Schlagwort-Archive: Hans Blumenberg

Nachahmung der Natur!

Aber was hat z.B. die Musik damit zu tun?

s.a. hier und hier

Wer auch nur eine vage Vorstellung hat von dem, was „Nachahmung der Natur“ bedeuten könnte oder sollte, wird auf der zweiten Seite in Blumenbergs Abhandlung stutzig, wenn er im Namen des griechischen Philosophen, der den Begriff erfunden hat, einräumt: „Dieses Einspringen der »Kunst für die Natur« geht so weit, dass Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen »wachsen« ließe.“ In der Anmerkung ergänzt Blumenberg, dass bei Aristoteles „jene uns (zumindest hypothetische) unausweichliche Ursituation, in der noch nichts ist oder auch etwas von bestimmter Spezifität noch nicht ist,“ gar nicht vorkommt.

So wird uns durchsichtiger, wie die neue Ästhetik der Aufklärung es fertigbrachte, selbst für die Musik die Forderung von „Nachahmung der Natur“ gelten zu lassen, obwohl doch ihr Material keinem realen Phänomen nachgebildet ist und gerade die Nachahmung von natürlichen Geräuschen nicht als ästhetisch relevantes Phänomen gewertet werden soll. Unvermittelt kommt das Wort „belebt“ ins Spiel.

Charles Batteux (nach Dahlhaus „Musikästhetik“)

Zitat aus Wikipedia Batteux:

Mit seinem Werk Les beaux-arts réduits à un même principe (Die schönen Künste zurückgeführt auf ein einheitliches Prinzip, 1746) versuchte er die Naturnachahmung zu einem gemeinsamen Grundprinzip aller Künste zu machen – zumindest im Sinne der vraisemblance: Die Handlung muss wahrscheinlich, glaubwürdig sein (…)

Du Bos glaubte zu wissen (MGG Aufklärung), „daß die Künste weniger die äußerliche Gestalt der natürlichen Vorbilder nachahmen als die Wirkung, die von ihnen ausgeht.“ – „Poesie ist das Vorbild der Vokalmusik und diese ist das Vorbild der Instrumentalmusik.“

Man reflektiert einerseits die gegebene rationale Struktur der Musik. „Zum anderen zählt die Erkenntnis, daß die Stärke und die Pflicht der Musik darin bestehe, Gefühle und Leidenschaften auf vergnüglich Weise nachzuahmen und zu erregen, zu den zentralen Einsichten der Aufklärung. Batteux weiß, daß die Affekte, die die Poesie nur grob benennen kann, unendlich zu nuancieren vermag, so fein, daß keine Sprache fähig wäre, ihr darin zu folgen.“ (MGG) Ein Problem blieb die reine Instrumentalmusik. „Es ist unverkennbar, daß die Komponisten dem Verlangen des Publikums nach vernünftigen Stützen dadurch nachzukommen versuchen, daß sie die Musik mit Überschriften und Programmen verbinden. Es ist darüberhinaus offensichtlich, daß die Forderung nach Vermenschlichung der Kunst einen starken ›semantischen Druck‹ (Gülke 1984) auf die Instrumentalmusik ausgeübt hat. Sie bemüht sich, menschliche Gefühle auszudrücken, moralische Charaktere und Menschenbilder darzustellen. Einiges spricht dafür, daß der wachsende Sinn für die Autonomie der Musik Kompositionsentscheidungen beeinflußt. Haydn (etc…)“

Quelle MGG (Sachteil, neu): Artikel Aufklärung, Autor Wilhelm Seidel

Zurück zum Häuserbau des Aristoteles! Mir fällt ein, was Nikolaus von Cues zu Ehren des Laien gesagt hat, schon um ihn gegenüber dem Kleriker abzugrenzen: zum Beispiel zur Löffelschnitzerei (Blumenberg S. 11f). „Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, dass hier das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten. Diese Differenz wird hier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegt wesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegenwärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge die Bezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste und Poesie konzentriert: dass dort der Autor von sich selbst und seiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehört seit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungsform der Kunst.“

Blumenberg führt als weiteres Beispiel für die Entdeckung des technischen Geistes die Brüder Wright an, die sechs Jahre vor ihrem ersten Flug ein Buch über Ornithologie in die Hand nahmen und sich fragten, „warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen Mechanismen sich aneignen könnte“. Sie begiunnen als mit demselben Topos wie vorher Leonardo da Vinci und Lilienthal. „Der Hiatus liegt zwischen Lililienthal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirkliche Erfindung, dass sie sich von der alten Traumvorstellung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst: „wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen.“

Anders als Blumenberg würden wir Musikbesessenen beim Beispiel aus der gefiederten Lebenswelt als nächstes den Gesang der Vögel assoziieren, der auch als Vorbild für den Musiksinn der Menschen gedeutet worden ist. Womit allerdings – trotz Messiaen – der Gedankengang der Nachahmung schnell im Sande verliefe.

*    *    *

Zwischenfrage: was ist mit der Affektenlehre? Werden die Affekte nachgebildet, dargestellt, nachgeahmt, oder werden sie zum Ausdruck gebracht? Kommen sie „von innen“ oder werden sie einem fixen Reservoir entnommen? Tatsächlich hat man wohl zuerst die Bewegungsweise der musikalischen Tonfolgen (und ihre suggestive Wirkung) für wesentlich gehalten, etwa die des Schreitens, Laufens, Springens, und sie mit den Affekten des Menschen äußerlich in Zusammenhang gebracht, denen der Trauer, der Andacht, der Freude, der Raserei. Äußerlich: d.h. mechanisch darstellbar, das richtige Tempo genügte. Es bestand kein Bedarf, von dem Tonwerk auf das Innere des Interpreten zu schließen. Man konnte mit unbewegter Miene rasende Läufe vortragen. Man musste es nur können, nicht die Freude empfinden (worüber denn?), vielleicht auch hervorrufen (oder auch Ärger, z.B. in der falschen Situation). Man verwechsele nicht die Freude , die mit dem Affekt gegeben ist, mit der Freude, die in der schieren Verklanglichung liegt, und sich durchaus mit der Darbietung eines Trauermarschs einstellt. Erst die Verbindung mit einem Text konnte differenziertere Bedeutungen suggerieren.

Zitat 1717

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (1717) 1933 (Seite 11)

Zitat 1753

§. 13. Indem der Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an.

Quelle Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen hier und hier 1753/1762

Carl Dahlhaus ( rote Hervorhebungen JR)

Die Vorstellung, daß es das Ziel der Musik sei, Affekte darzustellen und zu bewirken, ist ein Topos, der nicht weniger tief in die Geschichte zurückreichte als die Gegenthese, daß Musik tönende Mathematik sei. Isidor von Sevilla formulierte, gestützt auf antike Traditionen, im 7. Jahrhundert: „Musica movet affectus, provocat in diversum habitum sensus“. Und zwei Jahrhunderte später kehrt der Satz, daß Musik die Affekte bewege und den Hörer in wechselnde Gemütszustände versetzte, bei Hrabanus Maurus wieder. Musik, die nicht die Leidenschaften rührt, ist toter Schall.

Allerdings setzte die Affektenlehre, so sehr sie die Wirkung der Musik, die Bewegung des Gemüts hervorkehrte, eine primär gegenständliche, objektivierende Auffassung musikalischer Gefühlscharaktere implizit voraus. Die sprachliche Konvention des 19. Jahrhunderts, von „Ausdruck“ oder „Stimmung“ zu sprechen, ist, sofern von Musik vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede ist, irreführend oder mindestens mißverständlich. Die Bezeichnung „Ausdruck“ läßt an ein Subjekt denken, das hinter dem Werk steht und in der musikalischen „Empfindungssprache“ von sich selbst redet, das Wort „Stimmung“ an einen Gefühlskomplex, in den sich der Hörer versenkt, zurückgewendet auf seinen eigenen Zustand. Musikalische Gefühlscharaktere werden aber, wie Kurt Huber (Der Ausdruck musikalischer Elementarmotive, 1923) gezeigt hat, primär gegenständlich aufgefaßt. Der Eindruck des Ernsten, Trüben oder Matten wird unwillkürlich dem Tongebilde selbst als Eigenschaft zugeschrieben. Das melodische Motiv drückt zunächst, bei unbefangener Wahrnehmung, nicht Mattigkeit aus und versetzt auch nicht in eine matte Stimmung, sondern erscheint selbst als matt. Erst später, wenn überhaupt, wird der gegenständliche Gefühlseindruck als Zustand erfahren oder als Zeichen gedeutet: Sowohl der Übergang in eine Stimmung, die der Hörer als seine eigene empfindet, als auch die Vorstellung, daß der Gefühlscharakter Ausdruck einer Person, eines Subjekts hinter der Musik sei, sind sekundär. Zwar sind die verschiedenen Momente nicht scharf gesondert; sie fließen, oft unmerklich, ineinander, und es kann sich stets nur um ein Hervortreten, nicht um eine ausschließliche Herrschaft der einen oder anderen Funktion handeln. Doch ist bereits der Wechsel der Akzentuierung wesentlich genug, um Epochen in der Entwicklung der Gefühlsästhetik voneinander abzuheben.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln 1967 / Zitat S.29f

     *     *     *

Eine gründliche Lösung verspricht die Arbeit von Birgit Recki: Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs

Sie kennt offenbar Blumenbergs Arbeit nicht, zitiert aber wichtige Autoren, die zum Thema gehören (z.B. Valéry mit „Eupalinos“) / doch, sie kennt  ihn genau – vgl. Anmerkg. 6 Siehe die eingehende Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis bei Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Ffm. 1989. / 47 In einer eingehenden problemgeschichtlichen Reflexion auf die Übergänge zwischen der Antike, dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ist dieser Gedanke entwickelt bei Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 55 – 103. / 53 In diesem Zusammenhang gilt es, das ursprüngliche Eingreifen der Technik in die alltägliche wie auch die künstlerische Ausdrucksproduktivität angemessen zu berücksichtigen. Die Aneignung der gegebenen Gestalt im identisch reproduzierten Resultat geschieht stets über die kultivierten Fähigkeiten, das Können, die Beherrschung äußerer Mittel, deren Inbegriff die Technik ist. Zum Komplex von Natur, Kunst und Technik siehe die stark an Gehlen angelehnten, deutlich gegen Heidegger gerichteten, immer noch richtungsweisenden Ausführungen bei Hans Blumenberg: Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, in: Studium generale, Jg. 4, Heft 8, 1951, bes. 465 f.

Birgit Recki (Zitat):

Wenige Intuitionen dürften wohl dem zeitgenössischen Kunstbegriff so selbstverständlich sein wie die, daß die „Nachahmung der Natur“ zu den Ladenhütern des künstlerischen Selbstverständnisses zu zählen ist. Da sieht es vorderhand nach einer Rehabilitierung aus, wenn zuletzt Arthur C. Danto in seiner eingehenden Erörterung zum ontologischen Problem des Kunstwerks auch die Auseinandersetzung mit der Mimesis als künstlerischem Rahmenprogramm wieder in den ästhetischen Diskurs aufnimmt.1 Mit einigem Scharfsinn führt er dabei im Anschluß an Nietzsches Tragödienschrift den Hintersinn dessen vor, was man – als Epiphanie oder Repräsentation – unter Darstellung zu verstehen hat 2, und überhaupt enthält der Vergleich mit magischen Praktiken im Bereich religiösen Sinnerlebens mehr als nur einen Fingerzeig auf die Bedeutung, die dem Mimetischen zukommt. Mit dem Rekurs auf die Aristotelische Beobachtung, für unser Vergnügen an Nachahmungen sei das Wissen um deren Charakter konstitutiv 3, ist überdies bereits mehr als die halbe Wegstrecke zu der Einsicht zurückgelegt, daß wir es bei der Nachahmung immer auch mit einer Reflexionskategorie zu tun haben, das Problem der Nachahmung mithin weitaus komplexer ist, als es sich auf den ersten Blick ausnimmt. Bei alledem ist es dann verblüffend, wie wenig Danto systematisch in der Frage der Mimesis zu sagen hat. Von einem im Sinne des üblichen Vorurteils halbierten Platon übernimmt er bei aller Differenzierung mimetischer Vorgänge schließlich doch den Topos von der bloßen „Verdoppelung“ der Realität, so als ob Nachahmung darin aufginge.

weiter: hier

stets gewinnt die Natur ihre Bestimmung erst in der Konfrontation mit ihrem jeweiligen Gegenbegriff. Sowie wir aber nur einen Augenblick länger darüber nachdenken, bedeutet das Natürliche uns dabei allemal das Ursprüngliche, in letzter Instanz Unverfügbare, das in der Reflexion auf das Ganze zugleich als der Bedingungsrahmen für das spezifisch Andere gedacht werden muß. Wir haben daher gute Gründe, die Natur nicht allein als den Inbegriff der außer uns und unabhängig von unserem Eingriff vorkommenden Dinge zu begreifen, sondern vielmehr als den Inbegriff der wirkenden Kräfte, in deren Gesetzmäßigkeiten eingelassen wir auch uns selbst noch vorfinden und die wir immer auch an uns selbst erleben können.

