Archiv der Kategorie: Frankreich

„Nun sag ich dir zum ersten Mal“

Die Zeit des Gurreliedes

Ob ich sie schon von Berlin nach Köln, meinem neuen Studienort, mitgebracht hatte? Ich war stolz auf die französische Schallplatte über Neue Musik. Sprecher und Autor war Antoine Goléa. Sie begann mit dem ersten Praeludium C-dur aus dem Wohltemperierten Klavier, wohl wegen der instruktiven Entfaltung der Harmonien aus dem C-dur-Akkord („unsensibel gespielt“, meinte Freund Christian de Bruyn, der Pianist, damals schon bewundert für seine Kunst des Rubatos), und irgendwo folgte das eine Stück aus den „Gurreliedern“, als Musterbeispiel für die extremen Sprünge zwischen den einzelnen Tönen einer wirklich modernen Melodie. Das leuchtete mir ein, und ich liebte das Stück, aber nicht die grelle Stimme der Sängerin, nicht einmal das penetrante Fachmann-Organ des Moderators. Der Text, den ich nicht verstand, hätte ein übriges getan, obwohl ich Jens Peter Jacobsen verehrte seit Langeoog 1956 („Mogens“ und „Niels Lyhne“ durch Hans-Dieter Mauritz). Keine Chance, die Worte Volmer, Narr oder nichtigen Tandes usw. akustisch zu entziffern.

Nun sag‘ ich dir zum ersten Mal: »König Volmer, ich liebe dich!« Nun küss‘ ich dich zum ersten Mal, und schlinge den Arm um dich. Und sprichst du, ich hätt‘ es schon früher gesagt und je meinen Kuß dir geschenkt, so sprech‘ ich: »Der König ist ein Narr, der nichtigen Tandes gedenkt.« Und sagst du: »Wohl bin ich solch ein Narr«, so sprech‘ ich: »Der König hat recht«; doch sagst du: »Nein, ich bin es nicht,« so sprech‘ ich: »Der König ist schlecht.« Denn all meine Rosen küßt‘ ich zu Tod, dieweil ich deiner gedacht.

Erst jetzt weiß ich, dass A. Goléa schon eine gewisse Prominenz hatte. Die folgende Youtube-Aufnahme berührt mich, weil sie die typische Radio-Produktionsatmosphäre der alten Zeit der Neuen Musik wieder auferstehen lässt, die ich ab Ende der 60er Jahre ganz ähnlich noch im WDR erlebte.

Antoine Goléa Wiki hier

Rund 1 Jahrzehnt später „studierte“ ich in meiner Studentenbude (1961) Köln-Niehl Feldgärtenstraße, bloß hörend, Schönbergs „Erwartung„, immer nur hörend, wiederholt, auch sein Violinkonzert, dies dank Wolfgang Marschner, bei dem ich Winiawsky und Ravels „Tzigane“ studierte. In Berlin hatte ich mich vorher u.a. durch Musik von Stockhausen und Boulez, im „inneren Widerstand“ gegen die Polemik unseres konservativen Theorielehrers Max Baumann geübt. Ähnlich in Köln gegen die typischen Schulmusik-Professoren.

Jetzt, als ich in den ehemaligen Beständen eines verstorbenen Freundes die Boulez-Aufnahme der „Gurre-Lieder“ und allerhand Schönberg-„Stoff“ (Partituren!) reaktivierte, habe ich an die Hörweise von damals angeknüpft; zuerst mehrmals Tr.7 („Nun sag‘ ich dir“), dann Nr.6 und 7, dann 6, 7 und 8, dann 5, 6, 7, 8. Die Partitur nicht gleichzeitig – das lenkt ab! – , sondern nachträglich am Tisch, das Gehörte nachvollziehend.

Was ich schon 1975 hätte dazulernen können (Gedenkausstellung  1974):

Universal Edition Redaktion: Ernst Hilmar ISBN 3-7024-0010-9

Damals war es schwieriger, die ganze Breite der Musik zu erfassen, ohne Internet, also ohne Google, Youtube und Wikipedia und all diese Quellen, die einem damals nur mit viel Geld erschwinglich waren (das Musikhaus Tonger befand sich schräg gegenüber meinem späteren Bürohaus Carlton (WDR).

Andere Zeitsprünge

Seltsamerweise versäumte ich von Anfang an, dem Gesamtwerk „Gurrelieder“ nachzuspüren, stattdessen besorgte ich mir das „fortschrittliche“ Melodram „Erwartung“ als LP, das ich mir durch extensives Hören zu amalgamieren versuchte. Es gelang mir nicht so, wie ich erwartete.

In den 90er Jahren gab es die Gurrelieder in der Kölner Philharmonie, eine Aufführung, die ich versäumte. Aber ih erinnere mich, dass wir nachher auf der Straße den WDR-Musikchef Dr. Hermann Lang trafen und nach seinen Eindrücken befragten. Er antwortete: „Eins weiß ich jetzt: die Gurrelieder habe ich zum erstenmal gehört und ganz gewiss auch zum letzten Mal!“ Ich glaubte ihn zu verstehen und fand seine Äußerung trotzdem unangemessen. Meine Methode war eine andere, nämlich die unverdrossene Wiederholung, andernfalls blieb ein vages Schuldgefühl, weil ich die Ahnung hatte, dass mir eine Tür verschlossen war, nur weil ich untätig reagierte. Tatsächlich im Fall Gurrelieder eine Lähmung, die dem Zeitgeist geschuldet war. Wenn Schönberg, dann „richtig“!

