Archiv für den Monat: Oktober 2015

Pointe und Gänsehaut

(In Planung)

betr. das „Einschlagen“ eines Witzes (eigtl. ein Umschlag wie bei den „Kippbildern“), das Kapieren der Pointe, vergleichbar (oder nicht?) mit der eher aus dem Physiologischen auftauchenden Gänsehaut, auch die plötzlichen Tränen bei Musik (nenne ich: Elektra-Effekt, womit aber zugleich auch ein Wiedererkennen gemeint sein soll).

Es ist gar nicht so einfach, in ein spontanes Gelächter auszubrechen, wenn man überlegt, unter welchen Umständen es überhaupt dazu kommen kann. Jedenfalls wenn man zuvor bei Schopenhauer nachgelesen hat. Ihm zufolge

ist der Ursprung des Lächerlichen allemal die paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff, und bezeichnet demgemäß das Phänomen des Lachens allemal die plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen. Je größer und unerwarteter, in der Auffassung des Lachenden, diese Inkongruenz ist, desto heftiger wird sein Lachen ausfallen. Demnach muß bei Allem, was Lachen erregt, allemal nachzuweisen seyn ein Begriff und ein Einzelnes, also ein Ding oder ein Vorgang, welcher zwar unter jenen Begriff sich subsumiren, mithin durch ihn sich denken läßt, jedoch in anderer und vorwaltender Beziehung gar nicht darunter gehört, sondern sich von Allem, was sonst durch jenen Begriff gedacht wird, auffallend unterscheidet. Wenn, wie zumal bei Witzworten oft der Fall ist, statt eines solchen anschaulichen Realen, ein dem hohem oder Gattungsbegriff untergeordneter Artbegriff auftritt; so wird er doch das Lachen erst dadurch erregen, daß die Phantasie ihn realisirt, d.h. ihn durch einen anschaulichen Repräsentanten vertreten läßt, und so der Konflikt zwischen dem Gedachten und dem Angeschauten Statt findet. Ja, man kann, wenn man die Sache recht explicite erkennen will, jedes Lächerliche zurückführen auf einen Schluß in der ersten Figur, mit einer unbestrittenen major und einer unerwarteten, gewissermaaßen nur durch Schikane geltend gemachten minor; in Folge welcher Verbindung die Konklusion die Eigenschaft des Lächerlichen an sich hat.

Schopenhauer erläutert seine – zugegeben: etwas abstrakt klingende – Theorie des Lächerlichen durch ein paar Witze, an denen er die Inkongruenz zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen aufweist:

Sehr häufig besteht das Witzwort in einem einzigen Ausdruck, durch den eben nur der Begriff angegeben wird, unter welchen der vorliegende Fall subsumirt werden kann, welcher jedoch Allem, was sonst darunter gedacht wird, sehr heterogen ist. So im Romeo, wenn der lebhafte, aber soeben tödtlich verwundete Merkutio seinen Freunden, die ihn Morgen zu besuchen versprechen, antwortet: »Ja, kommt nur, ihr werdet einen stillen Mann an mir finden«, unter welchen Begriff hier der Todte subsumirt wird: im Englischen kommt aber noch das Wortspiel hinzu, daß a grave man zugleich den ernsthaften, und den Mann des Grabes bedeutet. – Dieser Art ist auch die bekannte Anekdote vom Schauspieler Unzelmann: nachdem auf dem Berliner Theater alles Improvisiren streng untersagt worden war, hatte er zu Pferde auf der Bühne zu erscheinen, wobei, als er gerade auf dem Proscenio war, das Pferd Mist fallen ließ, wodurch das Publikum schon zum Lachen bewogen wurde, jedoch sehr viel mehr, als Unzelmann zum Pferde sagte: »Was machst denn du? weißt du nicht, daß uns das Improvisiren verboten ist?« Hier ist die Subsumtion des Heterogenen unter den allgemeineren Begriff sehr deutlich, daher das Witzwort überaus treffend und die dadurch erlangte Wirkung des Lächerlichen äußerst stark. –

(…) eben so, wenn man von einer Dame, auf deren Gunst Geschenke Einfluß hätten, sagen wollte, sie wisse das utile dulci zu vereinigen; wodurch man unter den Begriff der Regel, welche vom Horaz in ästhetischer Hinsicht empfohlen wird, das moralisch Gemeine bringt; – eben so, wenn man, um ein Bordell anzudeuten, es etwan bezeichnete als einen »bescheidenen Wohnsitz stiller Freuden«. – Die gute Gesellschaft, welche, um vollkommen fade zu seyn, alle entschiedenen Aeußerungen und daher alle starken Ausdrücke verbannt hat, pflegt, um skandalöse, oder irgendwie anstößige Dinge zu bezeichnen, sich dadurch zu helfen, daß sie solche, zur Milderung, mittelst allgemeiner Begriffe ausdrückt: hiedurch aber wird diesen auch das ihnen mehr oder minder Heterogene subsumirt, wodurch eben, in entsprechendem Grade, die Wirkung des Lächerlichen entsteht. Dahin also gehört das obige utile dulci (…)

Quelle Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Zweiter Band Kapitel 8 Zur Theorie des Lächerlichen / Schopenhauers sämmtliche Werke Reclam Leipzig Seite 106 ff

Wobei Schopenhauer, der gern griechische Originalzitate mit lateinischen Übersetzungen versieht, sich nicht dazu herablässt zu erläutern, dass eine Dame, die das utile [dem] dulci zu vereinigen wisse, eben das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet, was Horaz durchaus nicht so gemein gemeint hat.

Als ich jedoch heute mittag in der Ohligser Heide über Schopenhauer nachdachte und mich seiner Theorie über das Lächerliche nicht mehr genau zu entsinnen vermochte, überließ ich mich auf einem geeigneten Sockel dem übergroßen Zorn

JR Denkmal 151031

und beschloss, bis auf weiteres das Denken

Pferd Schimmel Auge kl

den Pferden zu überlassen, weil sie, wie man sagt, die größeren Köpfe haben.

Pferd von Hinten Ohligser Heide kl

(Fotos: E.Reichow)

Wie konservativ bin ich?

Zweifel an der alten Philosophie

Habe ich etwas nicht mitbekommen? Die neue ZEIT, wie immer am Donnerstagmorgen, lässt mich stutzen, – nach der Lektüre zur Mann-Familie:

Golo (…). Der Hutzelzwerg, der hölzerne, hat Charakter. Er ist der Einzige, der ein eigenständiges Werk schaffen wird, abgerungen einer immer wieder aufflackernden Depression. Und er ist die einzige Stimme der Vernunft in Fragen der politischen Wirklichkeit. Sein Vater liegt verlässlich daneben und schafft es, wie Lahme nebenbei bemerkt, sich bei einer Prophezeiung über den Russlandfeldzug in zwei Sätzen gleich viermal zu vertun.

Jawohl, es mag sein, dass Konservative sich furchtbar irren. Unwillkürlich stelle ich mir heimlich die Frage, die als Titel über diesem Blog-Eintrag steht. Genügt nicht schon die Tatsache, dass ich heute abend das Streichquartett in der Philharmonie so wichtig finde, – und wie ich zufrieden zur Kenntnis nahm, dass ihnen die Moderne so am Herzen liegt. Kurtág und Jörg Widmann, ist es das? Und dann stutze ich bei dem Schluss einer Kolumne von Thomas E. Schmidt über das „Kulturgutschutzgesetz“:

Das Ganze wirkt so bizarr, weil der Zustrom von Flüchtlingen derzeit die Nabelschau „Was ist deutsch, und woran zeigt sich das?“ ziemlich überflüssig macht. Selbst die CDU-Kanzlerin signalisiert, dass solche Debatten obsolet geworden sind. So gelangt die Bundeskulturbeauftrage mit ihrem Gesetz ganz langsam in die Nähe der kulturell Verängstigten wie Botho Strauss oder Rüdiger Safranski. Irgendwann berühren sich die politischen Stränge wieder.

