Archiv der Kategorie: Arabische Welt

Algier und die koloniale Idee

Schule des Südens / Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie

https://www.matthes-seitz-berlin.de/fs/products/schule-des-suedens/msb_erdur_schule-des-suedens_leseprobe.pdf hier (Einleitung TEXT!)

In den Quellenangaben (Seite 334) aufgeführte Filme:

Die Rezeption von Jacques Derridas Œuvre in der arabischen Welt  hier

Hans Mauritz: Alt sein in einem alten Land

„Inch’Allah“ und „el-hamdu lillâh“

Vor ein paar Wochen hat mir eine Bekannte Elke Heidenreichs Buch “Altern” geschenkt (1). Eine passende Gabe für einen Mann, der 85 Jahre alt ist. Dieses Buch ist so lebendig, so persönlich und frech geschrieben, dass mich nach der Lektüre die Lust gepackt hat, über mein eigenes Altsein auf der Westbank von Luxor zu schreiben, dabei einen Blick auf meine Mitresidenten zu werfen und mein Altern mit dem meiner ägyptischen Nachbarn und Freunde zu vergleichen.

Dass Altern im Deutschen einen anderen Stellenwert hat als im Arabischen, zeigen die Vokabeln. Im Deutschen sagt man nur in gehobener, leicht unehrlich klingender Sprache, dass „die Betagten in einer Seniorenresidenz leben“. Das Wort „alt“ dagegen hat einen mehr oder weniger negativen Beigeschmack, wie die Synonyme zeigen, die im „Deutschen Wortschatz“ (2) zusammengestellt sind: „greisenhaft, senil, verlebt, verbraucht, verkalkt, verrostet“. Spöttisch gemeinte Ausdrücke im Zusammenhang mit dem Alter sind „alter Knacker“, „alte Schachtel“, „alte Vettel“ oder „alte Hexe“. Im Arabischen heisst „alt“ kabîr es-sinn“, „gross an Jahren“. Da man den Zusatz in der ägyptischen Umgangssprache weglässt, wird der alte Mensch als „kabîr“, كبير bezeichnet, dem Wort, welches das Wörterbuch mit „gross, bedeutend, mächtig, angesehen, wichtig, herausragend“ übersetzt (3).

Während es im Deutschen wohl kaum einen Titel gibt, den man gebraucht, um seine Achtung vor alten Menschen auszudrücken, verwenden die Ägypter regelmässig die Anrede „ya scheich“ oder „ya hâg“. „Scheich شيخ ist eigentlich der Titel „für Männer, die im geistlichen, weltlichen oder sozialen Leben irgendwelche Bedeutung“ haben, speziell für Männer, die einen islamisch geprägten Beruf ausüben wie den Koranrezitator oder den Leiter eines Sufiordens. Den Ehrentitel „Hâg“ حاجّ bzw. „Hâgga“ حاجّة gibt man Männern und Frauen, welche die Wallfahrt nach Mekka unternommen haben (4). Aber die Anrede „Pilger, Wallfahrer“ gebührt nicht nur jenen, welche diese für die allermeisten unerschwingliche Reise hinter sich haben, sondern ganz selbstverständlich allen alten Menschen. Es ist so, als ob man dem Altsein und der Lebenserfahrung einen Wert zuweist, der geistlichen Würdenträgern und Mekkapilgern ebenbürtig ist. Der Schreibende selbst wird oft so angesprochen und lächelt insgeheim, wenn ihm bewusst wird, dass er Menschen auf der Strasse mit „ya Hâg“ begrüsst, die vermutlich jünger sind als er selbst.

Elke Heidenreich hat ihr Buch geschrieben, um am Beispiel ihres eigenen Alterns aufzuzeigen, dass dies ein wertvoller Lebensabschnitt ist, den man zufrieden und dankbar geniessen sollte. Altern bedeutet keineswegs „noch nicht tot sein“. Die Verluste, die es mit sich bringt, werden kompensiert durch andere, neue Lebensqualitäten, welche uns die Lebenserfahrung schenkt. Sie zitiert die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz: „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.“ Elke Heidenreich ermuntert die Alten, gegen Einsamkeit, Langeweile und Lethargie anzukämpfen und zu akzeptieren, dass zwar der Körper altert, nicht aber das Bewusstsein. Wichtig ist, die Neugier nicht zu verlieren und den Glauben an die Zukunft. „In dem Alter, das ich nun erreicht habe, bin ich immer noch auf dem Schiff Hoffnung und glaube nicht an seinen Untergang“, hat der französische Schriftsteller Julien Green mit 97 Jahren gesagt.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit den ausländischen Bewohnern auf unserer Westbank? Zunächst gilt es, den Mut zu würdigen, den es braucht, im Alter in einem fremden Land und einem fremden Sprachraum zu leben. „Das Altern ist nichts für Feiglinge“, hat die amerikanische Schauspielerin Bette Davis drastisch formuliert. Im Lauf der Jahre haben einige von uns Ägypten unwiderruflich verlassen, weil sie sich das Reisen und das Leben in der Fremde nicht mehr zutrauen. Unter denen, die geblieben sind, fallen jedoch solche auf, die auch im Alter noch erstaunlich aktiv sind und sich nützlich machen für ihr Gastland und ihre Mitbürger. Sie engagieren sich in karikativen Institutionen, Hilfswerken und Krankenhäusern, organisieren Ausstellungen zeitgenössischer ägyptischer Künstler oder vertiefen sich so sehr in das Studium der pharaonischen Geschichte und der Zeugnisse altägyptischer Kunst, dass sie es fast mit professionellen Altertumsforschern aufnehmen können. Bewundernswert, mit wie viel Elan alte Menschen sich ein altes Land zu eigen machen.

Die Neugier treibt auch den Schreibenden an. Er ist dankbar für den Gewinn, den das Studium einer fremden Sprache, Religion und Kultur mit sich bringt. Wer die fremde Sprache (sei es auch unvollkommen) spricht und versteht, erfährt eine Nähe, welche der Gebrauch des Englischen kaum zu erreichen vermag. Wer sich nicht verschanzt hinter den Mauern seiner Villa, hat Nachbarn und Freunde, teilt ihre Sorgen und Hoffnungen und nimmt, aus einem gewissen Abstand oder ganz aus der Nähe, Teil an ihren Traditionen und Gebräuchen. Zu ihren Hochzeiten braucht es nicht einmal eine Einladung. Das ganze Dorf kommt und lauscht der lauten Musik. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Zelt aufgebaut, wo drei Tage lang die Männer des Dorfes schweigend dasitzen und dem Scheich zuhören, der aus dem Koran rezitiert. Die Frauen strömen schwarzgekleidet in den Hof des Hauses. Ihre Aufgabe ist das Klagen um den Toten, aber so mancher sieht man heimliche Freude an, denn der Tod der Nachbarn ist für sie eine der wenigen Gelegenheiten, ihr eigenes Haus zu verlassen. Wer offene Augen und Ohren hat für das Leben seiner Mitbürger, erlebt, was diese beschäftig: den Fastenmonat Ramadan, den Geburtstag des Propheten, die Beschneidung der Knaben oder die grossen Dorffeste (halb Wallfahrt, halb Jahrmarkt), „Mûlid“, مولد Geburtstag“ genannt, weil sie den Lokalheiligen feiern, wie „Abu al-Gomsan“ in al-Qurna oder Abu al-Haggâg in Luxor.

Die Alterseinsamkeit, in Europa oft beklagt, existiert hier nicht. Die Alten sind nicht „unsichtbar“, wie oft in Europa gesagt, sondern geachtet und geliebt. Sie werden nicht in ein Heim abgeschoben, sondern sind aufgehoben im Familienverband und beschäftigt mit den Aufgaben, die sie noch erfüllen können. Die alten Männer machen sich nützlich auf dem Feld und bei der Betreuung der Tiere. Die Frauen thronen draussen im Hof, umgeben von Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkelinnen und einer ansehnlichen Schar von Kindern, die zur „gidda“ جدّة ein enges Verhältnis haben. Wir Europäer werden, sofern wir das wünschen, in diese Gemeinschaft aufgenommen. Einsam sind wir nicht, weil wir sehr schnell Freunde gewinnen. Im Gegenteil: der Schreibende musste für ein gewisses Alleinsein kämpfen. Allzu oft wurde er bei seiner Lektüre und beim Schreiben gestört, weil seine Nachbarn Mitleid hatten mit dem armen Mann, der so einsam in seiner Wohnung hockte. Die Hochachtung vor dem Computer hat schliesslich geholfen, auch wenn nicht alle verstehen, was der Fremde damit treibt. Der Mann am Computer bleibt jetzt weitgehend ungestört.

Unter Langeweile leiden wir Fremden nicht, weil es so viel Neues und Überraschendes zu entdecken gibt. Und Langeweile bemerke ich auch bei den alten Ägyptern nicht. Wenn sie nicht mit Aufgaben innerhalb der Familie beschäftigt sind, sitzen sie gelassen da, schauen vor sich hin oder in sich hinein und scheinen gelernt zu haben, was Elke Heidenreich den Alten in Europa rät: das Loslassen. Vermutlich fällt ihnen dies leichter als manchen ihrer europäischen Altersgenossen. Die Ägypter und speziell die Muslims haben ihr Leben lang gelernt, „inch’Allah„so Gott will“ ان شاء الله und „al-hamdu lillâh“ الحمد لله zu sagen und damit alles, was ihnen widerfährt, in Gottes Hand zu legen. Wer „inch’Allah“ sagt, dem wird vom Gesprächspartner mit derselben Formel geantwortet.. „El-hamdu lillâh“ („Gott sei Dank“) sagt man keineswegs nur bei guten Ereignissen. Wenn Dir etwas schief läuft, wenn z.B. dein Auto gerammt wird, schärft man dir ein, noch bevor du deinem Ärger Luft verschaffst: „Sag el-hamdu lillâh“, und du tust es. Wir Europäer mögen uns vielleicht stören an einem Verhalten, das die Verantwortung für alles in Gottes Hände legt. Wenn du einen Kettenraucher auf die Gesundheitsgefahr ansprichst, wird er dir antworten: „Allah liebt mich, el-hamdu lillâh.“ Für alte Menschen, die das Akzeptieren und Loslassen lernen müssen, ist diese Haltung selbstverständlich. Sie zeigt sich oft deutlich im Gesicht der Alten. Alte Frauen und Männer haben ihre eigene Schönheit, sie leuchtet in ihren Augen von innen heraus.