Neue Erinnerung (im Auto, WDR 3):

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/klassik-forum/audio-mitreissender-dirigent-markus-stenz-im-klassik-forum-100.html hier

hier Sabine Webers Rezension, – sie ist instruktiv, provoziert allerdings eine überflüssige Nachfrage zum „Botaniker“ J.P. Jacobsen, die sich in Wikipedia auflöst, wo allerdings von „dem jungen dänischen Geschichtsstudenten“ die Rede ist: hier

Dies zu bemerken ist überflüssig, man muss – mit Schönberg – den „verworrenen“ Text lieben lernen. Nur die Übersetzung von Nr.7 (besonders die deutsche Reimerei) ist linkisch. Auch das CD-Booklet ist übrigens nicht angenehm zu lesen.

Ich vergleiche die Anfangstakte jedes Tracks der beiden vorliegenden Aufnahmen, und sei es nur, um das Vibrato des jeweils tätigen Soprans zu prüfen: hier (Boulez) und hier (Stenz).

Es ergibt ein Extrathema: der dramatische Sopran ist für mich in jedem Fall ein Problem! Dass es eine vollkommene Leistung in dieser Stimmlage gibt, zeigt diese Salome HIER.

Vorläufiges Ziel bis Tr.8 / Lesen Sie den Text in Vergrößerung!

Damit berühre ich frappierend die Gegenwart: die Zeit ist auch heute noch das Problem. Gerade in der Musik. Ich habe es indirekt aber auch ganz unverhofft vorhin vom Nobelpreisträger Hassabis in der ZEIT bestätigt bekommen. Momentmal, ich brauche eine Sekunde! Oder zwei!! Und ohne Musik.

Quelle DIE ZEIT 30. Januar 2025 Seite 31 »Wir werden von ihnen alles bekommen« Es gibt kaum einen Wissenschaftler, der mehr von KI versteht als Demis Hassabis. Im vergangenen Jahr erhielt er den Nobelpreis. Hier spricht er darüber, was von den intelligenten Menschen als Nächstes zu erwarten ist / Das Gespräch führten Uwe Jean Heuser und Jochen Wegner

(Fortsetzung folgt)

Algier und die koloniale Idee

Schule des Südens / Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie

https://www.matthes-seitz-berlin.de/fs/products/schule-des-suedens/msb_erdur_schule-des-suedens_leseprobe.pdf hier (Einleitung TEXT!)

In den Quellenangaben (Seite 334) aufgeführte Filme:

Die Rezeption von Jacques Derridas Œuvre in der arabischen Welt  hier

Göttingen! Warum denn nicht!?

Die Sängerin Barbara (1930-1997)

ZITAT (Barbara)

 In Göttingen entdecke ich das Haus der Brüder Grimm, in dem die uns aus der Kindheit gut bekannten Märchen entstanden waren. Am letzten Mittag meines Aufenthaltes kritzelte ich ‚Göttingen‘ im kleinen Garten, der an das Theater grenzte, nieder. Am letzten Abend habe ich den Text zu einer unfertigen Melodie vorgelesen und gesungen, wobei ich mich dafür entschuldigte. In Paris habe ich dieses Chanson fertiggestellt. Ich verdanke dieses Chanson also der Beharrlichkeit Gunther Kleins, zehn Studenten, einer mitfühlenden alten Dame, den kleinen blonden Kindern Göttingens, einem tiefen Verlangen nach Aussöhnung, aber nicht nach Vergessen.

Deutscher Text des folgenden Chansons hier

Live (1967)

Über das Lied (Wikipedia)

Das Chanson ist in Frankreich sehr bekannt und leistete Mitte der 1960er Jahre einen bedeutenden Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung. Es trug auch dazu bei, Stadt und Universität Göttingen in Frankreich bekannt zu machen.

Mehr darüber bei Wikipedia hier

Wiki-Biographie der Sängerin Barbara hier

DANK an JMR 24.09.24 !

Und noch zwei zum Kennenlernen:

Text: hier

Text hier

Alte Musik – nur fürs Louvre?

Ja, und für alle Tage, auch in Zukunft, in allen Museen und Sälen, die wir lieben

Ein sehenswerter TV-Film (abrufbar nur bis Anfang August) https://www.arte.tv/de/videos/084732-000-A/die-musik-des-louvre/ hier

Jean de Cambefort: Ballet royal de la nuit (1653) „Languissante clarté“ ab 15:11 Ensemble Correspondances

Oder separat das Ensemble Correspondance bei Youtube als Appetizer:

Und für Unersättliche das ganze Konzert „am Stück“ – eine einzigartige Gelegenheit:

Oder mit bewegten Bildern: „Recording Tuesday the 28th of August 2018, in Tivoli Vredenburg during the Early Music Festival Utrecht 2018.“

Dank für einen dringlichen Hinweis von JMR!

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Das Wunschbuch (noch auf der Suche):

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Dies ist die Gelegenheit, auf eine Gedankensammlung aufmerksam machen, die ich Anfang dieses Jahres (2024) versucht habe und die allmählich uferlos zu werden drohte. Bis die Organisation „Zamus“ oder „Alte Musik in Köln“ der Arbeit ein Ende setzen konnte, – da die Veröffentlichung längst geplant war. An dieser Stelle hier könnte allerdings dereinst das erweiterte Konglomerat folgen, so dass ich den endlosen Faden nicht verliere. Denn die Alte Musik lebt, wie man sieht und hört. Gerade in einer Zeit, die wir als sehr „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) empfinden.

  hier

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In der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 8. Mai las ich gerade einen amüsanten Artikel über das Menuhin Festival in Gstaad, das mit klangvollen Namen eine Revolution in eigener Sache betreibe. Wie das?

