Prof. Franzjosef Maier
*27. April 1925 Memmingen 16. Oktober 2014 Bergisch-Gladbach
Ein Rückblick von Jan Reichow
Nun ist die Epoche vorbei, die wir nach Ablauf des letzten Jahrhunderts, wenn von Alter Musik die Rede war, so gerne haben revue passieren lassen. Als der Pioniergeist noch wehte, als einige Schlüsselfiguren sagten, was die Musik der Vergangenheit wirklich noch hergibt, sofern man alle Parameter berücksichtigt, nicht nur den des Notentextes, sondern auch den der Aufführungsbedingungen.
Franzjosef Maier war eine solche Schlüsselfigur, wenn auch sein verbindliches Wesen darüber hinwegtäuschen konnte, wie ernst er es meinte. Andererseits war er in erster Linie Geiger, er hat nie als Dirigent oder gar dirigierender Visionär vor einem Orchester gestanden.
Die Musik, die er sich offenbar noch selbst für die Trauerfeier in der Kirche gewünscht hatte, war der Variationssatz aus Haydns Kaiserquartett. Aber wer würde das spielen? Die glücklichste Entscheidung der Familie war, ihn selbst spielen zu lassen, aus dem Off: als Primarius des Quartetts, das mit dieser Aufnahme im Jahre 1980 aus dem Collegium Aureum hervorgetreten war. Magische Momente, wie diese Lebenslinie nun nach 34 Jahren noch einmal durch die Stimmen lief, von der ersten Geige graziös umspielt, in der dritten Variation mit einer wachsenden Chromatik, deren Lamentocharakter nie so deutlich wurde wie in dieser Wiedergabe an diesem Ort, die Haltetöne des Cellos in der letzten Variation ewig lang, und all dies ohne das leiseste Pathos, – das bleibt für immer.
Ich lernte Franzjosef Maier im April 1961 in der Aufnahmeprüfung Schulmusik kennen. Er war seit 3 Jahren, nach seiner Zeit als Dozent in Düsseldorf, nun Professor für Violine an der Kölner Hochschule. Ich kam der Geige wegen von Berlin nach Köln und hatte bereits die Zusage von Wolfgang Marschner, dem ich privat vorgespielt hatte, – obwohl er eigentlich keinen „Schulmusiker“ unterrichten wollte. So war es ein bisschen enttäuschend für Franzjosef Maier; er hatte sich schon erfreut geäußert über einen ziemlich guten Kandidaten, den er nun als Schüler erwartete. Bemerkenswert, wie er sich verhielt, als er erfuhr, dass daraus nichts würde: einfach generös. Lediglich zum Bach-Adagio (BWV 1001) gab er mir einen guten Rat mit auf den Weg: bei mir klinge es wie eine allzu freie Phantasie, aber man müsse den gleichmäßigen Puls im Untergrund durchschimmern lassen, auch wenn es an der Oberfläche von Zweiunddreißigsteln wimmelt. Das eindrucksvolle Bild saß (ein ruhig fließender „Bach“!), und der Name Maier hatte fortan für mich einen verlockenden Klang. Als Marschner zwei Semester später nach Freiburg ging, war es keine Frage, dass ich in Köln blieb, bei Franzjosef Maier. Er konnte nicht nur Bach unterrichten, sondern Beethoven, Brahms, Glasunow, einfach alles, besonders gut z.B. Debussy, für mich eine Offenbarung, – dabei hatte gerade Marschner auf französische Eleganz gepocht, Prüfstein „Havanaise“.
Ich vergesse nie, wie Franzjosef mir den Charakter eines Themas der Debussy-Sonate mit einer skurillen Episode aus der Kriegsgefangenschaft erläuterte (die für ihn in den USA relativ glimpflich verlaufen war), – mit unschicklich heraushängender Zunge. Er hatte eine unglaublich präzise Art, künstlerische, auch technische Fragen bildhaft plausibel zu machen: zum Beispiel, wie man ein gutes Staccato lernt (in Berlin hatte man mir gesagt: bloß nicht zuviel nachdenken!): nämlich aus einem Handgelenk-Tremolo heraus, bei gleichzeitigem Hochführen des Unterarmes in genau der Geschwindigkeit, die die winzigen Abwärtsbewegungen des Handgelenks aufhebt. Er vermittelte problemlos einleuchtende phsyikalisch-physiologische Intuitionen, die er von dem berühmt-berüchtigten Geigenlehrer Hermann Zitzmann bei aller inneren Distanz aufgesogen hatte. Er war kein Feind der Sevčik-Methoden und pries die Lehrzeit, die er als zweiter Geiger im Schäffer-Quartett genossen hatte: die Begleitfiguren, die für den Bogen wie für die linke Hand Balsam seien und manche „Trockenübung“ rechtfertigten.
