Archiv für den Monat: Juni 2015

Romantik? Realismus?

Zwei Zufallsbegegnungen mit „Hochkultur“ aus der Sicht eines Jugendlichen (?)

Eine Schubert-Melodie, ein Text von Gottfried Keller, – ich gebe beides so wieder, wie es dem/der Jugendlichen vielleicht begegnet, und stelle mir vor, es sei good will im Spiel, sagen wir: der Vorsatz, es denen, die „Bildung“ vermitteln wollen, recht zu machen, – jedoch von unüberhörbarem Widerspruch in der eigenen Wahrnehmung begleitet. Schubert sollte durch einen Höreindruck ergänzt werden (youtube). Frage vorweg: ist das Thema wirklich schön, oder doch an der Grenze zum Trivialen? (Takt 2 und 3) – Woran erinnert es mich denn so fatal?

Schubert D 951  Keller Romeo und Julia Dorf

Nachher ist kaum zu glauben, warum es so schwer war, die unangenehme Assoziation dingfest zu machen, die sich bei der Schubert-Melodie einstellte und ihre Wirkung verzerrte. Ist es ein Weihnachtslied? („Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein auch im Winter, wenn es schneit“? „Leise rieselt der Schnee“? Neinnein … Jetzt weiß ichs – oh wie peinlich. Wie werd‘ ich das wieder los?)

Meine Oma Liedr

Los werde ich das vielleicht nur, indem ich es für kurze Zeit ernst nehme: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad…“ Geht das weit zurück? Vielleicht in eine Zeit, als es noch keine Motorräder gab? Kann es mal ein Gassenhauer in Wien gewesen sein? Den etwa Schubert nobilitiert hat? Das Deutsche Volksliederarchiv kommt – rückwärts forschend – nicht über das Jahr 1920 hinaus. Siehe hier.

Ich kann nur hoffen, dass niemand mich zwingt, über das Oma-Lied zu reflektieren, wenn ich die Liebe zu Schubert wecken will. Es ist schwierig genug, Jugendliche auf dieses Dauerglück einzustimmen, auf dieses Schwelgen, das „keine Kämpfe und Spannungen, nur seliges Verströmen eines harmonischen Seinsgefühls kennt“ (s.o. Zitat), – aber nicht mal ein dezentes Schlagzeug vorweisen kann. Das ist es natürlich nicht, was sie unter „chillen“ verstehen.

***

Im Fall des Textes frage ich mich: wem könnte man ihn heute noch zum Lesen empfehlen? Mir ist unwohl bei der Lektüre (diese Art Romantik wird also als Realismus angeboten?). Er befindet sich (dort um 2/3 länger – man lese bis zum Schluss des Kapitels 12 hier!) in einem Deutschbuch für die Oberstufe (1999), das ich insgesamt hervorragend finde.Die handelnden Personen sind – wenn ich mich nicht irre – 19 und 17 Jahre alt, also in dem Alter, für das dies Lesebuch gedacht ist. Unter welchen Umständen sind Jugendliche heute bereit, eine solche Sprache – insbesondere zu dem Thema Liebe, das sie interessieren dürfte – zu relativieren und als zeitbedingt „unmodern“ zu akzeptieren und dementsprechend zu interpretieren?

(Ich habe mich mit einer lesefreudigen Elfjährigen unterhalten, die für die Schule „Kleider machen Leute“ vom gleichen Autor zu erarbeiten hatte; sowohl Sprache als auch Inhalt haben sie „befremdet“ oder sogar gelangweilt. Man lese einmal die folgende Inhaltsangabe und vor allem die Kommentare der Schüler, die sie verwendet haben: hier.)

Die Aufgabenstellung (lt. Lesebuch):

Romeo u Julia a d Dorfe Aufgaben

Aus meiner Sicht erscheint mir die Aufgabenstellung (bei aller Hochschätzung des Lesebuches) ziemlich lebensfremd. Das eigentlich Befremdende am Text wird nicht problematisiert (ist vielleicht als „historischer Abstand“ bereits irgendwo/wann schon behandelt).

Es beginnt schon mit der viermaligen Verwendung des schwerfälligen Relativpronomens „welche“ oder „welches“ im ersten Satz. Geht weiter mit der sächlichen Behandlung des Mädchens (oder „des Vrenchens“). Wie kann man in dieser Sprache den Liebesvollzug schildern, auf den es hinausläuft.

»Bereust du es schon?« rief eines zum andern, als sie am Flusse angekommen waren und sich ergriffen; »nein! es freut mich immer mehr!« erwiderte ein jedes. Aller Sorgen ledig gingen sie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Wasser, so hastig suchten sie eine Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah jetzt nur den Rausch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen; was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten weniger daran als ein Leichtsinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.

Doch dann wendet sich – wie im Film – die Aufmerksamkeit des Erzählers von den Akteuren auf das Schiff, die Wälder, den Mond, die Morgenröte, – der Frost des Herbstmorgens soll den Rest glaubwürdiger machen: das ist der schöne, romantische Liebestod, den die beiden Liebenden ja wohl suchten. Erst mit der Wendung zum schnöden Zeitungsbericht kommt zum Vorschein, was es mit dem Begriff „Realismus“ auf sich haben könnte: Eine „gottverlassene Hochzeit“ war das, „ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.“

Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten, bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.

Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich miteinander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.

Die Lösung der Aufgabe 3 a) steht also praktisch schon da, am Schluss der Novelle, wobei diese Mischung aus Gefühligkeit und Schein-Entrüstung dem heutigen Geschmack Jugendlicher vielleicht zuwider läuft wie ein Heimatfilm der 50er Jahre…

Vielleicht wird man ganz anderen Sinnes, wenn man zu guter Letzt den erstaunlich ausgreifenden Wikipedia-Artikel studiert. Und „letztendlich“ sogar die vollständige Novelle von Gottfried Keller.

***

Eine harmonische Schwäche (?), die man vielleicht nur mit dem Partner am Klavier diskutieren kann, jedenfalls nicht mit einem Jugendlichen oder einem Laien, – es sei denn, er (sie) hätte ausgiebig (traditionelle) Harmonielehre gelernt. Es wird sich herausstellen, dass es natürlich keine Schwäche Schuberts ist, aber man sollte etwas davon gespürt haben. – Aus dem Part des Secondo-Spielers:

Schubert Harmonik Es geht um die Takte 13-14 sowie 21-22.

Hier ist das harmonische Schema ab Takt 8 bis Takt 16 (nur im Bass notengetreuer, damit man sich leichter orientiert):

Schubert Harmonik Schema

Den normalen Harmoniegang hätte man, wenn man Takt 13 überspringt: man hätte den Basston Ais als Terz der Zwischendominante Fis-dur, dann h-moll (umgedeutet in die Subdominantparallele) und wäre mit dem A-dur-Quartsextakkord und der Dominante E-dur brav in der Tonika A-dur (Takt 16) gelandet. – Was geschieht also in Takt 13? Eine Verlegenheit. um den Untergrund der Melodie (hier nicht wiedergegeben) interessanter zu machen? Hat sie das nötig? Zudem „interessanter“ auf eine – sagt die böse Zunge – „linkische“ Art?

(Fortsetzung folgt)

Was passiert in Griechenland?

Und was ist mit uns? (Ein Versuch)

Es ist üblich geworden, über Griechenland zu spotten: Wer da noch alles per Rente fernversorgt wird, obwohl er in Deutschland längst ganz ordentlich verdient. Wie dort der aufgeblähte Beamtenapparat vor allem sich selbst bedient. Wie die Reichen ihren Besitz ins Ausland schaffen. Gewiss: das muss alles aufgedeckt und abgestellt werden, andere Strukturen müssen her. Aber jeder weiß: das dauert. Und man kann es nicht mit der Moral eines schwäbischen Häuslebauers angehen. Neue Sichtweisen müssen ernsthaft eine Rolle spielen. Und es ist der Blick von uns auf andere, der völlig unangemessen ist. Vom hohen Ross herab. Um so größer die Überraschung, wenn jemand tatsächlich genau damit beginnt:

Es sind verstörende Fotos, die derzeit aus Brüssel übermittelt werden. Immer wenn es bei den Verhandlungen mit Griechenland wichtig wird, sind die gleichen Granden abgebildet. Da sieht man dann EZB-Chef Mario Draghi – nicht demokratisch gewählt. Neben ihm steht IWF-Präsidentin Christine Lagarde – nicht demokratisch gewählt. Außerdem ist noch Rettungsschirm-Chef Klaus Regling anwesend – nicht demokratisch gewählt. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker musste sich nie einem echten Votum der Bürger stellen.

