Archiv für den Monat: Juli 2020

Neue Musik und anderes Lesen

Stimmfühlung 27.07.2020

Grundlage unseres Hörens scheint ein Kontinuum von Lauten zu sein. So schien mir, als ich über die Sprachentwicklung bei Säuglingen las. Und ein Gegenüber musste für das kleine Wesen spürbar sein. Wenn meine Tochter als Baby auf dem Wickeltisch lag und sich wohlfühlte, musste ich sie nur ansprechen, dann antwortete sie mit einem Dauerbrutzeln der Lippen aus Speichel und Luft, das war ihre erste Sprache. Es waren keine Einzellaute, auch nichts Wohltönendes, nur dieses leise Spuckebrutzeln. Für mich war es klar: entscheidend war bei der Kontaktaufnahme diese hörbare (und auch fühlbare) Herstellung eines Kontinuums.

Ich konnte es damals noch nicht benennen, etwa als Station der Sprachentwicklung beim Säugling, ich hielt es wohl eher für eine individuelle Besonderheit. Andere Kinder lallen und babbeln, dieses hier „brutzelt“. Heute vor 49 Jahren wurde es geboren, mittags während eines Gewitters.

 September 1971

Ich lese in einem Buch, das die Erforschung der frühkindlichen Psychologie allgemeinverständlich darstellt, vielleicht nicht auf dem letzten Stand der Wissenschaft, es stammt aus dem Jahr 1999, aber für mich plausibel. Zitat Seite 120:

Ähnlich wie beim Problem der Außenwelt oder beim Problem des fremden Ich liegt die zentrale Schwierigkeit in der mysteriösen Kluft zwischen den Schallwellen, die unsere Ohren erreichen, und den Lauten und Wörtern, die unser Bewusstsein daraus formt. Wir können eine Fotografie von Lauten herstellen, die man Spektrogramm nennt. Das Spektrogramm zeigt die tatsächlichen physikalischen Eigenschaften der Schallwellen: wie laut sie sind, welche Tonhöhe sie haben und wie sie sich verändern. Genau wie wir die zweidimensionalen Lichtmuster auf unserer Netzhaut in die dreidimensionalen, massiven Objekte übersetzen müssen, die wir wahrnehmen, so müssen wir diese Lautmuster in Sprache übersetzen. Die Entfernung von dort nach hier ist in beiden Fällen gleich groß.

Wenn man das Spektrogramm mit den Wörtern vergleicht, die wir wahrnehmen, wird eine Reihe gewaltiger Probleme offenbar. Erstens sind die Laute der menschlichen Sprache nicht wie Perlen an einer Kette nebeneinander aufgereiht: Zwischen den Lauten im Spektrogramm gibt es keine Lücken oder Pausen. Sie fließen ohne Unterbrechung dahin und wir müssen sie erst in Einheiten aufteilen. Zweitens klingt jede Stimme anders, weil unsere Münder alle verschieden groß und unterschiedlich geformt sind. Daher hören sich sogar einfache Laute (etwa ab) unterschiedlich an, je nachdem, wer sie ausspricht. Und wenn wir schneller oder langsamer sprechen usw.usw. Seite 120

Ich weiß, all diese Gedanken wirken heute nicht mehr ganz neu, jeder könnte sie geäußert haben. Und trotzdem muss man sie quasi neu entdecken und in sich nachbilden. Jedenfalls meine ich, ich müsste alles abschreiben, springe aber stattdessen auf Seite 134:

Wenn Babys uns sprechen hören, sortieren sie die Laute, die sie wahrnehmen, geschäftig in die richtigen Kategorien ein – diejenigen Kategorien, die ihre jeweilige Sprache kennt. Wenn die Babys etwa ein Jahr alt sind, ähneln ihre Sprachkategorien allmählich denen der Erwachsenen in ihrer jeweiligen Kultur.

Und wieder ein Sprung (Seite 135f):

Noch bevor sie ein Jahr alt sind, haben die Babys begonnen, der chaotischen Welt der Laute eine komplizierte aber logische Struktur zu verleihen, die speziell für ihre jeweilige Sprache ist. Früher glaubten wir, dass Babys zuerst Wörter lernen und die Wörter ihnen dann helfen, festzustellen, welche Laute für ihre Sprache wichtig sind. Aber diese Forschungen haben bewiesen, dass es sich genau umgekehrt verhält. Babys beherrschen zuerst die Laute ihrer Sprache und können dadurch die Wörter leichter lernen.

Wenn Babys ungefähr ein Jahr alt sind, wenden sie sich von den Lauten den Wörtern zu. Wörter sind in den fortlaufenden Strom von Lauten eingebettet, den wir hören, und eigentlich sind sie schwierig zu finden. Ein Problem, dass die Computer bisher nicht lösen konnten, besteht in der Frage, wie man die einzelnen Lautkombinationen, die Wörter sind, identifiziert, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Versuchen Sie, die Wort in der folgenden Buchstabenkette zu finden: theredonateakettleoftenchips. Die Kette enthält viele verschiedene Wörter: The red on a teakettle often chips oder There, Don ate a kettle of ten chips und so weiter. In der geschriebenen Sprache befinden sich normalerweise natürlich Leerräume zwischen den Wörtern. Aber in der gesprochenen Sprache gibt es zwischen den Wörtern keine Pausen. Das ist der Grund, warum sich eine fremde Sprache so schnell und gleichmäßig anhört und warum das Sprachproblem so ungeheuer schwer zu lösen ist.

Um noch einmal auf meine frühen Erfahrungen zurückzukommen, der erste Dialog auf der Grundlage des „Brutzelns“; im Buch liest sich das so (Seite 137):

Babys lernen also lange, bevor sie selbst sprechen, etwas über die gesprochene Sprache. Den Eltern fällt aber natürlich am meisten das auf, was die Babys tatsächlich sagen. Ganz gleich, ob Babys in Paris, Simbabwe, Berlin oder Moskau geboren werden, mit ungefähr drei Monaten fangen sie zu glucksen an. Sie geben entzückende kleine ooh- und aah-Laute von sich, wenn Vater oder Mutter sie anschauen, mit ihnen sprechen und sie anlächeln. Babys scheinen intuitiv zu verstehen, dass Menschen sich bei dieser Art von Austausch abwechseln. Sie glucksen, wir antworten mit sentimentalem Geplapper und so unterhalten wir uns zum ersten Mal mit unseren Kindern. Babys haben schon eine Ahnung, wie Dialoge funktionieren.

Aber dann kommt eine neue Wendung, eine Umbenennung der Lautäußerungen wird vorgenommen, an die Stelle des  Glucksens (oder Brutzelns) tritt das „Babbeln“ (S.137).

Sie beginnen, Silbenreihungen von sich zu geben, die aus Konsonanten und Vokalen bestehen, dadadada oder babababa. Babys aus allen Kulturen babbeln zunächst auf identische Weise: Sie produzieren Kombinationen aus Konsonanten und Vokalen und benutzen dabei Laute wie b, d, m und g, jeweils zusammen mit dem Vokal ah.

Quelle Alison Gopnik, Patricia Kuhl, Andrew Meltzoff: Forschergeist in Windeln / Wie Ihr Kind die Welt begreift / Serie PIPER München Zürich 2003  ISBN 3-492-23538-7

Was mich in dieser Beschreibung beeindruckt, kommt mir ins Bewusstsein, ohne dass es direkt ausgesprochen wird: dass wir mit dem Sprechen linear denken lernen, in Reihen oder Zeilen; dass wir auch das Gleichzeitige in ein Nacheinander extrapolieren. „Die Laute der menschlichen Sprache“ [sind zwar] „nicht wie Perlen an einer Kette nebeneinander aufgereiht: Zwischen den Lauten im Spektrogramm gibt es keine Lücken oder Pausen.“ [ABER:] „Sie fließen ohne Unterbrechung dahin und wir müssen sie erst in Einheiten aufteilen.“ So dass sie dann doch „wie Perlen an einer Kette nebeneinander aufgereiht“ [sind]. Das wird noch deutlicher, wenn wir im Kopf haben, wie wir mit Musik umgehen. Oder sie in Spektrogramme verwandeln.

Und ist es nicht seltsam, dass wir dieses kompakte Buch, das wir in der Taschenbuchausgabe besitzen, um es fassbarer, begreifbarer mit uns herumzutragen, doch Zeile für Zeile lesen müssen, als lebten wir noch in der Epoche der Pergamentrolle. Oder der Siegessäulen mit erzählenden Reliefbändern, die spiralig aufwärts führen, oder wir stünden in einem Kreuzgang mit hochgerecktem Gesicht, um die schön geordneten Bilder chronologisch zu enträtseln.

Der entscheidende Punkt: das, was sich bewegt und uns in Bewegung setzen soll, muss selber stillgestellt werden, es darf sich nicht mehr entziehen, in die Unfassbarkeit abwandern, wir können es mit den Augen abtasten und innerlich hören; das leise, unhörbare Lesen wurde erfunden!

Eine andere epochale Wendung hat sich mir mit Datum eingeprägt, bevor sie ins allgemeine Bewusstsein trat: Bei der Aufnahme einer Byzantinischen Liturgie in Athen, – das war im März 1982 – Tomas Gallia hatte seine kostbaren Nagra-Geräte aufgebaut: die Spulen waren relativ klein, und die zweite Maschine musste gestartet werden, bevor die andere zuendelief; die überlappenden Stellen wurden später im Studio, wenn alles auf größere Bänder kopiert war, einfach zusammengeschnitten. Wir sprachen darüber, ob es noch eine qualitative Steigerung über die Geräte von Kudelski hinaus geben könne. „Man ist schon dabei“, sagte Gallia, „das ist verrückt: da bewegt sich nichts mehr. Das wird aussehen wie eine Scheckkarte!“ Beruhigend an den CDs der Neunziger Jahre war dann, dass sie sich wenigstens noch drehten,  und auf der blanken Scheibe konnte man sich den tönenden Inhalt noch sehr eng gewickelt, spiralig angeordnet, vorstellen, sie erschien als logische Modernisierung der alten Schallplatte. Aber auch die „Scheckkarte“ wurde realisiert und schließlich die „Cloud“, die reine Virtualität. Musste man Musik nicht völlig neu denken lernen?

