Archiv für den Monat: September 2015

„Wir sind alle Layla“ – Wer ist Latifa az-Zayyât?

Ein Essay von Hans Mauritz

HM layla

„Die Mutter Courage Ägyptens“

Latifa az-Zayyât  (لطيفة الزيّات 1996 -1923-) gehört zu den bedeutendsten Frauen des 20.Jahrhunderts in der arabischen Welt (1) . Als politische Aktivistin, Kämpferin für nationale Unabhängigkeit, als Schriftstellerin, Sozialistin und Feministin ist sie auch 20 Jahre nach ihrem Tod einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Als Studentenführerin bei den Demonstrationen gegen die britischen Besatzer, den König und die mit ihnen verbündeten Regierungen ist sie zu einer Ikone der Revolution geworden. Ihr Roman „Das offene Tor“ wurde bei seinem Erscheinen 1960 gefeiert als „ein kühnes Manifest für die Befreiung der Frau“ (2) und von der Union der arabischen Schriftsteller in die Liste der besten arabischen Romane des 20.Jahrhunderts aufgenommen. Ihr politisches Engagement hat sie mit Verfolgung und Gefängnis bezahlt: einmal unter der Monarchie im Jahre 1949, das zweite Mal 1981 unter Anwar as-Sadât. Wenige Monate vor ihrem Tod verlieh ihr die ägyptische Regierung den Staatspreis für Literatur. Bei dieser Gelegenheit erklärte der bekannte Literat und spätere Kulturminister Gaber Asfour: „Latifa az-Zayyât ist nicht nur eine Schriftstellerin von hohem Rang, sondern auch eine mutige politische Kämpferin. Während eines halben Jahrhunderts war sie aktiv an den wichtigsten historischen Ereignissen beteiligt. Sie verdient daher nicht nur diese höchste literarische Auszeichnung – Latifa az-Zayyât müsste zudem der Ehrentitel ‘die Mutter Courage Ägyptens‘ verliehen werden.“ (3)

Von heutigen Schriftstellern wird ihr Name mit Wehmut genannt, wenn ihnen bewusst wird, wie sich die gesellschaftliche Stellung der Frau in den letzten Jahrzehnten verändert hat. In einem 1998 erschienenem Roman von Mona Prince (4) beklagt die Protagonistin im Augenblick, da sie ihre Koffer packt, um nach Indien abzureisen, weil sie in Ägypten zu ersticken droht: „Latifa az-Zayyât führte in den 40er Jahren die Studentenbewegung an, und wir sprechen heute über den Schleier und darüber, dass die Frauen zu Hause bleiben sollten. Wie läuft eigentlich die Zeit, vorwärts oder rückwärts ?“ Dreizehn Jahre später nimmt die ägyptische Geschichte eine unverhoffte Wende: Mona Prince ist eine von hunderttausend Frauen, die im Januar 2011 auf der Strasse für „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ demonstrieren (5).

HM Mona Prince auf dem Tahrir

Hätte Latifa az-Zayyât noch gelebt, hätte sie sich wohl in vielen dieser Frauen wiedererkannt. Wer Latifas Leben nachzeichnet, wird immer wieder auf die Gegenwart verwiesen. Die späten 30er und die 40er Jahre sind als „Jahre der Jugend“ in die Geschichte eingegangen. Die Fakultäten waren Zentren der politischen Aktivität und Rebellion. Am 21.Februar 1936 rasen britische Panzer in die demonstrierende Menge, und zwar auf jenem Platz, der damals noch „Isma’iliya Square“ hiess und später in „Midân al-Tahrir“ umgetauft wurde. Latifa az-Zayyât wird für unsere Studie eine Kronzeugin der wichtigsten Ereignisse im Ägypten des 20. Jahrhunderts werden.

„Das grosse, alte Haus“

Die Lebensgeschichte der Schriftstellerin, ihre Überzeugungen und ihr lebenslanger Kampf dafür sind stark geprägt von ihrer Kindheit. Von den ersten sechs Jahren ihres Lebens, die sie in der Stadt Dumyât دمياط (=Damietta) verbracht hat, berichtet sie im ersten Kapitel ihrer autobiografischen Schrift „Durchsuchungen“(6) . Im Mittelpunkt steht dabei mehr ihre Familie und ihr Elternhaus als das Mädchen selbst. Thema ist der Niedergang einer Familie und einer Gesellschaftschicht, die „versandet“, „versteinert“ ist, die „lebt“, als sei sie längst gestorben, weil sie den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen des Landes nicht gewachsen ist.

Latifa hat von 1923 bis 1929 in diesem Haus gelebt und ist jedes Jahr in den Ferien dorthin zurückgekehrt. Das von ihrem Urgrossvater erbaute Haus war einst prunkvoll wie ein Schloss gewesen und hatte in seinem Spiegelsalon hohe Gäste und eine trinkfreudige Männerrunde bewirtet. Aber das pulsierende Leben ist längst erstorben und das Haus so heruntergekommen, „dass man nicht einmal mehr den äusseren Anschein beibehalten konnte.“ In Latifas späterem Urteil war es eigentlich gar kein Haus mehr, „sondern eine Gedenkstätte für ein Haus, eine Art Grabstein für eine Zeit, die unter dem Druck von Veränderungen unwiederbringlich ihr Ende gefunden hatte“.

Reich geworden war die Familie durch ihre Segelschiffe, mit denen sie Handel mit der Levante betrieb. Aber die Zeit der Segler ist vorbei, der Hafen von Dumyât versandet, und die Schiffe werden auf den Sandbänken zerrieben. Latifas Vater will diese Veränderung nicht wahrhaben. Während andere mit der Zeit gehen, Ländereien aufkaufen oder in Textilfabriken investieren, schaut der Vater apathisch zu, wie „das Rad der Veränderung erbarmungslos“ über die Familie und ihren Besitz hinwegrollt.

Dem Verfall des Hauses entspricht jener seines Besitzers. In Latifas autobiografischen Aufzeichnungen wie auch in ihren Romanen erscheint der Vater als Repräsentant einer Mittelschicht, die keine Zukunftsvision mehr hat. (7) Aus dem lebenslustigen Jüngling, der von der See und fernen Häfen träumte, ist ein Mann geworden, der mit zittriger Stimme sein Gebet spricht und „jedem im Haus seine eisige Ruhe aufzwang“. Sein Gesicht ist maskenhaft, und „auf seinen Augen lag ein Tränenschleier, der im Lauf der Zeit versteinerte“. Seine psychische Verfassung färbt auf die Familie ab. Der Blick der Grossmutter ist wie der einer Statue, und die Mutter schleicht eingeschüchtert durch das alte Haus. Nur Latifa, das kleine Mädchen, „flog durch die Luft, tanzte seinen wilden Tanz (…) tatendurstig und explosiv wie eine Bombe“. Kein Wunder, dass in ihren Erinnerungen das alte Haus die Idee des Todes evoziert. Ein Symbol von Verfall und Tod ist auch der unterirdische Wasserspeicher, der einst die Familie und die Nachbarschaft versorgte, bevor „die Regierung“ ihnen Wasser in die Häuser lieferte. Die Zisterne verlor ihren Sinn, trocknete aus und verfiel. Nur der Vater stieg noch regelmässig hinab, und auch Latifa selbst hat mehrmals die Zisterne aufgesucht: „ich habe das vollkommene Nichts gefunden“.

In ihrem Roman „Das offene Tor“(8) verknüpft die Autorin drei grosse Themen: die historischen Ereignisse der Dekade 1946-1956, die Entwicklung eines jungen Mädchens auf der Suche nach seiner Identität und die Kritik an der ägyptischen Mittelschicht, die den Fortschritt des Landes behindert . Layla stammt nicht aus der Provinz, sondern aus der städtischen Bourgeoisie von Kairo. Diese Gesellschaftsschicht, früher stark und tonangebend, wird als eine abseits stehende, von der Zeit überholte und sterbende Klasse dargestellt. Der Vater, Sulayman Effendi, Beamter im Finanzministerium, hat ein bleiches Gesicht mit zitternden Lippen, und seine Augen sind „so verwelkt, als starrten sie aus einem Leichnam heraus“. Diese Gebrechlichkeit hindert ihn nicht daran, seine väterliche Autorität mit äusserster Strenge auszuspielen. Der Augenblick ihrer ersten Menstruation heisst für Layla: nicht mehr allein ausgehen, von der Schule direkt nach Hause kommen und keinen Besuch empfangen. Erst im Verlauf der Jahre realisiert sie, „dass eine Frau werden bedeutete, in ein Gefängnis einzutreten, in welchem die Grenzen des Lebens klar und entschieden festgelegt waren.“ Laylas Mutter, die an der Seite ihres Mannes ein unscheinbares und verängstigtes Leben führt („so ruhig, so leise, mit so einer tödlichen Friedlichkeit“), obliegt es nun, ihre Aufgabe wahrzunehmen: sie muss ihre Tochter die „Grundlagen“ lehren, die Regeln dessen, was sich für ein Mädchen geziemt. Wenn die 17jährige von der Schule heimkommt – „Ihr Gesicht strahlte vor Bewegung, Lebhaftigkeit und einem leuchtenden Glanz“ – bringt das Nörgeln der Mutter sie in die Realität zurück. „Dann würde ihr Vater erscheinen, schweigsam, ausdruckslos, um jedem in der Wohnung seine tödliche Stille aufzuerlegen.“ Erst wenn Mahmud, Laylas älterer Bruder, aus der Fakultät nach Hause kommt, fällt die Maske vom Gesicht des Vaters, und seine Augen lassen Zuneigung erkennen.

Die Heuchelei und verborgene Brutalität dieser Gesellschaft wird deutlich am Verhalten von Laylas Tanten und Cousinen, die zum wohlhabenden Zweig der Familie gehören. Eine dieser Tanten hat ihre Tochter, wie sich das geziemt, mit einem ungeliebten, aber reichen Mann verheiratet. Statt ihr im Augenblick der Verzweiflung ihre Tür zu öffnen, treibt sie die junge Frau in den Selbstmord. Die Mutter zeigt trotzdem keine Reue: sie hat das Spiel gespielt, die Regeln befolgt und den Skandal einer Scheidung verhindert. „Was wichtig war, war der äussere Anschein.“ Diese Regeln sind von elementarer Einfachheit: der Wert eines Mannes wird bestimmt von Stellung und Besitz, der Wert einer jungen Frau von ihren Chancen auf dem Heiratsmarkt.

Der zynische Egoismus dieser Menschen zeigt sich, als Freiwillige an den Suezkanal ziehen, um gegen die Briten zu kämpfen. Während die jungen Patrioten ihr Leben opfern, stürzt sich die „feine Gesellschaft“ in den Ausverkauf: „Uff, ich wäre fast erstickt (…) Dies ist kein Ausverkauf, meine Liebe, dies ist Krieg! Die wahren Guerilleros, das sind wir!“ Dieses Verhaltensmuster wird die Zeit überleben: auch in den Ereignissen von 2011 ging das Treiben in den schicken Boutiquen von Kairo-Downtown munter weiter, während ein paar Strassen weiter Menschen ihr Leben riskierten.

Samiya, die Hauptperson im Roman „Der Besitzer des Hauses“(9), trägt noch deutlicher als Layla autobiografische Züge. Sie ist durch ihren Mann zur Aktivistin und zu einer von der Polizei Gejagten geworden. Als der Mann verhaftet wird, fleht ihre Mutter sie an, ins „alte Haus“ zurückzukehren. Samiya lehnt ab, spürt aber insgeheim das Verlangen, dem Wunsch der Mutter zu entsprechen: „Wenn Mohammed wüsste, dass sie sich manchmal während all der Zeit, die sie allein war, nach dem alten Haus und seiner endlosen Sicherheit gesehnt hatte, nach der Monotonie, die von nichts unterbrochen und von der Welt draussen kaum berührt wird, nach dem Schweigen, das über dem alten Haus liegt, (…) nach dem Gebetsruf vom Minarett (…), nach einem Platz, wo man nicht länger zu denken braucht, etwas organisieren oder auf etwas warten muss“.Später, als beide fliehen und sich verstecken, lebt Samiya in panischer Angst vor jenem geheimnisvollen „Hausbesitzer“, dem die Untergetauchten auf Gedeih und Verderben ausgeliefert sind. Schliesslich fasst sie einen Entschluss, der so gar nicht dem Credo ihres Mannes entspricht „Ich will nach Haus.“ Sie will Zuflucht suchen im Kreis der schwarz gekleideten Frauen ( „immer in Trauerkleidung. Was hatten die eigentlich verloren? Sie weiss es nicht.“) Aber dann erwacht wieder die Kämpferin in ihr. Wie eine Wahnsinnige fällt sie über den Hausbesitzer her, der zum Sinnbild wird für alle, die anderen Gewalt antun: „Obwohl sie nicht wusste wann und wo, konnte sie fühlen, dass der Hausbesitzer immer irgendwie bei ihr gewesen war und ihr immer und ewig die Regeln seines Spiels diktiert hatte. Sie fragte sich: an was und an wen erinnerte sie dieser Mann? An den Souverain? An ihren Vater? An den Prediger in der Moschee, der mit Höllenfeuer und Verdamnis drohte? Den Lehrer, der von ihr verlangte, ihre Hände zur Inspektion auszustrecken?“ Dieser Kampf endet mit Samiyas Triumph: „Vater, Mutter, Grossmutter, Minarett, das unser altes Haus überragt, ihr alle: ja, ich lebe, trotz euch lebe ich.“ Wie wir sehen werden, ist dieses Schwanken zwischen Sehnsucht nach Sicherheit und Harmonie auf der einen und Kampf gegen aufgezwungene Regeln und für ein selbstbestimmtes Dasein auf der anderen Seite eine Konstante im Leben Latifa az-Zayyats.

„Das Böse“

Als Latifa sechs Jahre alt ist, wird ihr Vater in die Stadt Mansura versetzt. Da sie begierig ist,“Unbekanntes kennenzulernen (…) neue Horizonte und Lebensbereiche zu entdecken“, verlässt sie freudig das alte Haus und die Stadt Dumyât, beweint von der Sippe und ihren schwarz gekleideten Frauen: „In unserer Stadt stirbt eine Frau in dem Haus, in das sie hineingeheiratet hat. Niemand zieht weg in die Fremde, und Reisen gilt geradezu als qualvoll.“ Im Jahre 1934 hat das elfjährige Mädchen ein Erlebnis, das ihr künftiges Leben prägen wird. Vom Balkon des Hauses wird sie Zeugin einer Demonstration, die in Zusammenhang steht mit den Auseinandersetzungen jener Zeit zwischen der Jugend auf der einen und dem König, der britischen Besatzungsmacht und der mit ihnen verbündeten Regierung auf der anderen Seite. Diese schickt ihre Polizei, um mit Knüppeln und Gewehren die Demonstration aufzulösen. Das Mädchen sieht mit an, wie vierzehn Demonstranten getroffen werden und verbluten.

„Ich schreie meine Machtlosigkeit hinaus (…) Ich werfe das Kind von mir ab, das Mädchen wird vor der Zeit reif, belastet durch ein Wissen, das die Enge des Hauses sprengt und das gesamte Land umfasst. Mein künftiger Lebensweg wurde damals festgelegt. (…) Das Würgen meiner Stimme peinigt mich, und eine unklare Hoffnung treibt mich: immer fähig zu sein, zu allem Unrecht in der Welt nein zu sagen. (…) als das Mädchen vierzehn Opfer zählte (…), wurde aus dem Kind ein Mädchen, das das Böse auf der Ebene des Staates kennenlernte.“

Der Kampf gegen das Böse und das Nein-Sagen nimmt konkrete Formen an, als Latifa az-Zayyat im Jahre 1942 ihr Anglistik-Studium an der Universität von Kairo aufnimmt. Die schüchterne, unbeholfene Studentin macht eine erstaunliche Entwicklung durch: sie tritt der kommunistischen Bewegung ISKRA („der Funke“, arabisch الشرارة) bei (10). „Als die Nationale Bewegung an der Universität zu revolutionären Dimensionen anschwoll, hielt sie flammende Reden (…) Sie organisierte Veranstaltungen, führte Demonstrationen an (…) Sie spürte kein Minderwertigkeitsgefühl mehr, als Studenten und Studentinnen sie in freien Wahlen immer höher hoben und sie schliesslich (…) als ihre Vertreterin in die Nationale Studenten- und Arbeiterkommission entsandten“ Gegen ihren Willen wird Latifa az-Zayyat zur Vordenkerin und Führerin, zum Mythos und zur Ikone der revolutionären Jugend. Als solche ist sie bis heute im Bewusstsein der Ägypter lebendig geblieben.

Noch einmal ist es eine Demonstration, die zum prägenden Erlebnis wird. Als im Jahre 1946 ein Protestzug die Abbâs-Brücke in Kairo überquert, erteilt die Regierung Schiessbefehl: Panik bricht aus, die Brücke senkt sich, und die Studenten werden von der Polizei in den Nil hinab geknüppelt. Latifa war präsent in diesem „Meer aus jungen Leuten“ (…) „ganz Freude (…) entschiedene, tätige Kraft“. Nach der Katastrophe sitzt sie am Ufer, bis die Taucher die Leichen geborgen haben, und hüllt die Körper in die Fahne Ägyptens ein. Zum ersten Mal versteht sie, wie „das Böse“ funktioniert: „Die Gewaltausübung der Machthaber und diejenige von Killern und Räubern sind ein und dasselbe.“ (11)

Auch im „Offenen Tor“ beginnt Laylas Weg mit der Teilnahme an politischen Demonstrationen. Als im Februar 1946 ein Generalstreik ausgerufen wird und es zu blutigen Auseinandersetzungen mit den britischen Besatzern kommt, ist sie elf Jahre alt, zu jung, um mit Studenten und Arbeitern zu demonstrieren. Aber ihr älterer Bruder ist dabei, und als er verwundet heimkommt, wird er für sie zum Helden, dem sie nachzueifern schwört. Fünf Jahre später stürmen die Mädchen des Gymnasiums, gegen den Widerstand der Lehrerin, aus dem Klassenzimmer, um sich einer Demo anzuschliessen. Layla „fühlte eine Woge von Energie. Sie fühlte sich lebendig, stark und zugleich gewichtlos (…) Sie drängte sich durch die Linien und fand sich wieder auf den Schultern ihrer Kameraden, hörte sich Parolen schreien mit einer Stimme, die nicht ihre war. (…) Alles um sie herum stieß sie vorwärts, alle umklammerten sie, umarmten und beschützten sie. Plötzlich fing sie wieder an zu schreien, mit dieser Stimme, die einer anderen gehörte, eine Stimme, die ihr ganzes Selbst mit all diesen Menschen verband.“

Als ihre Eltern vom „Skandal“ erfahren, wird sie hart bestraft. Für das junge Mädchen beginnt eine Zeit des Konformismus und der Resignation: sie spielt die Rolle, die man von ihr erwartet, verleugnet ihr wahres Selbst und wird zu einer „lebenden Toten“ wie andere in ihrer Familie und ihrem Milieu. Ihr Bruder aber widersteht dem Vater („Wenn du gehst, bist du nicht länger mein Sohn!“) und schliesst sich den Freiwilligen an, die in der Kanalzone gegen die Briten kämpfen. Die Briefe, die er an Layla schickt, bezeugen, dass er sich wie neu geboren fühlt:

„Jetzt lebe ich wirklich (…) Stagnation ist Tod, nicht Leben. (…) man wird befreit von dem Egoismus, der alles in unserem Leben beherrscht. Du fühlst dich als einer in einem Ganzen, fühlst, dass dein Leben einen Sinn hat, solange du der Gemeinschaft dienst (…) Und dann ist man frei von seiner Furcht, frei von seiner Konzentration auf das Ich.“

HM die Revolutionärin Latifa az-Zayyât

Verfolgung und Gefängnis

Dass die politische Aktivistin Latifa az-Zayyat in die Fänge der Geheimpolizei geraten würde, war abzusehen. Sie hat einen Genossen geheiratet, nicht aus Liebe (Frausein und Liebe hat „die Puritanerin“ damals aus ihrem Leben verbannt), sondern weil beide an dieselben Ideale glauben. Ihr Mann wird 1948 festgenommen, entkommt jedoch während des Verhörs. Mit ihm teilt sie vier Monate lang Verfolgung, Flucht und Leben im Untergrund. In „Durchsuchungen“ schildert sie, wie „sie jede Nacht unter einem fremden Dach verbrachte, lauter fremden Dächern, ungeduldig den Einbruch der Nacht abwartend, um wieder anderswo Zuflucht zu suchen. (…) Sie arbeiteten Tag und Nacht, doch die Bindungen wurden brüchig, die Korruption gewann selbst in den Reihen derer an Boden, die unerschrocken auf dem Weg geblieben waren. Ihre Ideale zerbröckelten,selbst die engsten Bindungen lockerten sich, während ihr Ohr an der Tür hing und auf das Klopfen wartete und die Umzingelung Tag für Tag unerbittlich enger wurde“.

Im März 1949 werden beide festgenommen. Ihr Mann wird zu sieben Jahren Haft verurteilt, Latifa ins al-Hadra Gefängnis von Alexandria verfrachtet, wo sie sechs Monate in einer Einzelzelle verbringt. „Sie folterten mich, spuckten mir ins Gesicht, drückten ihre Zigaretten auf meinem Körper aus und beschimpften mich als Nutte. Doch ich liess mich nicht unterkriegen.“ (12) Im Verhör wird ihr das Corpus delicti präsentiert: Blätter mit Aufzeichnungen von ihr selbst und ihrem Mann. Diese genügen, „um die Anklage zu untermauern, die auf Denken lautete. Die Gedanken waren ausgedrückt und niedergeschrieben, es bedurfte keines Verhörs.“ Das Verhör findet dennoch statt, durch zwei Männer, von denen der eine sich brutal und zynisch, der andere freundlich und verständnisvoll gibt. „Sie war jung und kannte Regeln und Ziel des Verhörspiels noch nicht (…) Sie hatte noch nicht begriffen, dass Liebenswürdigkeit und Brutalität in diesem Rahmen eigentlich neutrale, unpersönliche Gefühle sind (…) und als solche unerlässliche Waffen im Kampf gegen die Fähigkeit des Menschen zu denken.“ Den Mann mit dem brutalen Gesicht wird Latifa Jahre später wiedersehen: er ist der erste Ministerpräsident unter Sadat geworden. Die junge Frau hat damals nicht verstanden, „warum er sich über den Sieg über Kultur und Intellektuelle ( ‘diese Akademiker da‘) tausendmal mehr freute als über seine Beförderung nach ihrer Inhaftierung.“ Erst als sie im Jahre 1981 zum zweiten Mal verhaftet wird, durchschaut sie „dass man es immer auf die Fähigkeit des Menschen zu denken abgesehen hat und dass Gefängnis, Vertreibung, Drohung, Verfolgung und Folter nichts anderes sind als Instrumente, um dem Menschen sein Menschsein, seine Fähigkeit zu kritischem Denken zu rauben.“ Sie weiss auch, dass das Verhör nie endet: „Das Verhör, einmal begonnen, endet nie, und das Auge des Untersuchungsrichters, wie das Auge Gottes, erreicht dich, wo immer du bist“. (13) Als „Terroristin“ wird sie „wegen Mitgliedschaft in einer kommunistischen Organisation, die es auf den Sturz der Regierung abgesehen habe“ zu drei Jahren Haft verurteilt, aber im Juli 1949 auf Bewährung frei gelassen.

Die Erlebnisse der Verfolgung und der Flucht hat Latifa az-Zayyat in ihrem Roman „Der Hausbesitzer“ verarbeitet. Auf der Flucht lebt Samiya in ständiger Angst vor jedem, der sie anstarrt – er könnte ein Informant sein – , vor jedem Soldaten, der auf Kontrollgang vorbeikommt, vor Schritten, „die auf den Boden aufstampfen, als ob die Erde ihnen gehöre und alles, was darauf ist.“ Sie ist traumatisiert vom Leben unter falschem Namen, von der Rolle, die sie spielen muss, vor allem aber von der Person des Hausbesitzers, Verkörperung desjenigen, der die Welt besitzt, die im Untergrund Lebenden ausspioniert und seine Allmacht auskostet: „Ich sehe euch. Den ganzen Tag und die ganze Nacht sehe ich euch (…) Es ist m e i n Haus, und ich werde darin tun, was ich will.“ Erst als sie gegen ihn rebelliert, realisiert sie, dass der Hausbesitzer ein schwacher, alter Mann ist, den sie nicht zu töten braucht. Es genügt, diesen Mann, der alles Böse verkörpert, das ihr je im Leben angetan wurde, in ihrem Innern auszurotten. Das Thema der Gier nach Besitz hat Latifa Jahre später in ihrem Theaterstück „Kaufen und Verkaufen“ بيع وشراء behandelt. Wer sich von dieser Gier besitzen lässt, wird selbst zum Besessenen, handelt wie eine Maschine und verliert seine eigene Freiheit. Die Gier, Geld zu besitzen, und die Gier, Menschen zu besitzen, „verwandeln Menschen, den Besitzer und den Besessenen, in Sklaven.“ (14)

„Die private Hölle“

Schon vor ihrer Inhaftierung waren bei Latifa az-Zayyat Zweifel aufgekommen am Sinn ihrer revolutionären Aktivität und ihre naive Begeisterung war abgeklungen. Als sie das Gefängnis verlässt, ist sie wie erstarrt. Auf der Suche nach einem neuen Weg fällt sie nun von einem Extrem ins andere. Die 28jährige, die bisher Weiblichkeit und Erotik verdrängt hatte, lässt sich scheiden und heiratet zwei Jahre später ihren Lehrer Rashad Rushdi. „Die Frau zu Beginn ihrer zweiten Ehe, auferstanden wie der Phönix aus der Asche, war ganz Frau.“ Aber diese Ehe, die dreizehn Jahre dauern sollte, beruht von Anfang an auf einem Missverständnis. Das Bedürfnis nach Liebe und individuellem Glück war der Grund, dass „ich mich in ihm verloren hatte“ und „meine Existenz an einem Wort von ihm hing, einem Blick aus seinen Augen.“Absurdität des Schicksals: dieselbe Frau, die jahrelang vor dem Kerker geflohen war, begibt sich freiwillig in ein neues Gefängnis. Ein Grund dafür, dass diese Ehe scheitert, ist, dass beide „zwei entgegengesetzten Lagern“ angehören: sie die Linke mit der revolutionären Vergangenheit, er der rechtsstehende Professor, der seine privilegierte Stellung in der Gesellschaft geniesst. Dass dies, trotz aller Toleranz, ihre Beziehung trübt, realisieren sie erst im Lauf der Zeit: „Unsere politischen Vorstellungen bestimmten weit mehr , als wir wahrhaben wollten, unser Befinden und unsere Ansichten.“Auf „die Illusion, eins zu sein“ folgt eine „totale Lähmung (…) die Kluft zwischen dem, woran ich glaubte, und dem, was ich lebte, zwischen der Vision und der Wirklichkeit (…) Zu jener Zeit war ich äusserlich betrachtet eine nach allen gängigen Kriterien erfolgreiche Frau (…) Gleichzeitig war ich innerlich völlig zerstört.“

Die innere Leere füllt sie aus mit schriftstellerischer Arbeit: das Schreiben wird zum Rettungsanker. Nachdem sie 1957 ihre Doktorarbeit abgeschlossen hat, macht sie sich an den Roman „Das offene Tor“, der 1960 erscheint und sie auch als Schriftstellerin berühmt macht. Aber mehr und mehr wird ihr bewusst, dass die Ehe sie gelähmt hat, dass ihre „Bravheit“ und „zivilisierte Höflichkeit“ im Umgang mit ihrem Mann nichts als eine Maske ist, die sie sich selbst aufgesetzt hat, und dass sie sich freiwillig in einen „Rahmen“ eingepasst hat. Die Revolutionärin „hatte die Rückkehr in den Pferch gewählt“. Im Verlauf ihrer Ehe wächst ihre Überzeugung, dass „das brutalste Gefängnis dasjenige ist, in dem sich das Individuum selbst einsperrt, und dass die brutalste Art der Repression jene ist, die das Individuum gegen sich selbst ausübt.“ Mit Jean-Paul Sartre resümiert Latifa az-Zayyat die Situation des Einzelnen, der sich isoliert, statt sich zu engagieren: „Für diesen Einzelmenschen ist der andere die Hölle.“

Selbstverlust und Rückkehr zum eigenen Weg stellt Latifa az-Zayyât dar in der stark autobiografisch geprägten Erzählung „Bei Kerzenlicht“, die sie zwanzig Jahre später schreibt (15). Eine unglücklich verheiratete Schriftstellerin und Professorin schliesst sich einer Reisegruppe an, die nach Oberägypten aufbricht. Für ein paar Tage will sie den Dîners in luxuriösen Restaurants, den Theaterpremieren und Vernissagen und dem Milieu entkommen, in dem sie sich „im Kielwasser ihres Mannes“ bewegt. In dieser Reisegruppe „konnte man seine Maske fallen lassen.“ Die Reise aus der Weltstadt in ein fernes Dorf führt in eine andere Welt. Die Frau erkennt rasch, dass hier Menschen leben, die um ihr nacktes Überleben kämpfen und nicht die Musse haben, sich wie sie selbst Sartre und Camus zu widmen. Als sie erfährt, dass es in diesem „von Sanddünen und Felsen erstickten Dorf“ keinen Arzt und nicht einmal einen Friedhof gibt, schämt sie sich darüber , dass der Glaube an die „Absurdität der Existenz und das unausweichlicheScheitern der Sinnsuche“ sie vom Leben der anderen abgeschnitten hat. Aus dem gemütlichen Wochenende im Ferienhaus wird eine Begegnung mit der Realität. Zehn Jahre nach Nassers Agrarreform, die den Fellachen Land und sozialen Aufstieg bringen sollte, treffen die Intellektuellen aus der Grossstadt auf „ein Dorf aus Dreck“ und Häuser aus Dreck, auf deren Schwellen „Menschen aus Dreck“ sitzen, „mit aufgeschwollenen Bäuchen und zusammengepressten Lippen“, ihr Schweigen nur unterbrochen vom Husten der Kranken und vom Klagen um ein sterbendes Kind. Besonders deutlich wird das Scheitern der Politik im Haus eines Mannes, der vor der Revolution als Vorarbeiter auf den Gütern des Landbesitzers gearbeitet, in der Begeisterung der neuen Zeit seine Lehmhütte aufgegeben und sich ein Haus aus Ziegelsteinen erbaut hatte. Dieses Haus ist wie ein Symbol für das Scheitern der Reformen: das Haus ist Ruine geblieben, fertig geworden ist ein einziges Zimmer im ersten Stock, „aufgehängt zwischen Himmel und Erde“. „Im Erdgeschoss ist absolut gar nichts, kein Zimmer für die Kinder, kein Stall für die Tiere, kein Ofen, um Brot zu backen oder zu kochen, keine Toilette (…) nichts als ein Zimmer aufgehängt in der Luft (…) wie ein Theaterdekor, der bald verschwinden wird.“ Die Ärztin aus der Reisegruppe kümmert sich um die kranke Frau des Vorarbeiters, aber helfen kann sie kaum, denn niemand hier hat Geld für eine ärztliche Behandlung.

Der Anblick von Armut und Leid trübt die Freude am Ausflug aufs Land und führt zu Spannungen unter den Reisenden: „Jeder beschuldigte den anderen, wie ein Tourist zu handeln, der gekommen war, das Elend der Bauern anzuschauen.“ Zu einer existenziellen Auseinandersetzung aber kommt es nicht: „Seine eigene Verantwortung anzuerkennen, hätte bedeutet, dass das strahlend schöne Schneckenhaus eingestürzt wäre, das jeder sich in Kairo aufgebaut hatte und in das er zurückkehren würde, um sich zu schützen, um zu leben. Der Frage ‘was habe ich denn getan, um die Situation zu ändern?‘ musste um jeden Preis ausgewichen werden.“

Türen aufstossen

Nur bei der Hauptperson, Double der Schriftstellerin Latifa az-Zayyât, führt dieser Ausflug dazu, sich selbst, ihre Ehe und ihren Lebensweg in Frage zu stellen. In Kairo hat sie ihre Vorlesungen vorbereitet, Artikel geschrieben, am Radio und Fernsehen gesprochen und sich der Lektüre gewidmet: „sie las alles, irgendetwas Beliebiges, um nicht nachzudenken.“ Romane, Theaterstücke und Filme sind Mittel, um der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu entfliehen, und die Rührung durch fiktives Leid dient dazu, “ sich die Illusion zu verschaffen, noch nicht tot zu sein“. Selbst die Romane, die sie selber schreibt, sind vielleicht nichts anderes als ein Fluchtweg. Eine Freundin hatte sie gewarnt: „Die Leute sagen, dass Sie auf dem Papier träumen, auf dem Papier kämpfen, auf dem Papier das vollbringen, was sie im Leben nicht vollbringen können.“Auch ihr Privatleben ist Lüge und Selbstbetrug. Das tête-à-tête mit ihrem Mann bei Kerzenlicht ist ein Ritus, geboren aus der Furcht, den anderen zu verletzen, aus der Sorge um das gesellschaftliche Image, gelebt unter der Maske einer Höflichkeit, die nichts als Feigheit ist.

Auf dieser Reise, auf welcher sie dem konkreten Elend nicht mehr ausweichen kann, spürt die Protagonistin, dass der Moment der Entscheidung gekommen ist. Es gilt, die Augen zu öffnen für die Anderen, die in Wahrheit „die ihren“ sind: „zu ihnen kehrte sie zurück nach einer langen Abwesenheit“. Diese Rückkehr ist Rückkehr zu sich selbst und Anknüpfen an die verratene Vergangenheit .

Layla, die Hauptperson in „Das offene Tor“, ist nicht durch die Illusionen der Liebe ihrer selbst entfremdet worden, sondern durch die Zwänge des Milieus, in dem sie lebt. „Laylas einziges Anliegen war jetzt, sich zu schützen vor dem Angriff aus der Welt draussen. Sie hatte sich angelehnt an ihre Mutter, an die Grundregeln, mit denen sie aufgewachsen war, an die Traditionen der Menschen um sie herum. Und sie hatte das Leben mit den Augen ihrer Mutter betrachtet: eine eingeschränkte Existenz, die nicht über die vier Wände hinausreichte, in denen sie lebte (…) Die Wände waren da, um dich zu schützen vor dem wilden Tier, das draussend lauernd auf dich wartete … vor dem Leben!“

Die einzige Konzession, die sie ihrem Vater abringt, ist die Erlaubnis zu studieren. Als sie entdeckt, dass sie die Aufmerksamkeit ihres Philosophielehrers erweckt, fühlt sie sich zunächst geschmeichelt. Aber Dr.Ramzi ist einer jener Antihelden, wie sie in Latifas Werk immer wieder auftauchen: sein bleiches, ausdrucksloses Gesicht , starr wie eine Maske aus Wachs, flösst ihr eine dunkle Furcht ein. Als er bei Laylas Vater vorspricht und um ihre Hand anhält, wird sie selbst nicht einmal gefragt. In der Verlobungszeit wird ihr bewusst, dass sie nicht nur äusserlich in einem Gefängnis aus Regeln und Verboten lebt, sondern auch mental: Ramzi verlangt, dass sie die Welt mit seinen Augen sieht. „In Zukunft muss meine Meinung deine sein, eine und dieselbe.“ Während der Hochzeitstermin näher rückt, erkennt sie, dass sie sich binden wird an eine „Person, die auf Kosten anderer gross geworden ist, wie eine parasitäre Kletterpflanze, und deren Selbstbewusstsein daraus erwächst, dass sie jeden Willen zerschmettert, der sich ihr entgegenstellt“.

Von ihren Eltern ist keine Hilfe zu erwarten, denn diese Heirat bedeutet Prestige und sozialen Aufstieg, und die Auflösung der Verlobung wäre ein Skandal. Laylas Rettung kommt von anderswo: aus den Ereignissen der Weltgeschichte. Als Abdel Nasser die Nationalisierung des Suezkanals ankündigt, erklärt die frisch gebackene Lehrerin bei der Bewerbung, sie bevorzuge eine Stelle in Port Said. Vier Monate später, im Oktober 1956, erklären Israel, Grossbritannien und Frankreich Ägypten den Krieg. Obwohl die Schulen geschlossen werden, beschliesst Layla, Port Said nicht zu verlassen. Von ihrem Verlobten ist keine Rede mehr . Freiwillige strömen herbei, Port Said verwandelt sich in ein riesiges Militärlager, aber der Jubel dauert nur wenige Tage. Die Alliierten bombardieren die Stadt, Fallschirmjäger landen und greifen die Bevölkerung an. Tote müssen begraben, Alte, Frauen und Kinder evakuiert werden. Layla wird bei einer Bombenexplosion verschüttet. Als sie zu sich kommt, wird ihr bewusst, „dass sie den Schutt abschütteln musste, der sich auf ihr angehäuft hatte, dass sie das ganz allein tun, sich ihren eigenen Weg zurück zum Leben freilegen musste.“ Stimmen rufen nach ihr: „Etwas in ihr antwortete darauf, etwas Gewaltiges, das von tief unten in ihr entsprang, etwas Neues und Starkes, das ihr keine Ruhe gab (…), stärker als jener überwältigende Wunsch aufzugeben, stärker als Schutt und Schmutz, stärker als der Tod.“ Sie setzt sich ein bei der Rettung der Verwundeten, später im Widerstand gegen die Invasoren. „Wieder fühlte sie jenen überwältigenden Wunsch, Ausschau zu halten nach den Menschen um sich herum, und zu fühlen, dass sie eine von ihnen war, Teil eines grösseren Ganzen. (…) Sie war nicht mehr allein. Sie war jetzt mit ihnen (…) Ja, im richtigen Moment würde die in ihr verborgene Stärkere die Tür aufstossen“.

HM wie sind alle Layla-1

Dass dieser Roman so erfolgreich war, liegt an der historischen Epoche, die er darstellt. Die Dekade 1946-1956 war für Ägypten eine Zeit des Triumphes und der grossen Zukunftsvisionen: Revolte gegen die britischen Besatzer und die Monarchie, Revolution der „Freien Offiziere“ und Nassers Pläne zur Bekämpfung der Armut, Nationalisierung des Suezkanals, schliesslich die „Dreimächte-Aggression“, die durch das Eingreifen der Vereinten Nationen gestoppt wird – alles Ereignisse, welche die Ägypter mit Stolz erfüllen. „Das offene Tor“ spricht vor allem die Leserinnen an: „Al-Zayyâts Roman ist das Produkt eines historischen Augenblicks, als viele Türen für die ägyptischen Frauen geöffnet schienen“ (16). Diese Begeisterung bleibt jedoch nicht ungetrübt: als Amal Amireh 1996 einen Nachruf auf Latifa az-Zayyât verfasst, zitiert sie einen Professor, der betont, „dass seine Studentinnen sich in der Heldin des ’Offenen Tores‘ nicht wiedererkennen. Sie glauben nicht länger, dass für sie möglich wäre, was Layla am Ende des Buches erreicht.“ (17) Im Gegensatz zu dieser Stimmung, die typisch ist für das Klima der späten Mubarak-Jahre, existiert seit 2008 eine Website der „arabischen Frauenbewegung“, die den Namen „kollinâ Layla“ كلّنا ليلةWir alle sind Layla“ trägt (18) : es bedarf nicht einmal eines Hinweises auf Latifa az-Zayyât und den Titel ihres Romans, denn beide sind längst zum Mythos geworden. Dass die von ihrem Lehrer befragten Studentinnen im Januar 2011 ihr Urteil geändert haben, ist höchst wahrscheinlich.

Dass ihr Roman schon bei der Niederschrift kein uneingeschränktes Glaubensbekenntnis mehr war, hat Latifa az-Zayyât selbst erkannt: „Ende der 50er Jahre war ich völlig verzweifelt und hatte jede Hoffnung verloren. Ich musste erkennen, dass viele meiner Träume, an die ich vor und nach der Revolution so fest geglaubt hatte, gestorben waren. In diesem Augenblick schien mir das Schreiben der einzige Rettungsanker zu sein in einem Land, das im Begriff war, abzudriften.“ (19) So hat „Das offene Tor“ vor allem eine Funktion im Leben der Schriftstellerin: „Ich wollte meine Sicht der Wirklichkeit zur Zeit meiner Jugend festhalten. Sie könnte mir sonst entgleiten. (…) Indem ich ’Das offene Tor‘ schrieb, erweckte ich, ohne mir bewusst zu sein, es je getötet zu haben, das junge Mädchen wieder zum Leben, das bis über beide Ohren in der politischen Tätigkeit an der Universität steckte“ (20).

Von Nasser zu Sadat

Latifa az-Zayyât weiss, dass sie diesen Roman schon wenige Jahre später nicht mehr hätte schreiben können, denn die politische, ökonomische und gesellschaftliche Situation hat sich total verändert: „Die Wege zum Heil sind blockiert und abgewürgt. Es gibt keine gemeinsamen Werte mehr, wie es sie vorher gab, und verschiedene soziale Schichten halten sich an verschiedene Werteskalen. (…) die Menschen sind voneinander getrennt, isoliert, zu Inseln geworden, und es fehlt ihnen der geringste Sinn für nationale Einheit und Zusammengehörigkeit.“ (21)

Die Arbeit an ihrem Roman hat Latifa az-Zayyât ermöglicht, anzuknüpfen an die Ideale und Überzeugungen ihrer Jugend. Aber ihren Kampf als Revolutionärin und als Schriftstellerin kann sie nicht einfach wieder aufnehmen. Sie hatte, wie die allermeisten Schriftsteller ihrer Generation, die Revolution und das politische Programm Abdel Nassers enthusiastisch begrüsst. Aber Optimismus und Hochstimmung sind dahin. Oppositionelle werden verhaftet, die Meinungsfreiheit beschnitten, Parteien verboten. Der Geheimdienst, „al-mukhabarât“ المخبرات hat ein allumfassendes Spitzelsystem aufgebaut. Die beschämende Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 führt zu einer Lähmung des intellektuellen Lebens. „Die Niederlage von 1967 brach über mich herein und wurde zur Trennungslinie zwischen zwei Epochen, zwei Leben (…) ich entliess mich nicht aus der Verantwortung. Warum hatte ich nicht häufiger nein gesagt? Warum nicht wirksamer?“ Als wenige Tage nach der Niederlage etwa 50 hochkarätige Schriftsteller zur Sitzung des „Hohen Literaturrates“ zusammenkommen, klagt sie an. „Jeder einzelne von uns ist für diese Niederlage verantwortlich. Wenn wir, jedesmal, wenn etwas falsch gemacht wurde, nein gesagt hätten, wäre uns diese Niederlage erspart geblieben. (…) Wenn alle Intellektuellen nein gesagt hätten, hätte man uns nicht alle ins Gefängnis stecken können.“ (22)

Wie andere Schriftsteller reagiert Latifa mit jahrelangem Schweigen. „Niemals zuvor habe ich mich so ohnmächtig, so verzweifelt und so einsam gefühlt wie nach dieser Niederlage.“ Sie widmet sich vor allem ihrem Beruf als Professorin am Englischen Seminar der Ain Shams- Universität. Als solche wird sie zur Mentorin einer ganzen Generation von Studentinnen und Schriftstellerinnen. Sie verfasst neun Bücher über anglo-amerikanische Autoren wie Hemingway, T.S. Eliot und D.H.Lawrence und Studien zur arabischen Literatur, u.a. über Nagib Mahfouz und über das Bild der Frau im arabischen Roman. (23). Als Sadat 1979 Frieden mit Israel schliesst, gründet und leitet sie das „Komitee für die Verteidigung der nationalen Kultur“, um gegen die Normalisierung der kulturellen Beziehungen zu Israel zu kämpfen. Als aussenstehender Beobachter fragt sich der Schreibende freilich, ob die ägyptische Kultur in erster Linie durch den Frieden mit Israel bedroht worden ist. Wir sehen die Gefahr in anderen Entscheidungen Anwar as-Sadâts: indem er Nassers Wohlfahrtsstaat, den Protektionismus, die Importbeschränkungen und den Staatskapitalismus durch die Doktrin der wirtschaftlichen Öffnung الانفتاح („al-infitâh“) ersetzt, begünstigt er eine neue Schicht aus Unternehmern und Parteibonzen, die sich die Monopole auf Importgütern sichern, sich hemmungslos bereichern und mit ihremKonsum die Inflation anheizen. Damit nimmt Sadât in Kauf, dass jene Schichten der Bevölkerung verarmen, die von festem Einkommen leben müssen: Staatsangestellte, Lehrer, Intellektuelle, die wichtigsten Träger der Kultur. Millionen von Menschen sehen bald in Ägypten keine Zukunft mehr. Unqualifizierte Arbeiter, aber auch viele Akademiker emigrieren in die Ölstaaten. ( 24) Wenn sie zurückkehren, haben sie häufig Lebens- und Denkweisen und Religionspraktiken ihrer Gastgeber angenommen. Sie sind gegen geistige Offenheit und Toleranz, reglementieren das Leben ihrer Frauen und halten Kultur für etwas Westliches und für „harâm“. So verläuft die Entwicklung gegen Latifa az-Zayyât: nicht ihr „Tor“ zur Freiheit wird aufgestossen, sondern Öffnung geschieht auf wirtschaftlichem Gebiet, mit all den Folgen, die dies für Kultur, Religion und kritisches Denken haben kann.

Was diese Veränderungen im Alltag bedeuten, zeigt Latifa in der Erzählung „Der enge Durchgang“. (25) Der Ort des Geschehens kündigt bereits die Botschaft an: eine Sackgasse, nur durch einen engen Durchgang zu erreichen. Eine Mutter hat zu kämpfen mit denselben materiellen Problemen, die auch heute noch das Leben vieler Ägypter bestimmen: die Einkünfte ihres Mannes aus Haupt- und Nebenberuf (ein Job reicht oft längst nicht mehr) und ihr eigenes Gehalt als Lehrerin reichen kaum für das Schulgeld der Kinder, das tägliche Brot und das Allernötigste an Kleidung. Woher kommt es aber , dass es unter den Eltern von Klassenkameraden Leute gibt, die denselben mageren Beamtenlohn beziehen, sich aber teure Autos leisten mit einem Chauffeur in königlicher Livrée, und dass in diese Autos Damen in teuren Roben steigen und selbst die „Frommen“ unter ihnen sich in Schleier hüllen, aus welchen echte Perlen funkeln? Die Wohnung der Familie liegt in einem Haus, das jetzt einem Mechaniker gehört, dessen Reichtum auf Rauschgifthandel und Prostitution basiert. Die Mutter sieht ihn mit fremden Männern hinter Türen verschwinden und erschrickt, wenn sie in den Frauen, die unauffällig öffnen, unbescholtene Nachbarinnen erkennt. Ihre eigenen Töchter, erst neun und elf Jahre alt, leben nicht in der „magischen Welt der Kindheit“, wie es ihre Mutter tat: sie kennen bereits ihren Platz in dieser von dubios erworbenem Reichtum beherrschten Welt. Das Leben ist blockiert مسدود „masdûd“ , der überkommene Weg der Geradlinigkeit und Rechtschaffenheit, طريق الاستقامة , „tharîq al-istiqâma“, obsolet geworden. Wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht sie das Treiben des Nachbarn auf der Terrasse nebenan: in seinem Wahn, ein Zug zu sein, gibt er pfeifend das Signal zur Abfahrt und rennt keuchend los, bis er gegen die Abschrankung prallt. Blut fliesst, aber das Delirium geht weiter. Die Abfahrt des Zuges , Aufbruch zu neuen Horizonten, ist zu einem irren Sich-Drehen-im-Kreis geworden.

HM Frauen Gefängnis

Am 5. September 1981 startet das Sadat-Regime eine Verhaftungswelle, die vor allem den Repräsentanten der Kultur gilt. Eine von 1500 Festgenommenen ist die 58jährige Professorin Latifa az-Zayyât. Auf einem offenen Wagen, umringt von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, wird sie ins Frauengefängnis von Qanâter verfrachtet. (26) Transport, Verhöre und Schikanen erinnern an das, was sie als 26jährige erlebt hat. Doch im Gegensatz zu damals erträgt sie diesen Affront mit Gelassenheit und Zuversicht: „mich einzukerkern ist niemand mehr imstande. Am Ende des Weges winkt meine Freiheit.“ Sie landet in der Abteilung, die den Bettlerinnen vorbehalten war und nun die politischen Gefangenen aufnehmen muss. „Ich bin ganz sicher, dass mich hier menschliche Wärme erwartet.“ Sie ist stolz darauf, „dass ich lange Unterbrochenes, meine politische Tätigkeit, wiederaufgenommen, dass ich jener Frau wieder eine Stimme gegeben hatte, die sich aus Furcht vor der Kollision lange zwischen Buchdeckeln einbalsamiert hielt.“ Ihre Gefängniszelle teilt sie mit Intellektuellen wie der Ärztin und Schriftstellerin Nawâl as-Saadâwi (27) und mit fünf jungen Mädchen, die als „Islamistinnen“ inhaftiert sind. Latifa, die als Studentin gegen den wachsenden Einfluss der Moslembrüder gekämpft hatte, erlebt jetzt die Solidarität der Gefangenen. Als die Zelle durchsucht wird, schirmen die „Islamistinnen“ sie ab, damit sie ihre Manuskripte verstecken kann. Und als das Wachpersonal in die Toiletten eindringt, in welche die Mädchen geflüchtet sind, bringt Latifa ihnen ihre Umhänge, Kopftücher und Schleier, damit sie sich nicht unverhüllt vor unbefugten Augen zeigen müssen.

HM Nawâl as-Sadâwi Nawâl as-Saadâwi

Nach ihrer Entlassung beginnt eine neue Periode schriftstellerischer Kreativität. In den Jahren 1986 bis 1994 erscheinen ein Roman, zwei Bände mit Erzählungen, ihre autobiografischen „Untersuchungen“ und ein Theaterstück (28). Sie engagiert sich im „Council for World Peace“, wird Ehrenmitglied der „General Union of Palestinian Writers and Journalists“ und vertritt Ägypten bei Konferenzen der UNESCO. Diese letzte Lebensphase ist gekennzeichnet durch ihr Engagement für Palästina und die Befreiungsbewegungen in Südafrika und Lateinamerika. Scheitern,Verfolgung und Haft haben ihre Überzeugungen nicht erschüttert: „Ich halte fest (…) am Traum des Sozialismus, auch wenn seine Verwirklichung noch nicht stattgefunden hat.“ Die Unterjochungen sind vielfältig: „Die gefährlichste, davon bin ich überzeugt, ist jene, die Frauen über sich selbst ausüben.“ (29)

HM die Professorin Latifa az-Zayyât

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(1) Wie bei allen arabischen Namen findet man verschiedene Transkriptionen: al-Zayyat, Zayyat, Al-Sajjat, az-Zayet, El Zayat.

(2) Laura Bier, „Revolutionary Womanhood. Feminisms, Modernity, and the State in Nasser’s Egypt“, The American University of Cairo Press 2011, p.23

(3) Hassouna Mosbahi, “Die rebellischen Töchter Scheherezades. Arabische Schriftstellerinnen der Gegenwart“, München 1997, pp.149f

(4) Mona Prince, „Three Suitcases for Departure“, übersetzt von der Autorin: http://monaprince.blogspot.com/ Die arabische Ausgabe ist erschienen unter dem Titel ثلاث حقاءب لل سفر , Marqaz al-hadara al-arabiyya, Kairo 1998

(5) So lautete einer der bekanntesten Slogans der Januar-Revolution.

(6) Latifa Al-Sajjat, „Durchsuchungen. Eine Lebensgeschichte aus Ägypten“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, Basel 1996. Originalausgabe حملة تفتيش أوراق شخصية Kairo 1992

(7) Amal Amireh, „Remembering Latifa al-Zayyat“, http://www.aljadid/content/remembering-latifa-al-Zayyat

(8) “The Open Door”, translated by Marilyn Booth, AUC Press, Kairo 2000. Originalausgabe الباب المفتوح , Kairo 1960

(9) “The Owner of the House”, translated by Sophie Bennett, Quarted Books, London 1994. Originalausgabe صاحب البيت Kairo 1994

(10) http://en.wikipedia.org/wiki/Iskra

(11) Alle Zitate aus „Durchsuchungen“, s.o.

(12) Hassouna Mosbahi, s.o., p.155

(13) “Duchsuchungen”, pp.113-117

(14) Latifa al-Zayyât, “My Experience of Writing”, in “The Owner of the House”, p.7

(15) “Bei Kerzenlicht”, على ضوء الشموع, in “Das Alter und andere Geschichten” الشيخوخة وقصص أخرى , Kairo 1986. Eine französische Übersetzung, “A la lueur des chandelles”, ist erschienen im Sammelband “Une voix bien à elles. Un recueil de nouvelles par des femmes égyptiennes“, Kairo 1997.

(16) Laura Bier, s.o., p.24

(17) “Remembering Latifa az-Zayyât”, s.o.

(18) http:.//caledoniyya.com/2008/10/11/best-of-the-rest-we-are-all-laila

(19) Hassouna Mosbahi, s.o., p.156

(20) “Durchsuchungen”, s.o., p.119f

(21) “My Experience of Writing”, s.o., p.9

(22) “Durchsuchungen”, s.o., p.64

(23) “Remembering Latifa al-Zayyat”, s.o.

(24) Vgl. dazu Afaf Lutfi al-Sayyid Marsot, “A History of Egypt”, Cambridge, 2/2007, Kapitel 6 und 7.

(25) الممرّ الضيّق in “Das Alter und andere Geschichten”, s.o.; französisch “le passage étroit”, in “Une voix bien à elles”, s.o. Anm. 15.

(26) „Durchsuchungen“, pp.97ff

(27) Nawal as-Saadâwi نوال السعداوي (*1931), Ärztin und Psychiaterin, ist als Schriftstellerin, Feministin und Kämpferin für die Menschenrechte international bekannt wie kaum eine andere Ägypterin. Während ihrer Inhaftierung im Qanâter-Gefängnis lernt sie Ferdaous kennen, eine Frau, die ihren Zuhälter ermordet hat und deshalb zum Tode verurteilt wurde. Ihre Geschichte hat Nawâl al-Saadâwi aufgezeichnet und 1984 unter dem Titel مذكراتي في سجن النساْء veröffentlicht. Dieses Buch ist auf französisch unter dem Titel „Ferdaous, une voix en enfer“ und auf englisch als „Memoirs from the Women’s Prison“ erschienen. https://de.wikipedia.org/wiki/Nawal_El_Saadawi und http://www.nzz.ch/articleEZ4EI-1.124161

(28) Ausser den bereits erwähnten Werken veröffentlicht sie 1995 drei Erzählungen unter dem Titel „Der Mann, der seine Anklage kannte“ الرجل الذي عرف تهمته

(29) حوّل الالتزام السياسي والكتابة النسائية („Über politisches Engagement und feministisches Schreiben“) in „Alif. Journal of Comparative Poetics“, 1990, nr.10, pp.134-150.

Copyright: Dr. Hans Mauritz 2015

„Blutmond“

Vergangene Nacht viertel nach 4 Kurparkwiese Bad Cannstatt

Eos Mond 20150928 a

Copyright flickr.com/photos/eosmaiajohanna

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Mehr davon bzw. darüber bei ZEIT online (im Vorfeld seit 25.9.) Achtung: die Bezeichnung „Blutmond“ stammt aus der Zeit des Aberglaubens und wird heute von der Bild-Zeitung favorisiert.

Dank an Eos!

Shitstorm im Internet

Gern konstatiere ich, wenn ich mal wieder beim Durchblättern einer Zeitung sagen kann: für diesen einen Artikel hat sich der Erwerb des Blattes gelohnt. Vor allem, wenn er echte Aufklärungsarbeit leistet. In diesem Fall handelt es sich um das Interview der ZEIT mit Umberto Eco aus Anlass seines neuen Romanes, der in einer Zeit spielt, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte.

Umberto Eco:

Im Internet kursiert eine Flut von Falschmeldungen, die ebenso groß ist wie die der Fakten. Was fehlt, ist eine vernünftiger Filter. Ich weiß nicht, ob Sie die Diskussion um die Schwachköpfe verfolgt haben (…)

…das war nach einer Vorlesung an der Uni. Pressekonferenzen sind das Gefährlichste, was man tun kann, es gibt tausend Fragen , man antwortet, so gut man kann, und dann macht jeder daraus, was er will. Die Frage lautete in etwa: Glauben Sie nicht, dass die Sozialen Netzwerke im Internet einen Haufen Schwachsinn verbreiten? Ich sagte, für mich ist die Sache ganz einfach: Bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden gibt es einen entsprechenden Prozentsatz Schwachköpfe. Das sind nicht unbedingt Spinner, es reicht ein Ahnungsloser, der sich über internationale Politik auslässt, oder jemand, der ohne Sachverstand über die Steuerpolitik herzieht. Früher einmal standen diese Schwachköpfe leicht beschwipst am Tresen und gaben ihren Schwachsinn zum Besten, die anderen lachten darüber, und die Sache war erledigt. Heute tummeln sie sich im Netz. Sie glauben nicht, was für einen Schwachsinnigen-Aufstand meine Antwort ausgelöst hat!

ZEIT: Einen sogenannten Shitstorm…

ECO: …ja, aber viele haben mir auch recht gegeben. Womit wir wieder beim Problem mit dem Filter wären: Wie filtern wir Nachrichten im Netz? Mein Vorschlag lautete: Wieso werden Websites nicht ebenso rezensiert wie Bücher oder Filme? Das hat natürlich wieder für eine Welle der Entrüstung gesorgt, das Internet sei viel zu groß, man können nicht alles rezensieren, außerdem wäre es nicht demokratisch, und die jungen Leute würden sich heutzutage sowieso nur noch übers Internet informieren und keine Zeitung mehr lesen.

Quelle DIE ZEIT 24. September 2015 Seite 45 „Italien ist immer ein rechtes Land gewesen“ Bestseller-Autor Umberto Eco über seinen neuen Roman „Nullnummer“, die anhaltende Wirkung Berlusconis und die Macht von Verleumdung und Verschwörungstheorien (Interview: Giovanni di Lorenzo).

Gelohnt hat sich die Lektüre nicht wegen dieses kurzen Ausschnitts, den auch viele andere Zeitgenossen so oder so ähnlich formuliert haben könnten, sondern durch den erhellenden Gesamtzusammenhang, insbesondere den Berlusconi-Aspekt:

„Berlusconi hat die Macht, die Wahrheit zu kaufen“ – „Besser eine gekaufte Wahrheit als eine beängstigende.“ (… sagt der kleine Buchhalter aus der lombardischen Provinz, für den das überaus beruhigend ist…) „Berlusconi hat keine Terrordiktatur geführt.“

Das ist ja schon mal etwas!

Wolkenlektüre

Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

Juist Wolke 1 20150923

Juist Wolke 2 20150923

Juist Wolke 3 20150923

Kermani Cover rück

Juist Wolke 4a 20160925

Juist Wolke 5a 20160926

Juist Wolke 7 20150926

Das Buch hatte ich dabei, weil mich die SZ-Rezension neugierig gemacht hatte (ohne dass mir bewusst war, dass sie von einem Kirchenmann stammte): „Wünschelrute der Sinnlichkeit“ (23.08.2015), – und weil ich nun einmal verbale Bilderdeutungen liebe. Ich sehe dann besser. Hier also in Gestalt der Auseinandersetzung eines Moslems mit dem Christentum, vielleicht preiswürdig, für mich allerdings von sekundärer Bedeutung: Warum soll ich dergleichen in 100 Stichworten aufs neue durchdenken, dabei auf Bilder schauend, die eindrucksvoll genug sind, aber keine theologische oder philosophische Autorität haben? Zumal mir weder das Thema Islam noch das Thema Christentum persönlich auf der Seele brennt. Gut, der Autor interessiert mich seit Ende der 90er Jahre. Der Vertrauensvorschuss schwand hier allerdings schon mit der gespielt naiven Schmähung des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, während immer mehr in den Vordergrund trat, was der Kirchenmann in seiner Rezension als Vorwurf zu entkräften suchte: es handelt sich nicht so sehr um neue Aspekte der Ästhetik als um ein Stück „Erbauungsliteratur“. Deren Zeiten aber sind doch wohl vorbei. Einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller? Mit Märtyrerlegenden? Ehrlich gesagt ist mir die Sprache der Wolken lieber als solche Überdehnung des Didaktischen. Und gerade die herausgekehrte Sinnlichkeit ist mir suspekt. Sie hat keine Sprengkraft, außer in jugendbewegten Arbeitskreisen eines Kirchentags. Unbedingt zeigen zu müssen, dass es sich bei den Heiligen um Menschen aus Fleisch und Blut oder gar wie Du und ich handelt. Dass die Andacht bei der Bildbetrachtung flöten geht, wenn man Druck auf der Blase hat. Dass der ekstatische Gesichtsausdruck durchaus irdischer Natur sein kann, nun auch die Verzückung des Heiligen Franziscus wie schon länger die Verzückung der Heiligen Theresa triebhaften Ursprungs, wir wissen es, aber wie eindringlich hat uns z.B. Johann Sebastian Bach versichert: „Wir aber sind nicht fleischlich, sondern …“ – nun? – geistig oder geistlich? – jedenfalls „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“!

Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für den Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal für die Henker gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an genau dem sich die Kritiker früher stießen: Er wolle nur beweisen, schimpfte Jacob Burckhardt, „daß es bei allen heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei“. Das stimmt natürlich, denn es geht außerhalb von Heilsgeschichten und Romanzen immer ordinär zu; man könnte sogar sagen, daß das Ordinäre als ein Kontrast gerade dort am stärksten hervortritt, wo sich das Heilige oder die Liebe tatsächlich ereignen. Bei der Kreuzigung Christi hat es schließlich auch keine Filmmusik gegeben, sondern werden Jugendliche wie auf dem Ballermann gejohlt und fahrende Händler ihre Äpfel angepriesen haben. Der Vorwurf kehrt sich gegen seinen Urheber, denn er zeigt, wieviel mehr Caravaggio vom Heiligen begriffen hat als Jacob Burckhardt. (Seite 124)

Falls wir’s hier noch nicht begriffen haben, dann wenn wir die kopfüber hängende Lage des Petrus bei der Kreuzigung recht bedenken: „die Schmerzen müssen ihn jetzt schon zerreißen, ihm schwindelt, wie an den Augen zu erkennen ist, und gleich schießt ihm auch noch alles Blut in den Kopf. Wahrscheinlich wird er sich übergeben müssen, Herr Burckhardt.“ (Seite 127)

Vielleicht kann man über Märtyrer so reden, damit wir begreifen, dass es schlimm war, was sie erduldeten, aber einen genialen Kunsthistoriker wie Jacob Burckhardt muss man doch so nicht abkanzeln… (allenfalls … so wie hier, unter dem Punkt „Kritik“).

Im Namen Sigmund Freuds: Ich will nicht der Prüderie und dem Duckmäusertum das Wort reden, ich habe John Bergers Buch über das Sehen („Das Bild der Welt in der Bilderwelt“) im Sinn, auch Christina von Brauns großes Werk „Versuch über den Schwindel“, Untertitel: „Religion, Schrift, Bild, Geschlecht“, – kurz: mir fehlt das Aufklärerische, der kühne philosophische und wissenschaftliche Gedanke. Und mich stört immer noch, was Kermani so schwergefallen sein musss zu akzeptieren, das Kreuz im allgemeinen, und im besonderen das stählerne, das er sich in Rom auf seinen Schreibtisch gestellt hat. (Seite 53)

(Handyfotos JR)

Nachtrag 21. Oktober 2015

Navid Kermani sagt:

Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.

Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben.

Ich höre nachträglich die Rede Navid Kermanis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und empfehle sie weiter: man kann sie hier in voller Länge hören. Und hier nachlesen. Ein guter Ansatz zur unumgänglichen Selbstkritik des Islam? Die Kritik kann noch weiter gehen… Aber der richtige Nerv ist getroffen.

Übrigens: Auch die Rezensionen zu dem haltlosen Buch von Hamed Abdel-Samad sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man sich von unwissenschaftlichen Suggestionen und Verzerrungen hinreißen lässt: hier. Und auch hier.

Das Foto in der Süddeutschen, das Kermani beim Tee mit Martin Mosebach zeigt, bei dem es sich wohl um den vielzitierten „katholischen Freund“ handelt, erinnert mich an eine Lektüre Ende 2007, „Das Beben“ von MM, das ich begann, weil es in Rajasthan spielt, und vorzeitig beendete, indem ich an den Rand schrieb: „preziöse Prosa“. Und mir fällt ein Buch ein, das ich im Jahre 1987 nach wenigen Seiten beendete, es hieß „Das Leben Muhammads“ und war mir mit einem netten Begleitbrief von einem Dr. Djavad Kermani übersandt worden:

Kermani Muhammad Brief

Offenbar hat er sich auf Sendungen mit Aufnahmen der Konzerte bezogen, die Moh. Reza Shadjarian damals für den WDR gegeben hatte: siehe das Foto hier. Es war die letzte Zeit der Khomeini-Ära, und ich habe, glaube ich, auf den Brief nicht im erwarteten Sinne reagiert, weil es mir wirklich „nur“ um iranische Musik, Kultur und Poesie ging. Werde ich jetzt das Buch lesen? Ich glaube nicht.

Kermani Muhammad Titel

Beethovens unsterblichste Geliebte …

… war natürlich die Musik.

Aber warum fragen wir weiter nach der Frau, die er mit Worten bedacht hat, wie keine andere, – oder nur eine andere. War es Josephine, war es Antonie?

Nun hat wieder einmal ein Berufener eine Entscheidung getroffen, die zugleich einer posthumen Scheidung gleichkommt: Josephine war’s, nicht Antonie. Aber die größte Musik hat der Meister doch dieser, und nicht der anderen gewidmet.

Der Artikel endet allerdings mit Worten, die alles relativieren:

Eine solche „Rekonstruktion“ der Ereignisse wirke zwar „plausibel“, doch balanciere das Ganze „auf der hauchdünnen Grenze zwischen Fakten und Fiktion“. Es zählt die Intuition: Nur Beethovens Musik kann das definitive, immer neu zu sprechende Schlusswort sein.

Eben: die Diabelli-Variationen und die Sonate op. 110, obwohl man – wie auch schon mal behauptet wurde – auf deren Kopfthema den Namen Josephine singen kann (s.u.), und die Sonate op. 111 (diese zumindest in der englischen Publikation) sind Antonie gewidmet, die Sonate op. 109 jedoch Antoniens Tochter Maximiliane. (Der Widmungsbrief ergibt eine Geschichte für sich.)

Ich beziehe mich auf den Wochenend-Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 19./20. September 2015, Seite 67 (Rätsel-Seite) :

Dem Geheimnis auf der Spur / „Mein theuerstes Wesen“ / Wer war Beethovens „Unsterbliche Geliebte“? Der mysteriöse Liebesbrief des Komponisten gibt bis heute Rätsel auf. Von Wolfgang Schreiber.

Im Text erfährt man, dass der Artikel sich auf den belgischen Musikwissenschaftler Jan Caeyers mit seiner „exzellenten Beethoven Biografie“ stützt („Der einsame Revolutionär“, 2012).

Während meine Überzeugung sich in erster Linie auf die uralte Biographie von Maynard Solomon stützt. Ich bin bereit umzuschwenken, wenn denn die Wahrscheinlichkeit für die andere Lösung (Josephine) soviel größer ist. Ich neige zwar dazu, mir sofort ein Buch zu kaufen, sofern es mir wirklich zu meinem Glück zu fehlen scheint, dieses jedoch nicht, selbst wenn wenn es von erlauchten Rezensenten propagiert wird:

Der Brief „An die unsterbliche Geliebte“

Und Carl Czerny, Schüler von Beethoven, wird als „lebende Jukebox“ tituliert, die im Hause des Fürsten Lichnowsky auf Opuszahl-Zuruf des Hausherrn das gewünschte Werk aus dem Interpretenärmel schüttelt. Oder wenn Beethoven als „Composer in residence“ des Theaters an der Wien bezeichnet wird, als seien die Arbeit an der Oper „Leonore“ und deren qualvolle Erweiterung zum späteren „Fidelio“ eine angelsächsische Frühgeburt der Salzburger Festspiele gewesen. Und wenn er erörtert, ob Antonie von Brentano als eine der „Unsterbliche Geliebte“Kandidatinnen in die engere Wahl komme, dann folgert Caeyers, die schöne, aber verheiratete Dame, deren Mann dauernd um sie war, habe wohl kaum mit Beethoven „ein Aufhupferl in der Damentoilette“ hinlegen können.

Wenn Caeyers aber gleichzeitig das Lebensdrama der jungen Witwe Josephine von Brunsvick entwirft, die, einst Klavierschülerin des sofort entflammten Meisters, sich zweimal unglücklich verehelichte, doch in einer gewissen Nacht in Karlsbad wohl mit Beethoven schlief, das daraus entstandene Kind aber ihrem Ex, mit dem sie gerade in Scheidungsverhandlungen stand, unterschob, dann wird der Biograph trotz aller illustrierten Bettvorlegerei zum nüchternen Aktenkundler, der den berühmten, nie abgeschickten Brief „An die unsterbliche Geliebte“ (es muss Josephine gewesen sein!) vom 3. Juli 1812 liest wie eine Anleitung zum überglücksschwänglichen rasenden Unglücklichsein. Und der voyeuristisch so glanzvoll wie dezent unterhaltene Leser nimmt es gerne hin, wenn dann dem lyrisch-poetisch punktierten Beginn der As-Dur Sonate op. 110 ein sehnsuchtsstammelndes „Joooo-se-phiii-ne“ rhythmisch unterlegt wird.

Quelle Frankfurter Allgemeine Zeitung 7.3.2012 Der Lebenslaufbursche Ludwigs des Großen / Die Beethoven-Biographie von Jan Caeyers lässt nichts aus, erklärt viel und hält sich raus: Vermessung eines epochalen Klangraums, gebaut von einem Ungewöhnlichen. Von Gerhard Stadelmaier. (Siehe hier).

Nein, das Buch kommt mir nicht ins Haus! Der Ton gefällt mir nicht! Ein Stammeln zu Beginn dieser Sonate??? Ich glaube, der Mann ist von allen „überglücksschwänglichen rasenden“ Geistern verlassen.

Ich empfehle die Lektüre des Kapitels aus der Solomon-Biographie von 1977/1979 ISBN 3-570-00054-0 und zwar Seite 186 bis 212, vor allem aber zum Gegenchecken der Fakten die durchaus kritisch sichtenden Wikipedia-Artikel:

Unsterbliche Geliebte,   Josephine Brunsvik,   Antonie Brentano

Zitatauswahl:

Gegen Josephine als Adressatin sprechen allerdings die fehlenden Nachweise zu einer Reise nach Prag und Karlsbad.

Zusammengenommen erscheint es äußerst fraglich, ob Josephine im Sommer 1812 Wien überhaupt verlassen hat. Ist das tatsächlich nicht der Fall, kommt sie als mögliche Adressatin des Briefs nicht in Frage.

Ursprünglich wollte Beethoven alle drei letzten Klaviersonaten (op. 109, 110 und 111) Antonie Brentano widmen.

Nachtrag 20.10.2015

Zitat aus einem Brief des Freundes B.S., dessen Meinung ich sehr schätze:

Noch eine kurze Anmerkung, wenn Du erlaubst: Die Beethoven-Biografie von Jan Caeyers habe ich mit großem Gewinn gelesen (und kleine Teile daraus auch in meinem Musik-Buch „verwertet“). Ja, der Ton, den Du anhand Deiner Zitate schiltst, ist wirklich komisch, wobei ich denke, daß das eher einer unzulänglich-flapsigen Übersetzung geschuldet sein dürfte, denn Cayers argumentiert ja größtenteils sehr ernsthaft, das sieht ihm sonst eigentlich nicht ähnlich. Und ich bin auch kein Experte der Geschichte(n) um den Brief an die „unsterbliche Geliebte“ – aber das, was im Untertitel steht, also „der einsame Revolutionär“, führt Cayers sehr gut aus, und darauf kam es mir an. Er erklärt detailliert die Napoleon-Begeisterung (und auch die für die französische Revolution, also gegen das Wiener Herrschaftssystem), aber auch, wie Beethoven sich aus Gründen davon abwendet. Und er beschreibt gleichzeitig die eigentlich fast unaushaltbare Einsamkeit Beethovens, die vielleicht aber doch auch Movens seines Werkes war (zumindest „unter anderem“). Also, ich habe das gesucht in dem Buch, was ich dort auch gefunden habe, und würde Deinem Verdikt „kommt nicht ins Haus“ deutlich widersprechen!

(Also: bei Gelegenheit – um der Gerechtigkeit willen – doch dieses Buch von Cayers inspizieren. Allerdings erscheint mir gerade das Thema Revolution & Napoleon erschöpfend beschrieben in dem Buch von Martin Geck und Peter Schleuning: „Geschrieben auf Bonaparte“ Beethovens „Eroica“: Revolution, Reaktion, Rezeption. Rowohlt 1989. Ja, lieber Freund: der stärkste Akzent auf Prometheus, das würde auch zu Dir passen!)

„Wir sind alle Layla“

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Ein Essay von Hans Mauritz (in Vorbereitung)

Latifa az-Zayyât (1923 – 1996) gehört zu den bedeutendsten Frauen des 20. Jahrhunderts in der arabischen Welt. Als politische Aktivistin, Kämpferin für nationale Unabhängigkeit, als Schriftstellerin, Sozialistin und Feministin ist sie auch 20 Jahre nach ihrem Tod einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Als Studentenführerin bei den Demonstrationen gegen die britischen Besatzer, den König und die mit ihnen verbündeten Regierungen ist sie zu einer Ikone der Revolution geworden. Ihr Roman „Das offene Tor“ wurde bei seinem Erscheinen 1960 gefeiert als „ein kühnes Manifest für die Befreiung der Frau“ und von der Union der arabischen Schriftsteller in die Liste der besten arabischen Romane des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Ihr politisches Engagement hat sie mit Verfolgung und Gefängnis bezahlt: einmal unter der Monarchie im Jahre 1949, das zweite Mal 1981 unter Anwar as-Sadât. Wenige Monate vor ihrem Tod verlieh ihr die ägyptische Regierung den Staatspreis für Literatur. Bei dieser Gelegenheit erklärte der bekannte Literat und spätere Kulturminister Gaber Asfour: „Latifa az-Zayyât ist nicht nur eine Schriftstellerin von hohem Rang, sondern auch eine mutige politische Kämpferin. Während eines halben Jahrhunderts war sie aktiv an den wichtigsten historischen Ereignissen beteiligt. Sie verdient daher nicht nur diese höchste literarische Auszeichnung – Latifa az-Zayyât müsste zudem der Ehrentitel ‘die Mutter Courage Ägyptens‘ verliehen werden.“

Von heutigen Schriftstellern wird ihr Name mit Wehmut genannt, wenn ihnen bewusst wird, wie sich die gesellschaftliche Stellung der Frau in den letzten Jahrzehnten verändert hat. In einem 1998 erschienenem Roman von Mona Prince beklagt die Protagonistin im Augenblick, da sie ihre Koffer packt, um nach Indien abzureisen, weil sie in Ägypten zu ersticken droht: „Latifa az-Zayyât führte in den 40er Jahren die Studentenbewegung an, und wir sprechen heute über den Schleier und darüber, dass die Frauen zu Hause bleiben sollten. Wie läuft eigentlich die Zeit, vorwärts oder rückwärts ?“ Dreizehn Jahre später nimmt die ägyptische Geschichte eine unverhoffte Wende: Mona Prince ist eine von hunderttausend Frauen, die im Januar 2011 auf der Strasse für „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ demonstrieren. Hätte Latifa az-Zayyât noch gelebt, hätte sie sich wohl in vielen dieser Frauen wiedererkannt. Wer Latifas Leben nachzeichnet, wird immer wieder auf die Gegenwart verwiesen. Die späten 30er und die 40er Jahre sind als „Jahre der Jugend“ in die Geschichte eingegangen. Die Fakultäten waren Zentren der politischen Aktivität und Rebellion. Am 21.Februar 1936 rasen britische Panzer in die demonstrierende Menge, und zwar auf jenem Platz, der damals noch „Isma’iliya Square“ hiess und später in „Midân al-Tahrir“ umgetauft wurde. Latifa az-Zayyât wird für unsere Studie eine Kronzeugin der wichtigsten Ereignisse im Ägypten des 20. Jahrhunderts werden.

(Der gesamte Artikel erscheint Ende September 2015 an dieser Stelle. Über Latifa az-Zayyât siehe auch hier. Zum letzten Artikel von Dr. Hans Mauritz geht es HIER.)

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Wie spießig ist Streichquartett?

Ich gebe zu: ein oberflächlicher Blick über den vorigen Blogeintrag weckt bei vielen (nicht nur jungen) Leuten allein wegen dieser youtube-Ansichten peinliche Aversionen, – das bürgerliche Ensemble mit 4 Streichinstrumenten ist sowas von retro!

Natürlich ein dummes Vorurteil: sobald man sich in die Musik versenkt, – sagen wir: beginnend mit Beethoven op. 59, erst viel später Mozart und Haydn dazu – spürt man: es ist so gigantisch, so himmelstürmend, so diesseitig und so jenseitig, man gehört einem Geheimbund an, der in die nächsten und fernsten Dinge dieser Welt eingeweiht ist und stufenweise zur Erleuchtung führt. Ich übertreibe nur wenig. Man kann natürlich auch mit seiner Spießer-Natur haushalten und in der restlichen Zeit Buchsbäume schneiden oder todesmutig versuchen, dem Zünsler mit Calypso-Gift den Garaus zu machen.

Ich will der Sache mal nachgehen, die ich schon in den 80er Jahren hörte: die Platte des Kronos-Quartetts war die meistverkaufte Kammermusik aller Zeiten, so hieß es vollmundig. Aber das Wort „Kammermusik“ klingt ja schon spießig genug, etwa so wie „Mittagsschlaf“ oder „Abendspaziergang“.

Aber davon später, erstmal ein Beispiel (ich habe wenig Zeit, weil ich mein Zweite-Geigenstimme Schumann für die morgige Probe verinnerlichen will), und zwar etwas ganz anderes:

Ich habe mich auch gefragt: was ist aus dem Quartett geworden, das damals am 4.12.2011 in Bloomington so überzeugend Schumanns op. 41 Nr. 1 gespielt hat, vielleicht in einem Examens-Konzert der Hochschule, und bin dem 1. Geiger Timothy Kantor nachgegangen: ich habe ihn als 2. Geiger in „The Afiara Quartet“ wiedergefunden. Hier in action:

Stichworte und Links zu weiteren ungewöhnlichen Quartett-Assoziationen, ansetzend beim Blick auf den ersten Youtube-Link oben:

Das Kronos-Quartet und – „Purple Haze“, was einfach der Titel des Stücks von Jimmy Hendrix ist, mir aber zugleich das „Turtle Island String Quartet“ in Erinnerung ruft. Ich habe die CD (1998) mehrfach in WDR-Sendungen eingesetzt:

Turtle Island Cover Turtle Island Quartet & HIER

Ich sehe da unter den Mitgliedern Benjamin von Gutzeit … erinnere mich an einen kurzen Briefwechsel mit seinem Vater Anfang der 90er Jahre über „alternatives Violinspiel“,  und entdecke einen interessanten Bericht über den Werdegang des Sohnes in der nmz online (14.2.2013): Unterwegs im Neuland: Benjamin von Gutzeit, Bratscher im Turtle Island String Quartet, im Gespräch von Theo Geißler – HIER.

Da ich in Solingen lebe und mich immer wieder über die großartige Entwicklung des hiesigen Orchesters „Bergische Symphoniker“ unter Peter Kuhn wundere (zugleich ärgere über die Ignoranz des hiesigen lokalpolitischen Journalismus und einiger Klein-Politiker im benachbarten Remscheid), berichte ich gern von dem ausgezeichneten Konzertmeister Mihalj Kekenj. Er führt ein interessantes musikalisches Doppelleben: als Solist hat er mit dem Orchester z.B. hervorragend das D-Dur-Konzert von Mozart und Tschaikowsky-Violinkonzert gespielt, – wofür ich meine Hand ins Feuer lege -, ansonsten wirkt er in seiner Freizeit als Hiphop-Musiker in der Düsseldorfer Szene und hat keine Scheu, beide Sphären zu verbinden, ohne sich dabei auf billige Mixturen einzulassen:

Für mich ist das gar nicht gegensätzlich. Ich spiele Geige seit ich sechs bin und entdeckte Hip-Hop für mich, da war ich zwölf. Beides ist zusammen in mir gewachsen. Das ist völlig natürlich für mich. (…)

Für mich fühlt sich die kammermusikalische Besetzung sogar noch richtiger an als ein großes Orchester. Das ist ganz reduziert auf das, was klassische Instrumente und Soulgesang hervorbringen.Bei meinen Projekten ist klar geworden, dass Soulsänger oder Rapper ganz natürlich mit einem klassischen Ensemble spielen können. Das ist kein Widerspruch.

Aus einem Interview mit der DW am 20.10.2013, aufzufinden HIER

(Fortsetzung folgt)

Was macht diesen Streichquartett-Satz schwierig?

Schumann: op. 41 Nr. 1 Adagio

Wer diesen Satz nur hört, nie selbst gespielt hat, wird es kaum erraten. Selbst ein Pianist, der natürlich Noten lesen kann, könnte in die Partitur schauen und ihre Tücken nicht erfassen. Und ich spreche von den äußerlichen Tücken der Ausführung, nicht vom Gehalt. Man höre die folgende Aufnahme (wenn man sich ganz ins youtube-Fenster begibt und dort auf „Mehr Anzeigen“ klickt, kann man sofort auf das Adagio 14:12 springen):

In einer anderen Aufnahme – mit dem Amaryllis-Quartett – kann man zum Vergleich bei 14:31  beginnen.

Man erfasst das Problem leichter, wenn man den Anfang und einen späteren Ausschnitt im Notentext sieht:

Schumann Adagio Schumann Adagio b

Wenn man das Stück noch nicht kennt und unmittelbar mit dem Vom-Blatt-Spielen beginnt, wird die zweite Geige nach dem ersten Ton unterbrechen und den Cellisten fragen: Was hast du für Notenwerte? Und der wird etwa sagen: Ich habe eine Synkope, der die 1 fehlt. Und dann kommen durchgehende Sechzehntel. Mein dritter Ton fällt auf Zählzeit 2.

Aber dann, wenn nach dem dritten Einleitungstakt das Thema in der ersten Geige kommt: das Zusammenspiel mit zweiter Geige und Cello dürfte kein Problem sein, aber die Bratsche stiftet Verwirrung. Wie sitzt ihr Rhythmus? So wie im Beispiel unten unter a), aber – allzuleicht hört man (oder nur einer der anderen drei Spieler) eine falsche Betonung, nämlich wie in b), richtet sich danach und verunsichert alle anderen: sie spielen nicht mehr haarscharf synchron.

Schumann Adagio rhythm irreführend

Bei der Wiederkehr des Themas im Cello (siehe Notenbeispiel weiter oben) spielt die erste Geige ein Pizzicato (s.a. hier in Reihe 2), das rhythmisch genau der Bratschenbegleitung am Anfang (hier Reihe 1 Bsp. a) ) entspricht. Dank des leicht percussiven Pizzicato-Effekts neigt man aufs neue dazu, es so zu hören wie in Reihe 1 b); erschwerend wirken die Synkopen der zweiten Geige. Es ist wichtig, in diesem Takt genau die Sechzehntel weiterzudenken, die im Takt vorher von der Bratsche gespielt werden. Achtung: hier steht zwar diminuendo., aber nicht ritardando.

Ein neuer Versuch, die Verzahnung der Stimmen am Klavier einzuprägen; rot gekennzeichnet sind die „Löcher“: dort gibt es keinen regulären Impuls auf der 3. Zählzeit. Und man muss wissen, dass das nächste Sechzehntel in der Mittelstimme (Viola) eben nicht die 4. Zählzeit markiert, sondern ihr vorangeht. (Das ist natürlich kein Problem, wenn man der Bratsche ohnehin die ganze Zeit zuhört, – was ihr ja auch guttut.)

Schumann Adagio Auszug

Wenn dies alles „sitzt“, könnte man beginnen wahrzunehmen, was der musikalische Sinn des scheinbar labilen rhythmischen Gefüges ist: die Zählzeiten verschwinden zu lassen… losgelöst, schwerelos dahinzuschweben, – dahinzuschwimmen ohne zu schwimmen. Es  l e b t  – ohne sich zu scheuen, an manchen Stellen innezuhalten, so dass die vier Stimmen Zeit haben, das Material hin und her zu wenden, es intensiv zu bedenken. Welches Material? Den Dreiklang aufwärts und abwärts, und die überall zeichenhaft sich windende Schlangenlinie.

Der Klang der Kreide

Über Geräusche des täglichen Lebens (Vergangenheit)

Schulsituation / Finde ich auch das Geräusch des Griffels? / Die Sammlung WWS

Zunächst zum Griffel: zum Nebeneffekt – beim Schreiben mit dem Griffel auf die kleine Schultafel entstanden die Quietschgeräusche, die man zu den unangenehmsten zählt. Warum? Ich bin nicht sicher, ob es die letzte Auskunft der Wissenschaft ist, über die Dieter E. Zimmer 1987 in der ZEIT berichtet hat, – sie hat jedenfalls einiges für sich:

Die Forscher nahmen sich im Interesse der Wissenschaft zusammen und erzeugten dieses Geräusch mutwillig. Sie ließen eine dreizinkige Metallforke über eine Steinplatte ratschen. Dieses Geräusch schickten sie dann durch ihre elektronischen Apparate. Ihre Vermutung war die, daß das Unangenehme an ihm sein Anteil an hohen Frequenzen darstellt – ist es nicht seine Schrillheit, die uns so nervt? So filterten sie einzelne Frequenzen heraus, Das Geräusch blieb unangenehm auch dann, wenn ihm seine schrillen hohen Frequenzen genommen waren. Einzelne Frequenzen waren anscheinend für seine Schauderhaftigkeit überhaupt nicht verantwortlich. Deren Geheimnis wollte sich im Akustiklabor nicht preisgeben. Da begannen sie in der Natur zu suchen. Und siehe da, dort fand sich ein spektographisch ähnliches Geräusch: der Warnruf japanischer Affen.

Quelle (zum Weiterlesen): „Das gräßliche Geräusch“ in: DIE ZEIT 16. Januar 1987 (HIER)

Bevor ich zum Thema (Anlass des Blogeintrags) komme, rekapituliere ich kurz meine persönlichen Rahmenbedingungen. Es fing an mit den faszinierenden Anregungen, die von Kevin Volans ausgingen; er war es, der immer wieder beteuerte, dass man zu seinen Aufnahmen aus Südafrika, insbesondere Lesotho) immer den Klanghintergrund der Natur und des Alltags mitdenken müsse. Ich war ein willfähriges Opfer, da mich seit je nicht nur Vogelgesang, sondern jeder tierische Laut, das belebte Rauschen, die Geräusche der Bäume und der Meeresbrandung, der Bauernhöfe und der Bäche in den Bergen bewegte. Oder mehr: mit Erinnerungen aus der Kindheit verschmolz (Ostsee Strandbad Eldena, Lohe bei Bad Oeynhausen, Langeoog, Misburg „Am alten Saupark“). Die Dörfer, aber die Städte ebenso: Beirut 1969, Jabukovac in Ostserbien 1979,  Ftan im Unterengadin seit 1982, Dublin 1983, Tenganan auf Bali 1995 usw., unvergessliche Klangbilder. Schluss!

Um 1980 gab das Buch von Murray Schafer (s.u.) eine äußere Grundlage der „Gefühle“, viele andere Stationen – vermittelt durch die Natur-Aufnahmen von Walter Tilgner, die enzyklopädischen Soundscape-Anverwandlungen von Hans Ulrich Werner (HUW), die CDs und das Kaluli-Buch von Steven Feld – bis hin zu SOUND DES JAHRHUNDERTS (Gerhard Paul / Ralph Schock) 2013, ein mächtiger Band, dessen erste Präsentation in meinem verlorenen Blog steckt. Hier eine Reprise:

Murray Sc hafer The Tuning 1977   Sound des Jahrhunderts Cover neu  2013                       s.a. Besprechung hier (samt Intervention eines meiner Anreger).

Sound des Jahrhunderts Inhalt 1a Sound des Jahrhunderts Inhalt 2a

Und nun dies: es gibt – in der Nachfolge von Murray Schafer und seinem „World Soundscape Project“ – eine große europäische Initiative der Sammlung von Klängen aller Art, Klänge, die sich wandeln und die für immer verloren gehen können. Einzelklänge ebenso wie Klanglandschaften („Soundscapes“). Das Projekt heißt WWS – Work With Sounds.

Ich würde vermuten, dass es sich um ein ein „never ending project“ handelt, aber es sind Daten vorgegeben, die darauf schließen lassen, dass Ende dieses Monats ein Großteil der Arbeit geschehen ist, oder durch eine Erneuerung der Initiative vorangetrieben werden muss:

What does WWS do?

WWS is recording the endangered or disappearing sounds of industrial society – including sounds people try/tried to protect themselves from. During 1st September 2013 and 31st September 2015 we will record at least 600 sounds in their original settings. Every sound will also be documented: What and where is it? And how did we record it?

WWS will be creating a soundscape of industrial Europe.

Zudem sind diese Geräusche oft durch die entsprechenden Filmaufnahmen ergänzt, und all dies ist per Internet verfügbar und unterliegt ähnlichen (also wenig restriktiven) Copyright-Bedingungen wie Wikipedia (Wikimedia, Wiki Commons). Siehe hier. Beispielseite als Screenshot:

WWS Screenshot 2015-09-13 07.04.09

Ein guter Kampf?

Heldengedenken

Rhodt Weltkrieg gr Rhodt Weltkrieg Detail kl Rhodt /Pfalz (Foto JR)

War es ein guter Kampf?

Die Gemeinde hat das Denkmal „IHREN IM WELTKRIEG GEFALLENEN SÖHNEN“ gewidmet. Es gab erst einen, vermutlich entstand es also nach dem Ersten Weltkrieg, die Tafeln rechts dagegen listen die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs auf: 1941, 1942, 1943, 1944, 1945.

„Ich habe einen guten Kampf gekämpft“ – versteht man es so, wie es bei Horaz gemeint ist: Dulce et decorum est pro patria mori – Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben?

Möglicherweise gewinnen die Worte einen anderen Klang, wenn sie nicht den gefallenen Soldaten in den Mund gelegt werden, sondern als ein Zitat aus anderer Quelle zu verstehen sind? In der Tat: sie stammen aus der Bibel, aus dem 2. Brief des Paulus an Timotheus, Kapitel 4, Vers 7:

Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der HERR an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht aber mir allein, sondern auch allen,   die seine Erscheinung liebhaben.

Um was für einen guten Kampf handelt es sich? Er galt der Verbreitung des Christentums – soweit ich weiß – ohne Gewalt, damals noch, man sehe hier. Ist es nicht Blasphemie, ein ähnlich gutes Gewissen nach diesen Weltkriegen zu bezeugen, in Stein gemeißelt? Es ist wie Falschmünzerei, wenn man dabei wirklich auf den biblischen Anklang des Satzes gebaut hat.

Damals entstand ein berühmtes englisches Gedicht mit dem Titel Dulce et Decorum est, es trug den Titel in böser Ironie, genau so, wie man auch diese Denkmalinschrift absichtlich missverstehen möchte: vgl. also HIER.

Der Dichter Wilfred Owen „fiel fast auf die Stunde genau eine Woche vor dem Waffenstillstand südlich von Ors am Canal de la Sambre à l’Oise während der Zweiten Schlacht an der Sambre. Er wurde für seine Tapferkeit und die Führung des Einsatzes posthum mit dem Military Cross ausgezeichnet. Als die Nachricht von seinem Tod seine Heimat erreichte, läuteten die Kirchenglocken der Stadt gerade den Friedensschluss aus.“

Quelle Wikipedia Wilfred Owen.