Nur der Premier Alexis Tsipras wurde tatsächlich von den Griechen ins Amt gehoben. Ein einsamer Regierungschef begegnet vier Technokraten.

Diese Bilder aus Brüssel zeigen, dass die Eurokrise weit mehr ist als nur ein Schuldenproblem. Die Demokratie wird entmachtet und vermeintlichen Sachzwängen unterstellt.

Ein lesenswerter Kommentar, – haben wir solche Töne eigentlich je aus unseren „offiziellen“ Medien vernommen? Motto: „Verabschiedete Demokratie„!!! Die Demokratie ist verloren gegangen! Wie bitte? Geht es denn darum? Wer darf es wagen, uns umzudrehen, und probeweise statt der untragbaren griechischen Verhältnisse draußen vor der Tür die Schaubühne vor unserer Nase aufs Korn zu nehmen? Schauen Sie hier!

Wer steckt dahinter, natürlich: die taz, eine Autorin namens Ulrike Herrmann. Ist die überhaupt „vom Fach“? Ein kurzer Blick: hier.

Noch wichtiger zu fragen. Was ist IWF? Was für eine Institution hat hier das Sagen, welche Länder stehen da an oberster Stelle, welche demokratische Legitimierung lässt sich da feststellen. Versuchen wir’s hier.

War nicht früher viel von Troika die Rede? Warum ist sie ins Gerede gekommen? Es hieß, sie sei eine Macht ohne Kontrolle! Und welche Kompetenz hat dieser Harald Schumann? Immerhin.

Natürlich habe ICH keinerlei Kompetenz. Ich mache nur den Versuch, mich kundig zu machen. Weil ich mich unzureichend oder einseitig informiert finde. Weil ich wieder einen so schlechten Eindruck von Schäuble hatte bei seiner letzten Verlautbarung… (So spricht kein Mann, der den Durchblick hat.)

Hat er nicht früher auch auf die Troika gesetzt? Und tut er’s nicht noch immer, auch wenn das Wort nicht mehr verwendet wird?

Ich sehe mir einen alten Film an (24. Februar 2015), ebenfalls von Harald Schumann. Veraltet? HIER.

Pressetext arte

Was passiert mit Europa im Namen der Troika?

Beamte aus den drei Institutionen IWF, EZB und Europäischer Kommission – der Troika – agieren ohne parlamentarische Kontrolle. Sie zwingen Staaten zu Sparmaßnahmen, die das soziale Gefüge gefährden und tief in das Leben von Millionen Menschen eingreifen. Harald Schumann reist nach Irland, Griechenland, Portugal, Zypern, Brüssel und in die USA, und befragt Minister, Ökonomen, Anwälte, Bänker, Betroffene.

Veraltet? Für Information ist es nie zu spät, sage ich mir. Aber es geht weiter… (Es war nur ein Versuch.)

Nachtrag

Thomas Piketty, Professor an der Paris School of Economics, erklärt, dass das deutsche Wirschaftswunder der 50er Jahre auf Schuldenschnitten beruhte, die wir heute den Griechen verweigern:

Genau. Der deutsche Staat war nach Ende des Krieges 1945 mit über 200 Prozent seines Sozialproduktes verschuldet. Zehn Jahre später war davon wenig übrig, die Staatsverschuldung lag unter 20 Prozent des Sozialprodukts. Frankreich gelang in der Zeit ein ähnliches Kunststück. Diese ungeheuer schnelle Schuldenreduzierung aber hätten wir nie mit den haushaltspolitischen Mitteln erreicht, die wir heute Griechenland empfehlen. (…) Man erkannte damals richtig: nach großen Krisen, die eine hohe Schuldenlast zur Folge haben, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem man sich der Zukunft zuwenden muss. Man kann von neuen Generationen nicht verlangen, über Jahrzehnte für die Fehler ihrer Eltern zu bezahlen. Nun haben die Griechen zweifellos große Fehler gemacht. Bis 2009 haben die Regierungen in Athen ihre Haushalte gefälscht. Deshalb aber trägt die junge Generation der Griechen heute nicht mehr die Verantwortung für die Fehler ihrer Eltern als die junge Generation von Deutschen in den 1950er und 1960er Jahren. Wir müssen nach vorne schauen. Europa wurde auf dem Vergessen der Schulden und den Investitionen in die Zukunft gegründet. Und eben nicht auf der Idee der ewigen Buße. Daran müssen wir uns erinnern.

[Glauben Sie, dass wir Deutschen nicht großzügig genug sind?]

Was reden Sie da? Großzügig? Deuschland verdient bisher an Griechenland, indem es zu vergleichsweise hohen Zinsen Kredite an das Land vergibt.

Quelle DIE ZEIT 25. Juni 2015 Seite 24 „Deutschland hat nie bezahlt“ Der Starökonom Thomas Piketty fordert eine große Schuldenkonferenz. Gerade Deutschland dürfe den Griechen Hilfe nicht verweigern. (Gespräch: Georg Blume)

Ein Weg zu Wim Wenders

Düsseldorf 25. Juni 2015

Düss Rhein a 15-06-25 Düss Rhein b 15-06-25

Düsseldorf Architektur  Ehrenhof 1 Düsseldorf Architektur  Ehrenhof 2

Düsseldorf Architektur  Ehrenhof 3 Ehrenhof Düsseldorf – keine Nazi-Architektur

Wim Wenders  Kantinenkuppel Düss a 15-0625 

Wim Wenders Kantinenkuppel b 15-06-25

Bilder der Bilder

Wim Wenders Bild eines Bildes BÜHNE Düss 15-06-25 Wim Wenders Bild eines Bildes WÜSTE Düss 15-06-25

Wim Wenders Bildersaal 2 15-06-25 Wim Wenders Bildersaal 3 15-06-25

Wim Wenders Arme Stadt 15-06-25 Wim Wenders Bildersaal 4 Amerik Westen 15-06-25

Wim Wenders Havanna 2 Jungen 15-06-25 Wim Wenders Havanna Junge 15-06-25

Wim Wenders Denpasar Bali 15-06-25 Wim Wenders Kornspeicher 15-06-25

Wim Wenders Pittsburgh Geruch 15-06-25 Wim Wenders Western World 15-06-25

Wim Wenders Austral Hund Text 15-06-25 Wim Wenders Austral Hund 15-06-26

(Blumenfoto: Lumix E.Reichow, alle andern Fotos: Smartphone JR)

Diese Fotos der Fotos geben nicht annähernd das wieder, was man auf den Originalen wirklich sieht. HIER

Das gilt aber auch für die Gebäude und Landschaften.

Wo steht zum Beispiel: ARS AETERNA – VITA BREVIS ?

Afghanistan heute. Und vor 41 Jahren

Selten erlebt man ein Déja Vu ganz unvorbereitet. Vorgestern im Kölner Hauptbahnhof, Wartezeit im PRESSE- und Buchladen, nach einem Treffen mit WDR-Kollegen, einem Gang über den Domplatz, Dom-Hotel zur Rechten, Römisch-Germanisches Museum zur Linken, langer Blick aufs Bürohaus von einst, durch die schmale Gasse an Sion-Kölsch vorbei, Alter Markt, Lintgasse, Ostermannplatz und nach 4 Stunden zurück. Wie gesagt, schönes Wiedersehen, Wartezeit, und dann dies:

Afghanistan THEMA 2015 kl  Detail:  Afghanistan Detail

Erinnerung und ein kleiner Schrecken, – wie war es denn damals, als der König noch in seinem Palast wohnte und der Bürger sanftmütig und freundlich vor der Lehmhütte saß? Daneben ein Redakteur aus Köln? Und es ging um nichts als Musik?

Mazar April 1974 k JR Farbe kl

Afghanistan CD Text kl  Diese CD erschien genau 20 Jahre später.

Afghanistan CD kl vorn Afghanistan CD kl rück

Afghanistan Spotify Screenshot 2015-08-11 07.32.09 Die Musik ist abrufbar auf Spotify!