Schon vor Jahren ließ Christoph Müller, Intendant des von Yehudi Menuhin gegründeten Festivals … durchblicken, dass er den Musikbetrieb gern umpflügen würde. Erneuerung sei unausweichlich. In zehn Jahren gebe es sowieso » keine reinen Klassikfestivals mehr«.

Womit ganz sicher nicht das gemeint ist, was anderswo als Lockerung empfunden wird:

Musik als Wellness-Artikel (ein überflüssiges Surplus)

Im Rittersaal des Mannheimer Barockschlosses wird seit 2015 eine Reihe mit „Traumkonzerten“ angeboten, bei denen das Auditorium am Boden liegt (jeweils ca. 90 Leute) ; tunlichst auf dem Rücken, – für Matratzen, Kopfkissen und Decken ist gesorgt -, denn es gibt zugleich ein Deckenfresco mythischen Inhalts zu bewundern. (Das Mahl der olympischen Götter bei der Hochzeit des Peleus und der Thetis.) Und das Kurpfälzische Kammerorchester spielt „Musik zum Träumen“, Kompositionen, „die jeweils so gewählt sind, dass der Zuhörer quasi von Stück zu Stück heruntergedimmt wird. Dazu passend hat unser Lichtdesigner Wolfgang Philipp eine Lichtinstallation entworfen, die ebenfalls zur Entspannung beiträgt“. Weitere Stichworte: „den Stress des Tages vergessen“, „eine wohlige Phase der Entspannung“, „ein nicht alltägliches Konzert tiefenentspannt genießen“.

All das erinnert an die Fama, dass die Goldberg-Variationen als Heilmittel gedacht waren für jemanden, der unter Schlafstörungen litt. Eine Taktlosigkeit sondergleichen, denn er hätte die aufgeweckteste Musik erhalten, die man je als wacher Mensch erleben kann. Aber – wie alle große Musik – besser nicht im Liegen. Und erst recht nicht mit einem unpassenden Fresco vor der Nase . . .

Exotisches bei Rousseau (vor 1770)

Aus meiner Sammlung (original)

Pindar, antike Musik + Roi de France

siehe hier „Rans de Vaches“? = „Savoyardlied“?

A Ranz des Vaches or Kuhreihen is a simple melody traditionally played on the horn by the Swiss Alpine herdsmen as they drove their cattle to or from the pasture. The Kuhreihen was linked to the Swiss nostalgia and Homesickness (also known as mal du Suisse „Swiss illness“ or Schweizerheimweh „Swiss homesickness“).

The Reverend James Wood, writing in the Nuttall Encyclopaedia in 1907, said that such a tune „when played in foreign lands, produces on a Swiss an almost irrepressible yearning for home“, repeating 18th century accounts the mal du Suisse or nostalgia diagnosed in  Swiss mercenaries. Singing of Kuhreihen was forbidden to Swiss mercenaries because they led to nostalgia to the point of desertion, illness or death. The 1767 Dictionnaire de Musique by Jean-Jacques Rousseau claims that Swiss mercenaries were threatened with severe punishment to prevent them from singing their Swiss songs. The Romantic connection of nostalgia, the Kuhreihen and the Swiss Alps was a significant factor in the enthusiasm for Switzerland, the development of early tourisme in Switzerland and Alpinism that took hold of the European cultural elite in the 19th century.

Chanson Persane

die Sitzordnung des Orchesters in der Oper zu Dresden

Wikipedia über Hasse:

Am 20. Juli 1730 heiratete Hasse die als „La nuova Sirena“ gefeierte Opernsängerin Faustina Bordoni. Vom 7. Juli bis 8. Oktober 1731 gaben beide ein Gastspiel in Dresden, wo Hasse am 13. September 1731 seine Oper Cleofide uraufführte. Unter den Zuhörern waren auch Johann Sebastian Bach und dessen ältester Sohn Wilhelm Friedemann, die auch in späteren Jahren häufig die Dresdner Hofoper besuchten, um „hübsche Liederchen“ zu hören, wie der Thomaskantor Hasses Arien leicht spöttisch nannte. König August der Starke verlieh Hasse den Titel eines „Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Kapellmeisters“.[2] Sein offizieller Dienstantritt fand am 1. Dezember 1733 unter dem neuen Herrscher August III. statt; bis dahin reisten Hasse und Faustina Bordoni weiterhin durch Italien und mehrten ihren Ruhm mit gemeinsamen Opernauftritten.

In seiner dreißigjährigen Amtszeit als Hofkapellmeister in Dresden formte Hasse das dortige Opernpersonal zu einem der Spitzenensembles der Zeit. Neben den Sängern mit Faustina Bordoni an der Spitze galt das von ihm neu organisierte Orchester als so vorbildlich, dass Jean-Jacques Rousseau den Sitzplan dieses Klangkörpers im Artikel Orchestre seiner Encyclopédie als Musterbeispiel veröffentlichte. Der königliche Hof in Dresden gewährte Hasse und seiner Faustina großzügige Freiheiten, damit sie auch in ihrer eigentlichen künstlerischen Heimat Italien ihre Kontakte pflegen konnten.

