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Horaz und „das Gefühl“ im 18. Jahrhundert

Von innen oder von außen?

Alle Intellektuellen der Bach-Zeit, – die noch keine Musikästhetik besaßen -, kannten dieses lateinische Buch. Z.B. seit Opitz. Auch Bach und seine Söhne waren „Altsprachler“…

https://de.wikipedia.org/wiki/Horaz  hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Eckart_Sch%C3%A4fer hier (Übersetzung + Nachwort!)

Si vis me flere, dolendum est  primum ipse tibi: cum tua me infortunia laedent (Horaz) – „Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen…“

Muss es sein?

»Indem der Musikus nicht anders rühren kann, er sei dann selbst gerührt; so muß er notwendig sich selbst in alle Affekten setzen können, welche er bei seinen Zuhörern erregen will.«

Wo steht dies vielzitierte Wort bei Carl Philipp Emanuel Bach, also: über Rührung? (die eigene und die bei anderen ausgelöste) – der größere Zusammenhang …

[Carl!]

Carl Dahlhaus erinnert in seiner Musikästhetik (Köln 1967, Seite 36f) daran, dass die Auseinandersetzung über den Sinn des Wortes „Ausdruck“ sicher nicht so gravierend gewesen wäre, „wenn die Streitenden sich der Differenz zwischen Komposition und Interpretation deutlicher bewußt gewesen wären. Die Ausdrucksweise des 18. Jahrhunderts, die Maxime, daß ein Musiker ’nicht anders rühren‘ könne, ‚er sei denn* selbst gerührt‘ (Carl Philipp Emanuel Bach), ist zweifellos primär als Theorie der musikalischen Reproduktion zu verstehen.“ Und er erinnert u.a. an Platons Dialog Ion, worin es vom Rhapsoden, nicht vom Dichter heißt, „daß er sich selbst in die Affekte versetzen müsse, die er erregen wolle.“

* bei CPE Bach steht „dann“, was ich nur erwähne, weil „denn“ hier ja im offiziellen Zitat auftaucht; gleichwohl ist der Sinn nicht betroffen.
Ich hebe es nur hervor, weil ein kleiner Druckfehler gravierende Zweifel verursachen kann. Betr. „Carl“ mein Dank an JMR! Z.B. auch für folgenden Hinweis:

In dem Beispiel Fig. LXIII. fehlt die kleine Bindung über den beiden Noten c²-c²: denn es handelt sich um nur einen Ton. Ich habe noch genau vor Augen, wie Franzjosef Maier uns im Collegium aureum diese Verzierung eingeschärft hat, indem er mit dem Fuß die 16tel klopfte: genau auf dem 3. Sechzehntel geschah noch nichts, aber sofort anschließend: die Figur, – und auf den 4. Schlag der letzte Ton h². Der musikalische Instinkt widersetzt sich dieser Praxis, bis sie einem zur zweiten Natur geworden ist. Wenn einer von uns Zugang zu dieser immer noch nicht ganz fehlerfreien Quelle gehabt hätte, wäre eine zeitraubende Diskussion unvermeidlich gewesen…

Zurück zu Platons Ion, in dem wir inzwischen auch leicht die Quelle des Horaz erkennen:

Sokrates: Komm aber, und sage mir auch dies, Ion, und verheimliche es mir nicht was ich dich fragen will. Wenn du die Verse schön vorträgst und deine Zuschauer am meisten hinreißest, es sei nun, daß du den Odysseus singst wie er auf die Schwelle springt, sich den Freiern offenbart und sich die Pfeile ausgießt vor die Füße, oder den Achilleus wie er gegen den Hektor dringt, oder auch etwas klägliches von der Andromache oder der Hekabe oder dem Priamos: bist du dann bei völligem Bewußtsein, oder gerätst du außer dich und glaubt deine begeisterte Seele bei den Gegenständen zu sein, von welchen du sprichst, sie mögen nun in Ithaka sein oder in Troja oder wo sonst das Gedicht sich aufhält?

Ion: Welchen deutlichen Beweis hast du mir da aufgestellt, Sokrates! Denn ich will dir nichts davon verheimlichen. Wenn ich nämlich etwas klägliches vortrage: so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas furchtbares und schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht.

Sokrates: Was wollen wir also sagen, Ion? daß derjenige bei vollem Bewußtsein ist, welcher mit bunten Kleidern und goldnen Kränzen geschmückt mitten unter Opfern und Festlichkeiten weint, ohne von jenen Herrlichkeiten etwas verloren zu haben, oder sich fürchtet mitten unter zwanzigtausend befreundeten Menschen, ohne daß ihn Jemand ausziehen oder sonst ihm Leides zufügen will?

Ion: Nein, beim Zeus, Sokrates, nicht eben, wenn ich doch die Wahrheit sagen soll.

Sokrates: Und weißt du wohl, daß ihr auch unter den Zuschauern gar viele eben dahin bringt?

Ion: Gar sehr weiß ich das. Denn ich betrachte sie jedesmal oben herab von der Bühne wie sie weinen und furchtbar umblicken und mitstaunen über das Gesagte. Auch muß ich ja wohl gar sehr auf sie Acht geben: Denn habe ich sie recht weinen gemacht, so lache ich hernach weil ich Geld einnehme: habe ich sie aber zu lachen gemacht; so muß ich selbst weinen, weil ich das Geld einbüße.

(zitiert nach dem Text – Übersetzung Schleiermacher – im Projekt Gutenberg hier)

Abschließend sollte ich den Zusammenhang herstellen mit einem anderen Boog-Artikel, insbesondere den Nachtrag über „Diderots Paradox“ :

Fiktion und Gefühle