Eine gute Nachricht per Mail: ich darf das Editorial der oben abgebildeten Zeitschrift wiedergeben! Abgeschrieben hatte ich es schon längst: es geht um die Situation HEUTE.

SVEN HANSEN :

 „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, lautet der bekannteste Spruch der Taliban. Als hätte es dafür noch einen weiteren Beleg gebraucht, ist Ende 2014 auch der Nato, die Afghanistan mit ihrem „Krieg gegen den Terror“ unter Kontrolle bekommen wollte, die Zeit davon gelaufen. Das westliche Verteidigungsbündnis hat den Großteil seiner Kampftruppen vom Hindukusch abgezogen, ohne die dortige Situation nachhaltig stabilisiert zu haben. Im Gegenteil: Die Taliban sind heute wieder stärker denn je seit 2001.

In den Hauptstädten der Nato-Staaten, die Truppen entsendet hatten, ist der Frust groß. Die Bevölkerungen stehen einem weiteren Engagement ausgesprochen skeptisch gegenüber; das Gefühl, gescheitert zu sein, ist weit verbreitet.

In einem asymmetrischen Krieg müssen überlegene Armeen nicht auf dem Schlachtfeld verlieren, um politisch als Verlierer dazustehen. Es reicht, dass der militärisch schwächere Gegner eben politisch nicht besiegt ist und den längeren Atem hat. Der Kontrast zwischen den Erwartungen der Interventionisten und der Realität vor Ort wird dann so groß, dass die „gefühlte“ Niederlage zur realen wird. Genau das hat die Nato in Afghanistan erlebt, auch weil Ende 2001 der Optimismus in den westlichen Staaten allzu groß war.

Dabei hätte schon damals klar sein können und müssen, dass einige tausend, ja sogar einige zehntausend Soldaten der Nato und ihrer Verbündeten nicht automatisch eine Befriedung des Landes erreichen. An der sind schließlich auch schon Generationen von Afghanen selbst gescheitert.

Die stolzen Afghanen mögen sich ihrer – oft berechtigten – Klage über das Leid, das ihnen von außen angetan wird, einig sein, weiter geht die Einigkeit aber nur selten. Vielmehr nutzen sie die äußeren Kräfte gern zum eigenen Vorteil. Auch die Nachbarländer, die sich in Afghanistan einmischen, verfolgen damit natürlich ihre ganz eigenen Ziele und nehmen die entstehenden Konflikte mit anderen Nachbarn oder Teilen der afghanischen Bevölkerung in Kauf.

Wie der Blick in die Geschichte des Landes zeigt, konnten sich wichtige Teile der Elite zur Abwehr äußerer Feinde meist doch verbünden und diese schließlich vertreiben. Doch bei der Gestaltung des Friedens sind die Afghanen oft wieder uneins. Wenngleich sich noch nie eine Gruppe tatsächlich vom gemeinsamen Staat abspalten wollte, überwiegt zwischen den Stämmen und Ethnien das Misstrauen, das eine entwicklungsorientierte Politik zum Wohle der ganzen Nation noch immer verhindert hat.

Mit der Volksrepublik China tritt nun ein neuer Akteur am Hindukusch auf. Vielleicht hat die Regierung in Peking aus den Fehlern gelernt, die Moskau und Washington gemacht haben. Immerhin geht sie bislang äußerst behutsam vor. Auch die Taliban werden, wenn sie denn regieren oder mitregieren wollen, lernen müssen, weniger ideologisch und mehr zum Wohl der Menschen zu agieren. Militärisch gewonnen haben sie noch längst nicht.

Der neue Präsident Aschraf Ghani hat im Wahlkampf 2014 viel versprochen, gehalten hat er davon bisher fast nichts. Ein halbes Jahr nach seiner Vereidigung hatte er noch nicht einmal ein vollständiges Kabinett zusammen. Die große Unruhe wird wohl noch länger anhalten, und die Nachbarn werden noch weiter mitmischen.

***

Aus: „Chronik der afghanischen Geschichte“ (Sven Hansen)

Afghanistan Geschichte 1938 bis 2015 a

Mein Moment jenseits der afghanischen Geschichte: Frühlingsfest Mazar-e-Sherif April 1974

Mazar April 1974 a Mazar April 1974 b Mazar April 1974 c Mazar April 1974 d Mazar April 1974 e Mazar April 1974 f Mazar April 1974 h Farbe Mazar April 1974 l Moschee Männer Farbe Mazar April 1974 j Portrait Farbe Mazar April 1974 i Moschee FarbeMazar 1974 Gallia Madadi Aufnahmesituation gr

Mazar April 1974  Zorna & Dhol Farbe

Alle Fotos: ©Jan Reichow 1974

Quelle des Textes von Sven Hansen & Titelseite ganz oben: EDITION LE MONDE diplomatique, abrufbar HIER.

Materialmetamorphose

Ein solches Wortungetüm hat Schubert gewiss nicht verdient, aber so kann ich mir das Fundstück besser merken. (Und nun dank der Petrucci-Noten gleich am Klavier üben!) Der verblüffende Hinweis ist dem wunderbaren Schubert-Buch von Peter Gülke zu verdanken, einem Steinbruch sondergleichen. (Steinbruch? Man entdeckt die Stellen, die ein Werk substantiell betreffen, nicht aufgrund eines Registers, sondern quasi durch beständiges Aufschlagen und Blättern, manchmal erst nach Jahren.)

Es handelt sich um einen der Zwölf Deutschen Tänze D 790, der „in seiner prägenden Struktur“ (Gülke) im Jahre 1823 das ein Jahr spätere Scherzo des Streichquartetts „Der Tod und das Mädchen“ vorwegnimmt.

Schubert Deutscher Tanz

Zitat Gülke

Im ungewöhnlichen gis-Moll stehend, eher Charakterstück denn Tanz, nimmt er sich dort, wie immer vom siebenten in As-Dur fast wie von einem Trio gefolgt, eigentümlich fremd und sperrig aus, fast wie von vornherein zu anderen, „höheren“ Zwecken bestimmt. Daß er aus einer nicht verfolgbar weit zurückreichenden Beschäftigung mit der Quartett-Komposition für die Zwölf Deutschen Tänze „abgezweigt“ worden sei, läßt sich enbenso weinig ausschließen wie, daß er plötzlich paßte, als habe er erst jetzt seinen eigentlichen, eigenen Ort gefunden. Schubert hat ihn erweitert und radikalisiert, in der chromatischen Gegenführung der Takte 5-8 des Scherzos ebenso wie in der aggressiven Umprägung und rhythmischen Kontrapunktik der entspannend abfließenden Achtelgänge, welche im Quartett zu stakkatierend hackenden Vierteln werden; indessen ist fast alles, was das Scherzo zu einem Knotenpunkt der Bezüge macht, im Deutschen Tanz bereits vorhanden. Verschärft hat Schubert auch die Gangart und damit den Satz ohne Mühe an eine Gemeinsamkeit der anderen angeschlossen – die jeweils konsequent durchgehaltene Bewegungsform.

Schubert Scherzo

Quelle Peter Gülke: Schubert und seine Zeit / Laaber-Verlag Laaber 1991 ISBN 3-89007-266-6 (Zitat S.211)

Wie ist es nur möglich, dass ein und dasselbe Material derart gegensätzliche musikalische Charaktere mit Stoff versorgt!? Ganz einfach: die unmittelbare Verwandtschaft liegt auf der Hand, wenn man den zweiten Teil des Klavierstücks (Takt 9 ff) und den zweiten Teil des Scherzos (Takt 23) jeweils im Bass anschaut. Selbstverständlich könnte man auch mit den harmonischen Grundformeln beginnen, und so auf den typischen Gang der phrygischen Kadenz (Chaconne) und ihrer chromatischen Erweiterung stoßen.