Dass Strauss genannt wird, wundert mich nicht, aber was ist mit Safranski, dessen Buch über „Das Böse“ – neben allen anderen – mir eine Weile zum Leitfaden des Denkens wurde? Ich lese den größeren Artikel über „Unsere Willkommenskultur“.

Die Moderne, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, verflüssigt sich, und in dieser liquid modernity entstehen unregierbare chaotische Räume. Ausgerechnet dort, wo der amerikanische Hegemon seine größte Niederlage erlitt, im Irak, der Wiege der Menschheit, kehrt etwas Anfängliches zurück, eine Gewalt in mythischer Dimension. Und auch die Flüchtlinge erscheinen als apokalyptische Metapher. Wie sie mit ihren Habseligkeiten durch die Wildnis der Zivilisation irren, sehen sie aus wie die ersten Menschen, wie Gestalten der Frühe in der späten Moderne. Der Flüchtling ist das, was nach dem Zerfall politischer Räume übrig bleibt, er ist das nackte Leben auf der Flucht.

Und irgendwo im weiteren Text kommt der Hinweis, auf den ich warte:

So erscheinen die Flüchtlinge als Vorboten des Ungewissen, und selbst kluge Menschen sagen über sie Verächtliches, darunter katholisierende Schriftsteller und kleine Philosophenkönige, alle Retter des deutschen Geistes.

Jetzt erst fällt der Groschen, und ich gebe bei Google ein: „Safranski über Flüchtlinge“. Und kann mich kaum noch retten… Muss ich jetzt meinen Tag von Grund auf anders gestalten? Sogar das Stichwort „Musik“ erscheint weiter unten… Wollte ich nicht etwas über „Innerlichkeit“ schreiben? Wie deutsch geht es eigentlich noch, verdammt noch mal! Aber es war doch wenigstens kritisch gedacht, oder? (Ja, aber schon wieder mit Bezug auf Religion, also Pietismus und so.)

Safranski Screenshot 2015-10-29 09.03.48

Ich werde mir vorläufig mit den Quellenangaben helfen, denn der Ablauf des heutigen Tages ist doch vorgegeben. Z.B. hier. Mit Matthias Matussek, ausgerechnet dem Vatikan-Sympathisanten.

Quelle der Zitate: DIE ZEIT 29. Oktober 2015 Seite 45f und Seite 51 Unsere Willkommenskultur Klar schaffen wir das, aber vielleicht anders als gedacht: Die rechten Protestbewegungen und die konservativen Eliten könnten sich in der Flüchtlingskrise verbünden und über den Ausnahmezustand befinden. Ein Szenario von Thomas Assheuer / Wer wir sind, soll uns die Kunst sagen Das Kulturschutzgesetz sichert das Nationale – überflüssigerweise. Von Thomas E. Schmidt / Ein öffentliches Unglück Tilman Lahme durchleuchtet in „Die Manns. Geschichte einer Famili“ die schwierigen Verhältnisse in diesem Künstler-Clan. Wer sich ein idealisiertes Bild vom „Zauberer“ Thomas bewahren will, mache einen Bogen um diese großartige Chronik. Von Michael Maar.

P.S.

Offenbar ist mit dem „katholisierenden Schriftsteller“ im ZEIT-Zitat derselbe gemeint, den ich als Vatikan-Sympathisanten bezeichnet habe, und ich neige zu der Ansicht, dass das einzige, was man nun Safranski anlastet, die besorgte Tendenz des Eisenbahn-Gesprächs ist, das Matussek – vielleicht nur wichtigtuerisch, aber jedenfalls mit Prominentenklatsch-Tendenz – in der WELT kolportiert hat. Eine Indiskretion. Der Philosoph hat möglicherweise „ins Unreine“ geplaudert, mich interessiert aber nur, was er nach reiflicher Überlegung selbst veröffentlicht. – Jedenfalls würde ich es keineswegs als peinlich konservativ empfinden, wenn sich z.B. jemand weigerte, über Kopftücher zu diskutieren statt über Freiheit. Mir wird unwohl, wenn ich Kermani lese, nicht weil ich so konservativ bin und die Aushöhlung der abendländischen Werte befürchte, sondern weil ich es schrecklich konservativ finde, zwischen Christentum und Islam vermitteln zu sollen.

Wenn Safranski wirklich zu Matussek gesagt hat, „dass unsere Verfassung über der Scharia stehen muss. Dass Grundsätze und Werte wie Gleichberechtigung unantastbar sind.“  Was ist daran verwunderlich, außer der Tatsache, dass es durchaus aufs neue gesagt werden muss, wenn viele Einwanderer das nicht wissen? Es klingt vielleicht hart und konservativ: „Die Verfassung steht über dem Koran.“ Aber was wäre denn dann unkonventionell oder sogar revolutionär?

Kurzausflug zum Lieblingsplatz

Ohligser Heide 27. Oktober 2015 14:48 Uhr

(bitte anklicken)

Herbsttag Ohligser Heide a 151023 Herbsttag Ohligser Heide c 151023

Anschließend Autofahrt nach Bonn CD-Hör-Aufgabe: Kretische Lyra / Rückfahrt 21:10 Uhr

Creta Lyra Foto Creta Lyra Booklet a

Man muss sie lieben: Vassilis Stavrakakis und Stelios Petrakis (Foto P. Willer) – OCORA Radio France / harmonia mundi C 560264 HM 76 – Und worin besteht die Hör-Aufgabe?

Creta Lyra rück

Die Höraufgabe besteht zunächst schlicht darin den Grundton zu erkennen, – es ist der Ton a‘, dann die Melodie, bzw. den Teil der Melodie, der sich wiederholt. In Tr. 1 beginnt sie auf der Septim über dem Grundton, steigt wellenartig abwärts, im Prinzip ein und derselbe Abgang dreimal (bis 0:23), dann wird der Rahmen enger, ebenfalls dreimal, dann wieder auf der Septim ansetzend, zweimal, und wieder der engere Rahmen, etwa so… Danach kommt eine veränderter Ansatz in der Höhe, aber mit demselben Ziel in der Tiefe. Usw., es scheint mir einfach notierbar. Im weiteren Verlauf zähle ich die Wiederholungen nicht (ich sitze im Auto), sondern beobachte nur, was geschieht: was bleibt? was verändert sich? Mehr muss nicht sein, – ich beobachte und rechne damit, dass etwas davon hängen bleibt. Wenn ich abschweife, weil das Autofahren mehr Aufmerksamkeit beansprucht, fange ich danach wieder von vorn an. Ich höre mich ein, ich erkenne wieder… es wird immer schöner… es hat einen guten Takt: lang kurz kurz lang kurz kurz …

Ich langweile mich nie auf Autofahrten (jedenfalls nicht, wenn ich alleine fahre).

P.S. Fotos wie die ganz oben entstehen bei mir immer durch ein und denselben Ausguck aus einem hölzernen überdachten Beobachtungshäuschen. Nicht Kunst, sondern nur mein Smartphone macht es möglich. Mir fiel auf dem Rückweg (per Fahrrad) ein, dass ich einen Blogbeitrag über „Innerlichkeit“ machen sollte. Und die Bedeutung der „Leere“ im japanischen Denken. Das passt zur Entwirklichung (oder Ent-kräftung) von Todesgedanken. Der klare Spiegel der Wasserfläche. Er ist gekräuselt! – Kontrastierend mit der Erinnerung an das Buch über „Die Unruhe der Welt“. (Auch an dieser Stelle hört man von ferne die Autobahn. Rastplatz Ohligser Heide.)