Erinnerung an Albert Camus

Lektüre (und parallel Audio) der frühen 1960er Jahre

 

nach (unangenehmer) Musik: ab 1:59 spricht (liest) Albert Camus  (1954)

https://archive.org/details/LEtrangerLuParAlbertCamus hier ???

Vollständiger französischer Text:

Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.
J’ai reçu un télégramme de l’asile : « Mère décédée. Enterrement de-
main. Sentiments distingués. » Cela ne veut rien dire. C’était peut-
être hier.
L’asile de vieillards est à Marengo, à quatre-vingts kilomètres
d’Alger. Je prendrai l’autobus à deux heures et j’arriverai dans
l’après-midi. Ainsi, je pourrai veiller et je rentrerai demain soir. J’ai
demandé deux jours de congé à mon patron et il ne pouvait pas me les
refuser avec une excuse [10] pareille. Mais il n’avait pas l’air content.
Je lui ai même dit : « Ce n’est pas de ma faute. » Il n’a pas répondu.
J’ai pensé alors que je n’aurais pas dû lui dire cela. En somme, je
n’avais pas à m’excuser. C’était plutôt à lui de me présenter ses
condoléances. Mais il le fera sans doute après-demain, quand il me ver-
ra en deuil. Pour le moment, c’est un peu comme si maman n’était pas
morte. Après l’enterrement, au contraire, ce sera une affaire classée
et tout aura revêtu une allure plus officielle.

Weiter im folgenden Link:

https://www.anthropomada.com/bibliotheque/CAMUS-Letranger.pdf HIER

Vollständiger deutscher Text (dieselbe Version, die ich damals gelesen habe)

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es
nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: «Mutter
verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.»
Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.
Das Altersheim liegt in Marengo, vierzig Kilometer von Algier
entfernt. Ich nehme den Zwei-Uhr-Omnibus und komme am
Nachmittag an. So kann ich alles erledigen, und morgen abend
bin ich wieder zurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage
Urlaub gebeten; bei einem solchen Anlaß konnte er ihn mir
nicht abschlagen. Aber einverstanden war er nicht, das sah
man. Ich sagte sogar: «Ich kann nichts dafür.» Er gab keine
Antwort. Da fiel mir ein, daß ich das nicht hätte sagen sollen.
Ich brauchte mich ja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er
mir kondolieren müssen. Aber das tut er sicher erst
übermorgen, wenn er mich in Trauer sieht. Einstweilen ist es
fast noch so, als wäre Mama nicht tot. Nach der Beerdigung
aber wird alles seine Richtigkeit haben und einen offizielleren
Anstrich bekommen.

Aufzufinden im folgenden Link: HIER

(https://machtderpolitentscheidung.files.wordpress.com/2014/01/albert-camus-der-fremde.pdf)

Albert Camus‘ Rede, gehalten nach Empfang des Nobelpreises, den er im Jahre 1957 erhielt. (Untertitelt mit englischer Übersetzung):

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos Wikipedia hier

(Fortsetzung folgt)

Debattenkultur – was ist los?

Es geht um schwere Geschütze in den Medien

LANZ-Sendung 29.September 2022: Über das Twittern (ab etwa 40:00)

17:40 MELANIE AMANN (an Precht): Als ich Ihr Buch gelesen habe, habe ich gedacht: ich glaube, da stehen viele Dinge drin, die viele Leute so denken. Da stehen aber auch viele Dinge drin, die … etwas mehr Recherche verdient hätten. Weil: Sie haben ja nicht systematisch ausgewertet, wie wir über den Krieg berichtet haben. Sondern Sie haben berichtet, wie Sie wahrnehmen, Sie haben beschrieben, wie Sie wahrnehmen, wie wir über den Krieg berichtet haben. Es ist ja nicht so, dass Sie da irgendwie jetzt in irgend ’ner Weise qualitativ quantitativ untersucht hätten, wie haben die Medien über den Krieg berichtet. (Precht: das geht ja doch gar nicht!) Doch, natürlich geht das! Das dauert halt ’n bisschen länger als zwei, drei Monate, ich weiß nicht, wie lange Sie gebraucht haben, das Buch zu schreiben, – es ist sozusagen wie ein geschriebener Podcast, in dem mal sozusagen dargestellt wird, wie die Welt so wahrgenommen wird. Und inhaltlich – würd ich sagen – dass die Positionen, die Sie einfordern, das Zögern, das Zweifeln, das Vor-Ort-Recherchieren, das Berichten, die Unsicherheit der Berichterstattung, das wurde umfassend thematisiert. Was sich auch wiederfindet, sind die unterschiedlichen Meinungen, über die wurde extrem – beim Spiegel, ich war ja teilweise selber beteiligt -, berichtet in allen Qualitätsmedien. Also der Vorwurf, dass abweichende Meinungen nicht stattfinden, der ist objektiv falsch. (Precht: Ja, den gibts auch nicht!) Wo man drüber diskutieren kann, was ich eher sehe, ist: haben die Journalisten selber in ihren Kommentierungen mehrheitlich eine Position gehabt oder haben sie eine Fifty-Fifty-Bandbreite von Positionen gehabt? da würde ich sagen: es stimmt, dass es ein Übergewicht einer Meinung gab, aber das ist im Journalismus eher selten. Also – Ihre Unterstellung, die ja leider der Verlagsankündigung ja so ’n bisschen mit diesem hässlichen nationalsozialistischen Wort der Selbstgleichschaltung umschrieben war, (LANZ: das ist aber ein Begriff, der im Buch nicht fällt -) ja, wir alle sind hier Buchautoren, und wir sind … 19:36

HIER

41:10 PRECHT Die Frage ist sozusagen, warum man Stilmittel, – wenn man gezwungen ist, sich auf 280 Zeichen zu reduzieren -, Stilmittel wie eben die extreme Personalisierung, die Dekontextualisierung, die Sätze aus dem Kontext reißen und mal kurz die Meinung dazu geben, – warum solche Dinge als Stilmittel auch in den Leitmedien auftreten, und das hat in letzter Zeit wahnsinnig zugenommen, und meine Kritik daran ist: nicht, dass der eine oder der andere beleidigt ist, sondern die Kritik daran ist: das geht auf Kosten unserer demokratischen Debattenkultur.

https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-29-september-2022-100.html

Und eine der Reaktionen aus den Medien

Jens Jessen ist ein Journalist, den ich schätze. Precht und Lanz kommen oft genug in diesem Blog vor, ich kann nicht leugnen, dass ihre Themen mich oft beschäftigen, was nicht bedeutet, dass ich ihrer Argumentation, ihren Diskussionen oder Gesprächen stets mit einhelliger Begeisterung folge. Ausdrücklich würde ich jederzeit gute Journalist:innen wie Melanie Amann und Robin Alexander hervorheben, die mindestens ebenso klar denken und reden wie der Gastgeber und der Philosoph.

Einstweilen warte ich allerdings begierig auf das neue Buch von Jürgen Habermas: hier „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ Suhrkamp Verlag – ZITAT:

Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien – maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels – zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.

Etwas ganz Anderes vom 6. 10.22

Eine Meldung von heute Morgen, die mich eigentlich nicht überrascht, aber sehr gefreut hat: Nobelpreis für Annie Ernaux. Hatte ich sie womöglich vergessen?

siehe im Blog hier, hier und hier.

Ich wollte alles sagen, über meinen Vater schreiben, über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe.

Daraufhin begann ich einen Roman zu schreiben, mit ihm als Hauptfigur. Mittendrin ein Gefühl des Ekels.

Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht »spannend« oder »berührend« schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der ich ein Teil gewesen bin.

Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfern. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten.

Aus: Annie Ernaux: Der Platz / Aus dem Französischen von Sonja Finck / Bibliothek Suhrkamp Berlin 2019 ( Seite 19f)

Und am 7.10.22 – als aktueller Epilog – am Tag des Friedensnobelpreises

Mehr darüber: hier von Jan Dafeld / Shervin Hajipours Song „baraye“ entwickelt sich zur Hymne der Protestwelle im Iran. Tausende singen das Lied bei Demonstrationen, iranische Schülerinnen stellen ihre eigene Version ins Netz. Das Video des 25-Jährigen wird wenig später gelöscht, der Künstler festgenommen. (Quelle RTL News)

Andere Quelle: hier (DW Akademie)

*      *      *

12. Oktober 22 Habermas – Neu, endlich angekommen (schon 2. Auflage):

Allerdings: prüfen Sie doch bitte, ob die Seiten, die in meinem Exemplar doppelt vorhanden sind – Seite 81 bis 96 -, womöglich anderswo fehlen…

Und wenn Sie gerade die Lektüre unterbrechen, – informieren Sie sich vielleicht auch bei Wikipedia, was über „Deliberative Demokratie“ vorweg zu lernen ist…

 

Flaubert

Zum Abrufen

https://www.arte.tv/de/videos/100271-000-A/der-fall-emma-bovary/

HIER bis 14.3.22

Pressetext:

Der Fall Emma Bovary

„Madame Bovary“ ist der Debütroman von Gustave Flaubert und sorgt bei seinem Erscheinen 1856 für einen Sturm der Entrüstung. Die kritische Zensur macht dem Autor den Prozess. Der Anklage zufolge verherrliche der Roman den Ehebruch. Die Verteidigung argumentiert, dass er den Schrecken der Sünde darstelle. Eine Ikone der Literaturgeschichte wird geboren: Emma Bovary.

Das Leben von Madame Bovary ist bis zum letzten Atemzug ein Skandal: Mit ihren Seitensprüngen, ihren Schulden, ihrer Liebeslust und ihrem Selbstmord widerspricht sie allen Stereotypen der (Ehe-)Frauen ihrer Zeit. Gustave Flauberts erster Roman beschert ihm sogleich einen Prozess wegen Unsittlichkeit vor dem Pariser Kriminalgericht.
Der Staatsanwalt Ernest Pinard argumentiert, dass der Roman durch die Darstellung des unmoralischen Lebens einer Frau zur Sünde anstifte und eine Gefahr für Leserinnen darstelle. Vor Gericht liest er die skandalösesten Ausschnitte vor und untersucht sie minuziös auf die Absichten des Autors. In den außerehelichen Eskapaden sieht er eine Verherrlichung des Ehebruchs. In Emma Bovarys Versuchen der Rückkehr zur Religion, in der das Heilige mit dem Fleischlichen einhergeht, erkennt er eine blasphemische Dimension. Neben Flaubert sitzt auch Madame Bovary auf der Anklagebank.
Flauberts Anwalt führt die intensive, fünf Jahre währende Arbeit des Schriftstellers ins Feld. In Croisset, am Ufer der Seine, bei seiner Mutter und fernab von der übrigen Welt, von seinen Geliebten und allen Frauen, die ihn inspiriert hatten, hatte sich Gustave Flaubert mit Leib und Seele seinem Werk gewidmet, war nur selten zufrieden, oft von Angstzuständen gepeinigt.
Zum Missfallen von Pinard gewinnen der Schriftsteller und seine Heldin den Prozess. „Madame Bovary“ ist mehr als 900 Mal übersetzt worden und zählt zu den meistgelesenen Romanen der Welt, der Filmschaffende rund um den Globus immer wieder inspiriert hat. Mit vielen Filmausschnitten und Zitaten erzählt die Dokumentation die Geschichte des Falls Bovary. Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Verleger und Verlegerinnen sowie Regisseure und Regisseurinnen beschäftigen sich mit dem Schicksal jener leidenschaftlichen Heldin, deren Leben zwischen Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen und Eskapismus so leichtfertig wie tragisch verläuft.