(Fortsetzung folgt)

Von der Angst zur Höflichkeit

Timor Dei

Heute kam ich am Gymnasium Schwertstraße vorbei, hörte die typischen Pausengeräusche aus dem Innern, fragte mich, ob in Solingen wohl schon an den Schulen das rufende Sprechen eingeübt wird, ein Schreien fast; mir erschien es seit je als eine ortsgebundene Taktik, auch bei kleinen Meinungsverschiedenheiten sofort den ganzen Luftraum zu besetzen, noch ehe man an den Austausch von Argumenten gehen kann. Die Frage ist, ob sich eine weitgehend höfliche Auseinandersetzung unter Jugendlichen überhaupt durchsetzen ließe (höflich durchsetzen?), ehe nicht die Grundregeln der Logik und des Sprachverständnisses erlernt und als solche (an)erkannt wurden. „Bauchgefühl“ und „emotionaler Einsatz“ stehen gesellschaftlich hoch im Kurs. Während ich noch überlegte und meine gestrige Zeitungslektüre zu rekapitulieren suchte, hatte ich schon das Smartphone gezückt und den ehernen Schuleingang fotografiert:

Spruch Schwertstraße fern

Es ging mir um den Spruch, der mich wiederum an den Spruch am gelben Gemäuer meines alten Gymnasiums in Bielefeld erinnerte; ich habe ihn schon früher einmal beschworen: nämlich hier. DEO ET LITERIS, – in genau dieser Schreibweise, die unter Altsprachlern noch elegant problematisiert werden konnte. Und immerhin waren es ja zwei Bereiche, die durch das „Et“ nicht nur verbunden, sondern auch sichtbar getrennt wurden. Und hier? Gibt es hier überhaupt noch Latein, so dass man klären könnte, wie es zur Furcht Gottes kommen konnte, ob das Wort mehr mit Ehrfurcht oder mit Angst zu tun hat, in jedem Fall aber als Furcht vor Gott verstanden werden muss, was bei gottesfürchtigen Kindern natürlich außer Zweifel steht. Und sicher geht es nicht darum, den TIMOR DEI nach dem Vorbild des heiligen Augustinus (oder Kierkegaards?) unter dem Doppelaspekt von Furcht und Angst zu betrachten. Aber ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der Philosophie, dass eine solche „Emotion“ von vornherein als der Weisheit Anfang  apostrophiert und gewissermaßen petrifiziert wird? Warum eine solch massive, freiheitsberaubende Vorgabe?!

Spruch Schwertstraße nah

Die erwähnte Zeitungslektüre betraf eine der zahllosen „Gewissensfragen“, die niemand so brillant behandeln kann wie ein gewisser Dr. Dr. Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen. Diesmal ging es um ein – sagen wir – Übermaß an Höflichkeit, überraschend war mir nur, dass wir es täglich anwenden, etwa wenn ich frage: „Darf ich um das Salz bitten?“ Ich erwarte natürlich nicht, dass der andere mit „ja“ antwortet und weiterfrühstückt, als sei nichts gewesen. Er soll handeln, als hätte ich gesagt: „Bitte, gib mir das Salz!“ Es soll aber so scheinen, als ließe ich ihm eine Alternative, es geht schließlich um die Freiheit des Menschen.

Ich erlebte einmal die Situation, dass ich, vergeblich nach einem Stift suchend, mein Gegenüber fragte: „Haben Sie vielleicht einen Stift?“, und er antwortete ausgesucht höflich: „Darf es auch ein Rotstift sein?“, was ich bejahte, worauf die Entgegnung kam, „tut mir leid, hab ich auch nicht!“ Das hatte er schon vorher gewusst, er war jedoch ein Spaßvogel. Davon ist jetzt nicht die Rede. Auch nicht von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, die dem, der etwa nach dem Weg zum Bahnhof fragt und in eine Richtung weist, um keinen Preis eine Korrektur zumuten mag: „Ja, das ist richtig, aber noch besser wäre es, Sie gingen diesen Weg …“ und dabei verschämt in die Gegenrichtung weist. Ob es heute noch genau so ist, kann ich nicht sagen: Im Jahre 1973 beschrieb Dietrich Krusche in seinem Buch „Japan – Konkrete Fremde / Eine Kritik der Modalitäten europäischer Erfahrung von Fremde“ das Phänomen der japanischen Ritualisierung der Höflichkeiten auf den Seiten 75 bis 85. Zitat zur Auskunft, wie denn das Wetter sei: „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich sagen, die Sonne scheint.“

Heute gibt es dazu – wie ich aus der SZ-Kolumne der „Gewissensfragen“ lerne – eine Theorie, die nicht nur Japan, sondern uns alle betrifft: sie heißt nun „psycholinguistische Theorie der Höflichkeit“ und wurde 1987 von Penelope Brown und Steven C. Levinson vorgelegt. Auf die Vorarbeiten bezieht sich Harald Weinrich 1986 in seiner großen Rede „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“, im pdf. nachzulesen hier.

Das ist ein sehr nützlicher Hinweis, dennoch finde ich, dass der hochintelligente Ratgeber des süddeutschen Magazins am Ende doch nicht ganz zufriedenstellend argumentiert. Es geht um ein Schild im Wartezimmer: „Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.“ Früher habe es geheißen: „Bitte nehmen Sie doch Platz“.

Unter Berücksichtigung der Theorie der Höflichkeit sagt Erlinger nun, die Psychologie unterscheide

ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem „Bitte“ versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet (…)

„Sie dürfen noch kurz Platz nehmen“ sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz „bitte“ etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin „Gewissensfrage an Dr. Dr. Erlinger“ 19. Juni 2015 Seite 6

Mir scheint, dass hier etwas unberücksichtigt bleibt, was nicht nur sprachlich leicht verunglückt ist, sondern ebenso nach dem Reglement der Höflichkeit: das Wörtchen „kurz“, das eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit avisiert, da ich möglicherweise geplant hätte, mich für eine sehr lange Zeit im Wartezimmer einzurichten, etwa in Anbetracht einer guten Lektüre.

Im Ernst: hier soll mir suggeriert werden, dass die Wartezeit ohnehin nur kurz ist, ich soll sie aber höflicherweise in meine Verantwortung übernehmen (für den Fall, dass es doch länger dauert). Wie lange werde ich unter diesen Umständen mein Gesicht wahren können?

Im aktuellen SPIEGEL (Nr. 26 / 20.6.2015 Seite 125) macht sich Nils Minkmar gerade Gedanken, ob der heute gängige Konversationsbeginn „Alles gut?“ wirklich geeignet ist, die früher übliche Formel „Wie geht es Ihnen?“ zu ersetzen.

Es war gegenüber der heute beliebten Formel ein nicht invasiver Gruß: Er bezog sich im Verständnis der meisten Zeitgenossen auf die Gesundheit oder den frischen Moment und überließ es weitgehend dem Befragten, wie er es verstehen sollte.

„Alles gut?“ ist dagegen eine fragende Wendung mit nahezu kindlichem Vollkommenheitsanspruch. Wie schockiert wären alle, wenn man sie glattweg verneinte. Es ist der Gruß in einer Kultur, in der auch die Erwachsenen sich jederzeit fühlen möchten wie Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen, und einer digitalen Ökonomie, die vom Versprechen lebt, dass auch der entlegenste Wunsch … [nein, nein, nein!]

Ich schlage vor, zunächst einmal den Gruß, die Begrüßung, nicht mit dem harmlosest möglichen Gesprächsbeginn gleichzusetzen; es ist doch nur eine Ermunterung, die Andeutung einer Gesprächsbereitschaft (also nach dem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“, bzw. über diesen Gruß, meinetwegen auch über ein erstes „Hallo“, hinaus).

Noch fragwürdiger als die „Alles gut?“-Frage zu Beginn ist wohl die „Alles klar!“-Behauptung zum Abschluss; sie sollte einen nie zu erneuter Nachfrage veranlassen, etwa: was haben Sie gesagt:  A l l e s klar? das hätte ja nicht einmal Aristoteles von sich sagen können! Also könnten Sie mir vielleicht erklären, warum mich der Wandspruch aus einem bayrischen Wirtshaus mein Leben lang verfolgt: „Trink Gott und nicht iß vergiß!“ ??? Und zwar auch, wenn ich gerade den Rätselspruch von aller Weisheit Anfang  an einer Schule betrachte? So steht es wohl heute noch dort als Menetekel an der Wand, im Gasthof Adler neben dem Schloss Kirchheim bei Mindelheim, Bayrisch Schwaben,  in kunstvoll gegliederter, ziselierter Schrift:

Trink          GOTT

Und            Nicht

Iß                 Vergiß

              !

Das Kind Mozart

Ein Text zu den frühen Klaviertrios (mit dem Abegg-Trio), geschrieben für TACET, 2005

Mozart 1763

Jan Reichow: Das Kind Mozart in der Sonatenkindheit

Es gab einige glückliche Zufälle im Leben des Glückskindes: zu den bekanntesten und durchaus gewürdigten gehörte der, dass sein Vater ein guter Musiker, tüchtiger Komponist, vor allem aber ein phänomenaler Pädagoge war.

