Archiv für den Monat: Januar 2016

Alle Menschen müssen sterben

Max Reger z.B. am 11. Mai 1916 !

Gestern traf per Post diese Neuaufnahme der Choralfantasien (Reger: „Phantasien“) für Orgel ein, höchst erfreulich, Musikproduktion Dabringhaus und Grimm. Grund genug für mich, meine Reger-Aktivitäten von vor 25 Jahren zu überdenken. Sie begannen nicht aus eigenem Antrieb, aber die Aufnahmen mit Christoph Bossert, die ich damals vorweg zu hören bekam, faszinierten mich. Und für die Firma Intercord sollte es der Start für die Produktion des gesamten Orgelwerks werden; das Unternehmen gedieh aber leider nur bis dritten oder vierten CD, dann wurde die Firma aufgelöst, und die so sorgfältig vorbereitete Edition verschwand vom Markt, den es natürlich für Orgelwerke im krass kommerziellen Sinne nicht gibt. Um so wichtiger, wenn eine neue Initiative entsteht und diese Klänge in ihrer unerhörten Gewalt wiedererweckt.

Reger DG Cover vorn Reger DG Cover hinten f

Da auch meine Texte damals in der Versenkung verschwunden sind, möchte ich sie bei diesem Anlass wieder hervorholen, vielleicht als Anreiz, die Regerschen Orgelwerke aufs neue ernstzunehmen, ebenso die romantischen Orgeln, für die sie geschrieben wurden. Ich jedenfalls brauchte die gedankliche Motivation und eine Zeit der Versenkung in diese Welt, der ich ansonsten ferngerückt war. Und der Text sollte, indem er doch zuweilen recht weit ausholte, diese Anstrengung widerspiegeln und vielleicht – so meine Hoffnung – auch Menschen musikalisch motivieren, die gerade nicht von Kirchenmusik geprägt sind.

Die neue, oben abgebildete Doppel-CD enthält selbstverständlich einen eigenen Einführungstext, der vom Organisten selbst stammt und authentische Auskunft über die Werke, die Orgeln und den Interpreten gibt. Erwähnt sei, dass er u.a. bei Christoph Bossert studiert hat.

Reger a Reger b

Reger c Reger d

Reger e Reger f

Reger g Reger h

Reger i Reger j

Reger Noten 3 Noten nach Edition Breitkopf 8490

Die äußere Form des Booklets und die sorgfältige Gestaltung war bei Intercord der Bearbeitung durch Ingrid Sonntag zu verdanken.

***

Über Balász Szabó siehe hier. Bemerkenswert ist, dass die Doppel-CD der Regerschen Choral-Phantasien auch die Choral-Fantasie von Heinrich Reimann enthält, die 1896 zum Auslöser der Regerschen Kompositionswelle und in seinem op. 40 Nr. 1 gewissermaßen überboten wurde: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“.

Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der Choralmelodien war, dass die zu Grunde liegenden Choräle in Dur stehen. In allen Fantasien entwickelt sich aus einem düsteren Anfang eine krönender, heller Abschluss ähnlich wie bei Reimanns Phantasie: „Durch Nacht zum Licht“ (Volbach). Die „Projektion des Höhepunktes auf den Schluß“ kann als ein übliches Verfahren der großen symphonischen Formen des 19. Jahrhunderts klassifiziert werden. So wird die ‚Apotheose‘ in der letzten Choralzeile als Krönung der Fuge mit allen Mitteln erfüllt. Auch der Inhalt der Choraltexte unterstreicht diese Tendenz.

(Aus dem Booklet von Dr. Balász Szabó)

Selbstprüfung

Hören Sie diese (oder jede andere) Aufnahme der Regerschen Choralphantasie und versuchen Sie, die Choralmelodie zu erkennen oder gar mitzusingen, ohne die Noten zuhilfe zu nehmen. Sie ist vollständig in das ganze Klanggewebe eingelassen, und die Töne sind auch in der linearen, figurativen Verarbeitung durchaus nicht hervorgehoben. Der Organist hat sie natürlich jederzeit im Auge, Reger hat die betreffenden Stellen sogar mit dem fortlaufenden Text der Strophen versehen. Ich behaupte: Sie (oder ich), nein: niemand, der im Kirchenschiff sitzt und aufmerksam zuhört, erkennt die Melodie.

Was sagt das über die Musik oder über unsere Musikalität?

Versuchen Sie, keine regressive Antwort zu geben. Es ist eine Fangfrage. Der Sinn der Musik ist ja keinesfalls , völlig durchsichtig zu sein oder unsere detektivischen Fähigkeiten zu bestätigen…

Sie „darf“ größer sein als wir selbst.

Wessen Visage ist das denn?

Ich will niemandem zu nahe treten, am wenigsten dem hier dargestellten Menschen eines anderen Jahrhunderts, aber auch nicht dem musizierenden Freund, der einen Bach-Abend gab und als Schmuck des Programms dieses Gemälde beifügte. Jedenfalls kann ich in Betrachtung dieser Visage nicht konzentriert zuhören: wie nennt man das, wenn jemand einen so impertinent mustert? Im nächsten Moment wird er mich aus dem Saal weisen, ja, er ist eine Aufsichtsperson, er bezweifelt, dass ich überhaupt eine Eintrittskarte habe.

Wenn dies hier das Gesicht von Johann Sebastian Bach ist, dann hat dessen Musik ein ganz anderer geschrieben. Vielleicht Shakespeare oder Casanova oder James Cook oder Rabelais. Aber nicht dieser Mann.

Bach visuell

Ich weiß nicht, welche Berechtigung besteht, ihn für Johann Sebastian Bach auszugeben. Schon wieder ein falscher Ton in der Überlieferung? Ein schlechter Zug um den Mund, ein kleinbürgerlicher Blick? Nein, nicht der Dargestellte ist zu diffamieren, er wird ja erst lächerlich, wenn man seine Bedeutung überschätzt. Ohne die Sonntagskleidung, einfach so als Schneider oder hinterm Bankschalter: super, der Mann!

Es geht nicht anders, wir sind aufgerufen nachzuforschen, – ad acta legen, das geht überhaupt nicht. Es sei denn, unter einem anderen Namen. Meinetwegen auch als Johann Jacob Reichow, Mühlenbesitzer in Roggow/Hinterpommern.

***

Ich füge einmal an, was ich auf die Schnelle fand. Neben dem Bild war zu lesen – abgesehen von dem Namen, den ich nicht akzeptieren mag – „Meininger Pastell“ von Gottlieb Friedrich Bach.

Wer ist das?

Kabinettmaler, Hoforganist; geb. 10. 9. 1714, gest. 24. 2. 1785 (begraben 26. 2.1785). Der
jüngere Sohn von Johann Ludwig Bach besuchte das Meininger Lyzeum, trat 1721 in die IV.
Klasse ein und verließ es 1729 nach Absolvieren der Primarstufe. Nach dem Tod seines
Vaters 1731 spielte er bis zur Rückkehr seinesälteren Bruders Samuel Anton Jacob die Orgel in der Schloßkirche. Etc. etc.
Gottlieb Friedrich Bach unterhielt offenbar engere Beziehungen zu Johann Sebastian Bach sowie zu Carl Philipp Emanuel Bach. Möglicherweise hielt er sich zwischen 1740 und 1745 in Leipzig auf und malte ein Bild von Johann Sebastian Bach. Ein Porträt Carl Philipp Emanuel Bachs ist jedenfalls bekannt.

Und wer war sein Vater Johann Ludwig Bach?

Lehrer, Kantor, Pageninformator, Hofkantor, Kapellmeister, Komponist, Lehrer; get. 6. 2.
1677 Thal, begraben 1. 5. 1731 Meiningen. Der Sohn von Johann Jacob Bach (1655 -1718)
und Anna Martha Bach, geb. Schneider wuchs wie sein 8 Jahre jüngerer Vetter Johann
Sebastian in einem musikalischen Haushalt auf und erhielt die erste musikalische Ausbildung bei seinem Vater. Er besuchte 1688 -1693 die Lateinschule in Gotha, wo u. a. Wolfgang Michael Mylius (1636 -1712) und Johann Pachelbel wirkten. Etc. etc.
1726 führte Johann Sebastian Bach mehrere Kantaten Johann Ludwig Bachs in Leipzig auf. Von Johann Ludwig Bachs weltlichem und geistlichem Werk ist nur ein Bruchteil erhalten. Das eindrucksvollste Werk der überlieferten geistlichen Vokalmusik ist die Trauermusik auf den 1724 verstorbenen Herzog Ernst Ludwig I. von Sachsen-Coburg-Meiningen.

Quelle 
Maren Goltz : Musiker-Lexikon des Herzogtums Sachsen-Meiningen (1680 – 1918) HIER

WIKIPEDIA: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottlieb_Friedrich_Bach ,  darin zu lesen:

Er porträtierte seinen Vater Johann Ludwig Bach, Carl Philipp Emanuel Bach sowie Mitglieder des Meininger Herzoghauses und andere Thüringer Fürsten. Carl Philipp Emanuel Bach berichtete auch von einem Porträt Johann Sebastian Bachs, doch ist darüber heute nichts Sicheres bekannt.

Das Rätsel ist geklärt (jedenfalls mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit):

Bach-Porträts Screenshot 2016-01-30 21.22.20

Erkennen Sie das Portrait wieder? Rechte Seite, in der Mitte. Es handelt sich demnach um Wilhelm Friedemann Bach. Und direkt darüber befindet sich ein mit Fragezeichen versehenes Bild von „Johann Sebastian Bach“ (auch hier würde ich sagen: ihn stellt es keinesfalls dar). Mittlere Spalte, Bild 1 und 2: Carl Philipp Emanuel Bach? Ja, er ist es unverkennbar. (Friedemann – rechts – ist ebenfalls glaubwürdig, vgl. z.B. hier. Jetzt würde ich den Gesichtsausdruck natürlich auch ganz anders deuten…)

Quelle Neil Jeffares: Dictionary of pastellists before 1800, online editin, darin: BACH, Gottlieb Friedrich / Meiningen 1717–1785 – Aufzufinden HIER.

Nachtrag 8. Februar 2016

Der kritisierte Freund hat mir widersprochen, und ich fürchte – er hat recht, hier seine Mail:

Du hast vermutlich übersehen, dass in dem Online-Buch von Jeffares die Abbildungen unter dem Text stehen und nicht darüber.

Friedemann wäre, als das Bild entstand, erst 20 Jahre alt gewesen. Das Bild darunter stellt ihn dar. Auch hier ist die Zuschreibung nach Meinung des Autors zweifelhaft. Im übrigen gäbe es keine Ähnlichkeiten mit den zwei (?) bekannten Portraits von Friedemann (Das allgegenwärtige mit dem Schlapphut scheint sowieso falsch zu sein).

Was bei der Zuschreibung an Johann Sebastian „doubtful“ ist, wäre noch herauszufinden, interessiert mich aber nicht wirklich (…).

***

Ich gebe zu, es war voreilig von mir, an die Unfehlbarkeit dieser verdammten Liste von Pastellbildern zu glauben. Und obendrein noch selbst die beschreibenden Texte den falschen Bildern zuzuordnen! 

Ich hätte wenigstens ahnen können, dass es längst eine regelrechte Forschungsrichtung zur Authentifizierung überlieferter Bach-Portraits gibt. Wie glücklich bin ich nun, dass die kritische Reaktion des Freundes eine neue Suche ausgelöst hat, die zu einem durchaus hoffnungsvollen Neuanfang geführt hat. Ob „doubtful“ oder nicht, es interessiert mich nachhaltig. Denn eines Tages wird mir Bach im Traum erscheinen, und er soll bitte genau so ausschauen, wie auf dem Bild von Haussmann, mir den Kanon entgegenhalten und rufen: „Und das hab‘ zum Zeichen!“ ich werde entgegen: „Moment, darf ich einmal die Handschrift überprüfen!?“

Auch die folgende Website habe ich allerdings noch nicht gründlich geprüft, sie bietet jedoch reichen Stoff zum Weiterforschen und beruht auf einem Wissensstand, von dem ich vor 5 Tagen nur träumen konnte.

Sehen Sie also THE FACE OF BACH ………….. HIER.

Nach-Nachtrag 10.02.2016

Gewiss: Alles bewundernswert, was man da zu lesen und zu sehen bekommt. Nur der entscheidende Punkt, dass dieses Bach-Bild, das mich irritierte, vielleicht doch authentisch ist, bleibt ganz und gar unglaubwürdig. Da hilft auch keine Schädelanalyse. Inzwischen habe ich dem Mann so lange ins Antlitz geblickt, bis ich zu der Überzeugung kam: er ist ein Vorfahr von Peter Sloterdijk. Nur die Haare trägt er schöner. (Ja, wer von beiden? das lasse ich offen.) Ich habe die hundert Seiten der Bach-Kantaten-Behandlung noch nicht studiert, – ist es mehr das Werk eines akribischen Rechtsanwalts oder eines höchst systematisch engagierten Laien-Musikers? Ganz ratlos machen mich seine Tränen, etwa, wenn der Autor über Bachs Bildnis (natürlich doch das eine von Haussmann) gesprochen hat, seine mutmaßlich lebensfrohen Aktivitäten (Rauchen, Trinken, Bett) und schließlich auf die eigene größmögliche Nähe zum Komponisten kommt: er nimmt die Handschrift der Kantate BWV 7, blättert mit ungeschützten Fingern darin herum und ist zutiefst gerührt. (Ähnlich erschüttert sagt er seiner Meisterin Rosalyn Tureck am Ende eines anderen Filmes – https://www.youtube.com/watch?v=mAFPfflNex0 – zu ihrem 100. Geburtstag und 10. Todestag ein schlichtes „Danke, danke“.)

Heute habe ich nochmal in einen schönen Bildband geschaut, der zum Bach-Jahr 1985 herausgekommen ist, – wer weiß, ob ich damals die Seite 142 überhaupt beachtet habe (indiskutabel); bestimmt habe ich nur gedacht: das Bild auf Seite 143 muss doch von Adolph Menzel sein!? (Ist es natürlich nicht!)

Bach Friedrich II

Bach & Friedrich II

Noch ein Gedankengebäude

Max Weber 

Wie der Zufall gerne spielt: während ich am vorigen Beitrag arbeitete, kommt die Post und bringt die Pflichtbestellung 2015, die ich der Wissenschaftlich Buchgesellschaft eilig nachgereicht hatte, um nicht drei „fremdbestimmte“ Werke zu bekommen, die ich nicht unbedingt brauche. Und dieses Buch passt genau zu dem (Eigen-)Zitat, das ich vorhin wiederlas, womit – wie schon des öfteren – eine Gedankenkette ausgelöst wurde, die am Ende zu dem Vorsatz führt, einmal wieder Max Weber (und John Blacking) zu studieren.

Kunstmusik Zürcher 92

Da spielt natürlich auch Peter Schleuning hinein, den ich im Programmheft „West-Östliche Violine“ 1989 (wo ist das eigentlich? s.u.!) ausführlich zitiert habe. Und zu John Blacking gesellte sich inzwischen Bruno Nettl. Aber im Hintergrund immer ER:

Weber WBG  … und im Detail dies: Weber WBG Musik

Und daraufhin liegt hier nun auch wieder ein guter, bei Weber ansetzender Kulturenvergleich auf dem Tisch, oder besser gesagt: ein „Verstehensversuch Indien/Europa“ will rekapituliert werden. Ich habe den Entstehungsprozess damals fast aus der Nähe miterlebt.

Kurt Indien  Kurt Inhalt a  Kurt Inhalt b

Immer wenn ich ins Autobiographische abdrifte, treffe ich auf den universalistischen Drang, den man auch der Hybris verdächtigen kann. Dazu gehört, dass zu Beginn meiner „bildungsfähigen“ Zeit bei Rowohlt die ersten Taschenbücher einer „Enzyklopädie“ auftauchten, die ich mir im Laufe der Zeit vollständig einzuverleiben trachtete. So kann man nur scheitern! War es ein Wunder, dass ich am Ende auch die Geige, wenn ich schon kein Virtuose geworden bin, in den Mittelpunkt der Welt zu stellen geneigt war? Das wäre ein Extra-Kapitel in Fortsetzungen wert.

West-Östliche Violine III 1989  West-Östliche Zitate bitte anklicken (wie immer)

Die Grafik (oben) stammt von Heinz Edelmann: zweifellos hat er den Geiger als – Migranten gesehen. Und die Kritik in der Kölner Rundschau war dergestalt, dass ich sie verwahrt habe…

West-Östliche Rezension Wittersheim kl Autor: Werner Wittersheim

Natürlich sollte es weitergehen:

Südindische Violine Plakat neu 8. Januar 1994

Südindische Violine Foto Mikro-Probe (mit Tonmeister Frobeen)

Zurück zu dem Buch „Indien und Europa“. Ich kann nicht darin blättern, ohne dass mich ein zweifelndes Gefühl beschleicht. Woran liegt es? „Ein Verstehensversuch“. So viel Richtiges, aber das Entscheidende fehlt (schon im Ansatz). Zunächst wäre die Ungleichzeitig des Gleichzeitigen zu bedenken (ohne die westliche „zeitgenössische“ Welt als Trumpf auszuspielen, – es könnte der absurde Weg sein). Das traditionelle (!) indische Denken wäre mit einer „abgerundeten“ abendländischen Weltanschauung wie der des Barock zu vergleichen, nicht mit der Moderne. (Affektenlehre, