Weiteres von Bachs Wendepunkt

Als Ergänzung zum großen Artikel Reinhard Goebels kann man den frühen Essay lesen, den Robert Hill 1999 für seine CD „Concerto, Fantasia & Fuge“ geschrieben hat. (Und als Ergänzung hören kann man dazu die CD von Andreas Staier.)

Der entscheidende Wendepunkt in Johann Sebastian Bachs Komponistenleben trat wohl ein, als er im Juni 1713 auf Antonio Vivaldis Opus 3 stieß, die Konzerte der Sammlung „Estro Armonico“. Bis dahin hatten die italienischen Konzerte von Tomaso Albinoni, Giuseppe Torelli und anderen Komponisten wichtige Anstöße für die Entwicklung des deutschen Konzertes von Bach und Georg Philipp Telemann geliefert. Es fehlte diesen Modellen jedoch die vollkommene Integrität der Vivaldischen Konzerte aus Opus 3. In ihnen sind die harmonische Architektur, die thematische Struktur aus Ritornell-Episoden sowie eine Nebeneinanderstellung von Tutti- und Solo-Kräften in einer Art koordiniert, die der Form des Allegro im Konzert ein klares Profil und eine eindringliche rhetorische Energie verleiht. Von diesem Zeitpunkt an ist kaum ein Satz in Bachs Musik zu finden, der nicht auf diese entscheidende Begegnung mit Vivaldis Konzertidee Bezug nimmt.

Quelle Robert Hill: Im Konzertstil: Werke für Tasteninstrumente aus den Weimarer Jahren / hänssler edition bachakademie  LC 06047 CD 92.105

Bach Hill Fantasien Cover Titel Dank an BS!

Natürlich ist dieser Einfluss von Vivaldi auf Bach für die Musikwissenschaft nicht neu, doch wichtig ist, ihn immer wieder neu zu entdecken und nachzuvollziehen, ja, neue Worte dafür zu finden. Das frappierende Insistieren auf bestimmten Motiven in BWV 922 (VOR der Vivaldi-Entdeckung) hat ja auch etwas Begeisterndes. Ein fast orientalisches Auskosten einer einzigen melodischen Zelle – allerdings durch Harmoniewechsel!

REINHARD GOEBEL

Der großen Öffentlichkeit aber wurde der Komponist [Vivaldi] erst mit dem fabelhaften Druck des Opus 3, seiner ersten Konzert-Sammlung bekannt – und man war hingerissen und fiel ins Vivaldi-Fieber: ganz zu recht! Denn eigentlich krebste man in Deutschland immer noch in einem verlängerten 17. Jahrhundert herum und suchte verzweifelt nach formal und organisatorisch logischen Lösungen für Beginn und Ende eines Instrumental-Werks, um die Probleme von Zeit und Raum und musikalischer Kohärenz in der Instrumental-Musik zu meistern – in der Vokalmusik hingegen war das Problem nicht so offensichtlich, denn hier vertonte man „am Text entlang“ : neue Worte, neue musikalische Motive…

Und so heißt es bei Forkel über den immerhin schon 25jährigen Bach: „ Er fing bald an zu fühlen, daß es mit dem ewigen Laufen und Springen nicht ausgerichtet sey, daß Ordnung, Zusammenhang und Verhältniß in die Gedanken gebracht werden müsse und daß man zur Erreichung solcher Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe. Als eine solche Anleitung dienten ihm die damals neu herausgekommenenen Violinconcerte von Vivaldi. —- Er studierte die Führung der Gedanken , das Verhältnis der selben unter einander, die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr. Die Umänderung der für die Violine eingerichteten, dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen lehrte ihn auch musikalisch denken…“

Was Alfred Brendel 1977 zu BWV 922 sagte:

Und dann gibt es ja noch eine Gruppe von Werken besonderer Art, die ganz für Instrumente der Zukunft geschrieben scheinen. Die ungeheuerliche a-moll-Fantasie („Präludium“) gehört zu ihnen. Als Cembalostück scheint sie mir verfehlt. Erst der Flügel erweckt diese ständige Folge von Überraschungen, in der kein Takt preisgibt, wo der nächste hinführen wird, zum Leben.

[Zur Frage, ob das nicht auf eine Romantisierung Bachs hinauslaufe:] Nicht unbedingt. Man sieht in Bach manchmal nur den großen Ordner und Architekten. Dabei hat niemand den Geist der Improvisation unmittelbarer festzuhalten verstanden als Bach in seinen Fantasien. Hat er nicht die Ausführung der Arpeggien in der Chromatischen Fantasie dem Spieler überlassen? Ich glaube übrigens kaum, daß die Romantiker an der a-moll-Fantasie viel Freude gehabt haben. Sicher fanden sie sie verrückt und verworren. Ich erinnere mich an die Zeit, da man den Übertreibungen „romantischer“ Interpretationen solche von abstrakter Trockenheit entgegensetzte. Heute wiederum hören wir Couperin auf dem Cembalo in einer Weise, die mit Paderewskis Aufnahme vieles gemeinsam hat: kein Akkord bleibt unarpeggiert, und die linke Hand schlägt immer vor der rechten an.

Quelle Booklet mit Terry Snow zu Philips LC00171 Decca Music Group 2006 „Italian Concerto“ u.a.