Aber inzwischen ist das als Natur und als natürlich Denkbare in seiner Komplexion so differenziert entfaltet, daß wir uns auch in diese falsche Alternative nicht länger drängen lassen müssen. Wir können eben heute über die Natur anders nachdenken als das Mittelalter; insofern ist das Neue an der Moderne in dieser Frage in letzter Instanz womöglich gar nicht darin zu sehen, daß man sich im Namen des genuinen Menschenwerkes endgültig von der nötigenden Verbindlichkeit der Natur abkehren kann – sondern eher darin, daß die abstrakte Entgegensetzung des menschlichen Beitrages und der Natur selbst noch in der Einsicht von einer weitaus tieferen und zugleich bei weitem geschmeidigeren Verbindung aufgehoben wird.

am Ende:

All dies sind bereits Beispiele für mimetische Vorgänge, auch wenn sie sich in elementareren Bereichen der physiologischen und psycho-physischen Reaktion abspielen als die Prozesse der künstlerischen Produktion und der ästhetischen Rezeption. Doch wenn man zudem bedenkt, wie leicht ein beschwingter Schritt in Tanz 55, eine ausdauernde Klage in Litanei oder Gesang, ein drastisches Nachäffen in Pantomime übergeht – wenn man sich etwa die mimische Reaktion Charlie Chaplins auf den Schrecken vorstellt, der Adorno befiel, als er bei der Begrüßung eines Kriegsversehrten unerwartet eine Prothese statt einer anderen menschlichen Hand in der seinen hielt 56: Dann hat man Beispiele für jenen fließenden Übergang von Kunst und Leben, wie er Dewey in seinem metaphysischen Naturalismus vorgeschwebt hat. 57

Was ist und was bedeutet das, was sich da abspielt? Etwas nachahmen zu können, und sei es tatsächlich nur im Sinne einer Imitation: Muß man nicht davon ausgehen, daß hier in jedem Falle eine lustvolle Erfahrung gemacht wird? Eine Erfahrung, die sich wohl treffend mit der Formel ausdrücken ließe, welche bei Kant allein den schönen Dingen reserviert ist: Sie „zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe“. 58 In der Fähigkeit, das – und sei es am eigenen Leib – als unabhängig von uns selbst Erlebte durch mimetischen Nachvollzug welchen Grades auch immer auf uns zu beziehen, wird eine Entsprechung, ein grundlegendes Passen unserer selbst in den als das andere unserer selbst vorgefundenen Zusammenhang erlebt – eine Entsprechung, die wir wohl gar nicht anders denn als befriedigend erleben können.

In jedem dieser Fälle handelt es sich bereits um eine Steigerung des Eindrucks durch die Betonung des Ausdrucks.

(noch nicht endgültig, Lektüre intensivieren)

Blumenberg über Technik

Dem Buch ist eine CD beigefügt, die Blumenbergs einzigen Vortrag enthält, der als Tonaufnahme überliefert ist:

Es dürfte allerdings kein Geheimnis sein, dass diese Aufnahme inzwischen auch bei YouTube abzurufen ist: HIER

S. a. im Blog hier „Idiota de mente“ (der Laie), auch hier und hier Vom Kosmos / Nominalismus

Anknüpfungspunkte im Technik-Buch gegeben wiederum durch Nikolaus von Cues (über den Laien) Seite 16 f und Seite 66 ff

Grundgedanke (im Zusammenhang mit“Meer und Mensch“ Franz Josef Wetz):

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg / zur Einführung / Verlag Junius Hamburg 2004 / ISBN 3-88506-389-1

Seite 96 Verweis auf die wichtigsten Quellen: Arnold Gehlen und Ernst Cassirer.

Wikipedia zu Hans Blumenberg hier. Hinweis darin: „In seinem späten Werk Matthäuspassion (1993) geht Blumenberg der Frage nach, welche Bedeutung christliche Aussagen noch für einen Leser haben können, der – wie Blumenberg selbst – kein Christ mehr ist, aber aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht auf das Christentum zurückblickt.“ (Zeitangabe stimmt nicht, recte: 1988. In meinen Händen seit 1989, öffentlich reaktiviert 1993 anlässlich der Besprechung der „Matthäuspassion“ unter Ton Koopman im WDR).

Das folgende Gespräch ist interessant, auch zur ersten Distanzgewinnung (z.B. Foucault). Und was er nicht gelesen hat.

Idiota de mente

Ein Sonderthema, das nichts mit Demenz zu tun hat

Schloss Bruneck (Wikimedia)

Hier  und Hier Etwas zum Lesen (für JR, mit Zusicherung meinerseits: die Lektüre des Originals ist von Bedeutung, wenn auch sehr alt; ein äußerer Anreiz für mich: es hat mit Brixen/Südtirol zu tun, ist assoziativ noch in statu nascendi, und es entgeht mir nicht, dass die Hausarbeit nicht sehr weit führt, wobei aber gerade das Manko produktiv wirkt).

Nikolaus von Kues (Wikipedia-Artikel) Von Kues an der Mosel nach Umbrien…

– Fortsetzung folgt –

Sie folgt, gewiss. Aber woran ich anknüpfe, sollte ich auch andeuten: private Abgründe, hier.

ZITAT

In dem Dialog Idiota de mente treffen die beiden erneut aufeinander. Diesmal aber kommt ein Philosoph hinzu, welcher durch den Redner von den unkonventionellen Gedanken des Laien erfahren hat und sich nun ebenfalls Erleuchtung durch ein Gespräch mit diesem erhofft. Der Redner und der Philosoph treffen den Laien bei seiner Arbeit in einem Kellergewölbe an, als dieser einen Löffel schnitzt. Während sich der Redner schämt, den Philosoph in solch eine Umgebung gebracht zu haben und fürchtet, was dieser nun von ihm denken könne, reagiert dieser mit weltoffener Sicht und kann nichts Schlechtes daran finden, dass der Laie der Kunst des Löffelschnitzens nachgeht8. Der Philosoph wünscht, über den menschlichen Geist belehrt zu werden und erfährt durch den Laien, ,,dass der Geist zum einen den Geist im Körper, die Seele, bezeichnet und zum anderen unendlicher göttlicher Geist ist.9 „Der Laie veranschaulicht am Löffel, wie die ,,mens humana“ Abbild des göttlichen schöpferischen Geistes ist. ,,Die gebildeten Begriffe kann der Geist für sich anblicken, etwa wenn er den Kreis als eine Figur erfasst, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind“.

Autorin: Lena Joana Bernotat (Hausarbeit 2020)

Die Wissenschaftlerin  Renate Steiger nennt in ihrer Einleitung zum Dialog „Der Laie über die Weisheit“ den Namen Raimund von Sabunde, aus dessen Wikipedia-Darstellung ein Satz zitiert sei:

Offenbarung (Bibel) und Natur stimmen in seinem Verständnis überein, da sie beide von Gott stammen. Der Naturerkenntnis (durch die von der Erbsünde befreite und vom Glauben erleuchtete Vernunft) gibt er den Vorzug, da sie nicht nur den Klerikern, sondern auch den Laien zugänglich sei und nicht verfälscht werden könne.

Ein erstaunlicher Hinweis, und erst im Fortgang wird ersichtlich, dass die Autorin (und Herausgeberin) mit Blumenbergs Sicht auf „den Cusaner“ kritisch verfahren wird. Die Grundlage des christlichen Denkens ist und bleibt ja ein Buch, an dessen Buchstaben nicht zu rütteln ist, auch wenn sie in Widerspruch mit unserer Erfahrung geraten, andererseits liegt die Natur (scheinbar) unvermittelt vor unseren Augen, beides kommt von Gott, das eine dank Offenbarung, das andere dank unmittelbarer Erfahrung. Eine speziell christliche Falle, – wenn man sich fragt, ob die Abstraktionen des Geistes wirklich ebenso existieren wie die Vielzahl der Dinge -, ist die der Dreifaltigkeit, die dogmatischerweise als Einzahl ebenso vernünftig erscheinen soll wie als Dreizahl: man hilft sich, indem man das Paradox selbst für gottgegeben (natürlich) erklärt. Per ordre de Mufti. Ein Trick wäre, zunächst die Welt der Dinge auch für ein Buch zu erklären, in Konkurrenz zum Buch der Bücher…

So etwa erkläre ich mir, dass man sich (vorläufig) wirklich noch mit dem auseinandersetzen muss, was unter dem Namen Nominalismus – in Abgrenzung vom Rationalismus – zu verstehen ist. Und warum zeitweise der Inhalt des einen Begriffes mit dem des anderen ausgetauschen werden muss. (Private Folgerung: GEDULD – bis endlich die Aufklärung zum Durchbruch bereit ist).

ZITAT Renate Steiger (Anmerkung in der Einleitung Seite XIII)

Siehe u.n. 4,8-10. Dazu H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.2 1983. Nach Blumenberg enthüllt die Metapher vom Buch der Natur »ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik“, die Bücherwelt der Kleriker (S.58). Für den Cusaner sei – vorbereitet durch Raymund von Sabunde, von dessen Theologia naturalis Nikolaus sich 1450 eine Abschrift verschafft hat (cod. Cus. 196 I – der Laie eine Figur der Unmittelbarkeit (S. 60). »Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern … sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht.“ (S. 63)

So wird die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Wirklichkeit vom bloßen Lesen oder Hörensagen über sie abgesetzt (s.u.n.19).

Autorin: Renate Steiger (1988)

Das Blumenberg-Buch, das sich seit 2021 in meiner wachsenden Blumenberg-Sammlung befindet, entstammt der 11. Auflage des gleichen, mehr als 400 Seiten langen Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis einiges über „Die Lesbarkeit der Welt“ erahnen lässt.

Ein anderes, vom Volumen her eher unscheinbar, im Format eines Reclamheftes, lese ich seit jenem Urlaub auf Texel im August 2020 bis heute immer wieder, und ganz allmählich hat der Bezug auf Nikolaus von Kues auch bei mir eine so zentrale Stellung eingenommen, wie von Hans Blumenberg schon 1956 aufgedeckt. Je öfter ich mich in seinem Aufsatz „Nachahmung der Natur“ festlese, Untertitel: „Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen“, desto wesentlicher erscheint es mir. Nicht nur als Wissenstoff, sondern als Lebensmittel. Und als geheime geistige Wunderwaffe habe ich ein Buch bereitgelegt mit dem schlichten Titel „Handwerk“. Ein anderes wird morgen früh um 11 Uhr bei dem Buchhändler meines Vertrauens eingetroffen sein und wird in kürzester Zeit hier abgebildet sein.

Aber was muss ich feststellen: der Dialog des Löffelschnitzers fehlt. Es muss noch einen anderen Band geben, und wirklich, jetzt erst entdecke ich ihn hier, kann aber immerhin, wenn ich die Funktion „Im Buch blättern“ wähle, einiges nachlesen, im oben angekündigten Kues-Dialog „Idiota de mente“ :

: (Screenshots)

Aber was nun? Soll ich endlich ganz von vorn beginnen? Statt darauflos zu recherchieren? Hier sind die Blumenberg-Seiten, die mich auf Nikolaus von Kues brachten, ihn unentbehrlich machten, so dass ich ihn „im Original-Kontext“ sehen und lesen musste:

Seit Aristoteles wird in Bezug auf Kunst (bzw. auf den schöpferischen Menschen) unablässig ein Thema mit unzähligen Variaten wiederholt: dass es sich um Nachahmung der Natur handelt. Und unter Natur kann man ebernso den Gottesbegriff verstehen, je nachdem welche weltanschaulichen Vorgaben herrschen. Mich begann Blumenbergs frühe Abhandlung zu faszinieren, nachdem mir die folgenden Sätze eingeleuchtet hatten, – mir fiel Leonardo ein, dessen schöpferisches Genie sich nicht nur in Abendmahl und Mona Lisa dokumentierte, sondern auch in Kriegsmaschinen und Fluggeräten, ohne dass man alldies zusammendenken mag:

„Es ist vor allem ein Phänomen der »Sprachlosigkeit« der Technik.“ Und vor allem: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung.“ Wenig später fällt der Name Leonardo da Vinci, aber verkappt kritisch, da er sich mit der alten Traumvorstellung von der Nachahmung des Vogelflugs beschäftigt hat, während das Problem schöpferisch nur mit einem absolut neuen Prinzip zu lösen war, der Verwendung einer Luftschraube, denn „rotierende Elemente sind von reiner Technizität“ . An dieser Stelle kommt Nikolaus der „Cusaner“ ins Spiel, und was sein Beispiel des löffelschnitzenden Laien hätte bedeuten können, des „Idiota“ (lat.). Mit meinem alten Griechisch-Lexikon kann ich leicht erklären, warum wir uns in der Schule gern schon mal mit der Anrede titulierten: Na, du gemeiner Soldat. Heute kaum noch zu belächeln.