Was ist das? Ein Text, der offensichtlich zu einer CD gehört, deren Identität einstweilen verborgen bleiben darf. Denn zum Weiterdenken hat man eigentlich schon genug in der Hand. Es wird auch irgendwie auf die Ohren zulaufen, auf reales Hören. Und es wird sich erweisen, dass ich vielleicht doch etwas zu kindlich begonnen habe (denn der Urheber des gedruckten Textes bin natürlich nicht ich, etwa als junger Vater, auch kein fingiertes Ich, noch weniger ein virtuelles).

Und ich lese da mit Betroffenheit die Worte von Salvatore Sciarrino:

So bedeutet die Ökologie des Klanges, zum Schweigen zurückzukehren … (Es) bleibt nur Mund, Höhle, Speichel. Die Lippen gelockert, begrenzt von einer dunklen Leere, von Dunst und von Hunger.

Hören: Musik von 1980

Nachtrag 15. August 2020

… siehe auch hier – der Klick zur Original-Website des Schallplattenpreises, auf der man auch Musikbeispiele anspielen kann. Aber Vorsicht! Nach sehr leisen Stellen kommen unverhofft auch ganz heftige Ausbrüche: denken Sie an Ihre Ohren. Solch eine Musik sollte man besitzen und vorchecken, auch den Text! Nicht nur überfliegen, sondern studieren, bewusst auf Augenhöhe und Ohrenlevel einstellen. 

Die CD hat also inzwischen den Vierteljahrespreis „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ in der Sparte „Zeitgenössische Musik“ erhalten. Da diese Information erst am 14. August veröffentlicht wurde, habe ich die Abbildungen von CD und Booklet anonymisiert, auch den Autor des Textes (J. Marc Reichow) cachiert, um den Eindruck zu vermeiden, dass ich den mir wohlbekannten Namen hervorheben wolle, während die Jury noch tagt. Heute aber kann ich an dieser Stelle auch den Kauf der CD wärmstens empfehlen und die Entscheidung der Jury goldrichtig finden. Ich werde mich demnächst in einem weiteren Blog-Artikel näher damit befassen und das unten folgende, hochinteressante Spektrogramm aus dem Innern der CD-Hülle vervollständigen. Ein Dokument ersten Ranges.

ZITAT:

Dass außerdem Nonos „Polifonica – Monodia – Ritmica“ hier erstmalig als Rekonstruktion einer nie aufgeführten Urfassung zu hören ist, zeichnet das Album zusätzlich aus. Die Darmstädter Uraufführung von 1951, von Hermann Scherchen auf ein Drittel der Dauer gekürzt und hier als Bonustrack veröffentlicht, spricht Bände! (Für die Jury: Marita Emigholz)

 mehr darüber hier ! oder hier:

Nono’s early compositional art, which culminated in Polifonica – Monodia – Ritmica for six instruments and percussion (1951), is performed by the ensemble aisthesis from Heidelberg in 2005 in the reconstructed, unabridged version which Nono originally created (presented on CD for the first time here). The abridged version, in which the work had its world premiere at the Darmstadt Summer Courses for New Music under the baton of Hermann Scherchen in 1951, completes the CD as a bonus track.

Musikalisches Opfer JR 2001

Einführung Bach-Woche Ansbach / Almanach

 

Zum Anspielen aller Stücke auf CD bei jpc hier oder hier

 

Extern HIER

Noch ein Sprung weiter, nein, Jahrzehnte zurück (was ich – auch nicht kalten Sinnes – nur stichwortartig angehe):

1959 Bielefeld Bethel Heinrich-Schütz-Kreis Adalbert Schütz (1912-1993), Kantor an der Zionskirche, die auf der anderen Seite der zur Sparrenburg führenden Promenade lag. Wir wohnten diesseits am Paderborner Weg (später umbenannt in Furtwänglerstraße). Ich spielte dort beim Weihnachts-Oratorium mit und war dem Hause Schütz für kurze Zeit auch enger verbunden, gerade in der Zeit, als mein Vater starb. Zum Andenken erhielt ich diesen Sonderdruck, den ich aus Respekt verwahrt habe, ohne inhaltlich so ganz überzeugt zu sein. Ob Bach tatsächlich einen „Fehdehandschuh aufgenommen hat, den der König mit dem Thema in die Arena geworfen hatte“?

 Quelle in Bethel bei Bielefeld

   

 Grabstein Friedhof Bethel

Das ganze Musikalische Opfer in einem Konzertmitschnitt (alte Aufnahme,um 1983, leichtes Grundgeräusch) mit Musica Antiqua Köln (Reinhard Goebel, Leitung und Geige!), im Titelbild Phoebe Carrai.

Und in der Version, die wohl in Ansbach gespielt worden ist, von Igor Markevitch, hier auch unter seiner Leitung. Nur Standfoto. (Externes Fenster hier)

Musik mit Implikationen

Toleranz und Intelligenz

 lesen (extern) HIER

Sieht es wirklich so friedlich aus, wie wir es gerne hätten? Es ist offensichtlich nicht unproblematisch, links der Moslem, rechts der Christ. Aber kein Zweifel, sie spielen und hören einander zu. Es handelt sich um eine Abbildung aus den Cantigas de Santa Maria, und diese Maria genießt zwar im Islam und im Christentum gleichermaßen große Verehrung, – aber … im Judentum? Man lese über Alfonso el Sabio (1221-1284) hier und über Maria hier. Seien wir froh darüber, dass es diese Zeugnisse gibt, aber trotzdem sollte man mehrfach nachfragen, bevor man Schlüsse daraus zieht. Sollte man heute überhaupt noch von Religion reden, wenn es um Musik geht? Im Fall Johann Sebastian Bach (1685-1750) gebe ich gern zu, dass man etwas von Luther und auch vom Pietismus wissen müsste, sogar eine Anzahl von Chorälen verinnerlicht haben sollte. Aber zwischen den eben avisierten historischen Welten gibt es noch einen gewaltigen doppelten Riss, der durch die Geschichte gegangen ist, komprimiert in der Jahreszahl 1492.

Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus / C.H.Beck  München 2007 / Seite 38

Es gibt nicht viel Anlass, in einem früheren Abschnitt der Geschichte ein Goldenes Zeitalter des friedlichen kulturellen Miteinanders zu unterstellen. Vielleicht von Mensch zu Mensch, aber nicht zwischen organisierten Machtstrukturen. Auf der nächsten Seite dieses Büchleins ist vom ersten wahrhaft ‚globalisierten‘ Wirtschaftssystem der Geschichte die Rede. Gemeint ist der später so genannte „Dreiecks-Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika“, so zynisch das klingt. Die Folgen waren unterschiedlich, und überall in der Welt gab es Varianten solcher Begegnungen. Vernichtung oder Koexistenz waren nicht die einzigen Alternativen. Die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren verhielten sich anders als die nordeuropäischen, mit der (nicht beabsichtigten) Folge, dass sich langfristig nur in Südamerika eine wirklich multiethnische Bevölkerung entwickelte, und so z.B. auch eine wirkliche Symbiose der Musikstile, die etwa zur Genese neuer Tanzformen führte. Volksmusik, – wenn ich das hier schon anführen darf. Und niemand dort hätte andere Ohren gebraucht.

Das hat allerdings nicht unbedingt mit dem Nahen Osten zu tun. Nichts in den verschiedenen Kulturen der Welt ist ohne weiteres 1 zu 1 übertragbar.

Konzentrieren wir uns also auf den ZEIT-Artikel, der sich weit entfernt von diesem Hintergrund in unserer Gegenwart entfaltet, – was soll es bedeuten: Mit anderen Ohren zu hören? All dies ausschalten? Andererseits die Warnung vor Vereinfachung, während sie massiv weitergetrieben wird. Der Rhythmus, essentieller Parameter der orientalischen Musik, kommt in dem Artikel gar nicht erst vor. Und vom Westen heißt es: „Der Gigant der abendländischen Musik, Johann Sebastian Bach, komponierte fast ausschließlich religiöse Musik.“ Das ist nicht wahr, ich muss es nicht aufzählen, von den Brandenburgischen Konzerten über die Goldberg-Variationen bis zur Kunst der Fuge. Da gibt es nun mal nichts, was mit den Meditationen bestimmter Sufi-Orden des Nahen Ostens vergleichbar wäre, die „über Jahrhunderte hinweg die Kaderschmieden klassischer Musik“ gewesen sein sollen. Das Wort klassische Musik ist auch nur ein Etikett, wie Volksmusik oder Kunstmusik. Wenn gesagt wird, dass ein Abend deutscher Musik mit dem Violinkonzert von Brahms und Stücken aus Ludwig Erks Deutschem Liederhort nicht denkbar sei, so steckt darin nur der wahre Kern, dass Brahms diese Sammlung nicht leiden konnte. Aber seine eigene Volksliedersammlung hätte er wohl gelten gelassen, und in jedem Radioprogramm wäre eine Liedergruppe nach seinem Violinkonzert oder vor den vierhändigen Ungarischen Tänzen denkbar.

Es grenzt an fahrlässige Pauschalisierung, aber man muss irgendetwas an Prämissen vorgeben, bevor man uns ein neues Hören empfiehlt; denn dies beginnt nun einmal nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit (Geschmacks-)Bildung und knallharten Detailkenntnissen. Beginnen wir also mit besonders breiten Schubladen!

Meine Vereinfachung ad hoc

Die Musik wirkt anders auf die Menschen als etwa die Gebrauchsgraphik, wo ein sich wiederholendes Ornament den ganzen Raum füllen darf, ohne dass jemand sagt: die Wände langweilen mich, im Gegenteil, erst so entfaltet diese Kunst ihre belebende oder beruhigende Wirkung, auch – und gerade – als Hintergrund.

Die Musik bedarf der Zeit, macht durch ihre Präsenz fortwährend auf sich aufmerksam. Und da gibt es von vornherein eine Ökonomie der Mittel: Wenn ein Orchester dasitzt, soll es tätig sein; es wirkt deplaziert, wenn zwischendurch eine halbe Stunde lang nur kurze Liedchen mit Lautenbegleitung gesungen werden.