Damit nicht genug: es gab eine 5 Jahre ältere, hochbegabte Schwester, die von dem Baby Wolfgang Theophilus täglich beobachtet wurde, – Kinder lernen von Kindern! -: sie spielte ausgezeichnet Cembalo und war ihm dennoch, wie sich spätestens erwies, als er laufen konnte, nicht uneinholbar voraus. Dann und wann reckte er sich schon zur Tastatur hinauf, um auf eigene Faust wohltönende Terzen zusammenzustellen…

Der glücklichste, aber nur selten gewürdigte Zufall lag darin, dass die Zeit seiner frühen Entwicklung mit der Kindheit der Sonate zusammenfiel. „In keiner früheren oder späteren Epoche konnten seine Kindheitswerke ein solches normales Verhältnis zu den großen Werken der Musik finden“, schrieb der englische Musikwissenschaftler Donald Francis Tovey und fügte hinzu, dass die frühen Sonaten, die ja noch mit Opuszahlen versehen waren, – als op. 3 veröffentlichte Leopold 1765 in London die hier eingespielten 6 Violinsonaten mit obligatem Cello (KV 10 bis 15) – „voll an Erfindungsreichtum und technisch so kompetent sind wie die meisten zeitgenössischen Werke“. *1

Und die bekanntesten zeitgenössischen Komponisten waren – wie sich allerdings erst im Nachhinein zeigte – keine Giganten der Musikgeschichte: Joh.G. Eckard, Chr. Hochbrucker, J.-P. Legrand, Joh. Schobert, C.Fr. Abel, G.Chr. Wagenseil, Carlo Graziani und schließlich Johann Christian Bach, der aber sicher einer anderen Kategorie angehörte.

Man stelle hypothetisch nur einmal den achtjährigen Schubert dagegen, wie er auf das Gesamtwerk von Mozart stößt, auf den (nahezu) vollständigen Haydn und auf die erdrückende Last von 23 Beethovenschen Klaviersonaten, bis hin zur Appassionata, zu schweigen von Klaviertrios, Quartetten und Sinfonien. Wohin hätte er reisen, was hätte er schreiben können?

Das Kind Mozart erlebte eine musikalische Welt, die selbst etwas Kindliches hatte, da sie auf Dilettanten zugeschnitten war, wenn auch hoffähige und oft genug weisungsberechtigte. Hier eine Kaiserin, die Arien sang, dort ein König, der Cello spielte, – kein Wunder, dass man in einem heute unbegreiflichen Ausmaße für den „herrschenden“ Geschmack komponierte. Ob nun Sonate oder Sinfonie drüberstand: im Grunde lauter Divertissements oder Divertimenti.

Man pflegte einen Plauderton, der durch nette Einfälle entzückte, ohne je mit privater Leidenschaft oder grüblerischer Gelehrsamkeit zu degoutieren. Also hütete man ein Schatzkästlein von Kleinfiguren, eleganten Formeln, Ornamenten, Trillern, Seufzern, feingliedrigen Imitationen und Halbschlüssen, die zur Fortspinnung des Fadens reizten.

Und doch verfügt das Kind Mozart bereits über eine Palette von Ausdrucksmöglichkeiten, die, gerade angesichts dieses gegebenen Rahmens, erstaunlich ist. Wolfgang schreibt, was er bei den Großen sieht und hört, und übertrifft sie womöglich an Frische und Mutwillen. Kein Stück gleicht dem anderen, und in den Mollfarben gelingen ihm unvergleichliche Stimmungen: das Menuetto II in KV 10, das Andante in KV 13 !

Mozart dedizierte die Sonaten der Königin von England „auf ihr selbst verlangen“: „Six / Sonates / pour le / CLAVECIN / qui peuvent se jouer avec / L’accompagnement de Violon, ou Flaute Traversière “; so wurde es jedenfalls in der einen Ausgabe gedruckt, in einer zweiten ist hinzugefügt: „et d’un Violoncelle“, und tatsächlich wurden gedruckte Cellostimmen beigefügt. Da die Partitur jedoch in beiden Ausgaben nur Klavier- und Violinstimme enthielt, blieb es bis zur Edition der Neuen Mozart-Ausgabe (NMA) 1966 unbekannt, dass hier tatsächlich die ersten Mozartschen Klaviertrios vorliegen!

Welchen Weg die Sonate damals gehen musste, heiße sie nun Klaviertrio oder Quartett, ist bereits an Äußerlichkeiten abzulesen: man vergleiche die Satzproportionen mit denen des 11 Jahre späteren, „wirklichen“ Klavier-Trios (KV 254), das gleichwohl noch als Divertimento überschrieben ist: hier hat ein einziger Satz die Ausdehnung eines ganzen frühen Trios mit mehreren Sätzen!

Und die Länge beruht natürlich nicht auf bloßem Vorsatz, sie muss sinnvoll erscheinen und gerechtfertigt sein durch das wachsende Vermögen, musikalische Einfälle zu organisieren.

Schon in Paris, der vorhergehenden Reisestation, hatte man nicht nur Wolfgangs Fähigkeit mehrstündigen Improvisierens am Klavier gerühmt, sondern: dass er dabei „die Inspiration seines Genius im Zaume hielt und seine vielen entzückenden Einfälle mit Geschmack und wohlgeordnet vortrug“. *2

Auch die Sonate will unterhalten und rühren, zugleich sucht sie aber mit Hilfe der vorhandenen Elemente ein Kontinuum zu entwickeln, das über den schönen Augenblick hinausweist, zunächst natürlich auf eher bezaubernde als bezwingende Weise. Auch in der Konversation lässt man ja keine peinlichen Pausen entstehen, schon gar nicht auf der Bühne, die als Vorbild gedient haben mag. Und noch weniger in der Sinfonie, die schon aus ökonomischen Gründen eine fortdauernde Beschäftigung so vieler Beteiligter auf beiden Seiten (Podium und Publikum) provozierte.

Wolfgangs erste Sinfonie (KV 16) enthielt nach Meinung seines Vaters noch zu viele Ungeschicklichkeiten; da galt es, gründlich die erfolgreichen Sinfonien von Johann Christian Bach und Carl Friedrich Abel studieren.

Und tatsächlich schrieb er Abels Sinfonie Es-dur op. 7 Nr.6 von A bis Z in sein Skizzenbuch, um dann nach diesem Muster eine neue, eigene Sinfonie (KV 19) zu gestalten, die jedem Anspruch genügen konnte. Wir wissen nicht, ob neben seinem Vater auch die genannte Prominenz ihm dabei Ratschläge erteilt hat.

Man kann einerseits Klage darüber führen, dass ein hochbegabtes Kind wie Mozart in seiner bildungsfähigsten Zeit 3 ¼ Jahre lang ununterbrochen auf Reisen ist: die Familie Mozart verließ Salzburg am 9. Juni 1763 und kehrte erst am 29. November 1766 zurück. Aber auch dann erwartete das Kind kein „entspanntes, kindgerechtes Alltagsleben“ *3, – weitere Reisen folgten. Es fragt sich, was kindgerecht und was mozartgerecht ist. Er selbst sagte einmal: „ich versichere sie, ohne reisen / wenigstens leüte von künsten und wissenschaften / ist man wohl ein armseeliges geschöpf!“ (11.Sept.1778) *4

Ein geniales Kind, dem es bestimmt war, zu einem musikalischen Fluchtpunkt der Menschheit zu werden, befand sich während einer wichtigen Phase seiner Kindheit nicht zufällig in London, dem Zentrum der damaligen Welt. Hier blieb die Familie sogar über ein Jahr, und die Kinder wurden nicht nur permanent vorgeführt, sie lernten permanent, öffentlich und privat.