Auch wenn wir stolz darauf sind, in Europa die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts überwunden zu haben, ist sie in Bezug auf das Altern noch immer präsent. „Die Frau verblüht, der Mann reift“, bemerkt Elke Heidenreich. Dass „reife“ Männer eine wesentlich jüngere Frau heiraten, wird akzeptiert. Wenn aber ältere Frauen sich einen jüngeren Liebhaber zulegen, wird das als peinlich empfunden und geächtet. Erstaunlicherweise wird dies bei uns in Ägypten im Zusammenleben von Ausländerinnen und Einheimischen als weitgehend normal erlebt. Ältere Frauen aus Europa reisen nach Ägypten, verlieben sich in einen weit jüngeren Mann, heiraten ihn und leben mit ihm in ihrer neu gebauten Villa. Es ist nicht zu leugnen, dass eine solche Verbindung manchmal desaströs und tragisch endet. Aber wir kennen alle Beispiele dafür, dass eine solche Ehe funktioniert. „Im Innersten ist man nie alt“, hat der 97 jährige Julien Green behauptet, „die Zeit existiert nicht für die Liebe“. Und Elke Heidenreich betont: „Das Fieber der Leidenschaft lässt nach, aber doch nicht Liebe und Zärtlichkeit.“ Diese Beziehung gelingt vor allem, wenn die Frau Toleranz und Verständnis für die Gegebenheiten ihres Gastlandes aufbringt. Sie muss akzeptieren, dass sie früher oder später ihren Mann mit einer ägyptischen Ehefrau teilen muss, sei es auch nur, weil seine Umgebung und seine Eltern darauf drängen. Die Tradition und die ausgeprägte Liebe zu Kindern zwingt ihn dazu, die Familie mit Enkeln zu beglücken. Den ausländischen Gattinnen erwächst daraus eine neue Aufgabe. Da die öffentlichen Schulen so mangelhaft sind, empfiehlt sich der Besuch der Privatschulen, die für die meisten Ägypter zu teuer sind. Die Fremde, in die Familie aufgenommen, übernimmt die Kosten für die Ausbildung der neuen Generation und tut damit wohl das Beste, was wir in unserer Gastheimat leisten können. Inch’Allah, wir Alten in einem alten Land bleiben jung, wenn wir uns um die Jungen kümmern.

Und damit erfüllen wir Elke Heidenreichs Maxime: „Die Kunst des Lebens besteht darin, jung zu sterben, das aber so spät wie möglich.“

————————————————————————

(1) Hanser Berlin, 11/2024

(2) Wehrle/Eggers, „Deutscher Wortschatz“, Band 1 und 2, Fischer Bücherei, 1968

(3) und (4) Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch, Wiesbaden 1952

Dr. Hans Mauritz in Ägypten

Recherche Beirut (priv.)

16.-18. November 2024 Klinikum Solingen

Vorübung zur Musik des Libanon HIER (Wikipedia Music of Lebanon)

Entdeckung zu einer Phase meiner Geschichte (dank JMR): eine Zeitschrift:

Idee / Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XVIII/4 Winter 2024 C.H.Beck www.z-i-g.de hier)

1967!

Bezug dieses Blogbeitrags Seite 23ff und Seite 60ff:

Jad Tabet „Die Fassaden der arabischen Moderne“ Auf der Suche nach dem Architekten Antoine Tabet (s.a. hier) siehe oben

Diana Abbani „Auf der Suche nach Beiruts Klang“ (in der Zeitschrift Idee Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XVIII/4 Winter 2024 C.H.Beck www.z-i-g.de hier) siehe unten

Aus der Einleitung:

Ich folge den Spuren von Geistern und der Erinnerung an Orte und Worte, die längst verklungen sind. Doch das Fehlen von staatlichen Tonarchiven und die Unzugänglichkeit der Radioarchive machen meine Suche zu einer beschwerlichen Reise. Das verrät uns schon etwas über die selektive Bewahrung des kulturellen Erbes des Libanon. Auf meiner Suche entdeckte ich Privatarchive sowie Online-Foren und spezialisierte Websites, die mir Einblicke in die musikalische Vergangenheit Beitruts boten. Mir wurde immer klarer, dass Archive nicht nur alte Musikaufnahmen bewahren, sondern auch vergangene Kulturtechniken dokumentieren: von Schellack- und Vinylplatten bis hin zu mp3. Ich verstand, dass Archive weit mehr sind als bloße Verwahrstätten der Vergangenheit. Vielmehr müssen wir sie uns als dynamische Foren vorstellen, die von Machstrukturen und hegemonialen Wissenskonstellationen geprägt werden. Archive kanalisieren und formen kollektive Erinnerungen.

Diane Abbani

Es folgt die Ausarbeitung der wertvollen Links, die in den Anmerkungen näher bezeichnet sind:

Anmerkung 3 (Text über die AMAR-Stiftung)

https://journals.openedition.org/anisl/5867 hier

Anmerkung 5

https://www.amar-foundation.org/ hier

Anmerkung 9 („Oh, ehrbare Leute der Nachbarschaft“)

https://soundcloud.com/jeem_me/13-emp3-ws?utm_source=clipboard&utm_medium=text&utm_campaign=social_sharing hier 7:04 Badriya Saadeh (Sängerin) wiederentdeckt und behandelt von Diana Abbani Seite 64 Stichwort: Qasida

Anmerkung 10

https://www.amar-foundation.org/001-alqasida-ala-al-wahdah hier 28:03

Al-qaṣīdaalā al-waḥda (on-the-beat /4/4 rhythmic cycle) is a distinctive Nahḍa (Arabic Renaissance) form that appeared in the second half of the 19th century. This does not imply that pre-Nahḍa performers did not sing Arabic qaṣā’id to the waḥda –or to any other– rhythmic cycle. Al-qaṣīdaalā al-waḥda was intended to blend the Sufi form (i.e. the dhikr) and the secular form. The rhythmic cycle was used in the inshād of qaṣā’id (chanting of qaṣā’id) in order to preserve the group approach to the responsorial parts –i.e. al-inshād (the singing/chanting) and al-radd (the répons)– in dhikr ceremonies. But later on the takht (Arabic orchestra/ensemble) was entered into this minimalistic Sufi form that was then performed with the instrumental and vocal lāzima (chorus): Sufi music and secular music came together, creating a form equivalent to other revamped forms, such as the dawr and the tamīla …etc. Here’s a detailed description.

According to Professor Nidaa Abou Mrad, the qaṣīdaalā al-waḥda is the result of a fusion between two major forms in the eastern traditions: al-tilāwa (cantillation/recitation) and al-lāzima (chorus).

The meaning of al-tilāwa in this context is the tilāwa form or the singing form of a qaṣīda mursala (of non-metric measure), i.e. the improvisation of a melody for a classical Arabic text outside any rhythmic cycle.

Here is an example of a qaṣīda mursala performed by Sheikh Alī Maḥmūd.

Al-lāzima is a chorus or a madhhab, a melodic phrase repeated after specific vocal or instrumental passages. In the 20th century, al-lāzima was the instrumental phrase linking two melodic passages of a song or of an instrumental piece.

In the qaṣīdaalā al-waḥda, the lāzima implies “Lāzimat el-‘awādhil” adapted from a madhhab in the dawr “Āh yā anā” to the sīkah maqām (mode), and whose existence’s only proof is its mentioning in Nahḍa books. The lyrics of this dawr are: “Āh yā anā w-ēsh li-el -‘awādhil ‘andinā, qūm maḍya‘ el-‘udhdhāl we-wāṣelnī anā”. “Lāzimat el-‘awādhil” can be performed to the waḥda rhythmic cycle and to different maqāmāt according to the performer’s wish.

Let us listen to a performance of “Lāzimat el-‘awādhil” by a baāna -choir of munshidīn (chanters)- to the bayyātī maqām, the most common in qaṣā’id chanting.

The fusion between the two above mentioned factors (tilāwa and lāzima) created a new form: the qaṣīdaalá al-waḥda. This form was the principal competitor of the dawr, especially as to the conclusion of the waṣla.

According to Professor Frédéric Lagrange, the tilāwa of the qaṣīda accompanied by instrumental music is an invention particular to the Nahḍa period. He adds that the improvisation of a qaṣīdaalá al-waḥda is a marriage between the rhythm of the lyrics and the cyclic rhythm, half- composed, in which the performer renders different versions where the rhythm of the lyrics may follow the cycle’s rhythm or the other way around, with every verse ending with a dum.

‘Abduh al-Ḥamūlī was in the lead of those who performed qaṣā’idalá al-waḥda in their early stage at the end of the 19th century, followed by Yūsuf al-Manyalāwī, ‘Abd al-Ḥayy Ḥilmī, Salāma Ḥigāzī and many others.

etc. etc. siehe im Link

Anmerkung 12

Mawwal Bagdadi

https://www.amar-foundation.org/013-the-mawwal hier 40:40

The mawwāl is the third passage of the musical waṣla sang in classical Arabic during the Nahḍa period. It is preceded by the instrumental istihlāl (overture) represented by the samā‘ī or the bashraf, and the vocal istihlāl embodied by the muwashshaḥ. We can safely state that the mawwāl is the passage of taqsīm, layālī, and mawwāl, all being interconnected passages gathered under one appellation: the mawwāl. This passage is supposed to be entirely improvised to the same maqām as the waṣla’s maqām. The mawwāl started as a popular form before gradually entering the vocal waṣla. Various forms of mawāwīl are found in the popular traditions of the Arab people. This particular subject will be discussed in another episode. Today’s episode is about the mawwāl in the literary artistic traditions.

The mawwāl as a literary form is a text written in dialectical Arabic. Some trace it back to the word mawāliya. There are different forms of mawwāl, yet only two of them are left in the waṣla. These two forms are written to the baḥr al-basīṭ “mustaf‘ilun fā‘ilun mustaf‘ilun fā‘ilun”. etc.etc.

ab 3:00 in Maqam Sikah (Baidaphon)

Anmerkung 13

https://www.amar-foundation.org/059-muhyiddin-bayun-1 hier 37:30

Muḥyiddīn Ba‘yūn…

The muṭrib of Bilād al-Shām and a star who shone in Beirut’s sky, as well as an unrivalled player of ṭanbūr baghdādī –known today as the buzuq.

