es würde ja bloße Simplifizierung bedeuten, die auf einem Missverständnis beruht. Da hat die Aufklärung immer Vorrang. Andererseits kann ich mich auf einen gewissermaßen egozentrischen Standpunkt zurückziehen: es geht nicht um Schweigen, Abschließen und Verbieten, sondern um Öffnen, Lernen und Kommunizieren. Niemand verlangt die absolute Nachahmung jeder nur möglichen, anderen Kultur, was auch bedeuten würde, eigene Bräuche und Fertigkeiten zu eliminieren oder zurückzudrängen. Daher sage ich lieber: es geht um die Erweiterung der eigenen Musikalität, nicht um die Reduzierung. Daher rede ich von mir, statt allein von anderen Künstlern zu reden, die ich bewundere. Und hier schreibe ich eher ein Logbuch von eigenen Klangreisen, zugleich als einen Kommentar der Reisen, die von anderen real und imaginativ geleistet wurden und die ich letztlich nur indirekt nachvollziehen kann. Nochmal: es geht um Musikalität, – und wie immer und überall: um lebenslanges Lernen.

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Die in diesem umfassenden Sinne anregende und weiterführende, kluge und hochmusikalische CD „Identigration“ …

… kann man natürlich auch bestellen für 22 € (plus Versandkosten) und zwar unter folgender Mailadresse: bestellung@musikverbindet.de /  – dabei nicht vergessen: die eigene Postanschrift für Versand und Rechnung.

Und nochmals sei die anfangs erwähnte CD hervorgehoben: UNKNOWN NEARNESS s.a. hier

Meine Arbeit hat – wieder einmal – keinen Abschluss gefunden, der Mai-Anfang wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Der Frühling macht ernst. Aber wieder einmal gab es die fatale Kollision von Öffentlichem und Privatem, Außen und Innen, das jeder kennt, in meinem Fall quasi symbolisch angezeigt mit einem roten Auge am 1. Mai, der Begegnung mit Zakir Hussain im Internet am 2. Mai (Thema Percussion Global Celebration) und der Lektüre des Tageblattes am 3. Mai (Thema „Identitätspolitik“, es geht „um Kultur, Würde und Anerkennung“ und es ist Internationaler Tag der Pressefreiheit, aber „noch nie gab es so viel Aggression“) und um 9:05 h hatte ich meinen zweiten Impftermin in Solingen-Mitte, der Arzt dort gab Entwarnung bzgl. meines roten Auges. In einer Woche ist das vorbei. Aber morgen könnte Schüttelfrost kommen. Bis jetzt (4.Mai 9:45 h) habe ich Glück gehabt.

Tag der Pressefreiheit

Banalität des Alltags

Identität

„In der Gesellschaft tobt eine Debatte“ s.a. WAZ hier

Passend dazu: eine neue Erinnerung, die Druck macht – zweifellos, es ist Goethes „Faust“!

Aktuelles am 17.5.21 vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik

Diese CD stand übrigens auch in der Jury „Traditionelle ethnische Musik“ zur Debatte, dort wurde letztlich – mit gutem Grund – die folgende Sammlung ausgezeichnet:

Weiteres hier – hören Sie dort z.B.

35.

oder

98.