Als ich das erste Mal bei ihm zuhaus in Refrath Unterricht hatte, beeindruckte mich ein surrealistisches Ölgemälde über dem Kanapee: eine ausgespannte Hand, die sich nach nächtlichen Sternbildern und einem Frauentorso reckt. Vergeblich, wie er sagte; er gab sachkundige Hinweise, – denn er selbst war der Maler. Übrigens auch Hobby-Astrologe. Woran er wirklich glaubte, oder was ihm eigentlich – über die Familie hinaus – existenziell am Herzen lag, war mir nicht klar, denn ich schenkte ihm ganz naiv das damals kursierende Büchlein „Zen in der Kunst des Bogenschießens“. Er kam aus dem Allgäu, seine dadurch unverkennbar geprägte Sprache kontrastierte zwanglos mit dem unverfälschten Rheinisch seiner Frau Marlies, die glücklicherweise gern Dirndl trug, und beiden war es recht, dass er sich eines Tages den Traum erfüllte, einen Wohnraum seines Hauses mit einem handgeschnitzten und passend gemachten „Herrgottswinkel“ nebst Bank und Tisch zu belegen. Trotzdem hätte ich nie gedacht, dass er im hohen Alter, als die geliebte Marlies starb und er nicht mehr lange zu leben hatte, eine solche Zuversicht im katholischen Glauben gewinnen konnte. In seiner letzten Zeit hatte er nur noch einen Wunsch: seine Heimatstadt Memmingen und die Orte seiner Kindheit und mancher Familienferien am Forggensee wiederzusehen.
Nicht weit von hier hatte er seine größten künstlerischen Erfolge erlebt; im alten Fuggerschloss zu Kirchheim entstanden unzählige Aufnahmen von Monteverdis „Tirsi e Clori“ mit dem Deller Consort bis zu den großen Sinfonien Haydns, Mozarts und Beethovens. Bachs Kantaten, das Weihnachtsoratorium oder Mozarts Requiem mit dem Tölzer Knabenchor erklangen zuerst in den Kirchen von Lenggries, Bad Tölz, Benediktbeuern oder im „fernen“ Einsiedeln.
Aber nur wenige Augenzeugen können sich den Meister auf bravourös absolvierten Japan- und Russlandreisen oder Orienttourneen vorstellen, wie er gelassen auf organisatorische Probleme reagiert und schwierige Situationen klärt. Wie er z.B. mit dem Collegium Aureum in einem teppichbelegten Palastraum in Marokko sitzt und äußerst charmant auf das Ansinnen der Prinzessin reagiert, eine längere, von ihr selbst verfasste Tongirlande vom Blatt zu spielen. Für meine Begriffe klang es dann halb nach Gregorianik, halb nach Franzjosefs Lehrer Philipp Jarnach. Aber ihre Majestät war hocherfreut und auch geneigt, noch zwei Sätze aus Mozarts G-moll-Sinfonie entgegenzunehmen.
Schon damals waren es übrigens nicht die Bannerträger der Maier-Schule, sagen wir: Reinhard Goebel, Werner Ehrhardt, Gerhard Peters, Ulrich Beetz, nein, nur Freund Klaus Giersch und ich waren es, die er – auf einen Mozart-Ausspruch anspielend – „seine Buben“ nannte.
Den Wendepunkt in Franzjosefs Karriere hatten wir als seine Studenten live miterlebt: Dr. Alfred Krings berief ihn („er ist der beste Konzertmeister der Welt!“) 1964 in Köln als Dozenten zu den Kursen für alte Musik, die als Gegenstück zu den Kursen für Neue Musik in der Rheinischen Musikschule Köln anberaumt wurden. Natürlich hatte er neben dem üblichen Repertoire schon viele Jahre alte Musik praktiziert (u.a. im Collegium Musicum des NWDR), aber jetzt bekam diese Seite einen wissenschaftlichen Hintergrund. Wir wurden angeregt, die Originaltexte zu studieren, z.B. Georg Muffats Einführungen in die französische Violinpraxis unter Lully, dargelegt im „Florilegium secundum“ (1698), und all dies führte zu atemberaubend neuen Klang- und Rhythmusvorstellungen, etwa in der Musik von Campra und Rameau, nicht nur in der Provinz des bayrischen Allgäus, sondern nun auch schon in der Provence beim Festival in Saint-Maximin-la-Sainte-Baume, Co-Projekt der deutschen und französischen Harmonia Mundi. Ein neues Kapitel wurde bald danach aufgeschlagen, als es in die Klassik hineinging. Gewiss, viele Barockensembles haben irgendwann den Rubikon überschritten, um nun auch nachbarocke Musik neu zu lesen und zu hören. Aber die Hamburger Sinfonien von Carl Philipp Emanuel Bach gelangen 1969 in Kirchheim als bislang virtuosestes Highlight der „Alten Musik“ weit und breit, und mit Beethoven befand sich Franzjosef Maier vollends in seinem eigentlichen Element, wobei er auch die jeweiligen Solisten inspirierend einwirken ließ, beginnend wohl mit dem Klavierkonzert in G-dur und Badura-Skoda (1972). Später folgte das Tripelkonzert mit der faszinierenden Triobesetzung Maier, Bylsma, Badura-Skoda. Ein neuer Schritt war die „Eroica“ und schließlich wohl als Höhepunkt der Entwicklung die VII. Sinfonie (1981). Einzigartig unter all den Ensembles der „Aufführungspraxis“, die sich an solche Literatur heranwagten, war die Tatsache, dass weiterhin kein Dirigent als Herrscherfigur das längst zum Orchester angewachsene Collegium Aureum anführte. Als Vorbild diente die Pariser Praxis der 1820er Jahre, als der Geiger Franz Anton Habeneck Aufführungen der Beethovensinfonien leitete, die zur Legende wurden.
Franzjosef Maier hielt das Geschehen – soweit es nicht dank guter Probenarbeit „von selbst“ lief – vom Konzertmeisterpult aus unter Kontrolle. Man verliert dies Bild nicht aus dem Sinn, zuweilen ächzte das Schlossgestühl, wenn er an kritischen Stellen den Zusammenhalt temperamentvoll mit Violinbogen und Körperbewegungen regelte, dann wieder mitspielte und dennoch jederzeit alles im Auge behielt. Zudem waren die Stimmführer durch das gemeinsame Quartett- und Quintettspiel (Schubert!) perfekt aufeinander eingespielt, und – nicht zu vergessen – alle Notentexte waren minutiös bezeichnet, zum Teil mit ungewohnten Strichen, die genau die Wirkung taten, die sich Franzjosef vorstellte, ohne dass er darüber reden musste. Hier galt die alte Abstrichregel der Muffat-Schule längst nicht mehr, aber auch tonlich pflegte er ein Ideal, das einen Kompromiss zwischen „alt“ und „neu“ darstellte. Er ließ sich durch den Rigorismus der „historisch Informierten“ nicht irritieren, nicht, wenn es um Beethoven ging. Andererseits wurde ich freundlich gedeckelt, als ich in meiner Begeisterung für Gustav Mahler diesen einmal ernsthaft mit Beethoven verglich. Bedenklich, ja mit Strenge schaute er mich an: „Nein, das hat nun wirklich nichts miteinander zu tun!“ Um so lieber erinnere ich mich daran, wie er mit mir die „Kreutzer-Sonate“ arbeitete und endlos bei den ersten Zeilen der Einleitung verharrte, die bereits eine Welt in nuce enthalten sollten (schon dachte ich wieder an Mahler). Oder an die Entfaltung der Solostimme in Beethovens Violinkonzert, diese Balance zwischen dem großen improvisatorischen Gestus und einem leicht akzentuierenden Moment in den Sechzehntelläufen, jedoch ohne die leiseste Spur von Pedanterie. Niemals im Leben würde ich Figuren, die von fern an Etüden erinnern, je wieder als solche behandeln.
Sollte ich eine Musik auswählen, die mir für eine imaginäre Feierstunde zum Andenken an diesen großen Lehrer und Musiker am besten passt, so würde ich die Sinfonia Concertante von Mozart wählen, die er gemeinsam mit Heinz-Otto Graf eingespielt hat. Unvergesslich! Aber nie wieder, glaube ich, ist sie schöner erklungen als damals im Juni 1978 live im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, mit diesem großen ersten Satz, den eindringlichen Dialogen der Soloinstrumente, den Todesgedanken des langsamen Satzes und wie sich alles auflöst in einem wundersam verspielten Presto-Finale.
Für mich ein Gleichnis des Lebens.
Zu den beeindruckendsten Erinnerungsbildern gehört die aufrechte Haltung, die Gelöstheit, Konzentration und Ruhe, die er im Kreis seiner Kinder und Enkel zeigte, als seine liebe Frau beerdigt wurde. Kein gebrochener Mann. Niemand hätte gedacht, dass er ihr schon im nächsten Jahr folgen würde.
Hatte er mir nicht kürzlich noch gezeigt, wie er die Bäume seines Gartens gehegt und geschnitten hatte, so dass die kräftigeren Äste kleine Stufen bildeten, die er auch noch im höchsten Alter würde bewältigen können?
Als Künstler und Mensch bleibt er ein großes, unvergleichliches Vorbild, nicht nur für „seine Buben“.
(© Erstveröffentlichung in: Concerto Das Magazin für Alte Musik Januar 2015)