Aber nun zur Sache:

Man kann die einzelnen Sätze gar nicht bedeutungsvoll genug nachlesen. Gott ist eine so selbstverständliche Grundlage alles „alten“ Denkens und Fühlens, dass wir es nicht mit einem Lächeln abtun können, um z.B. den Rationalismus des Bachschen Weltverständnisses mit unserm eigenen zu vermischen. Man verstehe nur, weshalb ein Bach-Jünger wie John Eliot Gardiner in seinem großen Buch von der „Himmelsburg“ ein ganzes Kapitel dem „Räderwerk des Glaubens“ widnete. Und nun einen solchen Satz (s.o.):

Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht soi sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist.

Erlauben wir uns einen Seitenblick auf J.S.Bachs „weltlichen“ Zeitgenossen Johann Mattheson, über den wir bei Wikipedia folgendes erfahren:

Im Gegensatz zum Zeitgeist zu Beginn des 18. Jahrhunderts vertrat Mattheson die Auffassung, dass die Musik nicht theologisch, sondern sozial sein sollte. Die Musik soll nach Mattheson ihren eigenen Regeln folgen und nicht von außen auferlegten kontrapunktischen Regeln unterliegen, die sie in ein scheinbar wohlgestaltetes Korsett zwängen. Sie soll nicht allein zu Gottes Ehre (Soli Deo Gloria) komponiert und gespielt werden, sondern vielmehr um den Menschen zu gefallen und sie u. a. zum Tanz zu bewegen. Mattheson prägte daher ein für seine Zeit untypisches, gesellschaftlich ausgerichtetes Musikverständnis – ganz nach dem Vorbild des in Frankreich aufkommenden galanten Stils, der dabei stets von einem elitären, exklusiven Menschenbild ausging.

Ziehen wir keine übertriebenen Rückschlüsse: offiziell wird Mattheson immer wieder den Zeitgeist bekräftigen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, mit welcher Emphase er den himmlischen Ursprung jeglicher Musik beschwört und sich darauf beruft, dass die Engel selbst sich der musikalischen Werkzeuge der Menschen bedienen. Spricht so ein großer Aufklärer in unserm Sinne?

Quelle: Johann Mattheson: Versuch einer systematischen Klang=Lehre wider die irrigen Begriffe von diesem geistigen Wesen, von dessen Geschlechten, Ton=Arten und auch vom mathematischen Musikanten nebst einer Vor=Erinnerung wegen der behaupteten himmlischen Musik / Hamburg 1748 / Nachdruck DDR Leipzig 1981 für Bärenreiter Kassel

Man bedenke, dass Nikolaus von Kues seine Schriften zum Lob des Laien als ein getreuer Kirchenmann, wenn auch nicht unangefochten, 300 Jahre vor Mattheson und Bach verfasst hat! Der aufklärerische Kern schlief im Innern der kirchlichen Lehre, und genau das will Blumenberg in allen Verästelungen nachvollziehen. Und wir können uns nicht darüber erheben und sagen: erst um 1800 oder seit der Französischen Revolution brach urplötzlich die Vernunft aus dem  wirren abendländischen Denken hervor, wie die Sonne aus der Nacht des Mittelalters. Neu war die Sprache, die man dafür entwickelte, was nicht bedeutet, dass es vorher keinen Sprache gab. Im Gegenteil:

Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen.

Siehe im letzten Blumenberg-Text oben Seite 14 unten. – Was aber war nochmal „Nominalismus“ ?

(Fortsetzung folgt)

Vom Kosmos

Nominalismus: was schert mich das? Und auch: was lehrt mich das?

Schall und Rauch? Goethe „Faust“

Das Weltbild meiner Kindheit (ich liebte die Tiere, also: dies musste alles wahr sein):

Heute beginne ich aber mit Wikipedia: HIER über den Universalienstreit. Oder auch: Nominalismus. Ich: immer in grün.

aus Wikipedia a.a.O.

Auch dies sei zunächst dahingestellt. Ich zitiere aus einem Text über den Philosophen Hans Blumenberg (unter Weglassung der Quellenhinweise, außerdem: statt ß meist ss, unerwähnt: kleine Umsetzung eines Textbausteins). ZITAT (Wetz S. 31 bzw. 30):

In der vorchristlichen Antike galt der Kosmos als Inbegriff des schlechthin Möglichen; außer dem Wirklichen war nichts möglich. Auch im christlichen Mittelalter von Augustinus bis Albertus Magnus und Thomas von Aquin soll das »Was der Welt«, deren essentieller Bestand, für Gott als Schöpfer alternativlos gewesen sein. Dessen Willensmacht bezog sich lediglich auf das »Dass der Schöpfung«, deren existentiellen Bestand: Es lag in seiner Macht zu entscheiden, ob die Welt sein wird oder nicht, aber nicht, welche Gestalt sie haben soll.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden.

Der theologische Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus verkehrte das zeitlich vorausgehende System des mittelalterlich-scholastischen Rationalismus gewissermaßen in sein Gegenteil. Dort wurde behauptet, was hier in Abrede gestellt wird. Im Hochmittelalter wurde das Ganze der vergänglichen Schöpfung noch als sinnvoller Ordnungszusammenhang von beruhigender Beständigkeit, Verlässlichkeit und Wohlgeordnetheit vorgestellt. Dieses Ganze hatte den Charakter eines hierarchischen Stufenbaus, an dessen Spitze der Mensch stand, der in der Ordnung des Wirklichen eine Vorzugsstellung beanspruchte, da er sich als Krone der für ihn eingerichteten und zu seinen Gunsten disponierten Welt betrachten durfte. Zugleich sah er sich durch seine Gottebenbildlichkeit in den Stand gesetzt, Gott und die Welt sicher erkennen zu können. Seine Gottebenbildlichkeit war Garant für die Zuverlässigkeit seiner Gottes- und Welterkenntnis, denn Gott ebenbildlich zu sein hieß, im Besitz eines Verstandes zu sein, der tendenziell mit dem Gottes übereinstimmte.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden. Die sichtbare Welt offenbarte jetzt nur noch einen kleinen Ausschnitt des Gott Möglichen, der seiner Schöpfung jederzeit ein anderes Aussehen geben konnte. Nachdem so Gottes Wille zu höchster Mächtigkeit gesteigert worden war, soll es anschließend zu einem großen Vertrauensverlust in seine Zuverlässigkeit gekommen sein. Wurde Gott aber in seiner absoluten Macht für die Menschen unberechendbar, so konnte auch die Wohlgeordnetheit der Schöpfung sowie die Sonderstellung und Bedeutsamkeit des Menschen nicht mehr länger metaphysisch begründet werden. Der Zuverlässigkeitsschwund Gottes zog einen Ordnungsschwund der Welt und einen Bedeutsamkeitsschwund des Menschen nach sich. Gott, der im Spätmittelalter die Menschheit aller metaphysischen Garantien und Zusicherungen beraubte, war für sie ebenso unbelangbar wie ungreifbar geworden. Mit seiner Macht hatte auch seine Verborgenheit zugenommen. Die »potentia absoluta« ist ein »deus absconditus«. Nun ist ein verborgener Gott aber für die Menschen soviel wie ein toter Gott, denn von Fürsorge für Welt ist bei einem solchen Gott nichts mehr zu spüren. Folgerichtig schreibt Blumenberg: Der nominalistische Gott ist ein verborgener Gott » – und ein verborgener Gott ist pragmatisch so gut wie ein toter«. Oder: »Der nominalistische Gott ist der überflüssige Gott, er kann durch den Zufall […] ersetzt werden.«

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung.

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung (2004) www.junius-verlag.de / Seite 30 ff

Die andere Quelle (1920):

Das wichtigste Buch meiner Oma (neben dem „Realien-Buch“), und wenn ich darin las, daraus abmalte o.dgl., schaute sie mit Wohlgefallen auf mich und ersparte sich und mir die weitausholenden und lang andauernden eigenen Predigten… Das kleine Bild – hier in Vergrößerung – hing „in groß & bunt“ über ihrem Bett und beflügelte meine kindlichen Träume unermesslich: das Kind in freundlicher Gesellschaft mit Löwe und Lamm – das könnte doch ICH selber sein. Ich war es. So wie ich auch, in all meiner Hilflosigkeit, jederzeit  „der starke Hans“ oder „der Tannendreher“ war.

 

Fortsetzung Text (Quelle a.a.O. Seite 32):

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung. Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit der Schöpfung erzwang gewissermaßen die Immanenz der menschlichen Daseins- und Weltorientierung. Der seit dem Ausgang des Mittelalters von den Ordnungs- und Bedeutsamkeitsgarantien verlassene Mensch sah sich fortan mehr und mehr zur Selbstbehauptung gegen eine rücksichtslose Welt veranlasst. Wenn Gottes Zuverlässigkeit schwindet, seine Allmacht sich das menschliche Handeln restlos unterwirft und schließlich der Mensch sogar seine Bedeutsamkeit einbüßt, dann wird die menschliche Vernunft zwangsläufig herausgefordert, sich durch Abkehr von der Metaphysik auf sich selbst zu konzentrieren sowie die Welt den eigenen Bedürfnissen gemäß verfügbar und beherrschbar zu machen.

Damit wird die innere Logik des Zusammenhangs von theologischem Absolutismus und humaner Selbstbehauptung deutlich: Der spätmittelalterliche Nominalismus mit seinem Willkürgott hatte den Menschen einer solchen Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit der Natur ausgeliefert und in eine derartige metaphysische Unsicherheit gestürzt, dass er nun sein Geschick selbst in die Hand nehmen musste: »Der in der Verborgenheit Gottes seiner metaphysischen Garantien für die Welt beraubte Mensch konstruiert sich eine Gegenwelt von elementarer Rationalität und Verfügbarkeit.« Anders formuliert: »Je gleichgültiger und rücksichtsloser die Natur gegenüber dem Menschen erscheint, um so weniger gleichgültig kann sie ihm sein, um so rücksichstloser muss er selbst das, was ihm als Natur gegeben ist, […] verfügbar machen und als den Spielraum seiner Daseinschancen sich unterwerfen.« So legt der theologische Absolutismus indirekt dem Menschen die Last der Selbstbehauptung auf. Mit dieser These widerspricht Blumenberg der weitverbreiteten Ansicht, dass die Neuzeit mit einem absoluten Neuanfang begonnen habe und in keinem Verhältnis zum Mittelalter stehe. Der Beginn der Neuzeit sei kein absoluter Anfang, weil er irreduzible Voraussetzungen im spätmittelalterlichen Nominalismus habe. Die Neuzeit sei aus einer extremen Nötigung des Menschen zur Selbstbehauptung hervorgegangen, die sich aus dem theologischen Absolutismus herleiten lasse. Repräsentant und Prototyp der auf sich selbst gestellten Neuzeit sei Faust.

(a.a.O. Seite 33)

Damit bin ich mit meiner Abschrift genau an dem Punkt angelangt, der für mich persönlich wichtig war und ist. Warum?

1 ich brauche den großen historischen Zusammenhang, auch, weil ich die großen Narrative, die Bilderwelt des Christentums nicht über Bord werfen kann. Damit verbunden die Welt aller symbolischen Formen samt der Musik.  Und Faust ist das Stichwort, das mich mit den Jahren um 1958 verknüpft (und gewissermaßen versöhnt). 

2 dann – das Wort Verfügbarkeit… (bzw. Unverfügbarkeit) – Resonanz… (nicht zu verwechseln mit Konsonanz, auch Neue Musik gehört dazu.)