Andererseits: es ist ein „stehendes Gewässer“, und zu bedenken wäre vor allem das entsprechende Kapitel in dem erwähnten Buch, dem klügsten, das mir in letzter Zeit begegnet ist, Seite 181 ff in „Die Unruhe der Welt“ von Ralf Konersmann.

Die Idylle ist trügerisch, und in der Welt der Unruhe weiß das jedes Kind. Aber woher eigentlich? Wie haben diejenigen, denen solche Vorgeschichten vollkommen gleichgültig sind, zu eben derselben Überzeugung gefunden, dass den Bildern Arkadiens zu misstrauen sei? Weshalb empfinden wir die Szenen des Behagens unweigerlich als bieder und unecht – als Kitsch?

Die Vorgeschichte, auf die sich der Autor bezieht, ist die zum Ruhesitz Ciceros bei Pompeji: „Für den Stoiker alter Schule war das Verlassen der Polis nur dann zu erwägen, wenn er um Leib und Leben fürchten und der rohen Gewalt weichen musste. Der Rückzug aufs Land schien ihm unheroisch und sogar beschämend, das Eingeständnis seiner Niederlage.“

Und schon kommt er auf die Diffamierung der stehenden Gewässer seit der Antike, – Bewegungslosigkeit und Windstille rufe überall Fäulnis und Zersetzung hervor. Bis hin zu Hegel und seiner „bestürzenden Aussage, die Friedlichkeit des bürgerlichen Daseins begünstige ‚auf die Länge ein Versumpfen des Menschen‘.“ (Seite 182)

Armida – Projekt

Kölner Philharmonie 22. Oktober 2015

Über das Quartett und „In Memoriam Friedemann Weigle“: Hier.

Programm in Köln:

Jörg Widmann
1. Streichquartett (1997)  – Link zur Karlsruher Rede hier und zu den Streichquartetten hier.

Robert Schumann
Streichquartett F-Dur op. 41,2 (1842) – Links in diesem Blog hier und hier

Pause

Franz Schubert
Streichquartett G-Dur op. 161 D 887 (1826) – Link in diesem Blog hier

Musikbeispiel Beethoven Streichquartett No 15 in A moll op.132 V. Allegro appassionato

Oder hier – Beethoven f-moll, 1. Satz (bitte auf entsprechendes Video klicken):

http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/abendschau/studiogaeste/studiogast-armida-quartett-102.html

Beethoven f-moll

Eine Bemerkung zur Selbstdarstellung des Quartetts. Die vier Protagonisten verhalten sich sehr unterschiedlich: die Herren intro-, die Damen extravertiert, die Bratscherin zuweilen so auffällig, dass man nicht umhin kann, darüber zu reden, ob Musiker etwa nicht nur die Musik wiedergeben und dabei unwillkürlich auch das preisgeben, was die Musik mit ihnen macht, von ihnen verlangt, sondern dass sie zugleich eine Rolle spielen: dass sie dem Publikum zeigen wollen, wie sie zum Ausdrucksmedium der Musik werden. Das entscheidende Wort ist hier: wollen. Wenn man an Goethes Metapher vom Streichquartettspielen als einem Gespräch vernünftiger und empfindender Menschen denkt, so räumt man gern ein, dass sie auch heftiger miteinander diskutieren und mit starken Emotionen aufeinander reagieren, aber die Glaubwürdigkeit wäre dahin, wenn jemand die Wirkung seiner Äußerungen auf Dritte (bzw. Fünfte, Sechste), auf Außenstehende berechnete. Oder überhaupt: berechnete. Vielleicht ist aber auch dies – das Nicht-berechnen -, wenn jemand nun mal auf einer Bühne sitzt, eine Fiktion? (Siehe hier).

Was ist los, dass die Viola-Spielerin bei 0:21 (in Takt 12) den Cellisten derart verschwörerisch anschaut? Nur bei ihm ist in diesem Moment heftig bewegte Energie, und er antwortet auch in 0:26 mit einem kurzen Blick, aber im nächsten Takt wird sie mit dem Sechzehntel-Motiv eingreifen, 2 Takte später noch einmal, und dann Takt für Takt, bis alle vier im unisono den wilden Anfang mit diesem Motiv wieder aufgreifen. Also: so gesehen hat die Mimik und Gestik „Sinn“. Trotzdem bin ich überzeugt, dass ein Regisseur dahintersteckt, der weiß, „was man Klassikern beibringen muss“: die Show fürs Publikum. Er hat die alten Gender-Rollen inszeniert: der Mann ist Herr seiner selbst, die Frau arbeitet mit Gefühlen. (Wer weiß, ob Lang Lang vor seiner Karriere im Westen nicht den falschen Kurs bei Samy Molcho belegt hat?)

Was mich stört, ist der „Ausdruckstanz“. Ich gönne Künstlern die lebhaftesten Bewegungen, wenn sie auf der Bühne stehen (oder sitzen). Im Extrem habe ich das bei Gil Shaham in der Kölner Philharmonie erlebt, auf einem Aktionsraum von 4-6 Quadratmetern beim Bartók-Konzert, ein Fest des Lebens und der Energie.

Interessant zu vergleichen, wie die nette Violaspielerin sich im wirklichen Gespräch verhält (im vorhergehenden BR-Video, nach dem Mozart ab 3:34). Man würde durchaus nicht von Übertreibung reden.

Nach dem live erlebten Konzert

… würde ich von all dem nicht mehr reden. Vom Platz in der 15. Reihe aus sehe ich die Bewegungen der Ausführenden anders als durchs Auge der Kamera. (Der Cellist überzeugt mich freilich im Verein von Ton und Geste am meisten.) Um etwas vom Hören zu sagen (und die überwältigende Präzision zurückzustellen): im ersten Satz Schumann kann ich die Stimme der ersten Geige nicht verfolgen, das Tempo ist zu schnell, das Thema liegt relativ tief, müsste aber trotzdem „problemlos“ deutlich zu verfolgen sein, nicht nur, wenn man das Stück bereits auswendig kennt. Auch das eigenartige Achtelmotiv ab Takt 67 sollte sich auffälliger artikuliert geben, trotz des beiläufigen Charakters. Es mag sein, dass mein Ohr unmittelbar nach dem Widmann aus der gegebenen Entfernung noch nicht trennscharf wahrzunehmen bereit ist. Aber in den anderen Sätzen (abolutes Preziosum: das Trio im Scherzo!) und im ganzen (phantastischen!) Schubert sehe ich das Problem nicht. Es hat allerdings alles den Grad von Perfektion, wo die Gefahr besteht, dass man die kleinste nicht ganz perfekte Kleinigkeit übel nimmt, sich gewissermaßen nicht mehr hinreißen lässt. Ich bin nicht sicher. Fehlt so etwas wie „Wärme“? Sicher ist allerdings, dass dies Streichquartett-Konzert zu den besten gehört, die ich je erlebt habe.

Bildung!

Nur was fürs „Bildungsbürgertum“?

Das sogenannte Bildungsbürgertum erhebt sich gern über das, was Schülerinnen und Schüler, die heute Abitur machen, doch alles nicht wissen. Sie kennen nichts, sie verstehen nichts, reden aber viel und meistens sehr schnell. Ich verstehe sie auch nicht, halte das aber letztlich für belanglos. Über kurz oder lang ist man bei  den kleinen handlichen Medien, die den jungen Leuten angeblich die Illusion vermitteln, man brauche keine Bücher mehr, es genüge, ein bisschen zu googlen. In der Tat, man kann zu allem etwas sagen, wenn man nur Zeit genug hat, ein bisschen mit dem Smartphone zu spielen. Wäre Bildung vielleicht die Fähigkeit, ohne Hilsmittel etwas Triftiges zu einem Thema zu sagen, das sich zufällig ergibt? Zufällig, also wie das Leben so läuft. Im Gespräch zum Beispiel. Und nicht ständig die Formel „keine Ahnung“ einfließen zu lassen. Hier eine verwunderte Bemerkung, die aus der Schule stammen soll: „Denken ist wie googeln. Nur krasser.“ Genau, ist doch ganz richtig? Mehr dazu: siehe FAZ heute „Die digitale Amnesie“.

In meiner Schulzeit kam es Mitte der 50er Jahre plötzlich auf, von „Allgemeinbildung“ zu schwärmen. Man las „Das neue Universum“ oder „Durch die weite Welt“ oder löste wie besessen Kreuzworträtsel. Ich staune im Nachhinein, dass das Buch von Dietrich Schwanitz erst 1999 herauskam: „BILDUNG. Alles, was man wissen muss“. Und erst 2001 setzte der Wissenschaftler Ernst Peter Fischer dagegen: „Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte“. Und erst vor 2 Jahren fand ich in einem Blechschrank, der im Botanischen Garten stand und eine Gratisauswahl von gebrauchten Büchern anbot, ein Lesebuch, das seither bei mir zuhaus griffbereit auf einem stillen Örtchen liegt:

Lesebuch Oberstufe

Es begeistert mich immer aufs neue. Darin ist wirklich alles enthalten, was man zum Denken und Fühlen braucht. Ich übertreibe nur wenig. Viele Jahre auf einer einsamen Insel: dies Buch würde mir ausreichend Nahrung bereitstellen. Schwanitz hätte seine Freude an mir, und Fischer würde sagen: „Typisch Bildungsbürger! Keine Ahnung von Meeresströmungen und Navigation!“

Bildung Schwanitz  Bildung Fischer

Das Fatale an einem Bücherschrank ist, dass man ein herausgenommenes Buch nicht wieder zurückstellen mag. Man meint ihm doch noch ein Geheimnis entlocken zu müssen. Oder auch: man möchte ihm nicht Unrecht tun und es nur für ein Zitat verwenden, während man alles andere als weniger wissenswert abtut. Und so sammeln sie sich auf, neben und unter dem Schreibtisch Bücher im Wartestand; allen bin ich noch etwas schuldig. Das geht mir bei Google durchaus nicht so; bei Google spüre ich nichts, „null“ sagt man heute. Bei Wikipedia durchaus, da spüre ich menschliche Sorgfalt und gedankliche Akkuratesse.

Aber diese Lesebücher waren es immer, die mich faszinierten, selbst wenn sie wie dies da oben einfach als „Deutschbuch“ daherkamen. Schon die aus der Zeit meiner Mutter: meine – streng genommen – ungebildete kleine Oma las mir daraus vor oder lies mich später vorlesen und war selber fasziniert: Schiller-Balladen und Gesänge aus Homers Odyssee, – selbst wenn sie den Inhalt aus Glaubensgründen ablehnen musste. Sie freute sich, wenn ich an ihren Lippen hing. Anfang der 60er Jahre war es dann ein Buch wie dieses, französisch orientiert, da es die Übersetzung eines Originals von Gallimard 1957 war. Es war nicht die Suche nach dem Abstractum „Bildung“, sondern danach, mich anders zu prägen, einen Panorama-Blick zu entwickeln und ihn mit der interessierten Betrachtung „kleinster Zellen“ – etwa in der Musik (frei nach Adorno) – zu verbinden.

Panorama

Was würde ich heute an diese Stelle setzen? Wahrscheinlich das Buch von Ralf Konersmann über „Die Unruhe der Welt“. Es ist detailreich und schwer systematisch einzuordnen, aber gerade deshalb geeignet, für Unruhe im eigenen Innern zu sorgen und sie doch – zwischen zwei Buchdeckeln – vorbildlich gebannt zu wissen. Solchermaßen wird man vielleicht gehindert, sich bildungsbürgerlich zur Ruhe zu setzen, und zugleich Byung-Chul Hans Büchlein über Zen-Buddhismus auf dem Nachtschränkchen liegen zu haben, so dass ein Zen-Buch wie das von Alan W. Watts (August 61) in philosophischer Umgebung wiederkehrt und mir einen Rest von Kontinuität signalisiert – wie die Musik. Ruhe bewahren und Unruhe gewähren lassen.

Konersmann Unruhe

Doch zurück zu meinem Deutschbuch für die Oberstufe:

(Fortsetzung folgt)

Oder vielmehr zur neuesten bildungsbürgerlichen Erregung: das Armida Quartett spielt am Donnerstag in der Kölner Philharmonie. „Meine“ Quartette von Schumann und Schubert.

Kampf der Klaviergiganten: Chilly Gonzales meets Igor Levit

Ein selten blödes Kultur-Event

Es ist nicht zu fassen, wie man auf absurde Art versuchen kann, an dem künstlichen Hype um Igor Levit teilzunehmen, während man ihm zugleich jede Möglichkeit nimmt, das zu realisieren, was er wirklich kann. Und wie er es mit sich machen lässt! Nur gute Miene bewahren, cool bleiben.

Vielleicht soll die Online-Zugabe mit Bach & Schostakowitsch etwas wiedergutmachen, aber ich mag sie gar nicht zur Kenntnis nehmen, da die Aspekte-Sendung ein Ekel-Gefühl zurückgelassen hat (nicht etwa die Musik, sondern diese Art der Klassikvermeidung, indem man vorgibt, sie zu präsentieren!), das mir kaum noch erlaubt, in der Mediathek nachzusuchen. Aber man soll diese Entgleisungen nicht unkommentiert lassen, eines Tages gibt es dann doch wieder den Grimme-Preis dafür, und man möchte nicht dabeigewesen sein! Bitte schön: HIER.

Ein alberner Zirkus. Ähnlich, wenn ein französischer Blockflöten-Virtuose beim Echo-Preis vorgeführt wird: Schlangenbeschwörer Maurice Steger mit einer Art Hummelflug von Vivaldi. Mimikweltmeister Lang Lang natürlich, immer dabei, er muss gleich zweimal in der Ehrenriege sitzen mit seinen Fake-Mozart-Noten, und dann dieser Orgel-Athlet Carpenter, und Gottschalk, Gottschalk, Gottschalk, man sehe und staune hier und  hier

Und dann diese niedlichen Kleinen von der FIT-Ausbildungs-AKADEMIE. Und der niedliche fast Hundertjährige. Und wie furchtbar, wenn am Ende auch noch das Artemis-Quartett abgefeiert wird, zu dritt,  Trauer über Trauer…

Jedem Klassiker ist es offenbar eine Ehre, als Popstar abgehandelt zu werden. Kürzlich in der ZEIT:

Konsequenterweise kann heutzutage ein Pianist, der Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt hat, nicht mehr danach gefragt werden, warum er dieses Stück so und nicht anders interpretiert hat, sondern danach, ob er auch Hip-Hop hört. Niemand käme heute auf die Idee, Kendrick Lamar zu fragen, ob er auch den späten Beethoven hört. Während der popkulturelle Diskurs sich heute im hermetischen Checker-Milieu entfaltet, müht sich der Museumsdirektor mit pädagogischem Begleitprogramm um einen niedrigschwelligen Zugang, als müsse er sich für seine Kunst schämen.