Vor dem englischen König, bei dem sie eingeladen sind, spielt Wolfgang Kompositionen von Georg Christoph Wagenseil, Johann Christian Bach, Carl Friedrich Abel und Georg Friedrich Händel vom Blatt, und er begleitet die Königin bei einer Aria. (Wie sie gesungen hat? Haydn hat es später mal etwas maliziös formuliert: „ganz leidlich für eine Königin“. *5)

Leopold Mozart schreibt über die Fortschritte seines Sohnes an Freund Hagenauer: „das was er gewust, da wir aus Salzburg abgereist, ist ein purer Schatten gegen demjenigen, was er ietzt weis. Es übersteigt alle Einbildungskraft. Er empfehlet sich vom Clavier aus, wo er eben sitzt, und des Capellmeisters Bachs Trio durchspiellet.’“ *6

Man sagt, Wolfgang lernte von Johann Christian Bach das „singende Allegro“, also: er lernte es kompositionstechnisch. Aber er sang ja auch selbst, er ging in London zu dem berühmten Kastraten Giovanni Manzuoli, der ihm die Grundlagen des italienischen Gesangs beibrachte, was der sonst so erzählfreudige Leopold merkwürdigerweise verschwieg. Charles Burney berichtet von einem Konzert, in dem das Kind „die unterschiedlichen Stilarten des Gesangs improvisierte, und zwar sowohl der damaligen Opernsänger wie ihrer Lieder in einer extemporierten Oper auf einen Nonsense-Text (…), alles voller Geschmack und Erfindungsreichtum, in tadelloser Harmonie, Melodik und Modulation.“ *7

Eine andere Begegnung, die immer wieder geschildert wird, geht auf einen Bericht zurück, den Mozarts Schwerster allerdings erst im Jahre 1792 in ihren Erinnerungen niederschrieb. Demnach stellte Johann Christian Bach, am Klavier sitzend, den Knaben vor sich hin, spielte links und rechts an ihm vorbei einige Takte, ließ das Kind fortfahren und übernahm dann wieder. Auf diese Weise wechselnd spielten sie eine ganze Sonate, und zwar so, dass man – hätte man es nicht gesehen – geglaubt hätte, da spiele nur einer. Das Zeugnis dieser schönen Begegnung rechtfertigt allerdings keine weitreichenden Vermutungen über ein Lehrer-Schüler-Verhältnis; Martin Geck bringt es nüchtern auf den Punkt:

„Wir wissen nicht, ob der Ältere den Jüngeren ernsthaft gefördert hat: Am Londoner Musikmarkt konkurriert jeder mit jedem und Johann Christian Bach ist mit nicht einmal dreißig Jahren noch nicht in dem Alter, wo man andere neben sich dulden kann. Unzweifelhaft aber fungiert er als großes Vorbild – bis weit in Mozarts Mannheimer Zeit.“ *8

Vielleicht war es Mozarts Glück, dass er in den entscheidenden Jahren Johann Christian Bach, der eine freundlich-galante Italianitá pflegte, begegnet ist und nicht dessen älterem Bruder Carl Philipp Emanuel Bach, der mutiger und mutwilliger mit der Musik verfuhr. Vieles an der Sonatenform bzw. an dem neuen Geist, der die Musik erfasste, wirkte offenbar beunruhigend und erregend, man bemerkt es, wenn man konservativeren Geistern zuhört, die vielleicht spürten, was dabei verloren ging.

1774 kritisierte Johann Abraham Peter Schulz „die Sonaten der heutigen Italiener“ als „ein Geräusch von willkürlichen auf einander folgenden Tönen, ohne weitere Absicht, als das Ohr unempfindsamer Liebhaber zu vergnügen, phantastische plötzliche Uebergänge vom Frölichen zum Klagenden, vom Pathetischen zum Tändelnden, ohne das man begreift, was der Tonsetzer damit haben will.“ *9

Wer die barocke Affektenlehre kennt, weiß, dass man dem Publikum pro Stück einen Hauptaffekt zumutet, der sich entfaltet und dem sich das Gemüt in aller Ruhe anpasst. Im Mittelteil der Arie, im Trio des Tanzsatzes kann es einen Kontrast dazu geben, aber letztlich geht es um die Darstellung und Vermittlung eines einzigen Gemütszustandes in „natürlicher“ Breite.

Jetzt aber operiert man mehr und mehr mit den bloßen „Bausteinen“ der Seele, denen eine Entfaltung nur zugebilligt wird, soweit sie den Fortgang des gedachten Dramas beleben. Es sind erinnerte emotionale Momente, die mehr dramatisch als architektonisch aneinandergesetzt werden und vom Rezipienten die Bereitschaft verlangen, sich wie ein Blatt in wechselnder Brise zu verhalten. Ein Sonatensatz (zumindest der erste) war nicht Spiegel eines einzigen, in Tiefe und Breite ausgeloteten Gemütszustandes, sondern Projektionsfläche des Lebens, ein komprimiertes Drama mehrerer Akteure oder motivischer „Agenten“, zuweilen verteilt auf verschiedene Instrumente in wechselnden Rollen. Eine neue Form von Distanz also gegenüber den innersten Bewegungen oder eine neue psychologische Nähe? Verfügungsgewalt oder Verinnerlichung? Gewiss darf man J.A.P. Schulz nicht auf die geniale Einfachheit seines Liedes „Der Mond ist aufgegangen“ reduzieren, aber es passt gut, wenn gerade er sich über die „verwirrende Gedankenfülle“ der Sonate beklagt. *10

Und diese Tendenz sollte im Zeichen von Sturm und Drang, im Dienst eines neuen Originalitätskultes, noch allerhand Oberwasser bekommen. Dem widerspricht nicht, dass die Anfänge dieser Musik sich ganz besonders als ein Mittel der Zerstreuung für Dilettanten empfahl, auch als Übung. Bevor die Sonate zum miterlebten Drama wurde, war sie zunächst einmal die Fortsetzung einer Konversation mit andern Mitteln, einer Konversation unter Menschen, die sich kennen und nicht übereinander herfallen, Gespräche, die von Esprit, Charme, Sentiment und Brillanz geprägt sind.

Für die Unterhaltung eines größeren Publikums (engl.: „for public entertainment“) musste die Musik gewiss noch spektakulärer werden als es z.B. Charles Avison andeutet im Vorwort zu seinen “Six Sonatas for Harpsichord, with Accompanyments of Two Violins & a Violoncello“ op. 7: „This Kind of Music is not, indeed, calculated so much for public Entertainment, as for private Amusement. It is rather a Conservation among Friends, where Few are of one Mind, and propose their mutual Sentiments, only to give Variety, and enliven their select Company.” (1760) *11

Eine so brave Einstimmung hätte auf die Sonaten (alias Klaviertrios KV 10 – 15) des Kindes Mozart 1765 schon nicht mehr gepasst, auch wenn sie der Königin selbst gewidmet waren; wozu dann der Witz und all die kleinen Keckheiten, das übermütige „Tschilpen“ der zahllosen kurzen Vorschläge?

Und 10 Jahre später stand der junge Mann bereits einer ganz anderen Öffentlichkeit gegenüber: ihr galten die Violinkonzerte, die Haffner-Serenade und – unverkennbar – auch das Divertimento à 3 (KV 254): „Public Entertainment“!

Als im Juni 1765 ein Gelehrter den Wunderknaben Wolfgang gewissermaßen unter die Lupe nahm, schaute der ihn zuweilen „ganz durchtrieben“ an, arbeitete sich aber dann zu einer derartigen (wohl grotesk übertriebenen) Begeisterung empor, so der Gelehrte, „daß er sein Klavier wie ein Besessener schlug und einige Male in seinem Stuhl sich emporhob.“ *12

Da sah er plötzlich seine Lieblingskatze vorbeikommen, – worauf er sogleich das Klavier verließ und geraume Zeit nicht wieder zurückgebracht werden konnte. Wieder einer der glücklichen Zufälle im Leben des Kleinen: die Katze entledigt ihn aller lästigen Fragen!

So sollte es bleiben: zeitlebens, und bis heute, hat sich Wolfgang Amadeus Mozart im rechten Augenblick entzogen. Um ein Wort von Karl Kraus zu variieren: je näher wir ihn anschauen, desto ferner schaut er zurück.