We will dedicate two episodes to this multi-talented artist: the first episode will be about his singing, and the second one about his playing.

Abū Sa‘īd, i.e. Muḥyiddīn Ba‘yūn, was born in Beirut around 1885 and died in this city at the age of 45 after a 2 years’ struggle against illness.

The relationship of Muḥyiddīn Ba‘yūn with music seems to have started early, and he seems to have been quite eloquent in the Arabic language. Some say that this was the result of his attending the Maqāṣid school –newly established then– where, according to a muḥaddith, Ba‘yūn studied Arabic, fiqh (Islamic Jurisprudence), tilāwa (Quran Recitation), and adab (Arabic Literature).

Let us listen to Ba‘yūn performing “ ’Indī rāyāt majdak” to the bayyātī maqām, accompanied by Sāmī al-Shawwā (kamān) and Zākī al-Qānūnjī (qānūn), recorded in Cairo on two sides of a 27cm record, # B-082974.     ab 3:20

Anmerkung 14  „Bilad al-Sham ist vom Unglück befallen“

https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=wp9JiZY3h4A hier

Anmerkung 16 „Ya mal el-sham ya oje“ („Oh Schönheit aus Syrien, du bist verdreht“) Omar al-Zaani HIER (Wiki !)

https://www.youtube.com/watch?v=5csuSEuApuQ hier bzw. folgender Youtube-Link:

Anmerkung 17

https://www.sama3y.net/forum/showthread.php?t=10323 (Rachel Smuha) hier

Anmerkung 18

https://www.amar-foundation.org/193-folk-music-in-lebanon-1 hier

Sehr instruktiv: siehe z.B. Lebanon (3) hier Interview arabisch (engl. Übersetzung beigefügt) gute Orig.Musikbeispiele, zur poetischen Sprach-Rhythmik.

Arabic is influenced by Syriac (see Ephrem the Syrian) whose structure is found in the Lebanese mountains, especially in the qerradeh whose melody is to the sikāh (♩).

Even in the structure of the melody, the steps are close: There is no leap to the 3rd, the 4th, or the 5th. There is also the three tone E F G G F E… that we never need to change. Moreover, we recite it as if we were talking, i.e. “ ‘A el-‘mayyim ‘a-el-‘mām ṭīr we-‘allī yā ḥamām”. Yet we can also sing it as follows (♩) …

*  *  *

Anybody can sing it, even a group. It is easy to sing, unlike solo singing. Whereas a qaṣīda, as a long song, requires a qaṣīda poet / singer with a beautiful voice chosen by the clan or the group to recite a verse of ‘atābā. No one would ask a person with an ordinary voice to sing ‘atābā or mawwāl baghdādī. Whereas qerradeh, as a folk tune, can be sung by anybody and by a group. The qerradeh poem is composed of 4 hemistiches, i.e. 2 verses, and usually includes a lāzima (chorus) repeated by the group and a dawr (semi-composed metric song in colloquial Arabic, sung by the lead-singer and the choir, inclusive of responsorial sections) whose lyrics address a specific situation, and that is interpreted by a soloist and repeated after him by a group. The qerradeh is an important element of the Lebanese zajal category, i.e. zajal concerts, circles, on stage performances, and duels, thanks to its easy performance, simple structure, and compatibility with any chosen topic, usually a happy one, as it is performed in joyful situations rather than upon a sad event.

Die Wüste als Utopie

Ibrahim al-Koni und sein verlorenes Paradies

Von Hans Mauritz

Altes Stadttor in Ghadames (Libya)

Ibrahim al-Koni ابراهيم الكوني wurde 1948 in einer Oase in der Nähe von Ghadames in der nordwestlichen libyschen Sahara geboren. Seine Muttersprache ist Tamasheq, eine der Sprachen der Tuareg. Erst mit zwölf Jahren hat er Arabisch gelernt, die Sprache, in der er mehr als 80 Werke verfassen sollte. (1) Ibrahim al-Koni gilt als einer der berühmtesten Schriftsteller der arabischen Welt und als jener Autor, der Wüste und Nomadentum zur Metapher der menschlichen Existenz und zur Gegen-Utopie des modernen Lebens gemacht hat.

Ghadames (Wikipedia 2004)

Er hat seine Heimat sehr früh verlassen und Exil und Fremdheit kennen gelernt, ein anderes Thema seines Schreibens. Wenn er heute nach seiner Kindheit gefragt wird, in der er als Ziegenhirte an Kälte, Hunger und Durst litt und mit der Angst vor Wölfen und Schlangen lebte, antwortet er: „a lost paradise“ (2)

Der junge Journalist zog 1970 nach Moskau, um am Gorki-Institut vergleichende
Literaturwissenschaft zu studieren und sich die grossen Werke der Weltliteratur in russischer Übersetzung anzueignen. Nach einer Tätigkeit als Journalist in Moskau und Warschau liess er sich 1993 in der Schweiz nieder. Dorthin war er 1988 gereist, um sich in Bern medizinisch behandeln zu lassen. Da er kein freies Hotelzimmer fand, wies man ihn ins Dorf Hünibach. Nach der Fahrt mit Zug und Bus stand er recht verloren da. Ein Passant holte kurz entschlossen sein Auto aus der Garage, hiess den Fremden einzusteigen und fuhr ihn die wenigen hundert Meter zum gesuchten Gasthof: al-Konis erste Begegnung mit schweizerischer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. (3)

Thuner See (Schweiz)

Das Schicksal wollte es, dass er sich fünf Jahre später in genau diesem Ort niederliess, wo er „die schönsten und künstlerisch produktivsten Jahre in meinem Leben“ verbringen sollte. Die Romane, die er in seiner neuen Heimat oberhalb des Thunersees verfasst, handeln ohne Ausnahme von der Wüste und den Oasen der Sahara. „Sur la terrasse de son chalet-résidence, Ibrahim al-Koni scrute les dunes de son Sahara intérieur“. (4) Der Tuareg, der nach dem Gesetz seines Stammes nicht länger als 40 Tage am selben Ort verharren sollte, ist sesshaft geworden. „Aber die Freiheit der Umherziehenden kann man in sich selbst, in der Meditation, finden.“ Dieses Exil ist leichter zu ertragen, weil für ihn die Schweizer in ihrer Beziehung zur Natur den Tuareg nahe sind und wie sie eine poetische, mystische, sufistiche Liebe zu ihr empfinden. (4)

Der Sufismus, die islamische Mystik, prägt die Art, wie al-Koni die Wüste darstellt. Das Leben seiner Bewohner spielt sich ab an einem Ort ausserhalb des Raumes und der Zeit. Was geschieht, ist nicht spektakulär. Die Nomaden verharren an einer Wasserquelle und ziehen dann mit ihren Herden weiter. Kinder hüten die Ziegen, Männer ihre Kamele. Viele sind einsame Wanderer, fühlen sich als Fremdlinge und Eremiten. „Gott ist keinem Menschen nahe, welcher nicht nahe ist bei der Einsamkeit.“ Selbst wenn sie zu zweit oder zu dritt durch die Wüste ziehen, schweigen sie, denn die wahre Sprache der Wüste ist das Schweigen. Sie „reden“, „ohne die Worte mit der Zunge zu besudeln (..) Das Schweigen nämlich ist eine Einübung der Seele in die Ewigkeit (..) Du ahnst ja nicht, wie sehr die hässliche Zunge die Dinge entstellt, wenn sie sie ausspricht.“ Das Schweigen ist „das Reden der Ewigkeit“.

Libyen Desert (Wikipedia)

Wenn die Menschen nicht reden, redet die Wüste. Alles Sichtbare ist Metapher für Unsichtbares und spricht mit Zeichen: die unendliche Weite, die Felsen und Steine, die Gräber der Ahnen, der Himmel. Wer dahinzieht, kennt „keine Verlassenheit, weil das Wunder des kahlen Himmels über ihm grossartiger war als alle Geschenke des Schicksals“. Der volle Mond tröstet ihn und sagt ihm, „alles sei nichtig, und was bleibe, seien einzig die Körper des Himmels.“ Wichtiger als das Reden sind für die Nomaden die Musik, die Poesie und der Gesang. Der Singende entdeckt, dass „jedes Wort, das sich nicht in Gesang verwandelt, Geschwätz und Gefasel bleibt.“

Die Umherziehenden haben wenig Sinn für leeres Gerede, weil ihr Herz voll ist von Sehnsucht. „Die Sehnsucht ist das erste Schicksal des Wüstenbewohners.“ Diese Wanderer sind in der Welt Fremdlinge, weil sie wissen, dass sie seit dem Sündenfall ihre Heimat, die paradiesische Oase „Wâw“, verloren haben. Sie glauben, „dass allein der Wanderer in seinem Herzen die Sehnsucht hegen kann, die verlorene Oase zu erreichen.“ Und vielleicht ist das Erreichen nicht der wichtigste Aspekt der Wanderung. Der Umherirrende weiss, „dass das Geheimnis im Unterwegssein liegt, dass das Unterwegssein das Leben ist.“ Es gilt, sich ganz dem Weg hinzugeben, aufzuhören, von der Ankunft zu träumen, und das wahre Glück im Unterwegssein zu finden. „Wird so nicht der Weg das eigentliche Ziel des Wanderers?“ Dieses Unterwegssein ist so wichtig, weil die verlorene Oase vielleicht gar nicht im durchwanderten Raum existiert, sondern allein im Herzen des Wanderers. „Wenn du dein Wâw nicht in dir selbst findest, bei deiner Wanderung, wirst du es nirgends finden.“

Karawane

Auch wenn die Wüste als „Leere“ bezeichnet wird und wir vielen Gestalten als einsamen Wanderern und Eremiten begegnen, ist diese Welt weniger leer als wir vermuten könnten. Neben und mit den Menschen lebt ein Volk, das meist unsichtbar bleibt und sich trotzdem ständig bemerkbar macht: die Dschinnen, die in der Wüste schon lange vor den Menschen ihren Lebensraum hatten und ihre Vorrechte nicht an die neuen Bewohner abgeben wollen. „Die erste Lektion, die jedes Kind von seiner Mutter lernt, ist „dass es in die Wüste als Gast der Dschinnen gekommen ist und dass es deren Sitten respektieren muss und ihre Besitztümer nicht anrühren darf (..) Das Gold ist ihr Lieblingsmetall. Es zu besitzen ist ein Angriff auf ihr Vorrecht und eine Verletzung des unverbrüchlichen Vertrages zwischen den Wüstenbewohnern und den Bewohnern des Unbekannten.“