3 das Hören (Bach ohne Pietismus)

Nur die folgenden Inhalte als visuelle Wegmarken:

  alle nur möglichen Narrative…

Villanders: Kapelle mit „Fegefeuer“

Man könnte meinen, ich hätte es inzwischen ein für allemal begriffen, nachdem ich ja schon 2020 das entsprechende Blumenberg-Original über die Geburt des schöpferischen Menschen mit Rotstift durchgearbeitet habe. Trotz (oder wegen) meiner Oma habe ich in meiner Jugend ja durchaus kein brennendes Interesse für Kirchenväter entwickelt (Nietzsche hätte mich früher oder später auch davon kuriert). Nur an eins erinnere ich mich: Religionsunterricht in der Oberstufe, Thema Buddhismus – ich hatte schon Laotse gelesen, aber auch Marc Aurel -, und wandte ein, da könne man ja schon alles finden, was dem Christentum Positives zugeschrieben werde, und der Lehrer hob hervor: was fehle, sei die tätige andere (himmlische) Seite: die Gnade. Ich habe nicht weiterargumentiert, – dafür brauche man aber die Sünde, die Schuld, vor allem das Sündenbewusstsein, mit anderen Worten, die ANGST und ein glaubwürdiges Jenseits, die Drohung des Fegefeuers und die Macht der Kirche, all diese Hilfsvorstellungen durchzudrücken, die Möglichkeit, uns „Erlösung von dem Übel“ zu versprechen. Aber in Südtirol habe ich immer wieder daran gedacht. Daher die gespannte Aufmerksamkeit, wenn Augustinus mit dem Gnadebegriff bei Blumenberg auftaucht:

Und jetzt ist das entscheidende Kapitel des Büchleins erreicht, Grund genug, es immer wieder genau hier aufzuschlagen, zurückzugehen, voranzuschreiten… „die Inkongruenz von Sein und Natur … als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen“ zu können.

Quelle:

s.a. hier im Blog unter „Tiere sehen“ (Texel)

Wenn Sie mich aber fragen, was denn die Einleitung dieses Artikels, die Symbolbilder mit den Pferdchen, zur Klärung beigetragen haben, so frage ich zurück, was denn an der Inkongruenz von Sein und Natur so problematisch sein soll? Lesen Sie doch auf der zweiten Seite des eben wiedergegebenen Kapitels VI die Sätze vom Sein der Welt und dessen hypothetischer Ersetzbarkeit, verstehen Sie, weshalb die Debatte über die Allmacht Gottes und über dessen Unendlichkeit eine so existentielle Bedeutung erlangen konnte. Was hing denn für den Menschen davon ab? Wie kam es, dass aus den logischen Elementen  emotionale  wurden? Da steht der leicht übersehene Satz von Hans Blumenberg: „Ich vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesses zu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen der Inkongruenz von Sein und Natur und damit über die Relevanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeit auszumachen.“

Wie allein bin ich?

Einzeln, einsam oder wirklich allein?

.    .    .    .    .

Safranski bezieht sich auf Burckhardt

Jacob Burckhardt – das ist mein Italien (Michelangelo)

.    .    .    .    . Notiz im Buch

Meine Mutter hatte das hineingeschrieben, ein Geschenk also von Frieder Lötzsch, einem Klavierschüler meines Vaters, in dessen Todesjahr 1959. Er galt als intellektuelles Wunderkind, als er auf Langeoog mit den Älteren diskutierte; er belehrte sie alle und zitierte Aristoteles (Thema „Persönlichkeit“). Nach Jahrzehnten traf ich ihn bei einem Ehemaligen-Treffen in Bielefeld wieder, wir hatten uns nicht viel zu sagen. Seine Veröffentlichung des Jahres 2006 betraf einen unserer ehemaligen Lehrer, den Philosophen Helmuth Dempe, den ich erinnere dank eines heftigen „Gesprächs“, das zwischen ihm und meinem Vater entbrannte, beide recht intensive Rechthaber. Beim Kaffee im Freudental an der Sparrenburg-Promenade. Lauter typische Einzelne. Wie auch ich, im jüngeren Umfeld, zumal ich Geige spielte und klassische Musik ernst nahm. Sehr befremdend eigentlich, dass ich – obwohl Altsprachler und eher schüchtern – zum Schulsprecher gewählt wurde.

Es ist eigentlich immer dasselbe Problem mit den Anderen: ob man mehr vom Individuum her denkt – oder mehr von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Freundschaft, den Außenbindungen her denkt. Man kann es überall herauslesen, wenn man will. Ein Beispiel: das aktuelle Spiegelgespräch:

Quelle Der Spiegel Nr.46 / 13.11.2021 Seite 96 (Gespräch Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash).

Gab es nicht schon immer „Persönlichkeiten“? Leute mit bedeutender Ausstrahlung?

Renaissance, Wiedergeburt. Und Gegenwart.

Hannah Arendt nach Safranski

Das muss man verinnerlichen, den Satz von der „Balance zwischen Einheit und Vielheit“. Die Demokratie bewirke und bewege die Lebendigkeit der Gesellschaft dadurch, dass die Einzelnen einander dabei helfen, jeweils neu anzufangen. „Doch die damit einhergehende Nichtübereinstimmung der Individuen muss lebbar bleiben. Das leistet die Demokratie mit ihrem rechtsstaatlichen Regelwerk, das den Differenzen und der Pluralität einen Rahmen gibt. Nur so entsteht die Balance zwischen Einheit und Vielheit. “

Jeder kommt von einem anderen Anfang her und wird an einem ganz eigenen Ende aufhören.

Aber das ist im realen Leben eine zu abstrakte Formel. Denn das Kernproblem liegt heute anders: Wir leben in einer Kultur,

die getrieben ist von einem Konzept der Unendlichkeit, dem unerschütterlichen Glauben daran, dass alles für immer so weitergeht. Diese Kultur ist sehr erfolgreich. Aber wenn man es mit Endlichkeitsproblemen zu tun hat, ist es nicht ideal, keine Vorstellung von Endlichkeit zu haben. Und die Themen, die aus meiner Sicht das 21. Jahrhunderrt bestimmen – Artensterben, Klimawandel und alle anderen ökologischen Probleme – sind Endlichkeitsprobleme. Wenn die Insekten weg sind, sind sie weg. Und wir auch. Ganz einfach.

So Harald Welzer im Interview der Süddeutschen Zeitung (Johanna Adorján) am 13./14. November 2021 (Seite 56), und es wird konstatiert:

2020 hat die tote Masse auf diesem Planeten die Biomasse erstmals übertroffen. Das bedeutet, es gab auf der Welt mehr Menschgemachtes als Natur.

Mehr, mehr, mehr. Die Litanei der Ökonomen.

Wenn etwas Großes passiert ist wie die letzte Finanzkrise, stehen sie da und sagen: „Huch“. Dann schweigen sie drei Monate. Und wenn die Politik agiert hat, sagen sie: „Im nächsten Quartal rechnen wir mit einem Wachstum von soundso viel Prozent.“ Mehr Beitrag haben sie nicht. Auch bei Corona: keine einzige Idee. Nur Hochrechnungen, ab wann wieder mit Wachstum zu rechnen ist. (…)

Harald Welzer gibt einen interessanten Hinweis zur Sprachpraxis, nämlich, statt „Wachstum“ immer „gesteigerter Verbrauch“ zu sagen. Er sagt:

Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: „Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen“. Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt.

Das war am Wochenende zu lesen. Sehr interessant auch seine These, die an Ernst Bloch anknüpft: „Gott wurde säkularisiert, der Teufel aber nicht.“

Ja, die Aufklärung hat nur Gott für tot erklärt. Den Teufel – das Prinzip des Widersacherischen, wie es bei Bloch heißt – nicht. Und so kommt es, dass es bei jeder Katastrophe dieselbe riesige Überraschung gibt. Ein Amoklauf an einer Schule in Amerika: Na so etwas, wie konnte denn das passieren? Der Unfall, die Katastrophe, das Misslingen ist in unserer Gesellschaft systematisch nicht vorgesehen. Es wird immer als Unfall gesehen, als Abweichung von der Normalität, nicht jedoch als Teil der Normalität. (…) Ein Unglück, ein Terroranschlag, ein Erdbeben wird immer als einzelnes Phänomen betrachtet. Eine Art negatives Wunder, dass es überhaupt geschah. Es wird völlig überhöht, ist „tragisch“, „unvorstellbar“. Es muss dann auch immer ein Schuldiger gefunden werden, der das zu verantworten hatte. Dabei, und jetzt kommen wir wieder zum Thema Endlichkeit: Es kann nicht immer gutgehen. Es kann immer etwas passieren. Man muss sogar damit rechnen, dass schreckliche Dinge passieren.

Und heute liegt das Buch vor mir, „Nachruf auf mich selbst“ – einzelner geht es nicht:

Welzer: Nachruf auf mich selbst

dies bewegte mich 1980 / 1982 – die Unterstreichungen stammen von damals . . . rückblickend finde ich mich damals jung …

Die 90er Jahre?

Nach der „Jahrtausendwende“ – ein großer Sprung:

Berlin 2017 / 2019 München 2019

Donnerstag 18.11. 2021 – die neue ZEIT ist da: ich habe Zeit, sie zu durchblättern, schließlich bin ich nicht allein, der Kaffee ist längst fertig. Seelenlage: ausgeglichen.

Aber ich bin abgelenkt durch Artikel und Blickfang auf der nächsten Seite: Foto gemeinfrei. Denn der abgebildete Springer, ein junger Mann, war schon damals tot, sonst wäre dies kein antikes Grabmal.

Paestum um 480 v. Chr. s.a. hier

Zurück zu „Seelenlage: Schmerzlich“. Da heißt es zu dem Buch von Daniel Schreiber („Allein“):

Schreiber ist Experte für Tabus. Er hatte 2017 in dem schmalen Band Zuhause erzählt, wie er sich als schwuler Junge in einem ostdeutschen Kaff durch die Kindheit litt. In Nüchtern (2014) geht es um Sucht. Der Autor weiß, wie es sich anfühlt, randständig zu sein, beäugt und beurteilt zu werden. Alleinsein, schreibt er, ist etwas, was auch anderen Furcht einjagt, weil Einsamkeit als ansteckend wahrgenommen wird, sie ist mit Scham behaftet, wird versteckt.

Es ist die Selbstoffenbarung, die Schreibers Buch von dem Werk Rüdiger Safranskis gänzlich unterscheidet, auch wenn die Titel ähnlich sind. […] Hier nun: Start bei der Renaissance! Safranski arbeitet sich durch die Reformation über Rousseau zu Kiekegaard vor, verweilt bei Stefan George, Zwischenstopp bei Ricarda Huch und Hannah Arendt (niemand soll ihm sagen, wie beim Romantik-Buch, er habe die Frauen vergessen!), am Ende landet er bei Ernst Jünger – »Der Einzelne als Stoßtruppführer«

Es ist ein Fast Forward durch die Philosophie. Man kann sich vorstellen, wie so ein Buch zu Weihnachten an die Papas geht und wie wenig nach einem Cognac noch auffällt, wie grob es geschnitzt ist. »Wer als Einzelner erlebt, steht im Freien, ohne sich deshalb schon befreit zu fühlen.« Nun ja. Ob italienische Stadtstaaten sich »in der Arena des polyzentrischen Kräftespiels wie eigensinnige Individuen« verhielten? Sind die großen Künstler von Florenz vor allem »Darsteller des eigenen Ichs«? Eigentlich nein. Wohin führen solche Vereinfachungen? Mit Sicherheit weit weg vom Schmelzkern des Themas, einer eigenen Einsamkeitserfahrung.

Quelle DIE ZEIT 18. November 2021 Seite 72 „Seelenlage: Schmerzlich“ Daniel Schreiber und Rüdiger Safranski erkunden das vereinzelte Ich auf verblüffend verschiedene Weise / Von Susanne Mayer

Stadtstaat und Kosmopolitismus

Die großen Begriffe der italienischen Stadtstaaten uomo singolare, uomo unico“

Quelle Jacob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952 (1860)

Siehe auch hier: http://s128739886.online.de/athen-und-florenz/

Sobald man das Individuum hervorhebt, ist es ein notwendiger Schritt zu bedenken, dass kein Individuum für sich allein existiert.

.    .    .    .    .

Quelle Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen / Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017

P.S. Ich verweise dankbar auf den Artikel, in dem ich wohl zum ersten Mal im Blog auf dieses schöne Lexikon hingewiesen haben (ebenfalls in der Vorweihnachtszeit, Thema SEELE): hier

Und was ist, was vermag eigentlich der einzelne schöpferische Mensch?

Hier war mir das Büchlein noch neu. Jetzt ist es mir aus einer veränderten Situation heraus von neuem wichtig geworden. Ich schaue nicht mehr als erstes auf die Tiere, auf die Natur, sondern auf den Menschen, der an die Stelle Gottes tritt. In der Kunst ebenso wie bei der Herstellung einer wohlgeformten Holzkelle oder eines Hauses. Da sollte ich den entscheidenden Sprung der Gedanken darstellen oder wiedergeben…

Was ist wesentlich?

Vom Sinn des Lebens und vom bloßen Wohlstand

Und von Hans Blumenberg.

Zitat

Ein Gott, der ein trostbedürftiges Wesen geschaffen hat, also auch nur ein im Schmerz der Tröstung fähiges Wesen, könnte nicht als wohlmeinend gedacht werden, wenn er diesem Geschöpf Spendung und Empfang von Trost versagte, woher auch immer sie kommen mögen. […]

In früheren Generationen fanden Eltern ihren Trost wegen des eigenen Elends und Unglücks bei dem Gedanken, es könnte ihren Kindern einmal besser ergehen, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür nur gering sein mochte oder sogar alles dagegen stand. Man muß ein trostbedürftiges Wesen nicht der Wahrheit ins Auge sehen lassen, nicht den unbedingten Realismus von ihm fordern. Wittgenstein hat zutreffend gesehen, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet ist, wenn sie nicht mehr gestellt wird; es ist dieselbe Grundposition, die Freud veranlaßt hat zu sagen, wer nach dem Sinn des Lebens fragt, sei krank. Trost bedeutet auch und vor allem, daß die Frage nach dem Sinn des Leides, das Trostbedürftigkeit erweckt, nicht mehr gestellt wird. Dazu kann es genügen, im unerträglichen Faktum der betroffenen Existenz den Willen einer nicht-menschlichen, also nicht als niedere Bosheit zu empfindenden Macht zu sehen. Es genügt, daß die Betroffenheit des eigenen Daseins dem Willen der anderen entzogen ist, indem  sie dem Willen des anderen unterstellt wird. Die Frage nach der Wahrheit der Existenz dieses Willens ist beantwortet, wenn sie nicht mehr gestellt wird. Insofern ist die Funktion der Kontingenzbewältigung an Wahrheit gebunden. Nur steht diese Wahrheit aus Gründen der Veränderung der Faßbarkeit des Gottesbegriffs nicht mehr unter der Gehorsamsforderung der Anerkennung von Tatsachen. Unser ganzes Weltbild beruht auf Sätzen, die des Zusatzes bedürfen, es könne so sein, müsse es aber nicht. […].

Quelle Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit / suhrkamp taschenbuch wissenschaft / Suhrkamp Verlag Berlin 2019 (Seite 83 f „Trostlosigkeit der Wahrheit“)

*    *    *

(Der Ton ist teilweise katastrophal. Es liegt nicht an unserm Gerät.)

Das Bild der Welt

Das Buch der Natur und mein Mikrokosmos

Vorbemerkung für „Fremdleser“: Ausgangspunkt für mich war ein neues Buch von Hans Blumenberg, das nicht leicht zu lesen ist. Man überlegt also ganz pragmatisch: lohnt sich die Arbeit, der Zeitaufwand, es gibt noch so vieles … (Vorläufig: Antwort ja, unbedingt, aber ich lese nicht von Seite 9 – 409, sondern springe vom Anfangskapitel in solche, die mich unmittelbarer interessieren, also z.B. Leibniz wegen Bach-Zeit Kap.X). Mein Rat an Zaungäste: nach Belieben auszublenden, was nur für mich von Bedeutung ist oder sein soll. Ich erweitere den Motivationskreis, indem ich mich an Geertz erinnere, der mich in früheren Jahren fasziniert hat, in den 90ern etwa, ansetzend bei „Dichte Beschreibung“ und dem Hahnenkampf auf Bali. Wie immer verbunden mit der Frühzeit der eigenen Interessenerweiterung, in den letzten Schuljahren. Daher beginne ich mit dem Buch von Mersmann, aber nicht inhaltlich, sondern mit dessen Widmung: sie suggeriert, dass meine „Rolle in der Gesellschaft“ damals nicht nur ein Hirngespinst war, sondern früh ein gewisse Bestätigung von außen erfuhr (ohne auch nur im geringsten politisch motiviert zu sein). Ich wollte größere Zusammenhänge „beherrschen“.  Der Titel-Zusatz „in der abendländischen Kultur“ war entscheidend. (Das Buch hatte ich mir aussuchen dürfen!) Man lebt ja nicht freiwillig so isoliert wie heute – nach einem Jahr Corona und der Gewissheit, dass diese Zeit noch andauern wird. Was half damals wie jetzt? Lesen, Denken und Musikhören.

1958 -1960

Und wenn ich noch einmal 10 oder 12 Jahre zurückgehe, so sehe ich, wie der Blick aufs große Ganze zuerst angeregt wurde (abgesehen von Grimms Märchen und Heldensagen und nicht zuletzt vom alltäglichen Blick aus dem Wohnzimmerfenster meiner Großeltern auf die Porta Westfalica):

Ende der 40er Jahre

In meinem vorletzten Bielefelder Schuljahr begann ich vor einer Langeoog-Fahrt eine neue Privat-Kladde, die meine Interessen erweiternd begleiten sollte, was durch die Inhaltsangabe am Ende bestätigt wurde. Fast alles daraus ist mir bis heute in Erinnerung, hat mich also ein Leben lang begleitet. Es gab auch andere Kladden (z.B.Thema Musik).

.     .     .     .     . .     .     .     .     . 15 Jahre später Und 5 Jahrzehnte zu spät

Vielleicht sollte ich heutzutage lieber dem Verschwinden einer Illusion nachgehen, indem ich einigen roten Fäden folge, die das Labyrinth immerhin zu strukturieren scheinen.

An Ariadnes Stelle sehe ich Hans Blumenberg, der den Terminus „absolute Metapher“ verwendet, wo andere vom „Weltbild“ sprechen oder etwas unbedarft von der „Mutter Natur“. Franz Josef Wetz schreibt in seiner Monographie über Blumenberg, er habe den Terminus eingeführt zur Kennzeichnung jener sprachlichen Bilder,

die semantische Gehalte umfassen, welche sich der Ausdruckskraft der begrifflichen und objektivierenden Sprache von Philosophie und Wissenschaft entziehen. Ihm zufolge gibt es eine Dimension des unbegrifflich Metaphorischen, die sich nicht ins begrifflich Logische übersetzen läßt.

Worum handelt es sich dabei? Über die Bedeutung absoluter Metaphern gibt nach Blumenberg vor allem ihre Funktion näheren Aufschluß. Allgemein diebnen absolute Metaphern der Beantwortung höchster und unabweislicher Fragen, die sich jeder wissenschaftlichen Klärung entziehen: »Absolute Metaphern beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.«  (PM, 19) Blumenberg unterteilt diese Fragen in theoretische Totalitätsfragen und pragmatische Orientierungsfragen. Absolute Metaphern haben demnach eine »theoretische« (PM, 62) und zugleich eine »pragmatische« (ebd.) Aufgabe. Ihre theoretische Funktion besteht im Aufschließen von Totalhorizonten. Absolute Metaphern »geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität« (PM 20). Sie lassen ein Bild von der Totalität der Wirklichkeit entstehen. Zu solchen Welt-Bildern zählen die Vorstellungen von der Wirklichkeit als Polis, Lebewesen, Theater oder Uhrwerk. Diese und ähnliche Metaphern beanspruchen nicht, einzelne Sachverhalte der Wirklichkeit darzustellen, sondern die Totalität der Welt selbst zu vergegenwärtigen. Selbstredend genügen sie nicht dem Anspruch des strengen Denkens, und dennoch müssen sie ihm genug sein, wenn nicht auf eine Vorstellung vom Ganzen verzichtet werden soll. So bieten uns vertraute sprachliche Bilder eine Anschauung von der unbegrifflichen Totalität der Wirklichkeit, an deren Stelle sie treten. Zwar haben Metaphern – wie als „Restbestände“ – auch als „Grundbestände“ die Funktion eines bloßen „Ersatzes“; aber mit dem wesentlichen Unterschied, daß letztere für etwas stehen, das sich weder in Begriffe überführen noch durch Begriffe angemessen erfassen läßt: die Wirklichkeit im Ganzen.

Nun veranschaulichen absolute Metaphern aber nicht bloß die ungegenständliche Totalität der Welt, sie fungieren darüber hinaus als Orientierungsmuster. Zum Gehalt absoluter Metaphern gehören Wertungen, die bestimmte »Haltungen, Erwartungen, Tärigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten« (PM, 20) freisetzen. Absolute Metaphern sind sonach auch Ausdrucksformen von »Grundhaltungen und Verhaltungen« (PM, 62). Sie repräsentieren und orientieren zugleich.

Quelle Franz Josef Wetz : Hans Blumenberg / zur Einführung. Junius Verlag Hamburg 2004 / Seite 20f [Die Signatur PM verweist auf das Buch „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, Bonn 1960]

Was macht mir Probleme?

Ich war mit der Vorstellung erwachsen geworden (Adorno: Philosophie der Neuen Musik 1958): „Das Ganze ist das Unwahre“, und es bedurfte eines speziellen philosophischen Zuspruchs, die Wirklichkeit (insgesamt) oder gar „die Totalität der Welt“ noch ins Auge zu fassen. Die Welt splitterte sich allenthalben auf, lauter starke Impulse, aus Musik wurden Musikkulturen, aus allen Richtungen kamen wichtige Botschaften, der Begriff „Weltmusik“ tauchte bei Stockhausen auf, eine individuelle Suggestion, wer festen Boden unter den Füßen brauchte, konzentrierte sich doch immer wieder und immer noch auf das Einzelne, auf ein Werk, ein „opus perfectum et absolutum“. Und über der Einleitung des oben genannten Adorno-Buches stand das strenge Hegel-Wort:

Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.

Aber was ist Wahrheit?

Ich weiß nicht, ob es nun Zufall war, dass ich das Wort „Entfaltung“ wählte, als es beim Gegenstand meiner Dissertation um das Gegenteil einer Opus-Musik ging, ein Melodiemodell der arabischen Musik. Diese Musik ist eine andere Welt, aber zweifellos eine Welt, und zwar eine, in der man sich entfalten und bewegen konnte; zumindest gedankliche Wegzehrung kam von Leuten wie Feyerabend oder Watzlawick. Die eine Welt ist demnach so wirklich wie die andere.

Der Sprung in die Ethnologie (Clifford Geertz)

ZITAT Gottovik

Für die Untersuchung der Symbolsysteme einer fremden Kultur schlägt Geertz nun ein Verfahren vor, das er als ,,das beständige dialektische Lavieren zwischen kleinsten lokalspezifischen Details und umfassendsten Strukturen“ bezeichnet. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang explizit auf Wilhelm Dilthey und den hermeneutischen Zirkel, dem zufolge das Ganze aus der Perspektive seiner Teile und vice versa zu betrachten sei. Auf diese Weise gelangt Geertz schließlich zu der These, dass das Verstehen fremder Kulturen prinzipiell mit dem Lesen eines Gedichtes, d.h. der Interpretation eines Textes verglichen werden könne, gilt doch auch hier die gleiche Zirkelstruktur des Verstehens: Die Teile entfalten ihre Bedeutung erst in der Beziehung zum Ganzen, während das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile. Geertz versucht demnach, mit der Hinwendung zur Texthermeneutik dem Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie eine erkenntnistheoretische Grundlage zu geben.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Text- und Lese-Metapher in allen drei genannten Essays von zentraler Bedeutung ist. So zum Beispiel auch in Deep Play, wo Geertz folgendes ausführt: ,,Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.“ [Anm.20] In diesem Sinne versucht auch Geertz,die Bedeutung des Hahnenkampfes über die Schultern der Balinesen zu erfassen, d.h. ,aus der Perspektive der Einheimischen‘ zu verstehen; dafür ist es notwendig, den Hahnenkampf in eine aufschlußreiche Beziehung zu anderen Symbolsystemen der balinesischen Kultur zu setzen. Die von Geertz erhobene Forderung, die balinesische Kultur im Medium ihrer Tänze, Schattenspiele, Bildhauerkunst, Mädchen (!) oder Hahnenkämpfezu betrachten und diese wie Texte im Hinblick auf ihre Bedeutung zu lesen, [Anm.21] setzt einen erweiterten Textbegriff voraus. In diesem Zusammenhang wird nun der dritte hier zur Debatte stehende Essay mit dem Titel Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture relevant. [Anm.22]  Auch dort findet sich die Lese- und Textmetapher, wenn es etwa heißt: Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ,eine Lesart entwickeln‘), das […] aber nicht in konventionellen Lautzeichen,sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. [Anm. 23]

Quelle Volker Gottowik: Clifford Geertz und der Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie / in: Hans-Martin Gerlach, Andreas Hütig, Oliver Immel (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität. Peter Lang, Sonderdruck 2004, S. 155–167. [Dieser ganze Text online hier.]

Ein kleines Missverständnis wäre zu klären: denn darauf beruht offenbar das Ausrufezeichen hinter dem Wort „Mädchen“ im hier zitierten Text. Der Satz beginnt mit den Worten „Die von Geertz erhobene Forderung“, – dieser aber erhebt gerade nicht diese Forderung, sondern er bezieht sich dabei kritisch auf die übliche Akzentuierung in der Reiseliteratur, leicht ersichtlich, wenn man den Kontext genauer untersucht (siehe im folgenden Scan rechts unten, rot gekennzeichnet: wenn man Bali nicht nur…) :

Quelle Clifford Geertz: Dichte Beschreibung / Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme / Suhrkamp Frankfurt am Main 1987

Und zurück in unsere Welt…

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Inhalt)

Blumenbergs Kapitel im Buch der Lesbarkeit

I (Rothacker)

II (Cassirer)

III Bibel Augustinus Dante

IV Griechen

V Augustinus Aquino

VI Nikolaus von Cues Bonaventura,

VII Galilei, Campanella

VIII Bacon Bruno Descartes Borelli Spinoza

IX Gracián Schopenhauer Ernst Robert Curtius

X Leibniz

XI Berkeley

XII Diderot Vico Herder

XIII Böttiger Brockes Reimarus Kant Hamann Humboldt

XIV Lichtenberg

XV Goethe

XVI Novalis Gebrüder Schlegel Goethe

XVII Friedrich Schlegel Novalis

XVIII Alexander von Humboldt

XIX Novalis Lichtenberg Flaubert Mallarmé Valéry Benjamin

XX Schopenhauer

XXI Freud C.G.Jung Abraham

XXII Schrödinger Planck Chargaff Miescher Ankel Markl Monod

(Fortsetzung folgt)

 

Ungelöste Fragen und Übungen

Zum Weiterdenken (und dann vergisst man’s doch)

Ich schlage ein neues Buch auf („Die nackte Wahrheit“ von Hans Blumenberg, Nachweis siehe am Ende dieses Beitrages) und stoße auf Seite 81 im Kapitel „Trostlosigkeit der Wahrheit“ auf einen unnötig schwierigen Satz, den ich vielleicht nur allzu gut verstehe:

Probleme ändern ihre Formeln. Gegenwärtig ist eine gewisse Toleranz gegenüber der Religion unter einem funktionalistischen Aspekt wieder geläufig geworden, der das Phänomen mit dem eindrucksvollen Terminus der ‚Kontingenzbewältigungspraxis‘ rubriziert.

Das trifft mich hart. Weil auch ich mich über Jahre zögerlich auf triftige Gründe für Toleranz in diesem Punkt eingestellt habe. Andererseits: Blumenberg konstatiert nur, er empfiehlt nichts Neues, zumal er Ende der 50er Jahre noch kaum Einblick in die Wahrheit des Missbrauchs hatte. Denn wer will danach im Ernst von wachsender Toleranz reden?  „Probleme ändern ihre Formeln“. Welche Religion hilft uns denn, wenn nach Sinngebung, nach Bewältigung des Wirrwarrs – der Kontingenz – gefragt wird? – Themenwechsel. Bitte um leichteren Stoff.

Nachtrag 26.11.20

Da es im Blumenberg-Zitat um die wieder geläufig gewordene Toleranz gegenüber der Religion geht, passt ganz gut hierher, was ich eben in Faust-Kultur gelesen habe:

Religionen fallen auch unter die Verschwörungstheorien. Ein Ordnungsruf von Thomas Rothschild.

Das klingt fast zu einfach. Es gehört jedoch zweimal einfach zum ganz normalen Diskussionsbedarf, zumal bisher immer gesagt wurde, man solle auf die andern Leute „mit ihren Sorgen“ zugehen und sie nicht einfach nur für blöd erklären, wenn sie sich ungefragt selbst zu „Querdenkern“ erklären. Lesen Sie also Thomas Rothschild, der nunmal wirklich seit mindestens 50 Jahren zu den liebenswürdigsten echten Querdenkern gehört: HIER.

Es geschieht oft beim Zeitunglesen, auch bei Büchern, die man eigentlich nur mal so in die Hand genommen hat, und ja, schon passiert es, man sagt sich, das muss ich mal gründlicher untersuchen, und ja, man vergisst es. Zum Beispiel dieses „und ja“, das mir vor allem in Kurzinterviews mit Fußballspielern aufgefallen ist, sollte wirklich auch mal zum Thema werden, und siehe da, ich lese es bei Hermann Unterstöger, dem immer fesselnden Kolumnenschreiber der SZ, der gewöhnlich bei sprachkritischen Leserzuschriften ansetzt. Jetzt hat er sich dieser Redegewohnheit in seinem Sprachlabor angenommen, und ich bin plötzlich nicht ganz sicher, ob er dasselbe meint wie ich.

Ich meine nämlich, es müsste eigentlich anders dargestellt werden, nämlich mit einem Komma oder Gedankenstrich zwischen den Wörtchen, das „ja“ vielleicht sogar mit einem Ausrufezeichen versehen werden, und – ja! – es würde noch an Nachdruck gewinnen, selbst wenn es zugleich etwas untergeschliffen würde. Das heißt, dieses „ja“ suggeriert eine Selbstermutigung beim Sprechen, als zögere man leicht nachdenklich bei der gewählten Ausdrucksweise und gebe sich einen Ruck, man könnte auch einfügen: „ich sach mal“, es würde sogar an Nachdruck gewinnen. Allerdings hätte man dieses „und ja“ schon so oft gebraucht, dass es rhetorisch keiner Hervorhebung oder Kunstpause mehr bedarf und ja: sogar zu einer völlig beiläufigen Formel mutiert ist. (Ehrlich gesagt: ein paar Tage später glaube ich, Unterstöger nicht ganz richtig verstanden, aber trotzdem keinen völligen Unsinn geschrieben zu haben.) 

Nachtrag 19.02.2021 „Und ja“ bei Bill Gates in der ZEIT:

Übrigens: einer Redemarotte der 90er Jahre begegnet man seit Elmar Theveßens Nachrichtenbeiträgen aus den USA wieder häufiger (bei ihm 5- bis 6mal in einem Kommentar): „ein Stück weit.“ Wozu dient es? Ich hätte ein paar andere Wörter, die allerdings ein Stück weit dürftiger klingen. Auch in der Lanz-Runde, in der etwas anderes nervt: sein ständiges „schlicht und ergreifend“ und auch die drei Finger, die beim Zeigefingerausstrecken auf ihn selbst zurückweisen…

*    *    *

Als ich anlässlich der CD der Schola Heidelberg das Original des Bildausschnitts mit Maria und dem Jesuskind im Stall zu Bethlehem suchte und entdeckte, dass es den Besuch der Heiligen Drei Könige darstellte, fand ich auf Anhieb den Kopf des schwarzen Königs oder „Magiers“ aus dem Morgenland auffällig unschön und argwöhnte, dass dies vielleicht kein Zufall ist, sondern dass der Schwarze gewissermaßen eine mindere Form von Menschlichkeit repräsentieren sollte. Ein rassistischer Zug bei Maler Hieronymus Bosch? Warum nicht?! Die Zeiten waren voller Vorurteile über Menschen, die „anders“ waren.

 

Und wenige Tage später stieß ich in der Zeitung auf eine Bemerkung über den Streit, der die Heiligen Drei Könige im Ulmer Münster betrifft, Vorwurf: der eine, der schwarze, sei rassistisch karikiert, zwar wiederum der Zeit entsprechend, 1925, aber heute eben inakzeptabel. Hier wird darüber auch in der Frankfurter Rundschau berichtet. Es ist ein ähnliches Dilemma, wie man es in lutherischer Zeit bei Darstellungen des typischen Juden mit Spitzhut (zuweilen auch bezeichnet als „Judensau“) findet. Ich habe das mal in einer alten Kirche in Lemgo dokumentiert, zugleich aber auch eine gute didaktische Ergänzung, die dort von der Kirchenleitung installiert war (siehe im Blog hier).

Noch einmal der schwarze König Melchior (oder war es Balthasar? die Hautfarbe ist ja eine ziemlich späte Erfindung) : in einem interessanten Blogbeitrag hier sieht man den schwarzen König eines anderen Bildes von Hieronymus Bosch zum gleichen Thema. (Es hängt im Prado, Madrid.) Über das Äußere dieses Herrn ist wahrhaftig nichts Negatives zu sagen, eine noble Gestalt! Während der weiße alte Mann weiter hinten im Türrahmen offensichtlich nicht angemessen gekleidet ist.

Ich frage mich, wie man sich bei einer Auswahl afrikanischer Foto-Porträts verhält, nach welchen Kriterien wählt man aus? Auch charakteristische Menschen aus Mitteleuropa könnten im Mittelpunkt eines Bildbandes stehen, – wieviel Frauen, wieviel Männer, wie viele davon „günstig“ getroffen, wie viele eher abstoßend? Darf ich überhaupt jemanden nach dem Äußeren bewerten, ist das nicht immer und überall „rassistisch“, diskriminierend, darf man (?) eine Frau als schön bezeichnen? Vielleicht wenigstens im Sport, wo es ja zweifelsfrei um Körper und ihren physischen Wettbewerb geht, seltener um das verbindliche Wesen. Abgesehen von der … doch wünschenswerten Kameradschaft… Ein Teufelskreis!

Eine ganz andere Frage – was ist denn das für ein seltsames, spitzmäuliges Langbein, in der Mitte des Bildes, ganz im Vordergrund? Das hundefreundliche Ehepaar Hütten aus Solingen hat mich aufgeklärt, so dass ich durch den Namen auch auf einen schönen Blog stoßen konnte, den ich nachher noch verlinke, – ich meine dieses rattenschwänzige, absolut fettfreie Lebewesen:

Es ist ein Whippet. Mehr darüber hier , und hier lesen Sie auch – falls Sie diesen Vertreter seiner Rasse äußerlich etwas abstoßend fanden – durchaus beschwichtigende Worte: „Wegen seines angenehmen Wesens eignet er sich auch als Familienhund dessen Jagdtrieb man aber nicht unterschätzen darf.“ Na also!

Mich interessierte – jedenfalls bei der Betrachtung des Ganzen – noch der Unterschied zwischen Altarbild und Andachtsbild, von dem ich einmal gehört hatte, und da fand ich folgende Sätze bemerkenswert:

Zitat

Altarbilder werden tendenziell so konzipiert, daß sie Schranken aufbauen und Distanz zum Betrachter schaffen, durch Geschlossenheit, parataktische Reihung, Monumentalität, Symmetrie, aber auch die Wahrung zeremonieller Formen, wie z.B. Frontalität; angemessen ist architektonischer Schmuck. Die Eigenschaft, ein ‚Gegenüber‘ zu sein, wird durch die Abriegelung und Vergoldung des Hintergrundes verstärkt, Andachtsbilder aber bauen die Distanz zum Betrachter ab: Christus und Maria [hier geht es um eine Kreuzabnahme JR] werden ‚demonstrativ‘ vorgezeigt; deshalb wird oft die Raumgrenze des Gemäldes nach vorne hin durchbrochen, die Figuren werden ihm nahegerückt, er wird also nicht nur angesprochen, sondern nachdrücklich überredet. Vom Bild soll starke Wirkung, ja Erschütterung ausgehen, Mitleid wird eingefordert.

Quelle Robert Suckale: Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie / in: Meisterwerke der Malerei / Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol / Reclam Leipzig 2001 (Zitat Seite 19)

Das folgende Bild aus dem kirchlichen Leben zur Lutherzeit könnte aus heutiger Sicht erschrecken: steht da nicht ein nackter Mann in einem Bottich? – es soll sich um „Taufe“ handeln. Und bei der Predigt liegt die Gemeinde auf den Knien? Die ganze Zeit? Undenkbar aus heutiger Sicht, abgesehen davon, dass es vielleicht gar keine Gebetbüchlein mehr mit Bildern gibt.

Hier geht es nicht um Kunst, sondern um Übung. Und soweit ich weiß, gibt es auch heute noch Gemeinschaften, in denen das volle Eintauchen des Körpers zur Taufe gehört, wie einst am Jordan. Das Christentum kommt aus sehr warmen Regionen, und mittelgroße Taufbecken bei uns könnten sogar beheizt gewesen sein, wie gelegentlich bezeugt ist. Siehe auch hier, etwa in Idensen bei Wunstorf oder auch in Salzwedel.