Gnagflow Trazom, Wolfgang Romatz Edler von Sauschwanz…

Und dann gab es da noch ein Königreich, das nur in seiner Phantasie existierte. Seine Schwester berichtete darüber: „ein Königreich, welches er Königreich Rücken nannte – warum gerade so, weiß ich nicht mehr. Dieses Reich und dessen Einwohner wurden nun mit alle dem begabt, was sie zu guten und fröhlichen – Kindern machen konnte. Er war der König von diesem Reiche: und diese Idee haftete so in ihm, wurde von ihm so weit verfolgt, daß unser Bediensteter, der ein wenig zeichnen konnte, eine Charte davon machen mußte, wozu er ihm die Namen der Städte, Märkte und Dörfer diktirte.“

Mozart vergaß das Königreich der Kinder nicht und schrieb 20 Jahre später demselben Bediensteten, einstigem Hausdiener der Mozarts, „Gesellschafter meiner Jugend“, er sei natürlicherweise noch oft dort gewesen, habe aber leider nie das Vergnügen gehabt, ihn dort anzutreffen… (30. Sept. 1786) *13

Ein häufig gebrauchtes, aber deshalb nicht unbedingt zutreffendes Wort lautet: Zufälle gibt es nicht.

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Nachweise:

*1 Tovey, nach Solomon S.49

*2 F.M.Grimm, nach Solomon S.47

*3 nach Ulrich Konrad Sp.601

*4 nach Ulrich Konrad Sp.596

*5 nach Gruber S.20

*6 nach Geck S.35

*7 nach Geck S.48

*8 Geck S.36

*9 MGG „Sonate“ Sp.1583

*10 MGG „Sonate“ a.a.O.

*11 MGG „Sonate“ a.a.O.

*12 nach Gruber S. 29 f

*13 nach Solomon S. 64 und Anmerkung S. 526

Literatur:

Martin Geck: Mozart Eine Biographie / Reinbek bei Hamburg 2005

Gernot Gruber: Wolfgang Amadeus Mozart / München 2005

Ulrich Konrad: Mozart / Art. in MGG Personenteil 12 / Kassel Basel etc. 2004

Dorothea Mielke-Gerdes: Sonate / Art. in MGG Sachteil 8 / Kassel Basel etc 1998

Charles Rosen: Der klassische Stil Haydn, Mozart, Beethoven / München 1983

Maynard Solomon: Mozart: Ein Leben / Kassel 2005

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Nicht vergessen: Dante, Mozart

Es ist nur eine Gedächtnisstütze:

Damals auf Texel erinnerte mich ein Zeitungsartikel an Vorarbeiten zu Dante, die im alten Blog vergraben sind. Es soll ja nun erstmal weitergehen, als sei nichts geschehen:  HIER (Friedrich Christian Delius)

Ein interessanter Artikel im Blog „Faustkultur“ dürfte in diesem Sinn weiterführen: HIER (Stefana Sabin)

2 CDs begleiten mich auf Autofahrten: Warum gerade Sinfonien von Carl Friedrich Abel? Gleicht nicht eine der anderen zum Verwechseln? Erstens ist das nicht richtig, zweitens geht es mir um Mozart, drittens um die Übung „strukturellen Hörens“ (Felix Salzer), die ich rekapituliere anlässlich der Grundlagen klassischer Harmoniegänge und ihrer formelhaften Verwertung in der Popmusik. Wieso Mozart? Das soll der nächste Beitrag zeigen, ein Text aus dem Jahre 2005, in dem ich mich mit dem Kind Mozart in der „Sonatenkindheit“ beschäftigt habe und den ich, soweit ich weiß, noch nirgendwo wiedergegeben habe, abgesehen von der TACET-Veröffentlichung.

Abel Cover 1 Abel Cover 2

Zugleich erinnere ich mich an eine SWR-Sendung, die – aus meiner Sicht – an das Booklet zum „Kind Mozart“ anknüpfen sollte, aber auch Hinweise geben sollte, weshalb man Mozart heute oft unterschätzt, ohne zu wissen warum. Hier ist der Anfang des Skriptes vom Dezember 2006 , Bestandteil einer Sendereihe zum 250. Geburtsjahr des Komponisten.

SWR2 Mozart 2006 Musik Spezial: Musikfeuilleton / 21. Dezember 22:03 Uhr bis 23:00 Uhr / Es-dur: Mozart bricht auf! Vom bloßen Dreiklang zur Seelenlandschaft / Von Jan Reichow

Mozart ist schön! Das weiß jeder. Das weiß man schon, ohne genauer hinzuhören. Man weiß es schon so genau, dass man es sich leisten kann, nur noch mit halbem Ohr zuzuhören. Das ist doch Mozart. Das kenn ich. Und man weiß, dass alles gleich schön ist, bemerkt kaum noch, dass man mit einem Füllhorn von angenehmen Motiven überschüttet wird, die sich [dann] alle als irgendwie zusammengehörig erweisen, denn der Eindruck unhinterfragbarer Schönheit ist von vornherein da. War immer schon da.

Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten einem gutwilligen Jugendlichen erklären, was eigentlich Mozarts Schönheit ausmacht, – es hat doch überhaupt nichts geholfen, ihn zur Pop-Ikone zu erklären! Zunächst müsste man wohl den Begriff Schönheit streichen und durch etwas anderes ersetzen, z.B. durch den der Lebendigkeit, – obwohl das auch nicht gerade cool klingt.

Den größten Fehler aber könnte man machen, indem man so beginnt:

1) Kleine Nachtmusik: die ersten 4 Takte (auf Klavier in D-dur) ca. 0:10

Zwei Akkorde, Tonika und Dominante, die prominentesten der klassischen Musik, – man könnte auch sagen: die abgegriffensten -, in plakativer Position: einmal rauf, einmal runter, und dann geht’s los!

„Eine kleine Nachtmusik“ – dass sie so übermäßig bekannt wurde, liegt weniger daran, dass sie womöglich anderen Werken Mozarts überlegen ist, als daran, dass es in der Nazi-Zeit einen populären Mozartfilm dieses Titels gab.

Also etwas anderes: Noch einmal die beiden Akkorde, in einer anderen Version: beide in melodisch absteigenden Formen, harmonisch bewegt, – es öffnet sich, es schließt sich. Und dann kommt – o Wunder – der dritte prominente Akkord, die Subdominante, und der Weg zurück. (Wohlgemerkt: es geht hier nicht um Theorie, sondern um pures Hinhören!):

2) 5039 692 Mozart Klavier-Rondo in D-dur KV 485 (Anfang) ca. 0:15

Ich würde besagtem Jugendlichen übrigens auch nicht Mozarts Violinkonzerte vorspielen. Diese Art jugendlicher Spielfreude ist heute wohl erst nachzuvollziehen, wenn man älter ist. „Heute“ sage ich, weil U-Musik und E-Musik seit langem so strikt getrennt werden, dass gerade das Leichte in der „schweren“ Musik nicht mehr ohne ausgiebige Hör-Erfahrung in seiner tieferen Bedeutung erfasst wird.

Vielleicht sollte man es etwas sportlicher oder – sagen wir – technischer angehen: identifizieren Sie einmal Motive wie das eben gehörte, schauen Sie, wie Sie nebeneinanderstehen, wie sie sich gleichen oder verändern, Bausteine gewissermaßen, die wir im Schnelldurchgang identifizieren. 7 Zitate aus 5 Werken, das sollte in unserer schnelllebigen Zeit kein Problem sein, – ein Sprung alle 10 Sekunden… Bedenken Sie, was das Fernsehen unseren Augen mit dem ständigen Wechsel der Kameraeinstellung zumutet. Aber die eigentliche Aufgabe wäre hier, im Sprung auch die Beziehung zwischen den Sprüngen wahrzunehmen. Achtung …

3) Mozart D-dur-COLLAGE b 2’10

a) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 0:58 bis 1:11

b) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab 0:11 bis 0:28

c) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 1:04 bis 1:18

d) 5039 692 Mozart Tr. 2 Klavier Rondo in D KV 485 ab 0:21 bis 0:34

e) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab Anfg. bis 0:35

f) 3101 493 (CD Kopie Tr. 6) Divertimento KV 136 ab Anfg. bis 0:18

g) 5052 662 Tr. 3 Klav.quartett g-moll KV 478 letzter Satz 0:53 bis 1:26

Mozartsche Bausteine, – ausgelesen von Köchelverzeichnis Nr. 136 bis 525; man könnte von hier elegant zu dem gern zitierten „Musikalischen Würfelspiel“ kommen, was sich jedoch verbietet, da es glücklicherweise überhaupt nicht von Mozart stammt. Solche Ideen spukten damals allerdings in rationalistischen Köpfen herum: Musik, die sich von selbst komponiert.