Wer die Dschinnen herausfordert, erregt ihren Zorn und wird bestraft. Die Konfrontation kann spektakulär und von makabrer Komik geprägt sein. Die Dschinnen lieben Masken und Verkleidungen. Um uns zu erschrecken, schneiden sie sich die Köpfe ab oder wachsen in die Höhe, bis sich ihre Gestalt im Himmel verliert. Sie können auch an uns raffinierte psychische Transformationen vornehmen. „Ja, ich möchte fast behaupten“, wird zu einem gesagt, der aus der Einsamkeit zurückkehrt, „die Dschinnen hätten dich in der Wüste ausgewechselt und hätten in deinen Körper ein anderes Geschöpf gesetzt, eines aus ihrer abscheulichen Sippschaft.“

Doch so abscheulich sehen die Dschinnen nicht immer aus. Es kommt vor, dass eine unbekannte schöne Frau in der Oase auftaucht, ein „Dschinnenweib“, dass mit ihrem Gesang die Männer in Wahnsinn und Ekstase versetzt. „Im wilden Rausch fielen Menschen von den Dächern der Häuser (..) Manche wurden von Schwermut übermannt. Sie zogen ihre Schwerter und richteten sie gegen sich selbst.“

Die Dschinnen versetzen nicht nur andere in Raserei und Wahnsinn, sondern lieben es, auch selbst in Ekstase zu geraten. Diese Leidenschaft geht schon aus ihrem Namen hervor. Die Bezeichnung „die Dschinnen“ (جنّ) ist von einem Verbstamm abgeleitet, der „besessen sein, wahnsinnig, verrückt werden“ oder „in Wut, in Raserei versetzen“ bedeutet. „al-dschunûn“ (الجنون) ist das gängige arabische Wort für „Besessenheit, Wahnsinn, Raserei, Ekstase“, und das Adjektiv „madschnûn“ (مجنون) bedeutet „verrückt“.

Was diese Dämonen aus dem Reich des Unsichtbaren praktizieren, hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Darbietungen der frommen Derwische, der Mystiker, der Gottsucher und „fous de Dieu“ . Sie schlagen ekstatisch die Trommeln, bewegen sich rhythmisch hin und her und skandieren die 99 Namen Allahs. Eine solche Zeremonie, „dhikr“ (ذكر ) genannt, findet noch heute in den Dörfern von Oberägypten statt (5). Diese „Sitzungen“, die gesittet und unblutig verlaufen, nehmen in der Welt Ibrahim al-Konis häufig urtümliche, ungezügelte und erschreckende Züge an. Die Scheichs des Tidschanîya-Ordens sind berühmt dafür, in wilde Verzückung zu geraten. „Wenn einer von ihnen den Zustand der ‚Begegnung‘ erreicht hatte, zückte er ekstatisch sein Messer und pflanzte es sich in die Brust, um die Rückkehr unmöglich zu machen.“

Diese Ähnlichkeit in den Praktiken der Ekstase macht die Verwandtschaft zwischen Wüstenbewohnern und Dschinnen plausibel, die bei al-Koni immer wieder zur Sprache kommt. „Alle Geschöpfe der Wüste sind verwandtschaftlich miteinander verbunden“, sagt Âkka, der selbst ein „Chass“, ein Mischling aus beiden Völkern, ist, „In der Wüste, die wir durchqueren, existiert kein  Unterschied zwischen Mensch und Dschinn.“ So hören wir auch von guten Dschinnen, die „weder Bosheit noch üble Machenschaften“ kennen. „Sie sind sogar besser als wir, weil sie Gutes niemals mit Bösem erwidern“. Im Zug der Islamisierung der Wüstenbewohner sind auch die Dschinnen zum Teil Muslims geworden.

Ganz wesentlich zur Wüste gehört ein drittes „Volk“, die Tiere. Diese sind ganz nahe beim Menschen und verhalten sich wie er. Sie reagieren sogar oft menschlicher als der Mensch. Die Teilnehmer einer Karawane sind erschüttert vom Klagelied eines Kamels, dessen Herr umgekommen ist: „Ich möchte wetten, dass im Leib dieses Tieres ein Mensch steckt und kein Tier. (..) Das Kamel ist das einzige Tier des Wüste, das die Trennung von seinem Herrn nicht erträgt. Es verendet aus Trauer, wenn sein Herr stirbt.“

Zwischen Menschen und Tieren kann Freundschaft und sogar Blutsbrüderschaft existieren. Eine Gazelle hat ihr Leben geopfert, um mit ihrem Blut ein verdurstendes Kind zu retten. „Wir und das Menschenkind sind Blutsbrüder geworden.“ Der Ahn der Derwische ist unter der Obhut von Wölfen aufgewachsen und hat ihre Sprache gelernt. Deshalb folgt Scheich Mussa, sein Nachkomme, dem „Ruf seiner Ahnin, der weisen Wölfin, die seinen Ahn gesäugt und zwischen ihm und dem Wolfsrudel Brüderschaft hergestellt hatte.“

In Tieren können Menschen versteckt sein, gute oder böse. Eine Hirtin erschrickt über den „unheimlichen, wilden, satanischen Blick“ einer ihrer Ziegen, „aus Augen, die fast menschlich waren“. Es scheint, „als ob sie es nicht mit einem Zicklein, sondern mit einem Geschöpf zu tun habe, dem ein böser Mensch innewohnt.“

Wer die Tiere liebt, lebt als Vegetarier. „Fleisch wurde ihm ekelhaft (..) Wie konnte nur ein Geschöpf das Fleisch eines anderen essen?! (..) Seit Assûf kein Fleisch mehr ass, weideten die Mufflons in grosser Zahl in seiner Nähe.“ Er  streichelt sie und redet mit ihnen. „Dann trösteten sie ihn mit ihren Augen, die tausend Sprachen sprachen und in tausend Zungen redeten.“ Ein anderer Nomade, Edebnân, findet „in der Gesellschaft der Tiere jene Weisheit, die uns in der Gesellschaft der Menschen mangelt.“

Unter den Tieren der Wüste nimmt der Mufflon eine besondere Stellung ein. Er ist ein heiliges Tier, das schon die Ahnen in ihren Felszeichnungen dargestellt haben, wo er majestätisch neben dem Priester steht. Die Nomaden sehen mit Erstaunen, wie die Touristen, Christen aus Europa, andächtig, fast betend, vor diesen Bildern stehen. Den Libyern aus dem Norden dagegen geht es allein um die Jagd auf Mufflons und Gazellen, nach deren Fleisch sie süchtig sind.

„Der Mufflon ist kein Tier von dieser Welt. Er ist ein himmlisches Tier, ein Engel, ein Bote.“ Die Nomaden haben erlebt, dass er Jäger, die hinter ihm her waren und über einem Abgrund hängen blieben, vor dem sicheren Tod bewahrt hat, indem er ihnen half, einen rettenden Absatz zu erreichen. „Wer von beiden war der Mensch? Wer das Tier?“ Assûf hat sogar in den Augen eines gejagten Tieres seinen verstorbenen Vater gesehen. Es ist, als ob Mensch und Tier, Jäger und Gejagter, eins geworden seien. Der Mufflon-Vater hilft ihm ebenfalls, als er von den italienischen Besatzern zwangsrekrutiert wird. Assûf entkommt, in einen Mufflon verwandelt.

Ein anderer Mann aus dem Stamm wird Udâd (Mufflon) genannt, weil er von diesem Tier so fasziniert ist, dass er nicht davor zurückschreckt, sich in seine Welt vorzuwagen, „sich an der Heiligkeit des unerreichbaren Berges zu vergreifen und sich gegen die Unsichtbaren aufzulehnen.“ Über dem Gipfel liegt nur noch der „Schlund der Finsternis“. Wer ihn erreicht und hineinblickt, so heisst es, verschwinde auf ewig.

Obwohl die Tuareg vor Jahrhunderten den Islam angenommen und selbst für seine Ausbreitung gekämpft haben, zeichnet Ibrahim al-Koni eine Wüste, in der vorislamische Glaubenspraktiken äusserst lebendig geblieben sind. „Es ist, als weigerte sie sich, die alte Religion aufzugeben, die wir mit der finsteren Vergangenheit begraben haben, als wir die Religion der Muslime übernahmen.“

Wer in der Wüste und in der Nähe der Oasen vorbeizieht, bemerkt an den Stimmen der ekstatisch singenden und trommelnden Derwische, die Allahs Namen anrufen, dass er sich in einer muslimischen Gegend befindet. Aber, wie wir gesehen haben, kann diese Ekstase so rauschhaft und selbstzerstörerisch werden, dass sie von der „heidnischen“ Verzückung und vom Wahnsinn der Menschen und der Dschinnen nur schwer zu unterscheiden ist.

Vom Freitagsgebet in der Moschee und übrigen Pflichten der Muslims (den fünf Pfeilern des Islam) ist bei al-Koni weniger die Rede als von Talismanen, Amuletten und Zaubersprüchen, mit denen man sich gegen dunkle Mächte wappnet. Ein Amulett fertigt der Faqîh (الفقيه) an, der islamische Theologe und Rechtsgelehrte. Aber lieber wenden sich die Leute an den heidnischen Zauberer, dessen „Produkte“ wirksamer sind und länger halten. Erstaunlich ist, dass die Faqîhs und die Seher der Magier sich einig sind in dem Glauben, „dass ein rückwärts gesprochener Koranvers die bösen Dschinnen bindet und die Schlangen lähmt.“ Achmâd, von einem Dschinn fortgeschleppt, denkt an dieses Wundermittel, den Thronvers. Aber er weiss diese berühmte Sure nicht auswendig und vermag sie erst recht nicht rückwärts aufzusagen.

Achmûk, ein anderer junger Mann aus dem Stamm, studiert islamisches Recht und Theologie an der Schule der Grossen Moschee in Timbuktu. Er ist seit seiner Kindheit jedoch so fasziniert von den Steinen, dass er Grossbaumeister des Sultans wird. Die Steine, so sagt er, sind die Heimat Gottes. Da sieht sich der Sultan verpflichtet, ihn zu warnen: „Im Stamm gibt es Menschen, die in den Steinen nichts anderes sehen als Götzenbilder, denen der Teufel innewohnt.“ Man sieht, die Auseinandersetzung zwischen Anhängern des Islam und jenen der vorislamischen Zeit ist noch längst nicht abgeschlossen.