Quelle DIE ZEIT 22. Oktober 2015 Seite 49 Altes von der Popfront Über die Mühe, sich über die Hochkultur zu erheben. Von Alexander Cammann.

Fragen zum Checker-Milieu? Hier beginnen. A propos Kendrick Lamar… hier.

Nachtrag

Aus einem Interview mit Igor Levit:

Hören Sie, wie andere Leute Ihres Alters, Hiphop? Und wenn ja, nehmen Sie diese Musik ernst?

Ich könnte 75 Mal hintereinander Kendrick Lamar hören. Ich kann diese Musik gar nicht ernst genug nehmen. Und ich glaube, ich kann und will auch gar nicht verhindern, dass sich das festsetzt in mir und dass das womöglich Spuren in meinem Spiel hinterlässt.

Quelle FAZ 18.10.2015 online hier.

Auch dieses Interview ist ein Beispiel, wie unglaublich naiv und unbedarft die Fragen eines Journalisten sein können, der von Berufs wegen eigentlich nur wirklich neugierig sein müsste. Wunderbar, wenn dann die Antworten kürzer werden als Fragen:

Der sympathischste aller Gottesbeweise geht so: Es gibt, bei Bach, bei Mozart, bei Beethoven eine Schönheit, die nur dadurch zu erklären ist, dass göttliche Inspiration am Werk war. Ist das Quatsch?

Ja.

***

Fazit für mich? Ich werde mir mehr von Kendrick Lamar anhören, vielleicht nicht 75 mal hintereinander, aber wer weiß… Jemand, der die Diabelli-Variationen und die letzten Sonaten von Beethoven spielen kann, gibt mir einen solchen Hinweis nicht vergeblich! (Egal was Alexander Cammann dazu meint.)

***

Was ich nicht erwartet hätte: ein paar Stunden später bin ich wieder in einer Aspekte-Sendung gelandet, Kendrick Lamar ist zu Gast und wird interviewt. Ich war auf den Universal-Seiten, habe viel Musik gehört, ich habe Textseiten („Lyrics“) gesucht und studiert oder wie soll ich sagen… Habe selten so oft das Wort „Motherfucker“ gehört. Mein Gott, wo bin ich hier aufgeschlagen? Von Gottesbeweisen ist nicht mehr die Rede, ER muss ganz in der Nähe sein, der Teufel ebenso und überhaupt. Aber ich werde hören, hören, hören und Videos sehen, bis mir Hören und Sehen vergeht. Ich habs versprochen! Im Namen Beethovens!!!

Ein Rapper, dem sein Glaube viel bedeutet, einer der sagt „Gott hat mich berufen, Leute mit meiner Musik zu bewegen“ und dennoch einer voller Zweifel: Kendrick Lamar im Gespräch mit Gerald Giesecke.

Nehm‘ ich doch ein thematisch zu mir passendes Stück: Es geht um Sünde oder Sünder, ein weißer Sarg kommt drin vor, ich werde den Text mitlesen, bis mir schwarz vor Augen wird, also vielleicht nicht gerade 75 mal.

http://genius.com/Kendrick-lamar-bitch-dont-kill-my-vibe-lyrics

Und die Musik, das Video. Muss es sein? Es muss sein!

http://www.universal-music.de/kendrick-lamar/videos/detail/video:322047/bitch-dont-kill-my-vibe

DANK AN BERTHOLD

Brahms in den Streichquartetten

Aufbewahren für alle Zeit!

Wie immer reihen sich viele Zufälle sinnvoll aneinander, als seien es keine Zufälle. (Man sieht halt deutlicher, was auch zusammen passt.) Die Fahrt nach Heidelberg, die CDs im Auto (Gerhahers „Nachtviolen“ und Brahms mit Artemis), Besuch des Antiquariats HATRY in Heidelberg, Kellergeschoss voller Musik, Brahms-Buch 8,50 €, das im Hotel zur intensiveren Lektüre führt (warum erst jetzt? es existiert seit 1983!), viele Hotelstunden wegen lästiger Erkrankung usw. usw.

Brahms Laaber Christian Martin Schmidt

Brahms-Quartette haben wir im Mai 2014 studiert, der letzte Satz des B-dur-Opus ist mir irgendwie verschlossen geblieben. (Die damaligen Blog-Einträge sind – wie der ganze Blog – im November 2014 abgestürzt, nicht rekonstruierbar.) Vormerken: die Aufnahme mit dem Belcea-Quartett im SWR hier, ab 1:00:05. Zu vergleichen mit dem Kuss Quartett hier, von diesem auch das Mozartsche „Jagd-Quartett“, siehe hier und hier, das von Brahms zitiert wird. Themenvergleich:

Brahms B-durMozart Jagd

Im Fall des B-dur-Streichquartetts op.67, speziell in Bezug auf den letzten Satz, wäre zu studieren, was C.M.Schmidt (ab Seite 91)  zur Bedeutung der Variationsform für Brahms sagt und mit aufschlussreichen Zitaten belegt. Auf der Hand liegt die Wiederkehr des Kopfthemas aus dem ersten Satz im finalen Variationssatz, aber fast zu „trickreich“ und zu plakativ für mein Empfinden, daher die distanzierte Erinnerung. (Auch die rhythmische Finesse der Einführung des „Polka“-Themas im ersten Satz, das dann demonstrativ seine Kombinierbarkeit mit dem Hauptthema vorweisen muss.) Letztlich hängt alles an den Interpreten, diese Vorgänge „natürlich“ und nicht zu konstruiert erscheinen zu lassen.

Sehr interessant, was Schmidt zur formbildenden Aufgabe der Harmonik bei Brahms schreibt – auch im Gegensatz zu Wagner – und speziell zum Streichquartett c-moll op. 51 Nr.1.

Als die Sonatenform entstand, war die harmonische Anlage das wesentliche Element des formalen Zusammenhangs: Der harmonische Gegensatz zwischen Haupt- und Seitensatz in der Exposition war der Ausgangspunkt für die Entwicklung in der Durchführung, die zur Lösung des Gegensatzes in der Reprise führte – nicht etwa der Gegensatz der Themen. Nach Beethoven jedoch verlor die Harmonik mehr und mehr die Bedeutung als zentrale forlmbildende Ebene: Wichtig für die Formbildung wurde zunehmend die Durchführung und Variation von Themen und Motiven, das Konfrontieren von gegensätzlichen motivischen Gestalten und ihre Vermittlung. (S.102)

Einleuchtend sein Diagramm des harmonischen Verlaufs im genannten Quartett (S.103). Man sollte üben, es einmal hörend nachzuvollziehen, – also entlang der Pfeile. (Die beiden nicht mit Pfeilen versehenen Seiten des Vierecks dienen nur dem Verständnis der perfekten Quintenkonstruktion.)

Brahms c-moll Quartett Form

Ich werde seine mit genauen Taktangaben versehene Wegbeschreibung mit den Zeitangaben der Artemis-Aufnahme ergänzen. Es ist eine Übung! Aber sie hat Sinn, selbst wenn man eher zu der inhaltlichen Beschreibeung tendiert, die Volker Scherliess im Booklet der CD gibt:

Zwar lässt sich die traditionelle Sonatenform erkennen, aber weniger als vorgegebenes Schema, sondern als Rahmen, in dem sich die musikalischen Gedanken frei entfalten. Sie haben etwas Gestalthaftes: Gesten des Steigerns und Zurücksinkens lösen sich ab und ergeben einen Erzählstrom in Wellen – eine drängende Folge pulsierender, emotional aufgeladener Bögen, die innehalten, sich gleichsam ducken und neu ansetzen, um schließlich kantabel auszuschwingen. Wechselnde Charakterbilder des Gehetzten und Flehenden, aber auch Momente von Schwermut und Trost. Die Durchführung – kurz und konzentriert – bringt verschiedene Praktiken kontrapunktischer Arbeit ins Spiel (Augmentation, Diminution, Engführung usw.). Aber auch in den anderen Formteilen finden sich typisch „durchführende“ Elemente. Die ausgedehnte Reprise beginnt fast unmerklich und mündet in eine Coda, in der sich die düstere Stimmung erhellt – Wendung nach C-Dur und affektive Beruhigung (auskomponierte Verlangsamung der Impulse).

Den Begriff der Übung, den ich absichtlich gern wiederkehren lasse, weil er für einen Musiker prinzipiell eine besondere Rolle spielt, setze ich, ohne mich zu schämen, in Beziehung zu dem bei Schmidt (Seite 58) dargestellten besonderen Charakterzug des deutschen Bürgertums jener Zeit:

Brahms war tief von der ethischen Verpflichtung der Kategorie Leistung durchdrungen; er war in dieser Hinsicht durch und durch bürgerlich und zeigte keinerlei Züge eines sich der gesellschaftlichen Norm entziehenden Bohémien.

Heute gehört es zum Zeitgeist, die spielerischen und von formalen „Zwängen“ scheinbar freien Züge des Kreativen hervorzuheben, typisch mein Unbehagen am „Gearbeiteten“ : man hüte sich aber, hier voreilig moralische Begriffe ins künstlerische Gestalten einzumischen. (Es geht so und so … daher auch die andere Sicht auf Sibelius, dessen 6. Sinfonie kürzlich in Solingen zu hören war, und für die  vom GMD in launigen Worten eine andere Hörhaltung als die deutsche angemahnt wurde.)

Christian Martin Schmidts Beschreibung des Diagramms, das den Modulationsgang des Satzes zeigt, von mir in Farbe ergänzt durch die entsprechenden Zeitangaben bei Artemis:

Die Exposition wendet sich in zweifachem Ansatz in subdominantische Richtung: Dem c-moll im Hauptthema (T.1 0:00) schließt sich b-Moll (T.11 0:19) und f-Moll (T.15 0:27) in den beiden Viertaktern des 2. Themas an; dem c-Moll der Wiederaufnahme des Hauptthemas (T.23 0:42) folgt es-Moll im Seitensatz (T.33 0:59). Daß der Seitensatz in es-Moll und nicht, wie regulär, in Es-Dur steht, hängt mit der Absicht zusammen, vier auf dem Quintenzirkel nebeneinander liegende Tonarten zu exponieren: c-Moll, f-Moll, b-Moll, es-Moll. Ihnen wird im Harmoniegerüst der Durchführung (5:14) durch die Aufeinanderfolge derjenigen vier Molltonarten entsprochen, die auf dem Quintenzirkel gegenüber liegen: a-Moll (T.84 5:14), e-Moll (T.100 5:41), h-moll (T.108 5:55), fis-Moll (T.118 6:10).

Mit diesen Zeitangaben sind aber lediglich die Bereiche der genannten Tonarten bzw. ihr jeweiliger Beginn bezeichnet, die Formabschnitte ergeben eine andere Gliederung, die separat durchgenommen werden müsste. Ich habe auch leise Zweifel, ob der Versuch, den Modulationsplan des obigen Diagramms zu erfassen, wirklich auch beim Hören näher an die Musik heranführt. Für das unbefangene Hören könnte die Kenntnis der allgemeinsten formalen Koordinaten als Hilfe ausreichen, da die emotionale Energie genügend in Anspruch genommen wird, die motivisch-thematischen Vorgänge zu erfassen. Also:

Exposition 0:00 bis 2:36 Wiederholung 2:36 bis 5:15 Durchführung 5:15 bis 6:42 Reprise 6:42 bis 9:27 Coda 9:27 bis 10:16.

Soviel zum ersten Satz des Quartetts c-moll op.51, 1. Mein Ausgangspunkt war jedoch der letzte Satz des B-dur-Quartetts op. 67: Poco Allegretto con Variazioni. (Tr. 8 der Artemis-CD). Nichts einfacher als das:

Thema 0:00 bis 0:52 Variation 1 0:53 bis 1.46 Variation 2 1:47 bis 2:38 Variation 3 2:39 bis 3:33 Variation 4 3:35 bis 4:22 Variation 5 4:22 bis 5:09 Variation 6 5:11 bis 6:50 Doppio Movimento 6:53 bis 7:42 Variation 8 7:43 bis 8:37 Variation 9 (incl. Coda) 8:37 bis 10:18

Hat sich meine Einstellung zu dem Satz geändert? (Es lag – sehr einfach – an dem allzu oft gehörten Auftakt und den folgenden Tonwiederholungen, wodurch etwas Leierndes in das Thema kommt. Von Brahms vielleicht behaglich gemeint, genau das aber ist eine Stimmungslage, die mir bei ihm am wenigsten gefällt. Eine grundbürgerliche. Etwa so: Lass die Welt da draußen, ich fühle mich wohl. Wie in der Mutter Schoß.) Ich verstehe: daher auch das belebende Element der Wiederkehr des „Jagdthemas“ in der „Doppio Movimento“-Variation. Damals: das leicht spottende Mitsingen des „Cantare“-Schlagers (ab 9:47): „O-ho-ho-ho“. Schade… Oder ist nicht jetzt, beim wiederholten Hören der Artemis-Aufnahme, doch endlich vollkommener Frieden eingekehrt? Und alles, alles wird wieder gut?

Artemis Brahms

Zugang zur Partitur: hier

http://imslp.nl/imglnks/usimg/b/b4/IMSLP93521-PMLP22218-Brahms_Quartet.pdf

Statt eines Reisetagebuches

Jerusalem Heidelberg Mannheim Ludwigshafen Jerusalem

Heidelberg Hauptstraße her Heidelberg Hauptstraße hin

Heidelberg Plakate d Heidelberg Plakate e

Heidelberg Plakat x        Heidelberg Plakate c

Heidelberg Neue Aula Schluss Heidelberg Jerusalem Programm Karte

Heidelberg Religion rettet nicht „RELIGION RETTET NICHT!“

Heidelberg Plakate a Heidelberg Plakate b  Heidelberg Neue Aula der Universität

HH Ludwigshafen bzw Mannheim  Hinweis a

Processed with VSCOcam with g3 preset Mannheim Eos 4a EOSHH Ludwigshafen Museumskonzert 5 HH Ludwigshafen Museumskonzert 7

HH Ludwigshafen Museumskonzert 2  HH Ludwigshafen Museumskonzert 3

HH Ludwigshafen 0 Einführung JMR

HH Ludwigshafen 01  HH Ludwigshafen Museumskonzert 15

HH Ludwigshafen Museumskonzert 23a  HH Ludwigshafen Museumskonzert 22

HH Ludwigshafen Museumskonzert 17 x HH Ludwigshafen Museumskonzert 21 y HH Ludwigshafen Museumskonzert 40 z

HH 0 HH 00

HH a PLAY SOMETHING. HH Poesie x

HH Orch  HH Orch b

HH alle Schluss  HH Heilige

HH Bildwand  HH Mus Miró

(Fortsetzung folgt, vielleicht)

Nachtrag

Am letzten Tage dieser Reise nahm Navid Kermani  in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen und hielt zu diesem Anlass eine Rede, die ich gern live im Fernsehen mitbekommen hätte. Inzwischen habe ich das Versäumte mit Hilfe der Mediathek nachgeholt; es scheint unsere Jerusalem-Thematik zu ergänzen, als sei es so geplant gewesen. Man gehe dem Link nach, der jetzt am Ende des Artikels „Wolkenlektüre“ eingefügt ist.

Allerdings ist die Kritik ebenso bedenkenswert: siehe hier in der Süddeutschen Zeitung.

Drei Tage im Oktober

JERUSALEM – Das Programm

Jerusalem Konzerte November 2015    Jerusalem Ablauf b  Jerusalem Programm Vorspann a  Jerusalem Programm Vorspann b
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Pressebericht Rhein-Neckar-Zeitung (Matthias Roth) HIER

Pressebericht Mannheimer Morgen m.morgenweb (Eckhard Britsch)  HIER

Ich bin dankbar, dass ich dabeisein konnte.

Jerusalem Termine c     Delauney in Ludwigshafen

Oben rechts: der von Messiaen geliebte Maler Robert Delaunay (s.a. am Ort bzw. hier)

Jerusalem El Melek notiert

(Versuch, der eigenen Stimme ein hebräisches Gebet phonetisch zu erschließen)

HH Ludwigshafen Museumskonzert 12

(Versuch, im Museum allein durch Kunstbetrachtung gesättigt zu werden)

Meinem Lehrer zum Andenken

Prof. Franzjosef Maier
*27. April 1925 Memmingen 16. Oktober 2014 Bergisch-Gladbach

Ein Rückblick von Jan Reichow

Nun ist die Epoche vorbei, die wir nach Ablauf des letzten Jahrhunderts, wenn von Alter Musik die Rede war, so gerne haben revue passieren lassen. Als der Pioniergeist noch wehte, als einige Schlüsselfiguren sagten, was die Musik der Vergangenheit wirklich noch hergibt, sofern man alle Parameter berücksichtigt, nicht nur den des Notentextes, sondern auch den der Aufführungsbedingungen.

Franzjosef Maier war eine solche Schlüsselfigur, wenn auch sein verbindliches Wesen darüber hinwegtäuschen konnte, wie ernst er es meinte. Andererseits war er in erster Linie Geiger, er hat nie als Dirigent oder gar dirigierender Visionär vor einem Orchester gestanden.
Die Musik, die er sich offenbar noch selbst für die Trauerfeier in der Kirche gewünscht hatte, war der Variationssatz aus Haydns Kaiserquartett. Aber wer würde das spielen? Die glücklichste Entscheidung der Familie war, ihn selbst spielen zu lassen, aus dem Off: als Primarius des Quartetts, das mit dieser Aufnahme im Jahre 1980 aus dem Collegium Aureum hervorgetreten war. Magische Momente, wie diese Lebenslinie nun nach 34 Jahren noch einmal durch die Stimmen lief, von der ersten Geige graziös umspielt, in der dritten Variation mit einer wachsenden Chromatik, deren Lamentocharakter nie so deutlich wurde wie in dieser Wiedergabe an diesem Ort, die Haltetöne des Cellos in der letzten Variation ewig lang, und all dies ohne das leiseste Pathos, – das bleibt für immer.

Ich lernte Franzjosef Maier im April 1961 in der Aufnahmeprüfung Schulmusik kennen. Er war seit 3 Jahren, nach seiner Zeit als Dozent in Düsseldorf, nun Professor für Violine an der Kölner Hochschule. Ich kam der Geige wegen von Berlin nach Köln und hatte bereits die Zusage von Wolfgang Marschner, dem ich privat vorgespielt hatte, – obwohl er eigentlich keinen „Schulmusiker“ unterrichten wollte. So war es ein bisschen enttäuschend für Franzjosef Maier; er hatte sich schon erfreut geäußert über einen ziemlich guten Kandidaten, den er nun als Schüler erwartete. Bemerkenswert, wie er sich verhielt, als er erfuhr, dass daraus nichts würde: einfach generös. Lediglich zum Bach-Adagio (BWV 1001) gab er mir einen guten Rat mit auf den Weg: bei mir klinge es wie eine allzu freie Phantasie, aber man müsse den gleichmäßigen Puls im Untergrund durchschimmern lassen, auch wenn es an der Oberfläche von Zweiunddreißigsteln wimmelt. Das eindrucksvolle Bild saß (ein ruhig fließender „Bach“!), und der Name Maier hatte fortan für mich einen verlockenden Klang. Als Marschner zwei Semester später nach Freiburg ging, war es keine Frage, dass ich in Köln blieb, bei Franzjosef Maier. Er konnte nicht nur Bach unterrichten, sondern Beethoven, Brahms, Glasunow, einfach alles, besonders gut z.B. Debussy, für mich eine Offenbarung, – dabei hatte gerade Marschner auf französische Eleganz gepocht, Prüfstein „Havanaise“.
Ich vergesse nie, wie Franzjosef mir den Charakter eines Themas der Debussy-Sonate mit einer skurillen Episode aus der Kriegsgefangenschaft erläuterte (die für ihn in den USA relativ glimpflich verlaufen war), – mit unschicklich heraushängender Zunge. Er hatte eine unglaublich präzise Art, künstlerische, auch technische Fragen bildhaft plausibel zu machen: zum Beispiel, wie man ein gutes Staccato lernt (in Berlin hatte man mir gesagt: bloß nicht zuviel nachdenken!): nämlich aus einem Handgelenk-Tremolo heraus, bei gleichzeitigem Hochführen des Unterarmes in genau der Geschwindigkeit, die die winzigen Abwärtsbewegungen des Handgelenks aufhebt. Er vermittelte problemlos einleuchtende phsyikalisch-physiologische Intuitionen, die er von dem berühmt-berüchtigten Geigenlehrer Hermann Zitzmann bei aller inneren Distanz aufgesogen hatte. Er war kein Feind der Sevčik-Methoden und pries die Lehrzeit, die er als zweiter Geiger im Schäffer-Quartett genossen hatte: die Begleitfiguren, die für den Bogen wie für die linke Hand Balsam seien und manche „Trockenübung“ rechtfertigten.

Als ich das erste Mal bei ihm zuhaus in Refrath Unterricht hatte, beeindruckte mich ein surrealistisches Ölgemälde über dem Kanapee: eine ausgespannte Hand, die sich nach nächtlichen Sternbildern und einem Frauentorso reckt. Vergeblich, wie er sagte; er gab sachkundige Hinweise, – denn er selbst war der Maler. Übrigens auch Hobby-Astrologe. Woran er wirklich glaubte, oder was ihm eigentlich – über die Familie hinaus – existenziell am Herzen lag, war mir nicht klar, denn ich schenkte ihm ganz naiv das damals kursierende Büchlein „Zen in der Kunst des Bogenschießens“. Er kam aus dem Allgäu, seine dadurch unverkennbar geprägte Sprache kontrastierte zwanglos mit dem unverfälschten Rheinisch seiner Frau Marlies, die glücklicherweise gern Dirndl trug, und beiden war es recht, dass er sich eines Tages den Traum erfüllte, einen Wohnraum seines Hauses mit einem handgeschnitzten und passend gemachten „Herrgottswinkel“ nebst Bank und Tisch zu belegen. Trotzdem hätte ich nie gedacht, dass er im hohen Alter, als die geliebte Marlies starb und er nicht mehr lange zu leben hatte, eine solche Zuversicht im katholischen Glauben gewinnen konnte. In seiner letzten Zeit hatte er nur noch einen Wunsch: seine Heimatstadt Memmingen und die Orte seiner Kindheit und mancher Familienferien am Forggensee wiederzusehen.

Nicht weit von hier hatte er seine größten künstlerischen Erfolge erlebt; im alten Fuggerschloss zu Kirchheim entstanden unzählige Aufnahmen von Monteverdis „Tirsi e Clori“ mit dem Deller Consort bis zu den großen Sinfonien Haydns, Mozarts und Beethovens. Bachs Kantaten, das Weihnachtsoratorium oder Mozarts Requiem mit dem Tölzer Knabenchor erklangen zuerst in den Kirchen von Lenggries, Bad Tölz, Benediktbeuern oder im „fernen“ Einsiedeln.
Aber nur wenige Augenzeugen können sich den Meister auf bravourös absolvierten Japan- und Russlandreisen oder Orienttourneen vorstellen, wie er gelassen auf organisatorische Probleme reagiert und schwierige Situationen klärt. Wie er z.B. mit dem Collegium Aureum in einem teppichbelegten Palastraum in Marokko sitzt und äußerst charmant auf das Ansinnen der Prinzessin reagiert, eine längere, von ihr selbst verfasste Tongirlande vom Blatt zu spielen. Für meine Begriffe klang es dann halb nach Gregorianik, halb nach Franzjosefs Lehrer Philipp Jarnach. Aber ihre Majestät war hocherfreut und auch geneigt, noch zwei Sätze aus Mozarts G-moll-Sinfonie entgegenzunehmen.
Schon damals waren es übrigens nicht die Bannerträger der Maier-Schule, sagen wir: Reinhard Goebel, Werner Ehrhardt, Gerhard Peters, Ulrich Beetz, nein, nur Freund Klaus Giersch und ich waren es, die er – auf einen Mozart-Ausspruch anspielend – „seine Buben“ nannte.

Den Wendepunkt in Franzjosefs Karriere hatten wir als seine Studenten live miterlebt: Dr. Alfred Krings berief ihn („er ist der beste Konzertmeister der Welt!“) 1964 in Köln als Dozenten zu den Kursen für alte Musik, die als Gegenstück zu den Kursen für Neue Musik in der Rheinischen Musikschule Köln anberaumt wurden. Natürlich hatte er neben dem üblichen Repertoire schon viele Jahre alte Musik praktiziert (u.a. im Collegium Musicum des NWDR), aber jetzt bekam diese Seite einen wissenschaftlichen Hintergrund. Wir wurden angeregt, die Originaltexte zu studieren, z.B. Georg Muffats Einführungen in die französische Violinpraxis unter Lully, dargelegt im „Florilegium secundum“ (1698), und all dies führte zu atemberaubend neuen Klang- und Rhythmusvorstellungen, etwa in der Musik von Campra und Rameau, nicht nur in der Provinz des bayrischen Allgäus, sondern nun auch schon in der Provence beim Festival in Saint-Maximin-la-Sainte-Baume, Co-Projekt der deutschen und französischen Harmonia Mundi. Ein neues Kapitel wurde bald danach aufgeschlagen, als es in die Klassik hineinging. Gewiss, viele Barockensembles haben irgendwann den Rubikon überschritten, um nun auch nachbarocke Musik neu zu lesen und zu hören. Aber die Hamburger Sinfonien von Carl Philipp Emanuel Bach gelangen 1969 in Kirchheim als bislang virtuosestes Highlight der „Alten Musik“ weit und breit, und mit Beethoven befand sich Franzjosef Maier vollends in seinem eigentlichen Element, wobei er auch die jeweiligen Solisten inspirierend einwirken ließ, beginnend wohl mit dem Klavierkonzert in G-dur und Badura-Skoda (1972). Später folgte das Tripelkonzert mit der faszinierenden Triobesetzung Maier, Bylsma, Badura-Skoda. Ein neuer Schritt war die „Eroica“ und schließlich wohl als Höhepunkt der Entwicklung die VII. Sinfonie (1981). Einzigartig unter all den Ensembles der „Aufführungspraxis“, die sich an solche Literatur heranwagten, war die Tatsache, dass weiterhin kein Dirigent als Herrscherfigur das längst zum Orchester angewachsene Collegium Aureum anführte. Als Vorbild diente die Pariser Praxis der 1820er Jahre, als der Geiger Franz Anton Habeneck Aufführungen der Beethovensinfonien leitete, die zur Legende wurden.
Franzjosef Maier hielt das Geschehen – soweit es nicht dank guter Probenarbeit „von selbst“ lief – vom Konzertmeisterpult aus unter Kontrolle. Man verliert dies Bild nicht aus dem Sinn, zuweilen ächzte das Schlossgestühl, wenn er an kritischen Stellen den Zusammenhalt temperamentvoll mit Violinbogen und Körperbewegungen regelte, dann wieder mitspielte und dennoch jederzeit alles im Auge behielt. Zudem waren die Stimmführer durch das gemeinsame Quartett- und Quintettspiel (Schubert!) perfekt aufeinander eingespielt, und – nicht zu vergessen – alle Notentexte waren minutiös bezeichnet, zum Teil mit ungewohnten Strichen, die genau die Wirkung taten, die sich Franzjosef vorstellte, ohne dass er darüber reden musste. Hier galt die alte Abstrichregel der Muffat-Schule längst nicht mehr, aber auch tonlich pflegte er ein Ideal, das einen Kompromiss zwischen „alt“ und „neu“ darstellte. Er ließ sich durch den Rigorismus der „historisch Informierten“ nicht irritieren, nicht, wenn es um Beethoven ging. Andererseits wurde ich freundlich gedeckelt, als ich in meiner Begeisterung für Gustav Mahler diesen einmal ernsthaft mit Beethoven verglich. Bedenklich, ja mit Strenge schaute er mich an: „Nein, das hat nun wirklich nichts miteinander zu tun!“ Um so lieber erinnere ich mich daran, wie er mit mir die „Kreutzer-Sonate“ arbeitete und endlos bei den ersten Zeilen der Einleitung verharrte, die bereits eine Welt in nuce enthalten sollten (schon dachte ich wieder an Mahler). Oder an die Entfaltung der Solostimme in Beethovens Violinkonzert, diese Balance zwischen dem großen improvisatorischen Gestus und einem leicht akzentuierenden Moment in den Sechzehntelläufen, jedoch ohne die leiseste Spur von Pedanterie. Niemals im Leben würde ich Figuren, die von fern an Etüden erinnern, je wieder als solche behandeln.
Sollte ich eine Musik auswählen, die mir für eine imaginäre Feierstunde zum Andenken an diesen großen Lehrer und Musiker am besten passt, so würde ich die Sinfonia Concertante von Mozart wählen, die er gemeinsam mit Heinz-Otto Graf eingespielt hat. Unvergesslich! Aber nie wieder, glaube ich, ist sie schöner erklungen als damals im Juni 1978 live im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, mit diesem großen ersten Satz, den eindringlichen Dialogen der Soloinstrumente, den Todesgedanken des langsamen Satzes und wie sich alles auflöst in einem wundersam verspielten Presto-Finale.
Für mich ein Gleichnis des Lebens.
Zu den beeindruckendsten Erinnerungsbildern gehört die aufrechte Haltung, die Gelöstheit, Konzentration und Ruhe, die er im Kreis seiner Kinder und Enkel zeigte, als seine liebe Frau beerdigt wurde. Kein gebrochener Mann. Niemand hätte gedacht, dass er ihr schon im nächsten Jahr folgen würde.
Hatte er mir nicht kürzlich noch gezeigt, wie er die Bäume seines Gartens gehegt und geschnitten hatte, so dass die kräftigeren Äste kleine Stufen bildeten, die er auch noch im höchsten Alter würde bewältigen können?

Als Künstler und Mensch bleibt er ein großes, unvergleichliches Vorbild, nicht nur für „seine Buben“.

(© Erstveröffentlichung in: Concerto Das Magazin für Alte Musik Januar 2015)

Franzjosef Maier