Und wir werden uns nun gleich vom D-dur-Mozart trennen, zuvor aber doch noch einen Blick auf sein Violinkonzert D-dur werfen. Ein Fanfaren-Dreiklang als Starter, und eine schrittweise hingetupfte Reaktion: so schreibt der 20jährige Mozart.

4) Anfang Solo Violinkonzert D-dur KV 211 A.S.Mutter A bis 0:23 0:23

Mehr als 10 Jahre vorher hatte der Knabe das Modell solcher galanten Dialektik in London gelernt und bereits folgendermaßen formuliert:

5) Anfang Mozart Sinfonie D-dur KV 19 A bis 0:13 0:13

Sinfonie D-dur, KV 19. Etwas weiter vorn stand in dem Komponierbüchlein des kleinen Wolfgang schon eine Sinfonie in Es-dur, eigenhändig geschrieben, man gab ihr die Köchel-Nummer 18; aber er hatte sie nur zu Übungszwecken abgeschrieben, das Original stammte von dem in London neben Johann Christian Bach maßgebenden Komponisten Carl Friedrich Abel; also ein Modell, vielleicht vom Vater Leopold empfohlen: „so und nicht anders schreibt man heute eine Sinfonie!“

6) Abel (KV 18) Sinfonie Es-dur Tr. 18 A bis 0:28 0:28

Aber noch bevor der Knabe Wolfgang diese Abel-Sinfonie studierte, hatte er bereits etwas Eigenes in Es-dur geschrieben: seine erste Sinfonie, ein erster Versuch, den Apparat eines ganzen Orchesters zu bewältigen.

Auch hier das Ur-Material des Dreiklangs. Statt des getupften Gegensatzes jedoch eine Fläche von Hornklängen, deren Abfolge einer Harmonielehre-Aufgabe ähnelt.

7) Mozart (KV 16) Es-dur Tr. 1 A bis ca. 0:35 (unter Text) 0:35

Und so weiter – der Text allein bringt wenig – man müsste die Musikbeispiele hören. Und ich weiß, dass gerade die Collage (Beispiel 3) auch für Laien (ich apostrophiere gern die „Jugendlichen“, die für diese Detektivarbeit zu gewinnen wären) gut durchhörbar und durchschaubar wäre, – übrigens auch in der Vorbereitung viel Arbeit gemacht hat.

Waheit pur: nicht von dieser Welt!

Revolution nach Lektüre von ZEIT und Brigitte?

Ich frage mich, wie konservativ ich eigentlich bin. Warum DIE ZEIT und welche Artikel? Voriges Mal so viele, dass das Blatt jetzt noch fast ungelesen (aber auf vielen Seiten angelesen) neben mir auf dem Schreibtisch liegt (als Aufgabe), heute nur dieser 1 Artikel (abgesehen von – ausgerechnet – Josef Joffes Kolumne über die MAGNA CHARTA = 800 Jahre): der Lyriker Uwe Kolb und sein Sohn, der Hip-Hopper oder Rapper Mach One. Den im Artikel erwähnten Rap Schweinegrippe gebe ich hier nicht zum Durchklicken (ist mir zu provokativ & wirklich zu „unanständig“), aber doch einen anderen, damit klar ist, wovon die Rede ist. (Auch die Kommentare lesen!)

HIER  https://www.youtube.com/watch?v=kEHntTg4ZS0

Mach One sagt:

Was die You-Tube-Klicks angeht, bin ich selbst überrascht. Der Song  Schweinegrippe, der ja wirklich Blödsinn ist, hat jetzt fast eine Million Aufrufe. ich stelle mir dann immer hundert Verrückte vor, die vor ihrem Computer sitzen und klicken und klicken und klicken.

 Und ich stelle mir einen Kontrast vor. Könnte man in Afrika so viele Klicks mit einer Provokation erzielen? Oder auch nur mit „Blödsinn“?

ZITAT

Me: What makes you unique?

JAY A: Diversity; Singing across different genre – R&B, Hip Hop, Afro Fusion and a different Rap style.

Me: I first knew you when I heard your song ‘On Me ft Amina’, before that, had you worked on any other projects that we probably would want to listen to?

JAY A: My first song was titled „Clap your Hands“, a hip hop track with Jamaican fusion.

Me: Man, how do you cope with all the love ladies show you, considering that you are in a relationship?

JAY A: That is what makes this industry very challenging, I have been able to strike a good balance between the two keeping it very professional.

Quelle: Hier

Ich komme darauf, weil mich ein Bildbericht in der Frauenzeitschrift Brigitte sehr bewegt hat, so dass ich mich via Internet wieder einmal in Kenya umgeschaut habe. Ich kam auf etwas ganz anderes, aber ich habe den Versuch gemacht habe, die Rechte für ein paar der motivierenden Fotos zu bekommen, um sie hier zu präsentieren. Noch hoffe ich: der Fotograf Sergio Ramazzotti antwortete unter schwierigsten Mail-Bedingungen aus Burundi.

Das heißt: die Foto-Serie Kenya zu dem folgenden Text:

Kenya – Bach to the future / An extraordinary music school inside Nairobi’s largest slum

Music, wrote Claude Lévi-Strauss, is „a machine to suppress time“. In Korogocho, one of Nairobi’s largest slums, since some time ago music has also helped to suppress space, to make people forget the squalor and violence, to heal the wounds of the soul, and in some cases to open a door toward a future which, for those born on the edge of the huge open dump that is the symbol of the slum, wasn’t even possible to dream of. Before 2008, in Korogocho no one had ever heard play a piece by Bach or Beethoven. That was the year when a young Kenyan decided to found a school of classical music for children and adolescents in the heart of the shantytown, right next to the dump site. Some of those children have now reached a place whose existence they didn’t even suspect – the Nairobi conservatory – and have before them a future as musicians. But even for the less talented, music is the only opportunity to suppress the time and space in which, in Korogocho, it is often too painful to live.

Text: Sergio Ramazzotti

***

Eine Sache liegt mir noch auf dem Herzen: NGOMMA las ich dort oben auf dem Video, ein uraltes Wort, das ich aber zum ersten Mal mit zwei M geschrieben sehe. Es gibt mir Anlass, an den südafrikanischen (weißen) Musikethnologen zu erinnern, durch den ich das Wort überhaupt kennengelernt habe, – in einer Schrift, die sich an (schwarze) Afrikaner wendet. Und zwar mit eben diesem Begriff, der – offenbar weil jeder ihn kennt – in keiner Zeile des Buches erwähnt wird. NGOMA (Trommel).

Ngoma  Ngoma eine Art Vorwort

NGOMA An Introduction to Music for Southern Africans By Hugh Tracey / Longmans, Green & Co. London Cape Town New York / 1948

Rechts: Eine Art Vorwort vor dem Vorwort des Autors – fromme Wünsche eines Afrikaners 1945 „I do not mean to condemn foreign music at all but I am trying to advise my own people to reclaim our old music and to try to find ways in which we can improve it.“

***

26.06.2015 Inzwischen ist Sergio Ramazzoti wieder in seine Heimat zurückgekehrt und hat mir das Einverständnis zur Wiedergabe einiger Fotos gegeben. Ich kann mir keinen schöneren Kontrast vorstellen als diese Bilder, – sowohl zu der Einstellung eines deutschen Jugendlichen in Berlin, der mit seiner Instrumentalisierung des Internets jeder braven bürgerlichen Musiktradition Hohn spricht, ohne sie überhaupt in Betracht zu ziehen. Als auch zur puristischen Vision der Trennung fremder und eigener Musik. Und zu diesen Relikten westlicher Musikkultur, die in einer gottverlassenen, düsteren Region Afrikas für einen utopischen Hoffnungsschimmer sorgen und früher oder später etwas ganz Eigenes schaffen werden.

Fotos: „Courtesy of Sergio Ramazzotti/Parallelozero“

Ramazzotti Kenya Cello (bitte anklicken)

Ramazzotti e

Ramazzotti a

Ramazzotti d Geiger Kenya

ZITAT (Schwur eines Ghetto-Schülers)

Ich werde diese Violine lieben und beschützen,

als wäre sie mein eigener Sohn.

Fotos © Sergio Ramazzotti http://www.parallelozero.com/ Mit freundlicher Genehmigung für diesen Blog. Eine unvergleichliche Fundgrube: bitte schauen Sie weiter HIER !!!