Wenn dagegen ein Trommler eine halbe Stunde untätig bleibt, während der Sitarspieler ein entsprechend großes Solo spielt, entspricht dies dem zugebilligten Rang der Melodie gegenüber dem Rhythmus und zugleich einem Sinn für Steigerung der Mittel, wenn nun beide Spieler zusammenwirken. (Beispiel Indische Musik.)

Und es gibt einen inhaltlichen Anspruch: die endlose Wiederholung einer leicht überschaubaren Melodie, selbst in diversen Abwandlungen, ist einem gebildeten Publikum, das adäquat beschäftigt sein will, nicht zuzumuten. (Ravels Bolero ist eine Ausnahme, zudem wiederholt er eine durchaus nicht leicht überschaubare Melodie, und die Steigerung der Mittel lässt ein in der Ferne – in 15 Minuten – winkendes Ziel erahnen.)

Volksmusik lebt von der Wiederholung, wie auch die einfache Choreographie des Volkstanzes. Das einzelne Lied lebt von den Strophen oder Zeilen mit einem Fortgang des Textes, der Tanz zudem von der hypnotischen Wirkung der Kreisbewegungen und auch vom Wechsel der Tanzarten (Rhythmen), von der Mode, den Bräuchen und der gesellschaftlichen Notwendigkeit.

Kunstmusik lebt von dem sinnvollen Aufbau größerer Gebilde, die Zeit brauchen und den Zeitaufwand lohnen. In der (alten!)  klassischen westlichen Musik ist dies bereits in Umrissen vorgezeichnet durch bestehende, erprobte Formen wie Oratorium, Kantate, Sinfonie (Sonate), Konzert für Solo und Orchester und ähnliches, in der klassischen orientalischen durch die Aussicht auf eine große, detaillierte Darstellung eines Maqams (Dastgah, Raga), solistisch oder im Ensemble, auch innerhalb bestimmter Formen (Nouba, Qasida, Tawsih, Taqsim, Daramad).

Die Wahrnehmung solcher Gebilde erfordert Bildung: die Fähigkeit der fesselnden Darstellung (Künstler) und des kennerhaften Nachvollzuges (Publikum).

Es genügt also nicht, (vorläufig) reizvolle neue Farben zum Verwechseln ähnlich wiederzugeben (Weltmusik mit „fremdkulturellen“ Akzenten), exotistische Einzelstücke im exotischen Outfit zu bieten, aneinandergereiht nach mehr oder weniger zufälligen geschmacklichen Erwägungen.

Je mehr man weiß und kennt, desto empfindlicher wird man gegenüber falschen Tönen und geistlosen Imitaten. Auch weltanschaulich oder ethisch, im Umgang miteinander. Dies aufzuzeigen, ist wohl auch der Sinn des ZEIT-Artikels, der aber zugleich mit Illusionen spielt: als sei im Rahmen von Konzerten, die sich an Pop-Sessions orientieren, eine Differenzierung zu lernen, die sonst jahrelanger Übung bedarf.

Was nicht hilft (aber auch nicht schadet): der bloße Wille zur Toleranz, gerade gegenüber dem, was geschmacklich (in der Vermischung) misslungen scheint. Sie braucht keine Begründung. Und es ist sogar unnötig, den anderen Mitmenschen im eigenen Land, andere Ohren zu wünschen.

Die Sorge des ZEIT-Artikel-Autors mag dennoch begründet sein:

Brot backen, Yogi werden, fremde Sprachen entdecken: Das Angebot an virtuellen Bildungsmöglichkeiten während der Corona-Krise ist überwältigend. Von diesem Appetit auf Neues profitiert in Deutschland auch die nahöstliche Musik, deren Bekanntheit durch die Zuwanderung der letzten Jahre ein ansehnliches Niveau erreicht hat. Rasch haben westlich ausgebildete Geiger oder Cellisten syrische Volkslieder oder „arabische Tonleitern“ erlernt, Wohnzimmerkonzerte mit der Kurzhalslaute Oud oder der Kastenzither Kanun werden über Facebook tausendfach geteilt. Das Ganze nennt sich dann „orientalische“, „türkische“ oder „arabische“ Musik und ist fast immer volkstümlich konnotiert. Klänge „aus Tausendundeiner Nacht“ eben.

Er hält das für Marketingstrategien. Man könnte aber auch hier globale Toleranz fordern. Daher ist die Schlussfolgerung interessant, – welcher Gewinn winkt uns?

Was ist der Zweck des ZEIT-Artikels?

ZITAT:

Warum ist es wichtig, dies zu verstehen? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik kann dem europäisch geschulten Geist neue Horizonte eröffnen. Diese Musik in ihrem künstlerischen wie historischen Reichtum zu erfahren könnte ein bedeutender Schritt sein bei der Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik. Die Welt mit anderen Ohren zu hören wirkt mindestens so bereichernd, wie sie mit neuen Augen zu sehen.

Also: Bereicherung? Gewiss, man soll den Begriff nicht überfrachten, gemeint ist offenbar das Erleben von geistigen Reichtümern, die man gar nicht im aggressiven Sinn erobert.

Was bringt uns diese Einsicht? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik? Was ist mit indischer, vietnamesischer, indonesischer Musik? Wieviel darf es denn sein zur „Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik.“

Soviel auf einmal!? Nach dem Mozart-Effekt eine Art Makam-Effekt. Ich wäre der letzte, der sich darüber nicht freuen würde, könnte aber auch an die von Mantle Hood geforderte Bi- oder gar Multi-Musikalität erinnern. Es bleibt also schier unendlich viel zu tun. Bevor wir auf  Philosophie, Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik kommen.

Was für eine Illusion!

Die Toleranz ist nicht alles. Die Intelligenz des Menschen ist auch dazu da, grundsätzliche Differenzen zu erkennen. Deshalb bin ich gleich mit dem Rhythmus gekommen. Ich hätte auch vom Gebrauch der Harmonien anfangen können. Oder davon, dass sie im klassischen Sinn bei uns eigentlich nur noch in Pop und Volksmusik verwendet werden, und dass sie der unversöhnliche Feind der fein ausgebildeten Makam-Ohren sind…

Beides große Erfindungen der musikalischen Menschheit.

Gesicht(er) des 19. Jahrhunderts

Mein neuestes Buch ist 7 Jahre alt und …

 Leipzig 2013

… begeistert mich vollständig! (Dank an E.R.)

Ich hätte auch schreiben können: stimmt mich zwiespältig. Und so bin ich nicht unglücklich, wenn die Wiedergabe des Artikels im Smartphone das obige Titelblatt spaltet. Inhaltlich führt der rückseitige, vergrößerte Text in die richtige Richtung. (Bitte anklicken!)

Mit diesen drei Gestalten kommt auch alles visuell Erschreckende und Bombastische des „romantischen“ Jahrhunderts zum Vorschein, der Anfang der Moderne, der intendierte große Umschwung, der sogenannte Fortschritt, das Gesicht des 19. Jahrhunderts.

Ein kleiner Druckfehler sei vermerkt (sehe ich meist beim Aufschlagen eines Buches) Seite 16: Thomas Mann hat sicher nicht von Wagner als einem „theatroromanischen Kostümfex“ gesprochen. Sondern… ?

Der Preis für diesen Prachtband ist sozusagen nicht erwähnenswert, es ist die Hälfte oder ein Drittel des normalen Kinobesuchs, bietet jedoch großes Kopfkino und für die Länge von 10 Spielfilmen Staunen und Vergnügen. Man sollte aufmerksam die Inhaltsübersicht studieren, auch wenn sie bei mir etwas angegraut aussieht, sie steht auf schneeweißem Grund.

Aber jetzt schauen Sie HIER 

Wer hat das so schön gestaltet?  Alexandra Matzner / Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publikationen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.

Eine frühe Erinnerung aus dem Bücherschrank meines Vaters (was kannte ich von Brahms? die Klaviertrios in c-moll und C-dur mit seinem „Bielefelder Kammertrio“), die Biographie von Heinrich Reimann, das Original aus dem Jahre 1911.

Ich habe mir dank Brahms den Namen „Max Klinger“ gemerkt (ohne ihn besonders zu mögen, wie etwa Arnold Böcklin – wegen seiner „Toteninsel“), hatte keine Ahnung, dass Klinger hier sich selbst am Klavier dargestellt hat:

Und als ich in den frühen 50er Jahren mit extensiver Karl-May-Lektüre vom Wilden Westen in den ebenso Wilden Osten kam, da begann ich aus Sympathie für Kara Ben Nemsi eine Liste arabischer Sätze zusammenschreiben, in der Annahme, dass ich das einmal brauchen könnte.

(Fortsetzung folgt)

Orgeln

Netze spinnen

Ich staune selbst, wenn ich einen eigenen Blogeintrag suche und oben im Fensterchen ‚Orgel‘ eingebe: wie oft ich doch „erinnerungstechnisch“, also gedanklich und mit banger Sehnsucht, in die Zeit zurückgekehrt bin, als wir in Bielefeld neben der Pauluskirche wohnten. Da ist eigentlich nichts zurückwünschenswert, aber jede dieser CDs von heute, die manchen Zeitgenossen nur old-fashioned dünken, hat für mich mit Jugend zu tun. Das war tatsächlich mein Kulturzentrum, das ins Ende der Kindheit strahlte und seltsamerweise auch die Pubertät „umspielte“, die bei vielen Jugendlichen irrtümlich zum Bruch mit der angeblich uncoolen Klassik führt. In diesem Fall öffnete sich eine weite Welt, in der selbst mein Vater nicht ganz zuhaus war: Bach-Motetten (Kirchenchor „Der Geist hilft“), Kantaten (Trompete C-dur „Jauchzet“), Matthäus-Passion (Radio mit Klavierauszug), Weihnachtsoratorium (private Archiv-Schallplatten, Hörstunden mit einem Freund im Gemeindehaus), Orgel (ein paar Monate Unterricht, das neue Instrument in der Kirche, Einweihung durch Michael Schneider, Vater von Christian). Der Geruch auf der Empore, der hörbare Blasebalg, der Staub, die Kirchenfenster. Etwas davon hier.

Es gab viele markante Punkte, die diese frühe Färbung betrafen, einer zum Beispiel, Jahrzehnte später, brachte mir die unverhoffte Aufgabe, Texte über Max Regers Orgel-Phantasien zu schreiben. Nicht mit fliegenden Fahnen übernommen, sondern zögerlich, endlos abtauchend mit Kopfhörern, – war das wohl Anfang der 90er Jahre? Jedenfalls gab es ein Ergebnis dazu: Hier.

Nachtrag 27.07.2020 (à propos Netze spinnen…)

Eberhard Essrich, der Kantor der Pauluskirche in Bielefeld (später Lüdenscheid) begann mit „Acht kleine Präludien und Fugen“, die Noten habe ich geliebt und besitze ich noch (5 andere Orgelbände von Bach haben sich dazugesellt). Sie sind aber in Ungnade gefallen, als ich hörte (ich hätte sogar Ähnliches im Vorwort von Karl Straube lesen können), sie seien von einem Schüler komponiert (dumm von mir!). Die Pausen links außen = E.E., die Pedalbezeichnung: JR. Zum Rekapitulieren ein Link: hier. Heute, nachdem der größte Teil dieses Artikels bereits fertig vorliegt, ist mir in einem Aufsatz von Werner Breig ein Exkurs aufgefallen, der mich in eine ähnlich „ent-täuschende“ (im wörtlichen Sinn) Situation bringt. Doch das füge ich erst nach Fuge BWV 546 ein…

All das kehrte jedenfalls jetzt zurück, als ich diese Internet-Podcasts entdeckte. Mehr über die Interpretin, die uns in diese Welt einführt, im Wikipedia-Artikel Susanne Rohn. Mir gefällt die unkomplizierte Art, wie sie an ein so großes Unternehmen herangeht, sie präsentiert keine umfangreichen Analysen, sondern sagt das, was sie auch Orgelschülern im Unterricht sagen würde. Es erinnert mich an die Zeit Mitte der 50er Jahre, als mein Vater mit mir penibel die Harmonielehre von Louis-Thuille durchging, während Kantor Essrich im Zuge des Orgelunterrichts sagte: Harmonielehre kann man doch in drei Wochen lernen, und so hielt er es mit uns, um uns sobald wie möglich Bach-Choräle mit Bezifferung sauber ausarbeiten zu lassen. Eine provisorische, aber sehr effektive Musikwerkstatt. – Für die hier ausgewählten Beiträge betätigt man übrigens immer die neben das Bild gesetzte Anklickmöglichkeit, die ein externes Fenster öffnet. Ich beschränke mich vorweg auf kurze inhaltliche Hinweise. Wenn Sie den betreffenden Podcast hören und sehen wollen, also bitte jeweils auf extern: Hier klicken, bei den (Screenshot-) Bildern selbst ergibt das nur eine Vergrößerung, die natürlich auch erfreulich sein kann.

Die kleinste Orgel

 extern: HIER

Wieder einmal: Was ist eine Fuge? (am Beispiel BWV 546)

 extern: Hier

Frage: Und warum nicht an der Bach-Orgel? Es geht weiter:

Fortsetzung (zur Bach-Fuge BWV 546 c-moll) Hier

Exkurs zur Kritik dieser Fuge

 

Quelle Werner Breig: Versuch einer Theorie der Bachschen Orgelfuge / Die Musikforschung 48, 1995 Heft 1 / Bärenreiter Verlag GmbH & Co. KG, Kassel

Ausgangspunkt für eine Kritik dieser Fuge BWV 546 war wohl an erster Stelle die Tatsache, dass das zugehörige Praeludium so gewaltig ist. Kaum vorstellbar ist, dass Bach dieses Missverhältnis nicht bemerkt haben sollte, gerade wenn man andere „Doppelgespanne“ zum Vergleich heranzieht.

 extern HIER

Der Spieltisch einer modernen Orgel (1908)

 extern HIER

Die Traktursysteme der Orgel

 extern HIER

Bergbesteigung: das Innere einer modernen Orgel (Organistin Susanne Rohn führt durch die Sauerorgel (1908) der Erlöserkirche Bad Homburg. Nach der Führung spielt sie von Albert Zwyssig (1808-1854) das Stück „Schweizerpsalm“ (1841) = Schweizer Nationalhymne)

 extern HIER

Hinweis auf den Finger Gottes in Michelangelos „Schöpfung“

  extern Hier

Choral-Analyse Barform (Stollen, Stollen, Abgesang), Was ist ein Tremulant? Der Rhythmus des Kontrapunktes in Takt 1, der erstaunliche Takt vor dem Schlussakkord (!!! ab 8:53). Siehe auch Wikipedia hier über die Achtzehn Choräle (mit Link zur Handschrift!)

Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir, führt mich durch alle Straßen,
da ich sonst irrte sehr.

Er reicht mir seine Hand, den Abend und den Morgen tut er mich wohl versorgen,
wo ich auch sei im Land, wo ich auch sei im Land.

(Fortsetzung folgt)

Der Geist der Tiere

Serengeti-Film „Helden der Savanne“

Dieser Film der Reihe terra x hat mich besonders beeindruckt, und da er bis 2030 abrufbar ist, möchte ich auch dafür sorgen, dass ich ihn in den kommenden 10 Jahren  jederzeit per Knopfdruck wieder auferstehen lassen kann. Muss ich dazusagen: falls ich dann noch…? Ich tue es ja nur für den Fall, dass die Erinnerungsmaschine weiterhin Stoff braucht, aber im Prinzip doch lebensähnlich funktioniert. Bis heute erinnere ich mich an mein allererstes Kino-Erlebnis. Das war „Lied der Wildbahn“, also ab 1949, – wobei mir damals egal war, wer ihn gemacht hat, von Grzimek und seinem Kampf um Serengeti wusste ich noch nichts, aber es war immerhin der erste Film, den Heinz Sielmann gedreht hat. Da hatte die Musik in meinem Leben noch nicht die Tiere in den Hintergrund gedrängt. Ich habe erst vor wenigen Momenten entdeckt, dass ich das „Lied der Wildbahn“ (zumindest tendenziell ein Lied?) heute – nach etwa 60 [Korrektur: 70!] Jahren – noch einmal ansehen könnte und tue es nicht, weil ich darauf besser eingestellt sein müsste (ich will mich nicht drüber lustig machen müssen). Ich habe noch gerade die Anfangsmelodie wahrgenommen (Hörner: „Im Wald und auf der Heide“, ich würde das heute vielleicht schwer durchstehen), und aus!!!

HIER wäre der Weg…

Die Musik in dem heutigen Serengeti-Film fand ich in ihrer Sparsamkeit lobenswert, sie deckte  die Geräusche der Natur nicht zu und persiflierte die Szenen auch nicht in Richtung Komik. Sie gehörte sozusagen zur Erzählerstimme, die auch wohltuend unaufdringlich, aber höchst aufschlussreich kommentierte. Der Film selbst war überwältigend. Hätte es sowas früher gegeben, wer weiß, ob ich nicht lieber Verhaltensforscher geworden wäre. Diese Nähe zu den echten Tieren, die Glaubwürdigkeit der erstaunlichsten Szenen! Die lauernden und jagenden Geparden, ihre Jungen, die lernen müssen, eine erlegte Gazelle (?) zu töten, eine trauernde Giraffe, die scheinbar nicht begreifen kann, dass ihr Nachwuchs tot im Grase liegt. Die Zebras, die mit letzter Kraft einen verschlammten Fluss überqueren, während einige es nicht mehr schaffen. Ich kann nur raten, diesen Film mit Kindern oder Enkeln gemeinsam zu sehen, und sie lieber vor Nachrichten über Tönnies abzuschirmen als vor diesen Wahrheiten aus der Wildnis.

 HIER

Ein Paar Sätze möchte ich an dieser Stelle nachtragen, da man sie bei Helmuth Plessner nie wieder vermuten würde:

Im Anwendungsbereich einer Kultiviertheit zeigt der reife Mensch erst seine volle Meisterschaft. Direkt und echt im Ausdruck ist schließlich auch das Tier; käme es auf nicht mehr als Expression an, so bliebe die Natur besser bei den elementaren Lebewesen und ersparte sich die Gebrochenheit des Menschen. Wo finden wir noch solchen Ausdruck reinster Trauer als bei einem Hunde, wo solchen Adel der Haltung als beim Pferd, wo solche göttliche Gewalt als im Haupt des Rindes? Lachen und Weinen des Menschen, sein Mienenspiel erschüttern erst da, wo sie die Eindeutigkeit der Natur und des Geistes hinter sich gelassen haben und von jener Unfaßlichkeit umwittert sind, die den Abgrund ahnen läßt, ohne ihn zu öffnen. Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen.

Quelle Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft / Eine Kritik des sozialen Radikalismus / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Suhrkamp Frankfurt am Main 2001 Seite 106

Nachtrag 25.09.22

Wieder ist es eine Dokumentation der Reihe „terra X“, die micht motiviert, diesen Artikel über den Geist der Tiere zu ergänzen:

Sie gebrauchen Werkzeuge, lösen knifflige Probleme und schmieden Pläne: Viele Tiere sind tierisch schlau. In vielen Aufgaben ziehen sie sogar mit den Menschen gleich. Dirk Steffens macht sich auf die Suche nach den „Intelligenzbestien“ der Welt.

Faszination Erde: Spatzenhirne und Intelligenzbestien Dokureihe mit Dirk Steffens

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/faszination-erde-spatzenhirne-und-intelligenzbestien-100.html

  HIER – abrufbar bis 2027

Über die Intelligenz der Schweine (höher als Hund?) siehe auch hier.

Zugleich wird gerade ein dazu passendes gewaltiges Werk in der ZEIT (22.09.22 Seite 31 Autor: Rudi Novotny) besprochen: ED YOUNG: Die erstaunlichen Sinne der Tiere Verlag Antje Kunstmann / 523 Seiten, Preis entsprechend, Klappentext lesen hier.

ZITAT aus ZEIT-Besprechung (betr. Kraken):

Lanz-Analyse

Für + Wider = Lernprozess

Ich zum Beispiel lese ungern etwas von Maxim Biller, weil ich immer seine mündliche Argumentation aus dem früheren Literarischen Quartett im Ohr habe; dies steht auf/in einem ganz anderen Blatt:

Wenn man viele Sendungen ernsthaft interessiert an- und auch mal weggeschaut hat, dann ist das Irritierende an Lanz, auf das man sich erst mal einlassen können muss: dass er wirklich politisch informiert und interessiert ist, aber weitgehend unideologisch. „Er fragt ohne eigene Agenda“, sagt der Schriftsteller Maxim Biller, der zu den Ersten gehörte, die ihn öffentlich gut fanden.

Mir selbst wurde das bei der Analyse früherer Reaktionen klar, die unterschiedlich ausfielen, je nach Gast. Bei einer mir unsympathischen linkskonservativen Politikerin war ich begeistert, wie scharf Lanz fragte, und dachte: Sooo muss man es machen. Bei einer mir sympathischen Klimapolitikaktivistin war ich empört, wie scharf Lanz fragte, und dachte: Sooo geht es ja gar nicht. Der Ideologe war also ich.

Dies sind Sätze aus einer herrlichen Beschreibung des Talk-Masters und Menschen Markus Lanz. Der Autor heißt Peter Unfried, was wohl kein Pseudonym ist, sonst läse man’s bei Wikipedia, siehe hier.

Sein Taz-Artikel hat mir großes Vergnügen gemacht, er spiegelt – so scheint mir bzw, so bilde ich mir ein – auch meine Geschichte jahrelanger Beobachtung der Lanz-Sendung zu nächtlicher Stunde. Reiner Zufall?

Ich habe als größten Fehler in Lanz‘ Laufbahn sein Bierkastenstemmen in „Wetten dass…“ gesehen. Er hätte wissen müssen, dass man danach außer Atem ist und nicht mehr souverän moderieren kann. Aber das liegt unglaubliche 8 Jahre zurück. Er hat in dieser Zeit unglaublich viel gelernt. Man muss ihn aber deswegen nicht unbedingt mögen.

Hier ist der Zugang: https://taz.de/Moderator-Markus-Lanz/!5693746/

Vom Geld in der Kultur reden!

Ein Text von Berthold Seliger

veröffentlicht am 17. Juli 2020 bei TELEPOLIS (Link s.u.)

Für ein prinzipielles Kultur-Existenzgeld!

Sozial-kulturelle Utopie 2020

Der Covid-19-Virus und die Folgen der Pandemie bringen die Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt, die maßgeblich vom Drang nach Kapitalverwertung angetrieben wird, neu und teilweise dramatisch ins Bewusstsein. Die meisten Probleme, die jetzt diskutiert werden, haben allerdings nichts direkt mit der Corona-Krise zu tun, sondern werden in den Pandemie-Zeiten wie unter einem Brennglas gebündelt und hervorgehoben.

Auch vor Corona wurden die Schlachthofarbeiter und die Spargelstecher*innen bereits ausgebeutet oder die Pflegekräfte und andere Mitarbeiter*innen im Gesundheitssektor deutlich unterbezahlt (und es ist ein Armutszeugnis, dass im 130 Milliarden-Euro-Hilfspaket des Bundes die Pflegekräfte gar nicht erst vorkommen).

Nicht nur im Gesundheitssystem, auch im Kulturbereich, der in Teilen nach wie vor komplett stillgelegt ist und wohl am längsten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sein wird, hat die Corona-Krise Missstände, die schon länger Bestand hatten, in aller Schärfe offengelegt: Corona lässt die prekäre Kehrseite des jahrzehntelangen neoliberal geprägt Um- und Abbaus von Institutionen und Sicherungssystemen, aber auch die Beziehung zwischen „dem Leben“ und „der Theorie“ deutlich zutage treten. Dies gilt insbesondere für die Kulturschaffenden und die Kulturarbeiter*innen.

Kurzfristig angelegte Nothilfemaßnahmen sind zwar wichtig und ausdrücklich begrüßenswert, dauerhaft sind aber im Kultursektor – ähnlich wie in Sachen Werkverträge der Fleischindustrie oder gerechter Bezahlung der Pflegekräfte – strukturelle Änderungen und Neuerungen dringend notwendig.

Vor knapp fünfzig Jahren, zu Zeiten und auf Anregung der sozialliberalen Bundesregierung, wurde in der Bundesrepublik erstmals die soziale, berufliche und wirtschaftliche Lage der Künstler*innen und Publizist*innen untersucht. Das war die Basis für weitere Überlegungen zu einer sozialen Absicherung von Kulturschaffenden, die vor vierzig Jahren schließlich zur Verabschiedung des Künstlersozialversicherungsgesetzes führten, das gegen den massiven Widerstand der Kultur- und Verwertungsindustrie erkämpft werden musste.

Damit wurde erstmals eine gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung für selbständige Künstler und Publizisten eingerichtet, wobei diese den Arbeitnehmeranteil, die Vermarkter künstlerischer und publizistischer Leistungen dagegen einen Arbeitgeberanteil übernehmen sollten, der außerdem durch einen Bundeszuschuss finanziert wurde – ein Meilenstein in der Ideengeschichte der sozialen Absicherung von Kulturschaffenden.

Die Lage ist jedoch nicht mehr dieselbe wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Künstlerische Berufe erfreuen sich unverändert einer hohen Attraktivität, trotz der mit der Soloselbständigkeit verbundenen finanziellen Risiken. Vor allem aber haben sich die Herstellungsbedingungen von kulturellen Leistungen in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Der Anteil der fest angestellten Kulturschaffenden hat sich in fast allen Bereichen deutlich verringert, während die Zahl der euphemistisch gern als „frei“ bezeichneten, also selbständig tätigen Künstler*innen seit den 1980er Jahren drastisch gestiegen ist.

1991 waren insgesamt 47.713 Kulturschaffende und Publizisten bei der Künstlersozialkasse versichert, im Jahr 2019 waren es 193.592, also mehr als vier Mal soviel. Heute sind 42.700 Versicherte im Bereich Wort, 67.075 in der Bildenden Kunst, 54.575 in der Musik und 29.242 in der Darstellenden Kunst tätig. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse Versicherten hat sich allerdings in den letzten Jahren kaum verändert (bereits 2013 waren 194.196 Menschen bei der KSK versichert), wohl aber in einzelnen Bereichen: Vor allem im Bereich Wort (minus 4.855 von 2013 bis 2019, also mehr als 10 Prozent), aber auch bei der Bildenden Kunst nimmt die Zahl der Versicherten ab, während sie im Bereich Musik, vor allem aber bei der Darstellenden Kunst ansteigt (plus 12,6 Prozent).

Der Arbeitsmarkt Kultur ist so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor

Wie die Autoren der gerade veröffentlichten Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“1 des Deutschen Kulturrats anmerken, ist die höhere Zahl von Versicherten im Bereich Darstellende Kunst „bemerkenswert, da in dieser Sparte die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung üblich ist“.

Doch längst nicht alle Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen sind in der Künstlersozialkasse versichert, die ja ohnedies nur Künstler*innen offensteht. Die bereits erwähnte Studie des Deutschen Kulturrats geht davon aus, dass im Kulturbereich 719.106 selbständig Tätige arbeiten, davon knapp die Hälfte etwas herabsetzend sogenannte „Mini-Selbständige“, deren Jahresumsatz unter 17.500 Euro liegt. Man muss also davon ausgehen, dass im kulturellen Bereich hierzulande großflächig Armut herrscht oder zumindest prekäre wirtschaftliche Verhältnisse virulent sind, ganz abgesehen von einem massiven Gender Gap.

Der Arbeitsmarkt Kultur ist heute also so stark von selbständiger Tätigkeit geprägt wie nie zuvor – und das gilt nicht nur im Bereich der Bildenden Künstler*innen, für die die selbständige Tätigkeit seit jeher die typische Form von Beschäftigung ist, sondern auch in anderen Bereichen der künstlerischen oder publizistischen Betätigung, in denen Tätigkeiten, die früher von Angestellten in festen Arbeitsverhältnissen ausgeführt wurden, heute meist von Selbständigen ausgeübt werden.

Dies ist sowohl eine Folge der hippen Narration von der „kreativen Klasse“ (Richard Florida), mit der den Menschen postfordische Tätigkeiten auf Prekariatslevel schmackhaft gemacht wurden, als auch die massiv geförderte Installation von Ich-AGs im Zuge der rot-grünen Hartz-IV-Gesetze: Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unternehmer*innen ihrer selbst und kümmern sich beherzt um Selbstvermarktung und -optimierung – eine Art outgesourctes Experimentallabor, ganz die fleißigen Kulturarbeitsbienchen mit verinnerlichtem Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben-Prinzip.

Doch gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass die mangelnde soziale Absicherung für viele der solo-selbständigen Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Publizist*innen ein riesiges Existenzproblem darstellt. Wenn beispielsweise den weit über 50.000 freien Musiker*innen und der deutlich sechsstelligen Zahl von sogenannten Solo-Selbständigen, Freiberuflern, Aufstockern oder Minijobbern, die Konzerte überhaupt erst möglich machen, wegen der Covid-19-Pandemie mindestens sechs, wahrscheinlicher neun und noch mehr Monate das komplette Einkommen wegbricht, hilft ihnen die Kranken- und Rentenversicherung durch die Künstlersozialkasse nicht beim wirtschaftlichen Überleben.

Es rächt sich, dass hierzulande über den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung zwar diskutiert und geforscht wird, all dies aber keinen Einfluss auf politische Entscheidungen hat, die zu einer sozialen Sicherung der Kulturschaffenden und Kulturarbeiter*innen führen würde. Dies gilt für die Alterssicherung ebenso wie für die soziale Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit wie jetzt, da sie durch die Pandemie zwangsweise herbeigeführt wurde.

Anderes Verständnis von Arbeit ist erforderlich

Weiterlesen: HIER

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Berthold Seliger ist Publizist und seit über 32 Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter. Er hat Bücher wie „Das Geschäft mit der Musik“ (Edition Tiamat 2013, aktuell 7.Auflage), „Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle“ (Matthes & Seitz 2017, aktuell 2.Auflage) und zuletzt „Vom Imperiengeschäft. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören“ (Edition Tiamat 2019, aktuell 3.Auflage) veröffentlicht.

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Luther als Herr und Knecht

Ein Merkzettel

Es gibt (für mich) mehrere Gründe, diesen Kommentar so zu verwahren, dass ich ihn im Internet wiederfinde (hier einstweilen über Bezahlschranke), denn zum Sammeln und Abheften reicht meine Energie nicht: erstens weil ich alles von Prantl gründlich lese, meistens zustimmend, zweitens weil ich in dem Buch von Bergner über die Bach-Präludien gestern (hier) im Anhang (über „Die geisteswissenschaftlichen Implikationen des Bachschen Formbegriffs“ Seite 144f) auf das Kapitel „Luthers Musikverständnis “ gestoßen bin, drittens weil ich bei dem Begriffspaar „Herr und Knecht“ (wie sicher auch von Prantl bezweckt) als erstes an Hegel denke, dann an einen eigenen Artikel zu diesem Thema, den ich fünftens genau vor einem Jahr geschrieben habe, ohne an Luther zu denken. Und sechstens: weil ich mich bemüßigt fand, in ein (wie bei mir häufig) über 50 Jahre altes Buch zu schauen, das ich als jederzeit wieder lesenswert in Erinnerung habe, damals aber meiner (im Gegensatz zu mir) lutherfrommen Mutter zu Weihnachten 1968 schenkte: „Luther. Sein Leben und seine Zeit“ von Richard Friedenthal / Verlag R.Piper & Co München 1967. Um dort jetzt nachzulesen, was es mit den um 1520 veröffentlichten  Schriften auf sich hatte, darunter „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die 500 Jahre später Heribert Prantl für die SZ noch einmal reflektiert hat. Jedoch bei Friedenthal etwas nachzulesen, bedeutet unweigerlich, dass man davon nicht mehr loskommt… hoffen wir, dass der Kreis sich schließen lässt…

Hatte ich nicht früher schon…? Nein, da ging es nicht um die konstantinische Schenkung, sondern um die dionysische Vertauschung: hier. Ich kann verstehen, dass Prantl in diesem Fall dergleichen nicht erwähnt hat, er verfährt schon kritisch genug mit seinem Luther. Zur Sicherheit schaue ich trotzdem nach, ob er eigentlich unabhängig genug ist – und nicht etwa im Evangelischen Kirchenrat sitzt, laut Wikipedia ist da nichts zu vermelden, – stopp: nur im Kölner Domradio (an dessen Schaufenstern ich früher immer vorbeikam, wenn ich zum WDR strebte) gibt es eine auf ihn bezogene theologische Meldung. Ja, das hätte ich auch gern, aber nur im Fach Bach oder wenigstens als Bergner-Laudator.

Kurz und gut, – der Argwohn bleibt: an diesem Artikel stimmt etwas nicht. Da werden Konsequenzen vermieden, Widersprüche beschwichtigt. Schon im Gebrauch des Wortes Dialektik, als habe Luther im Traum daran gedacht. Da gibt es Gott und den Teufel, unklar bleibt, ob innen oder außen. „Für Luther war Gott ein selbstverständliches Gegenüber, mit dem er sprach, rang, bisweilen an ihm verzweifelnd. Das ist heute selbst für die, die sich Christen nennen, nur noch selten so, und der Teufel ist erst recht ein Hirngespinst. Aber das heißt nicht, dass es keine Mächte gibt, denen sich der säkulare Mensch ausgeliefert fühlt. Aus den Ansprüchen Gottes sind Selbstansprüche geworden. Die Teufeleien heute haben andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Profitismus, Marktradikalismus, Nationalismus, Rassismus. Die Frage heute ist nicht die nach einem gnädigen Gott, sondern nach gnädigen Verhältnissen.“

Ja, wir sind selbst schuld, und wenn wir dieses allesumspannende Wir gebrauchen, stellen wir uns ruhig, das ist gängige Praxis: in unserer Ohnmacht bescheiden wir uns. Und wenn es Gott gibt, dann als ein Gegenüber. Hier müsste vom Mechanismus der Projektion die Rede sein. Eine kurze Anspielung auf die Fleischarbeiter bei Tönnies, auf die Missstände in Pflege- oder Flüchtlingsheimen und auf „Black lives matter!“ hilft wenig.

„Luthers eindringliche Unterscheidung zwischen Leib und Geist hat emanzipatorische Kraft entfaltet, sie hat die Gewissen vieler Zeitgenossen davon befreit, vor geistlichen oder weltlichen Ordnungen zu ducken. Aber Luthers Vernachlässigung der ganz materiellen äußeren Freiheit hat auch Emanzipation gehemmt. So radikal wie die aufständischen Bauern wollte er die Befreiung doch nicht.“

Er hat dank seiner „eindringliche[n] Unterscheidung“ die Möglichkeit offengehalten, leichter von einem Lager ins andere überzuwechseln, ohne dass man die Dialektik durchdringt, die bei Luther lediglich im blanken Wortgebrauch von Herr und Knecht liegt; sie folgt einem beliebten christlichen Paradox: die Ersten werden die Letzten sein (und natürlich auch umgekehrt). Oder weniger abstrakt: der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Und es klingt derart leiblich, körperlich, dass der Geist seine helle Freude dran hat.

Natürlich weiß Heribert Prantl das genau, und deshalb verstehe ich seine Luther-Dialektik nicht. Das Jahr 1492 liegt halt noch nicht lange zurück.

Bach nicht enden wollend

Das große Praeludium cis-moll BWV 873

 

32 (16 + 16) + 28 = ∞ ?

Ich folge in meiner Analyse der bewundernswerten Arbeit von Christoph Bergner, die 1984/85 als Dissertation von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommen wurde. Er schrieb dazu: „Herr Prof. Dr. U. Siegele hat die Arbeit begleitet und gefördert, obgleich sie von anderen Voraussetzungen und Methoden ausgeht und also auch zu anderen Ergebnissen kommt als seine eigenen Arbeiten.“

ZITAT als Ansatzpunkt

Seite 122

Das heißt, ich setze fort, was ich hier begonnen hatte, ohne es mir dort bei Bergner wirklich erschlossen und für Leser nachvollziehbar gemacht zu haben.

Da mir Bergners analytische Studien zur Form der Bachschen Präludien aber nicht nur für diese grundlegend erscheinen, sondern für das Formverständnis Bachs überhaupt, ist es mir unbegreiflich, dass ich sie in der Bach-Literatur kaum irgendwo hervorgehoben finde: in dem großen Werk zur Bach-Interpretation (1990) von Paul Badura-Skoda zum Beispiel mit keinem Wort, bei Alfred Dürr (1998) zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt, aber sonst nur gelegentlich erwähnt. Im Fall dieses speziellen Praeludiums, wo es wirklich hilfreich gewesen wäre, entschließt er sich zu einem separaten Weg, der sich bei genauer Prüfung – wie ich finde – als weit weniger sinnlich fassbar erweist, aber auch nicht gedanklich: wenn Taktmengen von 26 Takten neben solchen von 16 oder gar 5 Takten  als Formteile wirken sollen, – da kann etwas nicht stimmen!

 Alfred Dürr

Ich gehe aus von den spärlichen Einzeichnungen oben im Notentext:

Eine vorläufige Aufteilung liegt auf der Hand und wird durch senkrechte rote Striche nach Takt 16 und Takt 32 angegeben, bei Alfred Dürr als „A. Hauptteil“ und „B. Episode 1“ bezeichnet, – was auf den ersten Blick einem Schema entspräche, das aber dann auch irgendwie im weiteren Verlauf durchschimmern müsste. Bach verweigert sich jedoch einer weiteren Periodisierung, es hat keinen Zweck, nach weiteren Perioden dieser Art zu suchen, die womöglich auch durch Kadenzen gestützt würden. Im Notentext sind solche „strukturellen“ Kadenzen des Harmonieverlaufs durch die Silbe Kad in grüner Farbe gekennzeichnet. Aber erlauben uns diese Kadenzen tatsächlich, eine plausiblere Struktur des ganzen Stückes offenzulegen? So, dass wir Proportionen erkennen? Gerade in dem Teil, der uns interessiert, ab Takt 32 bis Ende, besagt die eine Kadenz (?) nach Takt 43 recht wenig, – ist es überhaupt eine? (Korrektur: Kad müsste am Anfang des Taktes stehen. D bezeichnet in diesem Fall nur Halbschluss!) Spätestens hier kommt man auf die Idee, lieber die Motivik und ihre Entwicklung für maßgeblich zu halten. In Takt 32 haben wir eindeutig eine Reprise des Anfangs, wenn auch in der Subdominante fis-moll und mit vertauschten Stimmen: die Melodie von Takt 1 beginnt hier in der Mittelstimme (cis-fis-a) und ist mitsingbar bis in Taktanfang 37 (der dem Taktanfang 5 entspricht). Und nun?

Jetzt haben wir noch rote Einzeichnungen, bei der eindeutigen und bedeutsamen Kadenz in Takt 27 zum Beispiel, und das erlaubt uns, die darauf folgende Motivik (samt Mini-Fugato) ernst zu nehmen, weil sie schön ist und weil sie – vielleicht genau aus diesem Grunde – ab Takt 50 in anderer Tonart wiederkehrt.

 Jeder Schüler sieht ein, dass diese Taktgruppen von wesentlicher Bedeutung sind, also 27 bis 32 und später die Wiederkehr in Takt 50 bis 55. Da wird die offenbare Struktur von einer anderen überlagert, wovon wir aber einstweilen nichts ahnen können.

Bis hierher könnten wir uns noch am Text von Alfred Dürr orientieren. Aber der entscheidende Punkt fehlt, und zwar genau der, der ein Aha-Erlebnis auslösen könnte. Da fehlt uns noch ein entscheidender Begriff, der uns veranlasst, mit der Taktzählerei aufzuhören: die Dehnung. Siehe Takt 37 und 45. Und auch das Wort „Vorbote“ (Takt 39) ist interessant.

Aber stellen wir uns zunächst vor (so naiv das anmuten mag): Bach hätte, vom Entfaltungs- und Wiederholungsdrang des Motivs Takt 1 getrieben,  den Teil A geschaffen und dann – als Antwort darauf – den Teil B (ausgehend von einer Antwortvariante des Motivs), wobei ihn die dann in Takt 27 neu entdeckte Variante, die den Bass-Aufstieg in die Melodiestimme versetzt und als motivisch relevant enthüllt, in Entzücken versetzt hat (wie auch uns!), also: Bach hätte nun die Formidee gehabt, diese beiden Teile durch einen doppelt langen dritten Teil zu überhöhen, zu überbieten, und ihn durch Rekapitulationen aus Teil A und B, aber vor allem durch die wörtliche (wenn auch transponierte) Zitierung der „entzückenden“ Takte 27 bis 32 mit einer übergeordneten Klammer (in Takt 50 bis 55) zu versehen, und gewissermaßen eine „unendliche Melodie“ zu schaffen, deren Gliederung verborgen bleiben sollte, damit sie unendlich wirkt, – wie hätte er es besser bewerkstelligen können???

Und hier zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass auch die nachfolgende Fuge einer verwandten oder vielmehr komplementären Formidee folgt, angefangen mit dem „allumfassenden“ Thema, das in sich selbst zurückfließt, und später auch in Umkehrung behandelt wird, wobei gleichzeitig – mit dem Signal einer starken Pausensetzung – ein chromatisches (menschliches, leidendes) Thema eingeführt und wenig später durchgeführt wird, so dass eine Doppelfuge entsteht. Das alles entspricht einer großartigen Vision, die insgeheim auch mit dem cis-moll-Ensemble aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers korrespondiert.

Soll man sich wundern, dass Wagner darüber mit Begeisterung spricht? Seit Tagen grüble ich, aus welchem Strudel der unendlichen Melodie im „Rheingold“ mir das Motiv dieses Praeludiums zuweilen auftaucht…

Ich beschränke mich jetzt, statt weiterzuphantasieren, auf die Abschrift des Bergner-Textes und verdeutliche ihn nur drucktechnisch oder durch eckige Klammern, manches oben schon von mir Referierte wird sich inhaltlich wiederholen:

[In] T.33-36 werden T.1-4 aufgenommen und mit Stimmtausch der beiden Oberstimmen auf der S[ubdominante] wiederholt. In T.33/34 tritt zunächst eine neue Oberstimme auf, ab T.35 wird die Vorlage übernommen.

In T.39-42 wird die Oberstimme von T.1-4 wörtlich zitiert, während sich die Harmonisierung ändert. Die charakteristische Akkordbrechung im Baß, mit der ein Neubeginn in diesem Stück stets eingeläutet wird, fehlt in T.39 (vgl. T.1, T.5, T.17, T.33, T.43; in den Oberstimmen T.27, T.50), wodurch die beiden Wiederholungen der ersten vier Takte enger verbunden werden.

In T.43/44 wird nun T.5/6 vollständig wiederholt. Das Zitat der Oberstimme in T.39-42 ist also der Vorbote für die Wiederholung von T.5/6.

Schließlich entsprechen sich auch T.11-16 und T.56-61. T.56-61 wiederholt T.11-16 in der Unterquint, die Oberstimmen werden vertauscht.

Betrachtet man die Abschnitte nach T.32, so sieht man, daß hier ständig Reminiszenzen an den 1. Teil (T.1-16) auftreten. Es werden genau 16 Takte des 1. Teils im letzten wiederholt. 13 andere Takte werden in dieses Gerüst aus Wiederholungen des 1. Teils eingesetzt.

In T.50-55 wird auch ein Abschnitt aus dem 2. Teil (nämlich T.27-32) aufgegriffen. Aber im Unterschied zu T.27-32 ist zwischen T.50 und T.55 kein harmonischer Fortschritt festzustellen. Die Wiederholung setzt auf der D[ominante] ein. In T.52 kehrt sie zur T[onika] zurück und löst sich damit von der Vorlage in T.29. Die Wiederholungen erweisen T.33-62 auch strukturell als Schlußteil.

Aber hinter jenem großangelegten Schluß von 29 Takten stehen eigentlich die 16 Takte, die aus dem 1. Teil übernommen werden. Denn die in diese Wiederholungen eingeschobenen Takte zeigen harmonische Dehnungen. So steht T.37/38 zwischen den beiden Wiederholungen der T.1-4. Aber schon in T.37 (4. Achtel) ist die Tonika erreicht, die dann in T.39 bestätigt wird. Folgende Skizze mag

Ebenso erscheinen T.45-49 als eine Dehnung, die hier durch die ganztaktige, schrittweise fallende Sequenz im Baß dargestellt wird. Die D[ominante], die in T.50 erklingt, hatte die Sequenz in T.45 auch eröffnet. Da auch die T.50-55 (s.o,) keinen harmonischen Fortschritt bringen, läßt sich T.56 an T.44 anschließen. Das sechzehntaktige Grundgerüst ist also auch in der harmonischen Anlage noch zu erkennen.

Der Schlußteil wiederholt Abschnitte aus den vorangegangenen Teilen ubnd kombiniert sie mit einigen neu hinzutretenden Takten. Die Wiederholungen orientieren sich zunächst am Eingangteil. Das ist auch in anderen Präludien begegnet. Hier aber werden diese Wiederholungen mit Material aus dem 2. Teil verbunden. So wird der letzte Teil stark erweitert.

Die betonte Stellung der Dominante (vgl. T.43, T.50, T.56) weist diesen Teil auch harmonisch als Schlußteil aus. Während die Analyse ein proportioniertes Grundgerüst herausarbeiten kann, zeigt doch die jetzige Anlage keine Proportionierung mehr.

Durch die Erweiterung des Schlußteils entsteht aber eine Symmetrie. Sie wird durch die kontrapunktisch dichtesten Abschnitte T.27-32 und T.50-55 dargestellt. Schon Keller hat ihre besondere Stellung bemerkt, als er diese Abschnitte als „Seitensätze“ beschrieb. [Anm. s.u. Keller 131]

Im ersten Fall werden diese Takte (27-32) von jeweils 7 Takten flankiert. Die daraus entstehende Gliederung der Abschnitte nach T.16 deckt sich nun nicht mehr mit den drei Teilen, wie sie oben beschrieben worden sind: 10+6+10   7+6+7. [Von mir nicht zitiert!] Diese Gliederung steht aber im Einklang mit den Kadenzen der einzelnen Abschnitte und mit den schon erwähnten Akkordbrechungen, mit denen die Abschnitte eröffnet werden.

So richtet die Wiederholung von T.27-32 eine Symmetrie auf, die allerdings nicht den Eingangsteil des Stückes umfaßt, während die Wiederholungen aus dem 1. Teil eine proportionale Gestalt entwerfen, die durch die Erweiterungen des Schlußteils aufgehoben und überboten wird.

Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft /Herausgegeben von Georg von Dadelsen Band II Hänssler Edition 24.111 / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986 [Zitate Seite 122f]

Die Anmerkung, die sich auf Keller bezog, veranlasst mich die ganze Seite wiederzugeben, zumal sie zeigt, dass ich nicht der einzige bin, der an Richard Wagner denkt:

Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter-Verlag Kassel 1965 /Seite 131

Man kann die hier gegebene Gliederung leicht durchschauen, sie erübrigt sich nach der Bergner-Lektüre. Dem „Rheingold“-Motiv, das mir im Kopf herumspukte (gern mit dem Text „Des Goldes Fluch“) bin ich auf die Spur gekommen, als ich den Klavierauszug gerade durchzublättern begonnen hatte. Da ist dieses endlose, gewaltige Es-dur, das auch die Rheintöchter mit viel „Wagalaweia“ ausbaden, leichtflossig erweitern in Richtung As-dur und f-moll, und wieder Es-dur, aber dann – c-moll: „Des Goldes Schlaf  / hütet ihr schlecht!“

Meinetwegen nehmen Sie es als Scherz, aber Wagner hat die Praeludien und Fugen geliebt! Und ich auch!

Noch ein Wort zur Fuge cis-moll, WFK II: sie stand nicht – wie Keller meint – ursprünglich in c-moll, die tatsächlich überlieferte (späte) handschriftliche Fassung in c-moll stammt wohl – wie Alfred Dürr korrigiert – von einem Schüler, der sich den Vortrag erleichtern wollte. Darauf sind wir – Bachseidank! – nicht mehr angewiesen, da wir uns lebenslang durch dieses Werk bewegen, wie vom WTK-Autor gedacht: durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend.

Leider bin ich noch immer nicht beim eigentlichen Sinn und Zweck meiner Übungen am Praeludium in cis angekommen, nämlich die rechte Vortragsart zu beschreiben, etwa im Sinne Couperins französisch oder im Sinne der neuen Generation galant, empfindsam oder gar leidenschaftlich, wie es sein Sohn Philipp Emanuel gespielt haben könnte.

ZITAT

Das bedeutet: auch der Autor des Buches interessiert mich! Er gibt sich nicht damit zufrieden, solche differenzierten Analysen zu schreiben, sondern möchte Bach präziser an seinem geschichtlichen Ort erfassen und beschreibt dafür zunächst „Luthers Musikverständnis“, „Descartes‘ Musicae Compendium“ und „Leibniz‘ Musikanschauung“. Ich habe diesen Anhang früher pflichtschuldig durchgeschaut, aber heute zünden hier ganz andere Ideenkreise, an denen die ungeheure DIFFERENZ Bachs aufleuchtet. Ich zitiere nur ein paar Sätze, die ich mir damals unterstrichen habe, aber heute erst in ihrer Konsequenz erfasse:

Die Bachsche Methode hebt die Mathematik als wesentliche Methode musikalischer Arbeit tendenziell auf, indem sie bewußt musikalischen Überschuß erzeugt, der auf Grund seiner Stellung im architektonischen Zusammenhang ausgezeichnet ist. Während die Klanglichkeit der Musik für die Philosophen nur hinweisenden, sekundären Charakter hat, der erst durch die Mathematisierbarkeit rational zugänglich wird, gewinnt der sinnliche Gehalt der Musik bei Bach eine eigene Bedeutung.

Und im Anschluss an Leibniz, der letztlich auf Übereinstimmung, Harmonie und Schönheit ausgerichtet ist, kommt der bedeutungsschwere, positiv gemeinte Satz:

Gerade solche Übereinstimmung aber erzielt Bach nicht immer. Und die Entwicklung des Wohltemperierten Klaviers II hebt die musikalisch-architektonische Identität immer wieder auf.

Am Ende – wenn vor allem der Begriff der „Sünde“, der im christlichen Sinn längst ausgedient zu haben schien und erst im Blick auf die globalen menschlichen Katastrophen plötzlich hochaktuell ist, angesprochen ist als für Bach zentral , kommt der Satz:

So treten hier markante Differenzen zwischen Bach und Leibniz zutage. „Die Universalität der Musik von Bach ist nicht, wie die Universalität von Leibniz oder von Goethe, die Darstellung einer in sich geschlossenen Einheit“ [Zitat G.Picht 1980]. Bach bricht die Einheit eines in sich geschlossenen metaphysischen Systems immer wieder auf und öffnet sie für neues Geschehen.

In diesem Zusammenhang spielt auch „die Problematik der lutherischen Orthodoxie“ eine Rolle. Man kann da im modernen Sinne weiterdenken, zumal es auch unmöglich war, „da weiterzumachen, wo Bach aufgehört hatte. Der Bruch nach 1750 ist unübersehbar. Für das Zeitalter nach Bach war die Erfahrung musikalischer Universalität nicht mehr mit der Erfahrung einer sinnvoll geordneten Welt zu verknüpfen.“

Damals war ich nicht bereit, mich mit Luthers Gedanken auch nur provisorisch zu beschäftigen; lange Zeit genügte es, seine Haltung zu den Bauernaufständen zu erwähnen. Jetzt habe ich einen Luther-Artikel von Heribert Prantl (SZ 11./12. Juli 2020 „Herr und Knecht“ über „die Freiheit eines Christenmenschen“) ernst genommen und verwahrt, Zitat: „Die Teufeleien von heute heißen Egoismus, Profitismus, Nationalismus und Rassismus“.

Zu erwähnen wäre auch, dass dieser scharfsinnige Bach-Forscher, den ich oft und ausführlich zitiere, nicht in der Musikwissenschaft seine Zukunft gesehen hat, sondern in der praktischen Theologie, bei Veröffentlichung dieser Dissertation war er bereits Pfarrer geworden. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages mit Respekt einer protestantischen Predigt lausche, die im Internet zu finden ist: hier. (Achtung: externer Link, Länge 31’28, siehe auch Nachbemerkung). Der Grund liegt letztlich auch wieder bei Bach, aber nicht nur in der Tatsache, dass dessen Orgelmusik auf hohem Niveau erklingt, sondern auch in der verbalen Kompetenz des Predigers, der selbst Ungläubige zu fesseln vermag, was ja ebenso für die Textbehandlung der Kantaten und Passionen bei Bach gilt. Man muss nicht resignieren, etwa mit den Worten: eine andere Zeit, geht mich nichts an, mich interessiert nur die Musik, nicht das pietistische Drumherum. Man kann napoleonisch-ironisch zu sich selbst sagen: Jahrhunderte schauen dich an…

Zum Abschluss an dieser Stelle zwei Versionen des Praeludiums BWV 873 am Klavier, aber mehr zum Kennenlernen als zum Verlieben; das eine geht für meine Begriffe zu flott, das andere zu meditativ, beides vielleicht zu pedantisch und in den Ornamenten diskussionsbedürftig, – also gerade recht, um sich nicht festlegen zu lassen.

Nachbemerkung

Es sind inzwischen 4 Tage vergangen, und ich bin nicht mehr bereit, mich weiter auf Luthers Musikverständnis einzulassen. Gerade das entsprechende Kapitel in Bergners ergiebigem Buch überzeugt mich wenig. Richtig ist es, im Zeichen Luthers  von der Verwandlungskraft der Musik zu reden. Wenn Bergner  fragt: „Aber woher kommt die frohmachende, die Welt verwandelnde Kraft der Musik?“ soll die Antwort lauten:

„Darüber gibt Luthers Sprachverständnis Auskunft. Das Neue, das in Christus geschehen ist, muß der Welt gesagt werden, es muß zu Wort kommen. Das aber kann – nach Luther – die Sprache in besonderer Weise leisten, weil sie in Gleichnissen reden kann.“

Und nun kommt er einer starken Metaphorologie nahe:

Unsere Sprache ist voller gleichnishafter Wendungen: „Der Bapst ist Judas, S. Augustin ist Paulus, S. Bernhard ist eine taube / David ist ein hltzwürmlein / Und so fort / ist die Schrift solcher rede vol / und heißt tropos odder Metaphora ynn der grammatica / wenn man zweyerley dingen / einerley namen gibt / um des wille / das ein gleichnis inn beyden ist/ Und ist denn der selbige name nach dem buchstaben wol einerley wort / aber potestate ac significatione plura … zwey wort, ein altes und ein newes“ (17).

In solcher Gleichnisrede erlangt ein Wort eine neue Bedeutung. Diese neue Bedeutung ist Luther gerade deshalb so wichtig, weil mit ihr ein neuer Bedeutungsbereich erschlossen wird, dem ein neues Sein entspricht.

Quelle Christoph Bergner a.a.O. Seite 147

Man muss den Sinn des Wortes Metapher sehr weitgreifend erfassen, so dass hier tatsächlich ein anderes Leben, „ein neues Sein“ begreifbar wird. Ob es nun in der Sprache, in der Musik oder im virtuellen Raum der Malerei erscheint, wie Susanne K. Langer es in ihrem Buch „Fühlen und Form“ entwickelt, ansetzend bei einer Bemerkung des Malers Odilon Redon:

„Ein weißes Blatt Papier jagt mir Angst und Schrecken ein. […] Ein Blatt Papier entsetzt mich derart, dass ich, sobald es auf der Staffelei ist, sogleich gezwungen bin, mit Kohle, Bleistift oder irgendetwas anderem darauf zu kritzeln, und dieser Prozess verleiht ihm Leben.“

Es ist nun kein Papier mehr, sondern ein Raum. Für die großen Maler ist die Illusion von Raum normalerweise so selbstverständlich, dass sie sogar dann, wenn sie über die reale materielle Oberfläche sprechen, dies nur in Bezug auf das Element des Geschaffenen tun können. Etwa Matisse:

„Wenn ich ein Blatt Papier mit einer bestimmten Größe nehme, werde ich es mit einer Zeichnung versehen, die in einer notwendigen Beziehung zu seinem Format steht. […] Und wenn ich sie auf einem Papier, das dieselben Proportionen hat, aber zehnmal größer ist, wiederholen müsste, würde ich mich nicht darauf beschränken, sie zu vergrößern; eine Zeichnung muss über ein Ausdehnungsvermögen verfügen, das den sie umgebenden Raum lebendig macht.“

Das alles ist natürlich nur metaphorisch gesprochen. Doch auch wenn wir es als Metapher nehmen, was bedeutet es? In welchem Sinn ist es möglich zu sagen, van Goghs gelber Stuhl oder ein Atelierofen seien lebendig? Was tut eine Fläche, wenn sie, wie Alfred Sisley sagte, „manchmal zur höchsten Stufe der Lebendigkeit“ erhoben wird?

Solche vollkommen berechtigten Fragen würden fast jedem Künstler banausisch, ja abwegig erscheinen. Möglicherweise besteht er in vollem Ernst darauf, dass er sich keineswegs einer Metapher bedient habe, dass der Stuhl wirklich lebendig ist und eine belebte Fläche wirklich lebt und atmet usw. Das heißt einfach, dass sein Gebrauch von „Leben“ und „lebendig“ ein stärkerer symbolischer Modus ist als eine Metapher: Es ist ein Mythos.

Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form / Lizenzausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft Felix Meiner Verlag Hamburg 2018 (Seite 177f.)

Ich gestehe gern, dass mir – wenn ich von belebten Flächen und Proportionen höre – im selben Augenblick das Bachsche Praeludium als lebendiges musikalisches Wesen vor Augen steht. Die Musik als Metapher, als großes Narrativ – wofür?

Neuerdings werde ich nolens volens in die Richtung einer Metaphorologie von Hans Blumenberg gedrängt, den ich vor vielen Jahren zum ersten Mal mit Begeisterung wahrnahm, als ich sein Buch über die Matthäuspassion kennenlernte.

Ich liebe halt solche nicht enden wollenden, ineinandergreifenden Kreisbewegungen, meinetwegen auch solche Beziehungsgeflechte, die mich in dem Roman von Marquéz irritiert und fasziniert haben: Hundert Jahre Einsamkeit. Und so könnte es einem auch in Blumenbergs Buch über die Metaphern gehen. Ich beginne hier:

In den Zusammenhang der Aufgabe einer »Logik der Phantasie« fällt auch, ja exemplarisch, die Behandlung der ›übertragenen‹ Rede, der Metapher, die bis dahin in das Figurenkapitel der Rhetorik gehörte. Diese traditionelle Einordnung der Metapher in die Lehre von den Ornamenten der öffentlichen Rede ist nicht zufällig: für die Antike war der Logos prinzipiell dem Ganzen des Seienden gewachsen. Kosmos und Logos waren Korrelate. Die Metapher vermag hier nicht die Kapazität der Aussagemittel zu bereichern; sie ist nur Mittel der Wirkung der Aussage, ihres Angreifens und Ankommens bei ihren politischen und forensischen Adressaten. Die vollkommene Kongruenz von Logos und Kosmos schließt aus, daß die übertragene Rede etwas leisten könnte, was das κύριον ὄνομα nicht äquivalent zuwege brächte.

Quelle: hier [Zitat Einleitung S. 12f]