Regie : Audrey Gordon

Der Film https://www.arte.tv/de/videos/029911-000-A/madame-bovary/

HIER  bis 5.10.21

Madame Bovary (Film)

Pressetext (ARTE):

Frankreich um 1850: Die unglücklich verheiratete Emma Bovary stürzt sich aus Langeweile in Liebesabenteuer und zerbricht an der provinziellen Enge ihres Lebens. – Mit „Madame Bovary“ hat der französische Filmregisseur Claude Chabrol 1991 den gleichnamigen Roman (1856) von Gustave Flaubert verfilmt.

Für Emma Bovary wird eine Einladung auf einen rauschenden Ball zum schönsten Moment ihres Lebens. Doch am nächsten Morgen holt sie der Alltag wieder ein. Charles weiß die Sehnsucht seiner jungen Frau nicht zu deuten: Hat sie nicht alles, um glücklich zu sein? Vielleicht fehlt ihr das Stadtleben mit seinen Abwechslungen und Zerstreuungen. Das Paar zieht schließlich nach Yonville, einem Vorort von Rouen, wo in der Tat mehr Geschäftigkeit herrscht und wo Emma neue Menschen kennenlernt, so den stets dozierenden Apotheker Homais und den jungen Léon Dupuis, der Musik und Gedichte liebt. Auch Emma schwärmt dafür, vor allem aber fühlt sie sich in Léons Gesellschaft wohl. Doch Léon reist nach Rouen, um dort seine Notarausbildung abzuschließen. Nun fühlt sich Emma noch einsamer. Auch die Geburt ihrer Tochter gibt ihr keinen neuen Lebensinhalt; sie kümmert sich kaum um das Kind. Der treu ergebene Charles geht ihr auf die Nerven, auch von Pfarrer Bournisien fühlt sie sich unverstanden. Auf der Bauernmesse lernt sie den leichtlebigen Gutsherrn Rodolphe Boulanger kennen und lässt sich von ihm verführen. Die junge Frau träumt von einem neuen Lebensglück – mit Rodolphe. Doch der denkt nicht im Entferntesten daran, sondern verlässt sie. Emma tröstet sich mit verschwenderischen Einkäufen über den Verlust hinweg und lässt sich vom Stoffhändler Lheureux teure Ballkleider fertigen. Bei einem Theaterbesuch in Rouen trifft sie zufällig Léon und wird seine Geliebte. Doch inzwischen ist sie hoch verschuldet und Lheureux droht, ihre Habe und das Haus des völlig arglosen Charles Bovary zu pfänden. In ihrer Not fleht Emma Rodolphe und Léon um Hilfe an, doch vergeblich. Völlig verzweifelt beschafft sie sich bei Apotheker Homais Arsen.

Regie : Claude Chabrol / Drehbuch : Claude Chabrol / Musik : Matthieu Chabrol / Wiki

  • Isabelle Huppert (Emma Bovary) / Jean-François Balmer (Charles Bovary)

Couperin „Prélude“

Zum französischen Stil der Bach-Zeit oder: „Premier Concert Royal“ Interpretationen

Hier folgt etwas Studienmaterial. Das besagte Prélude nicht einmal vollständig; wer es einstudieren will, wird die Noten anderswo finden. Ein Kommentar eventuell später. Ich beziehe mich auf den neuesten Band Musik & Ästhetik. Eine Fußnote darin verweist auf den folgenden, hochinteressanten Essay, der mich bereits arbeitswillig genug stimmt. Mich fasziniert an dem ganzen Projekt das Ineinandergreifen von Musikwissenschaft und Praxis. Und all dies natürlich wie immer mit Blick auf Bach. (Auf die Französischen Suiten, auf die Solo-Partiten für Violine in h und E, auf das Thema der Goldberg-Variationen. Außerdem dachte ich vorübergehend an das Thema des Mittelsatzes im Brandenburg-Concerto VI.)

https://www.forschung.schola-cantorum-basiliensis.ch/de/publikationen/menke-franzosische-satzmodelle.html hier

Letztlich ist es dieser Artikel, der den Ausschlag gibt, der französischen „Klassik“ wieder größte Aufmerksamkeit zu widmen. Lully, Rameau, Campra, Marais, Couperin, zuletzt hier. Jetzt aber auch analytisch: Eine Harmonielehre, die dem Eigenwert der Akkorde gerecht wird und Dissonanzen nicht voreilig als bloße Vorhalte deutet, – was mir näher lag. Vielleicht fällt von hier ein neues Licht auf die Fama, dass Bach sich vom System Rameau distanzierte. (C.P.E. Bach bezeichnete bekanntlich die musiktheoretischen Grundsätze seines Vaters als „antirameauisch“, was aber nicht wirklich belegt ist. Er hatte französische Musik schon in Lüneburg kennen und spielen gelernt.)

Quelle: Musik & Ästhetik Heft 99 Juli 2021 Jörg-Andreas Bötticher und Johannes Menke: »D’une autre Espèce« Überlegungen zum Prélude aus dem Premier Concert Royal von François Couperin

Hörbeispiele – dem obigen Notenbeispiel entsprechend, aber etwas planlos aus dem Youtube-Angebot ausgewählt. Die Irritation beginnt schon dort, wo ich nicht sicher unterscheiden kann, ob die Melodiestimme – mit feinsten Verzierungen – von der Flöte allein gespielt wird oder im perfekten Einklang mit der Violine oder überhaupt anderen Instrumenten. Wie ist es gemeint?

Sonstiges zur Belebung der Geschichte

… haben? hier Oder dies, ebenfalls Lully:

Dazu der Wikipedia-Artikel: HIER

Libretto (in französischer Sprache) hier

Neue Produktion 2019 hier (bei jpc mit Trailer und Anspielmöglichkeit)

Wie Goebel in Frankreich

1975 und heute

das früheste Cover (Detail)

.    .    .    .    . der Goebel-Text 1975

das Programm 1975

*    *    *

Le Parnasse Français

.    .    .    .    . .    .    .    .    . der Goebel-Text 1978

Archiv LP 1978 (Ausschnitt)

das Programm 1978 (LP Cover Ausschnitt)

Reinhard Goebel und königliche Meister

was das nun wieder ist? … ein kleiner Umweg über Innsbruck HIER

TEXT 2015 ©RG

Pars pro toto: welch eine wundervolle Idee, unter dem 1978 zweifellos recht großmundigen Titel meiner ersten „französischen“ Aufnahme für die Archiv-Produktion – Le Parnasse Français – heute die Sammlung sämtlicher französischen Musiken, die ich in den folgenden 25 Jahren dann für das Label machte, zusammenzufassen.

In der Tat ist das, was Musica Antiqua Köln und ich innerhalb eines Vierteljahrhunderts für die Archiv-Produktion aufnahmen, so etwas wie die die Blütenlese der französischen Instrumentalmusik unter dem Sonnenkönig und seinem Nachfolger Louis XV. Und sehr schwer nur, ja kaum noch kann man sich heute vorstellen, mit welchem Befremden das Publikum der 1970er Jahre dieses Idiom selbst in Frankreich zur Kenntnis nahm, wurde doch Barockmusik grundsätzlich mit maschinell ratternden Abläufen „à l’italien“ gleichgesetzt.

Nun also ein verstörend neuer Ton von Diskretion & Leichtigkeit & gespreizter Verfeinerung, eigentlich unbarocker Zurückhaltung und gezügelter Affekte. Selten wird diese Musik so elementar traurig oder auch so mitreißend jubelnd, wie die von Bach, Telemann und Heinichen, immer bleibt sie dem Theater, dem Rollenspiel und verklausulierter Gestik verpflichtet – evoziert augenblicklich bei aller Bewunderung immer auch freundliche Distanz. Weder reißt sie uns in die Tiefen tränenüberströmten Leidens hinab, noch katapultiert sie uns auf direktem Weg in den Himmel…

Schwer vorstellbar im digitalen Zeitalter ist auch, unter welchen Bedingungen man vor dieser Zeitenwende unveröffentliche Musik aufarbeitete! Filme und Fotos von Musikalien herzustellen, dauerte Wochen, manchmal Monate, – und so fuhr ich anfangs mit dem Nachtzug nach Paris und deckte mich im Lesesaal der Bibliothèque Nationale in der Rue de Richelieu mit billigen, schnell verblassenden Fotokopien der Stimmbücher ein, die gleichwohl noch in moderne Partitur übertragen werden mussten: eine extrem zeitaufwendige, aber ebenso befriedigende und vor allem beruhigende Arbeit, die mich mein gesamtes Musica-Antiqua-Leben hindurch an den Schreibtisch fesselte.

Damals, als sich die Laden-Regale der Musikalien-Handlungen in aller Welt noch nicht unter der Last hunderter überflüssiger Faksimiles bogen, als die bizarrsten Repertoire-Wünsche und sämtliche Autographe Bachs noch nicht nur einen mouse-click und ein download entfernt waren, entwickelten wir in unserem Ensemble zu jeder Komposition eine persönliche Beziehung – und wir waren enorm stolz auf unser wirklich einzigartiges Repertoire, welches Bewunderung, Neid, manchmal aber auch – besonders bei jenen hardlinern, die nach wie vor glaubten, Musik sei „die deutscheste der Künste“ – Unverständnis und Häme hervorrief.

Für meine Kollegen und mich vergrößerte sich mit jeder neuen Komposition französischer Provenienz sowohl die Liebe zu unseren lateinischen Nachbarn und ihrer wunderbaren Kultur – gleichzeitig änderte sich auch der Blickwinkel auf den heute so grotesk überbewerteten Kultur-Transfer zwischen Frankreich und Deutschland: veritable Frankreich-Begeisterung gab es zwischen 1680 und 1690. Um 1700 waren die Wellen der Begeisterung längst abgeebbt und all die Neuigkeiten, die die französische Staatsmusik den verarmten Nachbarn vermittelt hatte, bereits derartig inkorporiert und amalgamiert, daß man nur noch von einem „vermischten Geschmack“ sprechen kann.