Fast alles, was al-Koni über die Wüste schreibt, findet seinen Gegenpart, wenn er uns in die Welt der Oasen führt. Dabei evoziert er beim Leser nicht die romantischen Bilder, die wir mit den Oasen verbinden: Plantagen mit Datteln und Palmen, Tiere auf der Weide. Die Oase, das ist für ihn die Stadt, das sesshafte Leben, der Handel, die Märkte, das Handwerk, die „Zivilisation“.

Die Nomaden haben ihr vom Umherziehen, von Einsamkeit, Meditation und Gottsuche geprägtes Leben gegen Sicherheit, Besitz, Wohlergehen, Luxus und Vergnügen eingetauscht. All diese Errungenschaften werden bei al-Koni negativ bewertet: „Der Stamm zog in Festgebautes ein, die freien Menschen richteten sich in Gefängnissen hinter Mauern und hohen Wänden ein.“ „Die Oase, das ist die Falle des Wanderers, das Paradies der Durstigen, der Schatz der Irrenden, die Heimat der Knechte.“ „Alle Bewohner der Oasen sind Sklaven .“ Nicht Sklaven der Menschen, Sklaven des Teufels.

Der Besitz zerstört die Seele der Wüstenbewohner. „Willst du die Welt besitzen? Dann besitze nicht die Reichtümer der Welt!“ „Niemand kann einen Schatz besitzen und gleichzeitig sich selbst.“ Rettung läge allein in der Flucht zurück in die Wüste. „Hat nicht der Spross der Wüste das Recht zu fliehen(..) , um der Sesshaftigkeit zu entkommen, bei der das Eigentum an Gottes Stelle tritt?“ In den Städten wird das Verbot, Gold zu besitzen und mit Gold zu handeln, weil dies allein den Dschinnnen vorbehalten ist, gelockert und schliesslich ganz missachtet. So „ist das Gold der Gott derjenigen geworden, die beschlossen, alle Götter zu leugnen.“

Um an Gold zu kommen, machen die Städter Anleihen bei den heidnischen Stämmen des Dschungels. Diese nutzen die Chance und lassen sich in den Städten nieder. Sie verknüpfen ihr Darlehen mit der Forderung, auf den Islam zu verzichten, die alten Gottheiten wieder anzubeten und die Rituale der Magier neu zu beleben. Ein Magier ist nicht einer, der sich vor Steinen niederwirft. „Der wahre Magier ist vielmehr derjenige, der Gott um Geld verkauft und ihn in seinem Herzen für die Liebe zum Gold eintauscht.“

Wie wichtig Ibrahim al-Koni die Reflexion über die Religion der Magier ist, zeigt sich daran, dass er seinem Hauptwerk den Titel „Die Magier“ gegeben hat. Der Zufluss von Gold lockt die Menschen in die Städte, und der Handel blüht. Dieser beschränkt sich nicht mehr auf den lokalen Markt. Wer seinen Besitz vermehren will, zieht mit den Karawanen los, bringt seine Waren in die Reiche des Dschungels und kehrt mit einem Goldschatz zurück. Er bezahlt diesen Reichtum mit Selbstverlust: „Er vergass die Oase, und eines Tages hatte er auch seinen Namen vergessen.“

Der Reichtum macht süchtig. „Der Mensch giert nach immer mehr, weil es ihn gelüstet, andere zu beherrschen, zu unterwerfen und zu versklaven.“ In der Oasen herrschen nicht mehr die Noblen, die selbst Wanderer, Eremiten und Dichter waren und ihr Amt nach den überkommenen Gesetzen ausübten. Der Handel braucht einen Führer, der nur eine Puppe in den Händen der Mächtigen ist. Um ihn zu küren, kann es genügen, den Zufall walten zu lassen: der erste Fremde, der vorbeigeht, soll Führer sein. So passiert es, dass man einen Dschinnen erwählt, der in einer Vogelscheuche versteckt war und dahin zurückkehrt, nachdem er die Oase ruiniert hat. „Die Vogelscheuche ist unser Schicksal. Wir lassen uns nieder in ihr. Sie lässt sich nieder in uns. Wir sind die Vogelscheuche, und die Vogelscheuche ist wir.“

Ibrahim al-Koni weiss, dass die Wüste heute längst nicht mehr jene ist, die er als Nomadenkind kennen gelernt hat. Sie wurde entstellt durch die Konzerne, die Erdöl und andere Bodenschätze fördern. Das Erdöl ist ein Fluch, kein Segen für die Libyer. Es tötete nicht nur „die instinktive Liebe zur Arbeit, sondern erschütterte in ihren Seelen auch die ethischen Werte.“ (6) Auch der Massentourismus und die Jagd bedrohen das Leben in der Wüste. Die Schnellfeuergewehre ermöglichen es den Jägern, auf einem einzigen Jagdzug eine ganze Herde von Gazellen zu erledigen.

Im Bewusstsein, dass Kultur und Lebensweise der Tuareg verschwinden, sieht der Schriftsteller seine Aufgabe darin, Zeugnis abzulegen von dem, was er noch als lebendige Realität erlebt hat. „Und jemand müsse das festhalten, was hier als Teil der Menschheitsgeschichte ein Volk gelebt, gedacht, geträumt habe.“ (7)

Al-Koni spricht von diesem Lebensraum als „meine Wüste als Heimat und Metapher“. Er erzählt nicht in erster Linie seine Erinnerungen, sondern gebraucht die Wüste als Symbol, als Metapher der menschlichen Existenz. Die Wanderung der Nomaden meint die Irrfahrt des Lebens, die Suche nach Sinn, nach Gott, nach Glückseligkeit und Erfüllung. Umgekehrt ist ihm die Oase, die Stadt, Metapher des modernen Lebens und „Belohnung“ für alles, was wir aufgegeben und gegen den Segen der „Zivilisation“ eingetauscht haben. Sie schenkt uns, so meint er, nicht das wahre Leben, sondern die Illusion des Lebens, den Selbstverlust, das blosse Spektakel und die Knechtschaft. Die Regeln des Handels und des Marktes beherrschen uns, der Konsum macht uns gierig und süchtig, und die Medien berieseln uns mit leerem Geschwätz. Die Politik kaschiert Ungerechtigkeit und Tyrannei und bringt uns dazu, unsere Knechtschaft zu akzeptieren.

Ibrahim al-Koni weiss, dass der Weg zurück in die Wüste verschlossen ist. Was uns als Ausweg bleibt, ist ein Leben, in dem Genügsamkeit, selbstgewählte Einsamkeit, Schweigen und Meditation die Stelle des Spektakels und der Betriebsamkeit einnehmen, ein Dasein, in welchem die Suche nach Sinn, „die Suche nach einem anderen Leben, das hinter dem Leben liegt“, die Gier nach Macht und Besitz einschränkt. Ein Leben wie das der Sufis, der islamischen Mystiker, die in Musik, Gesang und Bewegung aus ihrem Kerker ausbrechen, um einer höheren Wirklichkeit zu begegnen.

Foto: Wikipedia / Elian – Eigenes Werk. Übertragen aus de.wikipedia nach Commons.

*    *    *

(1) Die Zitate stammen aus folgenden Werken des Schriftstellers, alle erschienen im Lenos Verlag und übersetzt von Hartmut Fähndrich:
„Blutender Stein“, „Goldstaub“, „Ein Haus in der Sehnsucht“, „Das Herrscherkleid“, „Die Magier“, „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara““, „Nachtkraut“, „Die Puppe“, „Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara“, „Die steinerne Herrin“, „Die verheissene Stadt“.
Ferner: „The Scarecrow“, translated by William M. Hutchins, AUC Press 2015 und „The Desert Also Keened“, translated by Dima El Mouallem, in „Arablit“, December 13, 2023
(2) „Thirst of the Desert“, a Conversation with Ibrahim al-Koni, WramcoWorld, March/April, 2023
(3) „Palast der Gastlichkeit“, NZZ 24/5/2008
(4) Isabelle Rüf, „Le désert comme destin“, „Le Temps“, 26/3/2005
(5) Vgl. Hans Mauritz, „Allahs Namen nennen“, „Zikr“, „Sufi-Rituale in Oberägypten“, April 2023, in „Leben in Luxor. Autorenforum“)
(6) „Ein Festschmaus am Leichnam der Mutter“, NZZ 11/5/2007
(7) Hartmut Fähndrich, Nachwort zu „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara“

Wir „Migranten“ in Oberägypten

Ägyptern helfen, von Ägyptern lernen

von Hans Mauritz, Luxor, Januar 2024

„Assuan, Familienraum“ Foto ©Hans Mauritz

„Wer einmal Wasser aus dem Nil getrunken hat…“ Manchem Ausländer, der Ägypten besucht hat, ist Merkwürdiges geschehen: er hat sich verliebt in einen Menschen, ein Volk, eine Sprache, die Landschaft, die Kunst der Pharaonen. Er ist wiedergekommen, ist geblieben, monate- und jahrelang, ein ganzes Leben. Und weil der Wertverlust des ägyptischen Pfundes unsere europäischen Währungen so stark gemacht hat, konnten und können wir uns hier ein angenehmes Leben leisten. Übertriebene Sparsamkeit oder gar Geiz sollten für uns kein Thema sein. Das könnte man vermuten.

„Geiz ist geil“. Der Werbeslogan einer deutschen Elektrohandelskette, im Oktober 2002 lanciert, hatte unerwarteten Erfolg. Ähnliche Werbesprüche wurden in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien und Frankreich kreiert. Ein grosser Non-Food-Discounter machte Filialen auf, die den Namen „Mäc-Geiz“ trugen. Sogar ein Bordell auf der Hamburger Reeperbahn wählte den Namen „Geiz-Club“, weil es seine Dienstleistungen zu einem besonders günstigen Preis anbot. (1)

Diese neue Mentalität machte auch vor der Reisebranche nicht halt. Ein Tourismusunternehmen gab sich den Namen „Reisegeier“ und ermunterte seine Kunden , „Geizreisen“ zu buchen. Meinungsinstitute stellten ein „Geiz-Ranking“ auf, das zeigte, dass die Deutschen sich unter den europäischen Urlaubern als besonders geizig erweisen. (2)

Diese Kampagne hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Aber sie hat bewirkt, dass eine neue „Geiz-ist-geil“-Mentalität offen und schamlos zur Schau gestellt werden kann. „Supergeile Preise“, „Ausverkauf“, „Aktionen“, „Tiefpreise“, „sottocosto“ oder „Black Friday“ haben für manche Menschen eine existentielle Bedeutung bekommen. Es sieht so aus, als ob wir Deutschen ein Volk von Schnäppchenjägern geworden seien.