Mir ging es um die Praxis des Choral-Singens, da meine bisherige Vorstellung offenbar falsch war. Ich hatte geglaubt, die einfachen und höchst wirkungsvollen Melodien seien nach Plan entworfen worden, mit wenig ausladender Bewegung und vor allem einer gleichmäßig ruhigen Silbenfolge, damit die Menge der Gläubigen einen gemeinsamen Takt findet. Weit gefehlt, – wesentlich war der (Schüler-)Chor, auch solistisch gesungene Partien, oft mehrstimmig, wobei die nachzuahmende Melodie auch noch im Tenor, also nicht in der obersten Stimme lag. Die Entwicklung eines gemeinschaftlichen Gesangs lag wohl in der Tendenz, eine „Deutsche Messe“ zu schaffen, in die auch deutsche Lieder eingefügt sein sollten. Von Luther so angestrebt. Aber schwer durchzusetzen, wie man in dem Buch „Luthers Lieder“ von Martin Geck nachlesen kann, drittes Kapitel über sein Liedschaffen im Kontext der ersten reformatorischen Gesangbücher (nach Martin Brecht 1986):

In Wittenberg war die Deutsche Messe zunächst begrüßt worden, aber am 1. Advent 1526 klagte Luther bereits, daß sie ebenso geringgeschätzt würde wie zuvor die lateinische. Die Gemeindeglieder beherrschten die neuen Melodien nach Jahresfrist noch nicht, sie saßen unbeteiligt wie Klötze da. Die Alten sollten die Weisen von der Jugend lernen. […] Aber zwei Jahre später hatte die Gemeinde die Lieder immer noch nicht gelernt und sich auch nicht um die Liturgie bemüht, obwohl die Lieder eigentlich als „Bibel der Einfältigen“ gedacht waren.

Quelle Martin Geck: LUTHERS LIEDER Leuchtürme der Rformation / Georg Olms Verlag Hildesheim etc. 2017

*    *    *

Neulich habe ich mich an eine Tagung der 90er Jahre erinnert, lauter Redakteur*innen, und ich geriet beim Mittagessen an einen musikbetonten Tisch, das Gespräch drehte sich um dies und das. Man kommt unter Musikern verschiedener Genres nicht unbedingt leichter auf einen Nenner als etwa mit Wortleuten, die sich naiver für Musik allgemein interessieren. Mein Beitrag galt dem Thema Gesteine, Edelgestein etwa, ich erzählte, was mir eine Bekannte über die Kraft erzählte, die ihr die Berührung kostbarer oder auch nur gewichtiger Steine vermittelt. Sie glaube fest daran! Und da tönte es mir aus mehreren Richtungen des runden Tisches zurück: „Ja und!? Sie etwa nicht!? Das ist doch erwiesen!“ Es gab nicht die geringste Chance, dem Zweifel eine Lanze zu brechen. Erst später wurde mir klar, dass diese Meinung im musikalischen Szenebereich (Jazz und Pop) gang und gäbe war, ja, sie galt unter den Vernünftigen dort als Common Sense. Ich hatte für solche Themen ein winziges Hintertürchen offengehalten, trotz aller Ablehnung mystizistischer Richtungen à la Joachim-Ernst Berendt und Wendezeit-Capra. Aber z.B. für anthroposophisch getönte Biologie- und Garten-Bücher, da schien es ja eine rein empirisch gestützte Wissenswelt zu geben, in der sich etwa erwiesen hat, dass das spärliche Licht ferner Planeten eine Wirkung auf die Wuchsfreudigkeit von Kräutern oder Sträuchern ausübe. Mein Vorbehalt jedoch: wenn das stimmt, muss ich ebenso jede Menge absolut unbeweisbaren Unsinn glauben. Will ich das? Eines Tages sitze ich auch da, und lasse unablässig eine bunte Kette aufgereihter Steine durch meine Finger gleiten, murmele geheimnisvolle Formeln und warte auf die Levitation meines physischen Leibs. Damals erfuhr man in einer Talkshow sogar von einer Art Orden, der die Sterblichkeit der Glaubensbrüder und -schwestern leugnete: es sei doch nur eine Sache des Willens. Und das gehörte natürlich in den riesigen Bereich der Meinungsfreiheit. Wer wollte schon als intolerant gelten. – Langer Vorrede kurzer Sinn: all dies wurde wieder flagrant, als ich am 29. Oktober in der ZEIT unter der Rubrik Medizin einen Artikel sah mit der Überschrift: Heilsteine werden gegen Husten und Liebeskummer angewendet. Und das soll helfen? Bitte nicht wieder aufrühren: ich bin immun. Und bekomme Recht. Ich habs auf Papier gelesen, ist im Netz leider dank Bezahlschranke nicht ohne weiteres abrufbar (hier). Tenor: „Schon bewundernswert, was die Steine alles leisten sollen. Da liegen sie seit Millionen Jahren so vor sich hin, kommt aber der richtige Moment, wissen sie, was zu tun ist, und übertragen ihre Energie.“ Ja, und an die richtige Stelle. Mir ist das klar, ich werde es nicht abschreiben. Aber der Name des Autors hat mich bewegt, ein Buch zu bestellen, das ich schon vor Jahren hätte besitzen sollen. (Aber den Urologen z.B. hätte es mir nicht erspart, Gottseidank).

Trotzdem würde ich immer gern – sagen wir – einen guten Physiotherapeuten bemühen, weil ich weiß, dass man sich durch mangelnde Bewegung – hier und heute: durch das Stillhalten vor dem Computer – einen völlig falschen Gebrauch des eigenen Körpers angewöhnt. Dann aber die Mühe nicht scheut, zum Arzt zu gehen und ihn nach Tabletten zu fragen, – statt sich auf den Boden zu legen und sinnvolle Übungen zu machen. Oder hier im Zimmer aufzustehen und hinter dem Schreibtisch auf einem Bein zu balancieren, und zwar rechts und links.

https://www.spektrum.de/kolumne/wie-motiviert-man-sich-daheim-zu-trainieren/1792148?utm_source=browser&utm_medium=push-notifications&utm_campaign=cleverpush-1605191407  HIER

Nur zur Sicherheit: es gibt genug berechtigte Anlässe, einen kundigen Arzt zu befragen! Auch diese Antwort gibt das Buch, man muss schon mehr gelesen haben als nur den Titel.

Ich wollte noch erzählen, dass ich auf Grund des ZEIT-Artikels vor einem bestimmten Bücherschrank auf und ab gegangen bin, Abteilung Naturkunde. Oder gleich Weltentwürfe? Steine, Globuli & Co. Soll ich nochmal die Gartenbücher durch schauen? Auch ein Kunstbuch hat mich mal sehr beeindruckt, der Autor hieß Gottfried Richter („Ideen zur Kunstgeschichte“?). Ich glaube aber, dass ich nur das Ägypten-Kapitel gründlich studiert habe, spätestens beim Kapitel „Gotik und Islam“ muss ich geschlafen haben (Seite 126). Und sobald ich andere, wirklich gründliche Bücher besaß (z.B. Otto von Simson: „Die gotische Kathedrale“ oder Hans Belting: „Bild und Kult“), schienen mir diese „Ideen“ überflüssig und von außen übergestülpt. Hier das Inhaltsverzeichnis:

  

Und als Ergänzung der Lebenslauf des Autors aus einer anthroposophischen Quelle: hier. Am schwersten wurde es mir, mich von den biologisch ausgerichteten Theorien zu verabschieden, weil da auch immer Goethe ins Spiel gebracht wurde. Kaum zu glauben: Soviel Sachkenntnis gemischt mit soviel unglaubwürdiger astrologistischer Phantasterei…

 zum Autor Wiki hier

Ach, und dann stieß ich auf ein Buch, das meine Mutter in den 90er Jahren mühsamst durchgearbeitet hat. Ich wusste von dieser Tendenz, aber wie kann man soviel Energie aufwenden, über Monate, – für nichts… Ich habe jetzt jeweils nachts vorm Einschlafen hineingeschaut, es war mir nicht ganz neu, habe tagsüber auch in Wikipedia über Rudolf Steiners Lebensleistung nachgelesen, ich finde daran nichts und wieder nichts. Nur diese Spuren ihrer Arbeit, die Notizen am Rande machen mir zu schaffen, sie wollte es wissen und hat all den Stoff in ihrem Geist nebeneinandergestellt und irgendwie bewegt. Unmöglich sowas zu akzeptieren. Warum kann ich es nicht sofort ad acta legen? Das hat eben mit meiner Mutter zu tun, nicht mit Steiner oder seiner „Geheimwissenschaft“, an der sie unbedingt teilhaben wollte.

Hier war sie am 25.9.81 stehengeblieben, ein anderes Mal wohl am 17.4.89, und sie hatte auf dem unteren Rand ein Fazit notiert: Tröstlich zu wissen, daß alles einen Sinn hat, alles Entwicklung. Auch die Stunde vor meinem Tod ist noch sehr wichtig für mich, immer noch Entwicklung möglich. Auch das Geistige hängt von uns ab. Die letzten Seiten erreichte meine Mutter am 10.11.1991, da war sie 78 Jahre alt und wurde noch 93. Die Frage ließ sie nicht los. Aber wer war denn da eigentlich für Sinngebung zuständig, wieso hat sie ausgerechnet diesem Schriftsteller geglaubt? Ein Rätsel. Was sagt er denn selbst, woher er sein hier niedergelegtes „Wissen“ bezogen hat? Was sind seine Quellen? Im Vorwort stehen ein paar Hinweise, die ich zitieren will, und dabei will ich es bewenden lassen. Den heutigen Nachrichten und der Sendung „Hart aber fair“ habe ich zwischendurch entnommen, dass ich meine Zeit sinnvoller anwenden könnte, als über derlei Texten zu brüten. Und gerade über Sinn zu diskutieren, wäre ich am wenigsten geneigt. Ist es denn sinnvoll, sein Leben mit Musik zu verbringen? (Natürlich! Da gibt es keine Diskussion. Und ich lache dabei.)

Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewußt, sind Ergebnisse eigenen Schauens. Ich hatte jederzeit, bei allen Einzelheiten und bei den großen Übersichten mich streng geprüft, ob ich jeden Schritt im schauenden Weiterschreiten so mache, daß voll-besonnenes Bewußtsein diese Schritte begleite. (…) Daß man von einer Imagination weiß, sie ist nicht bloß subjektives Bild, sondern Bild-Wiedergabe objektiven Geist-Inhaltes, dazu bringt man es durch gesundes inneres Erleben.

Quelle Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss / Verlag der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung Dornach/Schweiz 1962 Seite 12

Das ist alles, der Kern der Beglaubigung, – und der Joker ist das Wort „gesund“. Was ist das denn??? So wird der größte imaginierte Unsinn zum objektiven Geistes-Inhalt. Wir haben es mit einem, der schaut, zu tun, er ist ein Seher, wie die Propheten. Da stellt man keine weiteren Fragen.

Neuartige Übung

The exterior of the National Museum of African American History and Culture in Washington, D.C., on February 27, 2020, as seen from 15th Street NW Quelle: hier

Schlimm genug: ich habe das Gebäude bis heute nicht gekannt. Erst dank des Interviews in der Süddeutschen Zeitung mit Elizabeth Alexander.  Wer das ist? Ich weiß es auch erst seit heute:

Übrigens wurde das Gedicht bzw. dieser Vortrag vom 20. Januar 2009, wenn wir Wikipedia glauben dürfen, nicht einhellig positiv aufgenommen, im Gegenteil. Heute also lese ich das Interview. Und notiere:

Zu Anfang etwas über Wörter:

Als ich mich auf unser Gespräch vorbereitete, habe ich mir die deutschen Wörter für „commemoration“ angesehen, für Erinnerung, da haben Sie sehr viel mehr Nuancen als wir im Englischen. Da gibt es das Gedächtnis und das Gedenken, die Erinnerung als Warnung, als Bildung, als Aufarbeitung, als Trauer.

Später:

Stimmt es eigentlich, dass es in ganz Deutschland kein einziges Hitler-Denkmal gibt?

Und:

Hat das Vietnam Memorial den Umgang mit Erinnerung in Amerika verändert?

Schon, aber der eigentliche Wende- und ein wirklicher Höhepunkt war das National Museum of African American History and Culture in Washington, das 2016 eröffnet wurde. Weil das als Gebäude des Smithsonian Institute auf der National Mall auch eine gewisse Beständigkeit hat. Und eine Architektur, an der man nicht vorbeikommt.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17. November 2020 „Warum wussten wir das nicht“ Elizabeth Alexander leitet die größte Kulturstiftung der USA. Ein Gespräch über neue und alte Denkmäler, amerikanische Erinnerungen und die Verehrung von Rassisten. (Interview: Andrian Kreye)

Vormerken und nachhören

Falls Sie DIE ZEIT lesen und somit auch das Zeit-Magazin: erwarten Sie sich nichts Nennenswertes von Mozarts Salzburger Geige. Es ist ein gefühliger Artikel, für Musiker*innen ungenießbar. Ich erwähne das nur, weil der Mozarts Wiener Geige betreffende Blogbeitrag so oft abgefragt wird, also: die Wiener Geige. Das liegt aber an dem kompetenten Text eines Musikwissenschaftlers namens Ulrich Leisinger. Das Zitat unterhalb der folgenden Titelzeile betrifft ein ganz anderes Thema, nicht Mozart, sondern die RAF-Jahre.

Auf dünnem Eis – wie viel Zeit lässt uns der Klimawandel noch?

https://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-auf-duennem-eis–wie-viel-zeit-laesst-uns-der-klimawandel-noch-100.html HIER (bis 16. November 2021)

Ab 8:30 – 10:30 Klimaschutzaktivistin Carla Reemtsma Zitat: „über Klimaziele zu reden, [ist] noch längst keine Klimapolitik!“ / danach Hannes Jänicke (10:55), Zitat: „Corona ist in dem, was auf uns zukommt, in 30, 40 Jahren, ehrlich gesagt, der berühmte Klacks!“

Hölderlin in der Musik

https://www.deutschlandfunk.de/schola-heidelberg-ensemble-aisthesis-250-jahre-hoelderlin.1988.de.html?dram:article_id=482222 HIER (bis 15. Dezember 2020)

*    *    *

Um nun, wirklich abschließend, auf den Anfang mit Hans Blumenbergs Buchtitel zurückzukommen, – eine insgesamt lesenswerte Seite in der Süddeutschen von gestern, hier nur ein Teaser:

Wer aber auf ideale Nacktheit aus ist, darf nun mal keine konkreten Menschen nötigen, sich auszuziehen: Diese Lektion ist eigentlich wirklich bekannt. Selbst Rubens, heute Synonym für scheinbar lebensnäheste Fleischlichkeit, hatte immer empfohlen, lieber antike Statuen abzuzeichnen. Exakt dafür sind die schließlich über Generationen hinweg zu derart übernatürlichen schönen, derart unnatürlich perfekt proportionierten Traumfiguren ausgeformt worden, dass sich am Ende selbst die Schneider daran orientierten, damit wir Irdischen wenigstens angezogen dem Ideal irgendwie mal nahekommen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 20. November 2020, Seite 13: Nacktes Entsetzen Beim entblößten Körper trudelt derzeit die ganze klassische Tradition der Kunst in die Krise / Von Peter Richter

Wie schwierig es ist, die Metapher von der nackten Wahrheit beim Wort zu nehmen, kann man bei Blumenberg gut lernen. Er behandelt sie am Leitfaden verschiedener großer Geister (Nietzsche, Freund, Adorno, Kafka, Pascal, Rousseau  u.a.), und ich wähle Schopenhauer, den Frauenhasser, weil dieser Abschnitt auch mit Bildender Kunst zu tun hat und den Verdacht heimlicher Lüsternheit schnell ausräumt. Gelöst ist die Frage natürlich nicht, sonst hätte das Buch nicht so viele Kapitel.

Schopenhauer schildert ein Gemälde von Lucca [Luca] Giordano im Palazzo Riccardi in Florenz, das als Deckengemälde für einen Bibliothekssaal dient. Auf ihm ist dargestellt, wie die Wissenschaft den Verstand aus den Fesseln der Unwissenheit befreit. Die Wissenschaft thront als weibliche Gestalt auf einer Kugel und hat dazu noch eine Kugel in der Hand. Neben ihr befindet sich die Figur der Wahrheit als nackte. Was würde so ein Bild sagen, ohne die Auslegung seiner Hieroglyphen? Niemand könnte wissen, daß der Mann, der gerade dabei ist, seine Fesseln zu sprengen, der menschliche Verstand sein soll. Niemand könnte ahnen, daß die weibliche Gestalt mit der Kugel in der Hand und auf einer Kugel sitzend, nicht die Weltenkönigin Madonna ist, sondern die neuzeitliche Wissenschaft sein soll. Nur wenn man schon weiß, worauf es hinausläuft, kann man darauf kommen, in der Nacktheit der anderen weiblichen Figur die Allegorie der Wahrheit zu finden, weil zu dieser, im Gegensatz zu den beiden anderen Figuren, das metaphorische Element hinführt, sie sei dann am vollkommensten, wenn sie ohne Hüllen angeschaut werde. Aber auch die Metaphorik ist hier erst sekundär erfaßbar, wenn schon das Gesamtkonzept der Allegorie zur Verfügung steht, das der Figur der Wissenschaft so wenig abgelesen werden kann wie der des Verstandes. Als ästhetische Qualität vermag Schopenhauer die Nacktheit nicht zu sehen, und es ist daher für ihn nur von der Sprache her verständlich, daß die Wahrheit als weiblicher Akt auftritt. Die Sprachen der europäischen Tradition haben damit für die Wahrheit einen erotisch-ästhetischen Zug gesichert, der für den Misogyn nicht selbstverständlich und daher in seiner sprachlichen Vorgabe rein kontingent ist. Dennoch hat es der Vorzug der weiblichen Nacktheit in Verbindung mit dem weiblichen Geschlecht des Ausdrucks der Wahrheit [d.h.: des Wortes ‚Wahrheit‘ JR] in unserer Tradition ungeheuer erschwert, an die nackte Wahrheit als eine erschreckende und unerträgliche Größe zu denken. Um dies zu erreichen, mußte das mythisch-religiöse Moment hinzugenommen werden, von dieser weiblichen Gestalt als einer Göttin zu sprechen.

Quelle Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit / Herausgegeben von Rüdiger Zill / suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2281 / Suhrkamp Verlag Berlin 2019 / Zitat S.125f

Es gibt da keine Abbildung als Nachhilfe für eingefleischte Empiristen, daher meine Ratsuche bei Youtube. Hier mein Screenshot der offenbar im Text beschriebenen Szene:

 und sukzessive der ganze Saal auf youtube hier. Weitere Deutungen stehen uns also offen. Ich bin glücklich, dass der Kreis sich geschlossen hat.

Nachtrag 10.01.2021

Und ja, es gibt keinen Kreis, der sich nicht noch runder schließen ließe, wenn man nur darauf wartet. Der SZ Leitartikel vom vergangenen Wochenende kam wie gerufen (s.a. hier):

Die Ästhetik des Hässlichen

Bei der Lektüre erinnert

Man vergisst das nie, wie treffend Robert Gernhardt den Reim ausgebaut hat, der sich seit seiner Entdeckung kaum noch vom Wort „hässlich“ lösen will.

Dich will ich loben: Häßliches,
du hast so was Verläßliches.
Das Schöne schwindet, scheidet, flieht –
fast tut es weh, wenn man es sieht.
Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit,
und Zeit meint stets: Bald ist‘s soweit.
Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer.
Das Häßliche erfreut durch Dauer.

Vielleicht hat ihn das Gedicht von August von Platen in ambivalente Stimmung versetzt: es will einen traurig-schön stimmen, und verströmt doch einen Hauch des Misslungenen. Und da verspricht die Komik Heilung. Jeder kennt den Anfang, und dann lässt die Wirkung nach; das beginnt schon in der ersten Strophe mit dem übertriebenen Reimwort „beben“, dann aufgrund linkischer Zeilen wie „zu genügen solchem Triebe“ oder „den Tod aus jeder Blume riechen“, vor allem aber wegen des reimbedingten Ersatzwortes „versiechen“ für „versiegen“.

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

Es beginnt schon mit der unnötigen Hervorhebung, dass ich etwas mit Augen angeschaut haben soll, obwohl ich zugebe, dass ich eine schöne Sache auch imaginieren könnte, ohne sie real vor Augen zu haben, so dass erst die Realität des Anblicks eine solch todesnahe Erschütterung auslösen würde. Durchaus plausibel. Aber ich muss mich zwingen, der wirklich greifbaren Herausforderung nachzugehen, die mir bei der Lektüre der Schrift „Nachahmung der Natur“ von Hans Blumenberg kam. Ich wollte einen passenden Gedanken aus der französischen Literatur dingfest machen, der sich kürzlich bei dem Wort „poète maudit“ einstellte (siehe hier gegen Ende beim Rapper Fler). Doch zunächst Hans Blumenberg:

Das 19. Jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Natur entscheidend verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist das Resultat ungerichteter mechanischer Prozesse, der Kondensation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufällig streuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kampfes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein – nur ästhetischer Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte der Zufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbringen? So lässt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, dass die Natur hässlich wird, wie es FRANZ MARC berichtet: „Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit  voll zum Bewusstsein kam.“ Den ontologischen Hintergrund genauer angesprochen hat der französische Maler RAOUL DUFY, als er auf den Vorwurf, er mache zu kurzen Prozess mit der Natur, erwiderte: „Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese […].“ Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Welten auf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlich nicht mehr mit Gewissheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. Diese Natur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die Mimesis-Idee bezieht: das selbst nicht herstellbare Urbild alles Herstellbaren. Dagegen ist Herstellbarkeit aller Phänomene die universelle Antizipation der experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sind Entwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phänomenen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicher Produkte der Technik geworden. Der Rest an exemplarischer Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben. Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zum bloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution der Verwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege steht als sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur auf ihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphäre reiner Konstruktion und Synthese möglich. So ergibt sich der auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, dass in einem Zeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Natur zugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für den Menschen nivelliert worden ist.

Quelle Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur / Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen / Reclam Stuttgart 2020 / Seite 50f [im Original sind die Quellen der Zitate angegeben]

Geschrieben hat Blumenberg diese „Studie“ im Jahre 1957, ein paar Jahre später hätte sie gut in meinen Literatur-Kanon gepasst, aber verstanden hätte ich sie wohl nicht. Den rde-Band „Struktur der modernen Lyrik“ habe ich vor 1960 durchgearbeitet, später vermischt mit Eindrücken aus dem ZEN-Buddhismus à la Alan Watts (1961). Hier sind ein paar Seiten der Erinnerung:

 .    .    .    .    . .    .    .    .    .

Quelle Hugo Friedrich: Die Struktur der Modernen Lyrik / Von Baudelaire bis zur Gegenwart / rde Rowohlt Hamburg 1956

Seltsamerweise gab es im Bücherschrank meiner Eltern ein einziges dazu passendes schmales Buch, das vielleicht als Geschenk gedient hat, aber von wem an wen? Vielleicht von meiner Mutter an den nüchternen Altsprachler Artur, seine besitzanzeigende Unterschrift, aber vielleicht war ich der erste, der es gelesen hat, mit entsprechenden Unterstreichungen.

Charles Baudelaire: Kleine Gedichte in Prosa / Neu übertragen und mit einem Nachwort versehen von Dieter Bassermann / Hermann Hübener Verlag Berlin und Buxtehude 1947

 „Gewoge des Träumens“

 Den Burg, Texel, vor zwei Wochen (Foto ER)

Ansonsten zwei frühe Geschenke (wohl von H. M., der schon in Paris studierte): 19.11.1959 Arthur Rimbaud „Poésies“ Paris 1958 / 6.12.1959 Paul Verlaine „Poèmes Saturniens“ & „Premiers Vers“ Paris 1958. Im Rimbaud ein zwischen zwei leere Seiten eingeklebter, kryptischer  Brief, den ich seit damals nicht mehr gesehen habe. Schwer zu entziffern, weil derart verblichen. Aber warum so verborgen? Eine seltsame archäologische Tätigkeit, die auf mich wartet, heute, nach fast 61 Jahren. Psychoanalytischer, oder jedenfalls autobiographischer Stoff eines wenig älteren Freundes. – – – Nein, ich bin froh, dass es sein Brief ist und nicht mein vorausgegangener, den ich wiederlesen sollte. Der klänge mir – wie auch in anderen Fällen schon – mit großer Wahrscheinlichkeit erschreckend naiv. Thema Gottfried Benn, Hugo Friedrich, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé …

 

Seite 2 und Seite 3. Auf Seite 1 beginnt er mit Benn, nicht ahnend, dass ich aufgrund seiner Anregungen längst die Statischen Gedichte aus dem Arche-Verlag erstanden habe.

 

Der Schrift nach zu urteilen stammen die hineingeschriebenen Ansätze einer Interpretation aus späteren Jahren:

Es war eine Zeit unter psychischem Hochdruck (mein Vater starb am 31.8.1959, auch ein emotionales „Engagement“ war flagrant), die Gedichte von Georg Trakl und insbesondere Gottfried Benn waren ein gedanklicher Anker. Siehe auch den Blogartikel „Radio Dezember 1959“ hier. Es ging ja auch – nebenbei – auf mein Abitur zu. Ich nahm die Sportprüfung ernst, lange Waldläufe, ebenso heftige geigerische Übephasen, auch Klavier bei Kunze in Detmold, alles mit Blick auf die Aufnahmeprüfung in Berlin.

   

Die Seite 1 von 6. Und mein damaliges Lieblingsgedicht von Paul Verlaine. So herzzerreißend klagt man über den Verlust der Jugend, wenn sie noch nicht ganz verloren ist.

Seltsam, ich hatte diesen Blogbeitrag mit ganz anderer Intention begonnen… die Erinnerungen haben mich überrannt.