Le Parnasse Français – ein kaum über das Stadium der Kopfgeburt hinausgekommener Plan eines Denkmals für Louis le Grand, zu ihm als Apollo seines Zeitalters aufblickend u.a. die Dichter Moliere, Corneille, Quinault , Racine und als einziger Komponist Jean Baptiste Lully – wurde im Laufe des langen Lebens seines Schöpfers Titon du Tillet (1677 – 1762) fortwährend in Buchform weiter entwickelt ( „Suite du Parnasse Français“ 1727/32/43 und 1755 ) und personell bereichert: trat Lully noch in Person auf, so wurden die Nachkömmlinge nur noch in Form von Porträt-Medaillons an den Felsen Parnass gehängt und das Projekt entzog sich durch Übervölkerung und zu erwartender Kosten-Explosion einer finalen Realisierung.

Es versteht sich, daß in den exklusiven Zirkel zu Füßen des großen Königs nur Schüler und Epigonen des bereits 1687 verstorbenen Lully aufgenommen wurden – immerhin mit Elisabeth Jaquet de la Guerre auch ein Frau !! – und alle diejenigen lange, bzw. für immer ausgeschlossen blieben, die sich irgendwelcher Italianismen verdächtig oder sogar schuldig gemacht hatten. Überhaupt fand man erst nach dem Tode Aufnahme in den Parnass – wobei für Voltaire dieses eherne Gesetz selbstverständlich gebrochen wurde.

All denjenigen Komponisten, die die Stagnation des französischen Musikgeschmacks beklagt und die Öffnung hin zum italienischen Idiom gefordert oder gar praktiziert und somit für Wandlung und Fortschritt gesorgt hatten – wie den Musikern des „Style Palais Royal“ Forqueray, Blavet, Leclair und Couperin – blieb der Parnass ebenso verschlossen wie dem im Dresdener Orchester spielenden Pierre Gabriel Buffardin. Der vermeintlichen Preisgabe veritabler französischer Werte folgte die Damnatio Memoriae als gerechte Strafe.

Unser „Parnass Français“ aus deutschem Blickwinkel ist also im Wesentlichen von Dissidenten bevölkert – Komponisten, die man noch nicht einmal aus Gnade in die zweite Reihe stellte, wie den in Rom ausgebildeten, in Paris zeitlebens marginalisierten Charpentier. Erstaunlich aber ist, daß der „Paix du Parnasse“ – ein auf enormer Stilhöhe gewähltes Kompositions-Emblem des François Couperin „le Grand“ – nur zwischen den Lateinern Lully und Corelli besiegelt wurde und die Leistungen deutscher Komponisten überhaupt nicht zur Sprache kamen. Unüberbrückbar tief waren die jahrhundertelang ausgehobenen Gräben zwischen den Franzosen und den Deutschen, die sich dennoch beide auf Charlemagne, Karl den Großen als Reichsgründer beriefen: Telemanns Gastspiel 1737/38 in Paris und Voltaires Aufenthalt in Potsdam 1750/53 blieben rühmliche Ausnahmen in einem ansonsten immer frostigen Klima zwischen den beiden Völkern.

Ohne sentimentale Übertreibung darf ich sagen, daß es meine Nachkriegs-Erziehung war, die diese anhaltende tiefe Liebe zur französischen Kultur auslöste – durchaus mitvollzogen von meinen internationalen Kollegen im Ensemble Musica Antiqua Köln. Uns alle hat die lange Beschäftigung mit der französischen Musik vor allem im ersten Jahrzehnt unserer Bühne-Präsenz ungeheuer bereichert, unsere Telemann-Interpretation bestimmt, sowie Ohren und Herz für das geöffnet, was man im 18. Jahrhundert hierzulande „vermischten Geschmack“ zu nennen pflegte.

Nach 15 Jahren Abstinenz – nach 1985 befassten wir uns fast ausschließlich mit dem Erbe deutscher Musik – dann im Jahr 2000 den Soundtrack für Gérard Corbiaus Film „Le Roi danse“ beisteuern zu dürfen, war weitaus mehr als nur ein Engagement unter vielen, es war mehr als nur die Rückkehr zu den Wurzeln, mehr als nur ein déjà-vue: ich fühlte mich veritablement in den „Parnasse Français“ erhoben – und es war eine fabelhafte Zusammenarbeit, an die ich immer mit größter Freude zurückdenken werde.

Somit erneut enthousiasmiert für die französische Kunst widmeten wir uns dem instrumentalen Schaffen Marc Antoine Charpentiers, dessen Todestag sich 2004 zum 300. Male jährte. Diese Aufnahme war der Schwanengesang des Ensembles: ich verabschiedete mich vom Parnass herab und erklomm stattdessen die Treppenstufen zur „Salle des Suisses“ im Palais des Tuileries. Aus meinem alten Leben nahm ich die Liebe zur französischen Kunst in mein neues Leben mit – und habe im Repertoire des „Concert Spirituel“ einen neuen Forschungs-Mittelpunkt gefunden.

rg

Texte wiedergegeben mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Reinhard Goebel ©2021