Dabei gilt doch der Geiz seit altersher in der christlichen Lehre als eine der Todsünden. Den Geizigen droht die Hölle. Im Alten Testament wird gesagt, dass „ein geiziges Auge die Seele austrocknet“ (Sir 14,9). Für Paulus ist der Geiz die Wurzel allen Übels und der Geizige ein Götzendiener. Augustinus definiert den Geiz als „Wahnsinn der Seele“. Der Kirchenvater Thascius Cäcilius Cyprian erklärte im 3.Jahrhundert: „Die Geizigen besitzen ihr Geld weniger als es sie besitzt. Sie sind Sklaven ihrer Schätze“ (3)

So wird die „Geiz ist geil“-Kampagne auch von heutigen Theologen verurteilt. Die Erzdiozöse Wien prangert den Geiz als Lebensverneinung an, und das Hilfswerk „Adveniat“ lanciert seine Gegenkampagne unter dem Motto“Geiz ist gottlos“. (4)

Wie die christlichen Kirchen geisselt auch der Islam dieses Laster. Der Koran preist den Frommen, der seinen Besitz hingibt, um sich zu läutern, und warnt den Geizigen und Selbstherrlichen vor dem lodernden Feuer (Sure 92). „Geiz und Glaube kommen im Herzen eines Muslims nicht zusammen“, sagt ein Hadith des Propheten.

  Ramadhan-Tafel Foto: ©Asmaa Waguih für Reuter

Weil der Geiz „harâm“ und Sünde ist, fordern beide Religionen vom Gläubigen, freigebig zu sein und einen Teil seines Reichtums für die Ärmeren zu spenden. Im Islam wird von ihm eine Spende verlangt, die 2,5 % des Einkommens betragen soll. Dieses Gebot der زكاة „Zakât“, einer der fünf Säulen des Islam, bedeutet „Reinheit, Lauterkeit“ und „Zuwachs“. (4a) Wer spendet, reinigt sich und bekommt einen Zuwachs an Wert. Gespendet wird vor allem im Fastenmonat Ramadhan. Die Vermögenden stellen für die Armen مائدة الرحمان (mâ’idet ar-rahmân), „eine Tafel des Barmherzigen“, auf. Man sieht dann ganze Strassen, in denen solche Tische aneinander gereiht sind. Weniger Reiche übergeben einem Armen aus der Nachbarschaft einen Geldbetrag.

Auch das Christentum verlangt, Almosen zu geben. Im Alten Testament heisst es: „Mit deinem Hab und Gut hilf den Armen und wende dich auch nicht von einem einzigen ab (…) Wo du kannst, hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich. Hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen.“ (Lutherbibel, Tobias 4)

  „Tod des Geizhalses“ von Hieronymus Bosch, 1494

Die Geizigen werden seit eh und je verspottet und verlacht, nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in der Literatur. Was wäre das Welttheater ohne jene Figuren, über die sich das Publikum seit Jahrhunderten amüsiert: Pantalone in der „Commedia dell’arte“, Volpone in Ben Jonsons gleichnamiger Komödie, Shylock in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ und Harpagon in Molières „L’Avare“. (5) Auch die arabische Welt spottet über „al-bakhil“, den Geizhals, und in der Literatur ist das „Kitâb al-Bukhalâ'“ (Das Buch der Geizigen) von al-Jâhiz zu einem Klassiker geworden.

Unter den erzählerischen Darstellungen des Geizes ist der Roman „Eugénie Grandet“ von Honoré de Balzac die berühmteste. Hier wird vor allem der Altersgeiz behandelt, ein Phänomen das letztlich auf der Angst vor dem Tod beruht. Der französische Moralist Vauvernagues nennt ihn „die letzte und tyrannischste unserer Leidenschaften“, und Schopenhauer meint, dass „das Geldraffen im Alter an die Stelle der abgestorbenen Lüste tritt.“ (6) Den Altersgeiz verurteilen zahlreiche Redensarten und Sprichwörter, europäische wie arabische. „Der Gedanke an den Tod macht knausrig, obwohl das letzte Hemd keine Taschen hat“. „Der gierige Mund wird nicht gefüllt, ausser mit der Erde des Grabes.“

 Detail aus „l’Avaro“, Druck von Antonio Piccinni, 1878

Grosszügig, edel und würdig

Das Gegenteil von „geizig“ ist in der deutschen Sprache „großzügig“, „freigebig“, „wohltätig“. Im Arabischen steht dafür das Adjektiv كريم (karím), das ein breites Bedeutungsfeld abdeckt. Es bedeutet auch „freundlich“, „gütig“, „gastfreundlich“, „vornehm“, „edel“ und „ritterlich“. حجر كريم „hagar karîm“ ist ein Edelstein, كاتب كريم „kâtib karîm“ ein berümter Schriftsteller. „karîm“ ist einer der 99 Namen Allahs, und „Karim“ oder „Abd-el-Karim“ und „Karima“ sind beliebte Vornamen. Das Adjektiv „karîm“ ist eines der am häufigsten gebrauchten Wörter der arabischen Sprache. In der nach ihrer Häufigkeit geordneten Rangliste des arabischen Wortschatzes (7) nimmt „karîm“ den Rang 381 ein. „Großzügig“ dürfte in einer Häufigkeitsliste der deutschen Sprache an einem wesentlich späteren Platz figurieren.

Die entsprechenden Substantive sind كرم (karam) und كرامة (karâma). „Karam“ bedeutet Großzügigkeit, Freundlichkeit, Güte, „karâma“ Ehre, Würde, Adel, Ansehen, Prestige. Dass beide Begriffe vom selben Stamm gebildet sind, deutet an, dass nur der Grosszügige ein edler, würdiger, angesehener Mensch sein kann. „(8) Großzügig, freigebig, wohltätig sein ist eine Grundbedingung für den Araber, der etwas auf sich hält. Der Geizhals dagegen ist ein gemeines, verächtliches Exemplar der Gattung Mensch.

Was Geiz und Großzügigkeit angeht, stimmen also die Urteile der europäischen und der arabischen Ethik weitgehend überein. Freilich nimmt freigebiges, wohltätiges Verhalten in der islamisch geprägten Welt einen weit höheren Rang ein als bei uns, und kaum jemand würde dort wagen, sich schamlos zu seinem Geiz zu bekennen. Das ethische Verhalten ist durch die Religion bestimmt, während der Westen weitgehend laizistisch denkt und handelt.

Unter den Fremden, die bei uns in Luxor leben, gibt es nicht wenige, die großzügig helfen. Ein Engländer baut auf der Strasse eine Schiefertafel auf gibt den Kindern des Dorfes Englisch-Unterricht. Diese machen begeistert mit, aber schliesslich kommen so viele, dass er den Unterricht einstellen muss, bis er einen Helfer findet, der die Aufgabe mit ihm teilt. Eine Dame aus Deutschland verschaffte sich gebrauchte Nähmaschinen und liess sie von der Egyptair kostenlos nach Luxor transportieren. So konnte sie mittellosen jungen Frauen helfen, sich einen kleinen Verdienst zu verschaffen. Einige der Niedergelassenen, freilich viel zu wenige, übernehmen Patenschaften, damit Kinder aus bescheidenem Milieu eine Privatschule besuchen statt die hoffnungslos überfüllten und wenig effizienten öffentlichen Schulen. Eine Dame, die vor ein paar Jahren verstorben ist, hinterließ ihr Erbe einem Hilfswerk, das sich um behinderte Kinder kümmert.

Geiz-Strategien

Leider engagieren sich längst nicht alle in solcher Großzügigkeit. Dabei gehört doch jemand, der in Europa bescheidene Einkünfte hat, in Ägypten zu den Reichen und könnte es sich leisten, einen Teil seines Reichtums abzugeben. Indessen hört man Sätze wie „Mach‘ bloss die Preise nicht kaputt“ oder „Hier ist ohnehin alles viel zu teuer“. Die Preise sind tatsächlich kaputt, denn für Ägypter ist wegen der Geldentwertung alles sehr teuer geworden. Der Fremde, der heute bis zu 50 ägyptische Pfund für einen Euro bekommt, lebt wie im Schlaraffenland. „Wir Europäer können die Probleme Ägyptens nicht lösen“, sagt eine andere Ausländerin. Recht hat sie, aber das heisst nicht, dass nicht jeder in seinem Umkreis sein Bestes tun kann. Im Restaurant hört man über das Trinkgeld diskutieren. „Geben wir etwas oder nicht? Sind 50 Pfund zuviel?“ Dabei wird ausgeblendet, dass 50 Pfund nur noch wenig mehr als einen Euro wert sind.

Um Geld zu sparen, hat sich einer dieser Fremden einen fast genialen Trick ausgedacht: er lehnt das Umrechnen einfach ab. Für ihn bleibt ein Pfund gleich einem Euro. Damit vermeidet er große Ausgaben und bleibt beim Schenken und beim Trinkgeld bei unglaublich kleinen Beträgen. Alle anderen wissen natürlich genau, wieviel ihre Währung wert ist. Im täglichen Leben schaffen sie es dennoch, dieses Wissen auszublenden. Der uneingestandene Geiz hat seine eigenen abstrusen Strategien.

Eine solche Sparsamkeit wird dadurch erleichtert, dass man über das Leben und die finanzielle Situation der Einheimischen wenig weiss und vielleicht wenig wissen will. Der Verdienst der Leute bleibt weit hinter der Preissteigerung zurück. Die Ärmsten verdienen 2000 Pfund (etwa 40 bis 50 Euro), was nicht mehr reicht, um ihre Familie zu ernähren.

Toleranz

Unwissenheit in Bezug auf die Einheimischen geht einher mit Unverständnis und Besserwisserei. Die Unterschiede im Leben und Denken zwischen Ägyptern und Ausländern sind riesengross. Es gibt Dinge, die wir Europäer nur schwer akzeptieren können. Aber als Gäste in diesem Land ziemt es sich, mit der Kritik zurückzuhalten. Es ist anzunehmen, dass die Einheimischen auch nicht alles verstehen und akzeptieren, was ihnen an uns auffällt. Wer miteinander lebt, muss Toleranz üben und sich bemühen, auch das Gute im Verhalten der Anderen zu sehen. Er wird erkennen, dass wir manches von den Ägyptern lernen können. Wer hier lebt, erkennt sehr schnell, wie gross die Anteilnahme untereinander ist. Wenn man sein Gegenüber nicht mit dem Vornamen anspricht, sagt man أخويا „akhûya“ (mein Bruder), عمّي „‚ammî“ (mein Onkel) oder حبيبي „habîbî“ (mein Liebling). Wer krank ist, wird sofort besucht. Wer hungert, wird unterstützt. Wer dringend Geld braucht, bekommt es geliehen, auch von Verwandten und Freunden, die selbst Schulden haben. Die Alten bleiben in ihrer Familie, verrichten kleine Aufgaben und haben die Gewissheit, ein sinnvolles Leben zu führen. Behinderte, Blinde und alte Menschen werden mit einer Zärtlichkeit behandelt, die wir fast als peinlich empfinden. Wenn jemand stirbt, wird vor dem Haus ein Trauerzelt aufgeschlagen, in welchem die Leute drei Tage lang zusammenkommen, kondolieren und schweigend dasitzen, wobei die Nachbarn für das Essen sorgen. Solche Kranken- und Kondolenzbesuche, „wâgib“ (Pflicht) genannt, können mehrmals in der Woche anstehen. Niemand beruft sich darauf, unabkömmlich zu sein. Für andere da zu sein, ist Pflicht, auch weil Einsamkeit das Schlimmste ist, das man sich vorstellen kann. „Wer allein ist, der hustet auch allein.“ Ein anderes Sprichwort sagt: „Sogar ein Frommer würde aus dem Paradies entfliehen, wenn er dort allein bleiben müsste.“ Dieses Bestreben, nicht allein zu sein, führt zu einem beständigen Bemühen um die anderen, in der Familie und der Dorfgemeinschaft.

  „Trauerzug in Ägypten“ Foto ©picture-alliance/Hervé Champollion/akg-image

Was manchem Fremden zu schaffen macht, ist die Religion und die Art, wie sie das Leben bestimmt. „Jetzt fängt der schon wieder an!“ ruft eine Touristin aus, als der Muezzin zum Gebet ruft, wie er es fünfmal am Tag zu tun hat. Eine andere Europäerin vergnügt sich damit, den Gebetruf „Allah akbar“ zu verballhornen, indem sie daraus „Ulla in der Eckbar“ macht. Wer Gast ist in einem Land, sollte den Glauben seiner Gastgeber respektieren, so gross auch seine Vorbehalte sein mögen. Dasselbe verlangen wir ja von den Fremden und Migranten, die bei uns leben. Wir sollten uns hüten, gängige Stereotype ungeprüft zu übernehmen. Einen fanatischen und gewaltbereiten „Moslembruder“ habe ich in den 25 Jahren meines Lebens hier noch nie erblickt. Der Glaube in Oberägypten ist stark geprägt vom Sufismus, der islamischen Mystik, die nicht das Dogma in den Mittelpunkt stellt, sondern die Meditation, das Gebet, den Gesang und die rhythmische Bewegung (9). Dieser Islam schenkt, das ist unverkennbar, den Gläubigen Sicherheit und Zuversicht. Aus den Gesichtern der Alten strahlt eine Gelassenheit, welche keine Angst vor dem Ende verrät.

„Kinder in Assuan“ Foto: ©Hans Mauritz

Wir Fremden sollten dankbar sein dafür, in diesem Land freundlich empfangen und verwöhnt zu werden. Viele Migranten und Flüchtlinge in Europa werden wohl weit weniger wohlgesonnen und tolerant behandelt als wir „Luxus-Migranten“ in Ägypten.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Quellen

(1) Wikipedia, „Geiz ist geil“. Siehe auch Erzdiozöse Wien „Todsünde: Geiz und Enge“

(2) Heute.at: „Deutsche besonders geizig beim Reisen“

(3) Rosa Luxemburg Stiftung: „Geiz ist geil! Wieso auf einmal?“

(4) Wikipedia: „Almosen“ und „Zakat“

(5) Wikibrief: „Geizig“

(6) Rosa Luxemburg Stiftung, s. (3)

(7) Abdulghafir Sabuni, „Wörterbuch des arabischen Grundwortschatzes. Die 2000 häufigsten Wörter“, Helmut Buske Verlag, Hamburg 1988

(8) Vgl. Hans Mauritz, „Ägypten verstehen – seine Sprache erleben“, p.53 ff. (Kubri Verlag, Zürich 2016)

(9) ders., „Arabische Volksfrömmigkeit. Allahs Namen nennen“ http://s128739886.online.de/volksfroemmigkeit/ hier

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Veröffentlicht am 5. Februar 2024, am 85. Geburtstag des Autors Dr. Hans Mauritz (s.a. hier)

Herzlichen Glückwunsch, lieber Hans, „ad multos annos“ und lieben Dank für Jahrzehnte der Freundschaft, die – wenn ich es recht erinnere – in Langeoog1955 begann („Klingsors letzter Sommer“). Erinnerungsfoto von unserm Wiedersehen im Sommer 2010 in der Toskana:

Syrien hören…

Arabische Nuancen auf einer neuen CD

Zuerst orientieren und entziffern:  Wo finde ich die fürs Hören entscheidende Information? 1) der Ablauf 2) die „Tonarten“ (Maqame) 3) die Schönheit

  Fotos: Dieter Telemans / Booklet : Fawaz Baker, Mahmoud Jaber, Anthony Lockett / Erläuterungen folgen!

Leicht unterschätzt man diese CD, wenn man sie in Händen hält, daher habe ich sie durch Vergrößerung sichtbar und lesbar gemacht. Die ganze Aufmachung, bis in die individuellen Fotos hinein (niemand lächelt offensiv gewinnend, alle freundlich) verrät Ernst und Understatement. Kein Wort ist überflüssig. Wer durch die religiös-weltanschauliche Bindung abgeschreckt wird – tanzender Derwisch -, sei beruhigt: es ist für Außenstehende (für uns in der Welt der Moderne) nicht verpflichtender als der Pietismus bei Johann Sebastian Bach. (Siehe auch Wikipedia-Artikel über den Mevlevi-Orden hier. Andere Informationsquelle hier.)

Zum Begriff „Wasla“:

Quelle: Salah el Mahdi „La Musique Arabe“ Alphonse Leduc Paris 1972 (JR 1973 hier)

Info über „JAWA – LAST BREATHS FROM SYRIA“ mit der Möglichkeit, in die einzelnen Titel hineinzuhören und die CD zu erwerben: HIER und bei Edition muziekpublique.

Das CD-Booklet enthält zu jedem der 18 Titel eine Textzeile (wie diese ↑ ) in flämischer, französischer, englischer und arabischer Sprache. Weitere Hinweise am Anfang der einzelnen Abteilungen, die durch rote Schrift gekennzeichnet sind: 1-4 Wasla Hijaz, 5-7 Waslaw Awj, 8-11 Wasla Bayati-Husaini, 12-14 Wasla Ajam ‚Ushayran und 15-18 Wasla Rast. Die hier hervorgehobenen Worte sind die Namen der verwendeten (Maqamat = „Tonart“). Wasla bedeutet „Stücke“, bezeichnet auch eine Reihe von Stücken, wie das Wort Suite oder Tawsih. Es ist zu empfehlen, sich jeden einzelnen Maqam einzuprägen, sagen wir : wie eine Beethoven-Sinfonie, obwohl die Realisation von einer Aufführung zu anderen nur in Umrissen (und in der „Tonart“!) identisch bleibt. Mein Lieblingsmaqam wurde vor 55 Jahren der Maqam Sikah (Sah-gah), über den ich daraufhin 4 Jahre lang arbeitete, bis eine Dissertation daraus wurde (1971). Er hatte eine verwandschaftliche Tendenz zu Maqam Rast, der arabischen Grundton-„Tonart“, die unserer traditionellen C-dur-Tonart entspricht, – allerdings mit zwei um einen Viertelton erniedrigten Tönen, der Terz und der Septime, was ihm seine typisch arabische Färbung verleiht. Es gibt im Tonsystem der arabischen Musik, durchaus auch Skalen, die unserem Dur oder Moll ähneln, aber als zwei Möglichkeiten unter vielen anderen. Siehe auf dieser CD Tr. 12 (Ajam ‚Ushayran) und Tr. 15 (Maqam Rast).

Um eine Übersicht zu bekommen, habe ich mir in den 60er Jahren das sechsbändige Werk von Baron Rodolphe d’Erlanger („La Musique Arabe“ 1949 und später), von denen ich 4 historische (mit Übersetzungen der arabischen Klassiker) kaum gebrauchen konnte. Während seine Liste der Maqam-Skalen nebst zahlreichen notierten Musikstücken mich fortan „durchs Leben begleitet“ hat. Ich gebe die Liste hier wieder, weil sie für jeden Notenleser von unschätzbarer Hilfe sein kann, um sich in der Fülle zu orientieren:

die eben genannten Namen sehen Sie unter Nr. 14, 26, 27, 53, 57, 76, 108 …

CD Tr. 1 Den Maqam Hijazi (der am Anfang unserer CD zu hören ist) wird man leicht identifizieren: an seinem übermäßigen Sekundschritt, der auch vom westlichen Publikum als „typisch arabisch“ erkannt wird. Im vorliegenden Fall (Hijaz Humayun) handelt es sich um eine Variante, die auf den iranischen Modus (Dastgah) Homayun anspielt; wobei ich dieser Verwandtschaft mit anderen (iranischen) Quellen oder Koinzidenzen nicht weiter nachgehen will. Die Ausgangsformel jedenfalls ist der Tetrachord (die Viertonreihe) mit Namen Hijaz, in der Weiterführung könnte eine der Varianten hineinspielen, wie sie in d’Erlangers Beispiel der Entfaltung des Modus Hijaz aus dem Grund-Tetrachord ebenfalls zu finden sind (dort z.B. Busahlik und Rast als Tongruppe II):

Wenn Sie Noten lesen können, sind Sie in der glücklichen Lage, die wunderbare Melodie anhand der gegebenen Skala zu lokalisieren: sie beginnt mit dem Ton unterhalb des Grundtons, um sich danach sofort auf diesen, den Ton d und sein Umfeld zu konzentrieren, mit den Tönen es und fis (der übermäßigen Sekunde), um nach einer winzigen Pause den Rahmenton g zu präsentieren, ihn zu umspielen und im Abstieg sogleich ein Variante des Tones es zu gebrauchen (einen Viertelton höher), ebenso ein paar Sekunden später bei 0:20 noch einmal. Bei 0:54 nach einem Ausbau der Tonreige bis zum b und schließlich einer deutlichen melodischen Kadenz abwärts wird der Grundton d wieder erreicht, ohne dort auszuruhen. Teilwiederholung, bei 1:26 noch einmal Gundton plus „Neuland“: die leittönige Erhöhung des darunterliegenden Tones plus Teilwiederholung dieses Abschnittes. Damit ist das Ende dieser Einleitung erreicht, der Sänger kann auf einem neuen, höheren Schwerpunkt beginnen (Tr. 2).

Das alles klingt in Worten kompliziert, in Tönen aber vollkommen einleuchtend. Man kann es dabei bewenden lassen, – wenn nicht im Text der Hinweis auf den rhythmischen Zykus 24/4 geben wäre. Man kann – mit dem Ohrenmerk auf der Folge schwerer und leichter Anschläge in der Percussion die formale Einbettung der Melodie spüren. Ein schöner langer Atem.

*     *     *

Sehr gute neue Einführung in das Maqam-System: hier

Zum Rhythmus CD Tr. 4 „Muhajir“ 14/4 siehe hier

(Fortsetzung folgt)

Was ist uns Kurdistan?

Ein Blick zurück

Tobias Matern

Der Anlass war gestern dieser wichtige Leitartikel der Süddeutschen Zeitung zur heutigen Lage der Kurden. Die Erinnerung an meine erste Begegnung im Jahre 1974, was hat das nicht alles aufgerührt, ein freundlicher kurdischer Journalist, der am Ü-Wagen auftauchte, – ich war noch „freier Mitarbeiter“ des WDR, alles andere als ein politisch motivierter Mensch – plötzlich war klar, wie brisant dieses Thema war, es genügte nicht, nach den Texten der Lieder zu fragen oder die Übersetzung in Auftrag zu geben. In Kürze würde ich zum Frühlingsfest nach Afghanistan geschickt werden, der ersten ganz großen Reise nach der Tournee 1967, die nach dem Schulmusik- und dem Violin-Examen – mein ganzes Leben auf eine neue Spur gesetzt hat (von Musikwissenschaft zur Musikethnologie). Ich muss das kurz rekapitulieren, diese frühen Eindrücke, die mich in eine merkwürdig zwiespältige Erregung versetzen. Allein schon der Anblick der damaligen Arbeitsblätter, die gewöhnlich erst nach der Sendung in ein ordentliches Typoskript verwandelt wurden. Was mich damals am meisten bezauberte, waren die lyrischen Texte, die erst dank der fähigen Helfer zugänglich wurden.

     

Übersetzung der Liedtexte: Darwich Hasso (Mitarbeit 1973/74: Kamal Saydo)

Am Ende dieser Rekapitulation kommt mir eine dunkle Erinnerung: habe ich diese (oder eine ähnliche Recherche) schon einmal durchgeführt? In der Tat: hier, im Februar 2017. Wie gehe ich damit um? Mit Freude oder mit Selbstzweifeln? Zumindest habe ich heute den Namen korrigieren können…

Nachtrag 28.11.22 Zuschrift eines Lesers:

Ich finde es sehr schön und gut und wichtig, dass Sie im Blog Kurdistan erwähnen. Ich glaube, ich habe das schon mal geschrieben, wie sehr mich die Situation in Kurdistan deprimiert. Gerade in den selbstverwalteten Gebieten um Rojava gibt es ja das schönste, edelste und wichtigste demokratische Projekt nicht nur im Nahen Osten. Die Selbstverwaltung, die Rolle der Frauen, Bildung und Gesundheitssystem, und gleichzeitig der Kampf gegen den IS – und das alles unter dauerndem Beschuss, im Wortsinn wie auch sonst. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sich an der Kurdistan-Frage die Frage Zivilität („civilisme“ ist das schöne französische Wort) oder Barbarei für unsere Zeit entscheidet – so wie zum Beispiel vor mehr als einhundert Jahren in Armenien, oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien. Sind vielleicht etwas pathetische Worte, aber wie können „wir“ („der Westen“) noch von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung faseln, wenn wir nicht nur zuschauen, wie der türkische Diktator völkerrechtswidrige Angriffe gegen die Kurdengebiete führt, sondern „wir“ ihn dabei auch noch massiv unterstützen (wie diese Woche zum Beispiel die sich immer furchtbarer gerierende Innenministerin – die SPD-Bundestagsfraktion entblödete sich nicht, nicht einmal 48 Stunden, nachdem Frau Faeser der türkischen Regierung Unterstützung bei der Ermordung der kurdischen Urheberinnen des Slogans „Frau – Leben – Freiheit“ zugesagt hat, eben diesen Slogan zu posten). Und die Kurden stehen völlig allein, wenn man von manchen geringfügigen taktischen Unterstützungen etwa mit dem Iran befeindeter Nationen absieht – die USA haben sich ja auch wieder zurückgezogen, nachdem die Kurden den wesentlichen Teil des Kampfes gegen den IS noch mit ihrer Unterstützung geleistet haben – jetzt muss man wieder den NATO-Partner Türkei pampern, der ja auch „uns“ Deutschen einen guten Teil der Flüchtenden vom Leib hält. Wie gesagt, es ist alles nur noch deprimierend. Wenn ich zwei, drei Jahrzehnte jünger wäre, würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, nach Kurdistan zu gehen und die dortigen Bestrebungen unterstützen – auch im Kampf. Wie gesagt: Spanien 1936… (in der Realität werde ich einfach nur 3000 Euro an medico international überweisen zur Unterstützung von Projekten in Rojava – ohne mich deswegen irgendwie besser zu fühlen…)

JR: Dem möchte ich nichts Relativierendes hinzufügen, empfehle nur dringend, alles zu lesen, was es an Aufklärung unter dem Stichwort ROJAVA zu finden gibt. Ich beginne hier : Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp: Revolution in Rojava /
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo.

Große Gefühle, türkisch

Wo war eigentlich der Orient? (Begegnungen)

Teheran im Lauf der Tournee April 1967

Der östlichste Punkt der „Orient-Tournee“ 1967

Istanbul 1967

Istanbul, unser Hotel & die Umgebung

Was schlimm war: fast einen Monat getrennt zu sein von der gerade erst entstandenen Familie (Marc *1.4.66). Und was malte er 5 Jahre später? Eine orientalische Stadt…

1971 1972

20 Jahre später:

Wir waren gewarnt worden: die massentaugliche Präsenz von Theodorakis würde den feinen Musiker Livaneli erdrücken. Und noch viel mehr, aus ganz anderen Gründen, wurden wir vor Ibrahim Tatlises gewarnt. Das entspreche einem deutschen Konzert in Istanbul, bei dem Fischer-Dieskau gemeinsam mit Heino auf der Bühne stehen müsste. Wir kannten das unten zitierte Verdikt von Fazil Say noch nicht. Und es hätte uns auch nicht irritiert. Ich persönlich war es gewöhnt, von Freunden, denen ich meine liebste arabische Musik vorspielte, ausgelacht zu werden. Ich wusste, dass solche Geschmackswelten nicht einfach durch gute Worte überbrückt werden können. Das „Gefühl“ spielt nicht mit. Bzw. der Schritt vom „ganz großen Gefühl“ zur Lächerlichkeit ist winzig. In der Show von Harald Schmidt wird all dies listigerweise zur Unkenntlichkeit vermengt. Man kann schlecht sagen, dass ein vor Begeisterung rasendes Publikum sich irrt. Jedenfalls nicht, wenn man Chef der Show ist. Man fühlt sich unbehaglich und weiß nicht warum…

55 Jahre später in Solingen: Konzert der Bergischen Symphoniker 7.6.22 (vorige Woche)

siehe hier

Istanbul Sinfonie beim hr mit Einführung des Komponisten Fazil Say:

Hilfe auf Youtube, wenn man Einzel-Sätze anklicken will (Helfer: Ath Samaras vor 8 Jahren)

For better accessibility: Fazil Say – Istanbul Symphony (1. Sinfonie) 00:00 Intro by Fazil Say
07:10 I. Nostalgie 17:20 II. Der Orden 21:25 III. Sultan-Ahmed-Moschee 28:55 IV. Hübsch gekleidete junge Mädchen auf dem Schiff zu den Princess-Inseln 33:10 V. Über die Reisenden auf dem Weg vom Bahnhof Haydarpaşa nach Anatolien 37:16 VI. Orientalische Nacht 44:18 VII. Finale 50:42 Applause
.
*    *    *
.

Fazil Say Wikipedia / Zitat:

Ebenfalls für heftige Diskussionen sorgte seine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des in der Türkei bei bestimmten Gesellschaftsschichten populären Arabesk-Pops. Arabesk-Musik sei „eine Last für Intellektualität, Modernität, Führungskraft und Kunst“ und weiter: „ich schäme, schäme, schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen Volk“.

Über Arabeske hier / Wikipedia über Ibrahim Tatlises hier Harald-Schmidt 1998

Wie lautet noch eine der größten menschenfreundlichen Lügen? „Ich liebe euch alle!“

Eine frühe Radio-Sendung über kulturelle Relativität; heute würde ich wohl anders herangehen:

usw. Was aber hätte ich als erstes lesen sollen?

Licht aus Indien? 1997 (Foto E.Reichow)

Ägypten Luxor Street Art

Impressionen aus einem wirklichen Leben

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_essays_street_art.html hier

Glück in Ägypten: Scheich Hans

Aus dem Alltag von Scheich Hans

http://www.leben-in-luxor.de/luxor_kultur_arbeiterdorf_deirelmedina.html hier

(Besonders interessant seit dem Terra X-Film über die Pyramiden und insbesondere über das zugehörige Arbeiter-Dorf!)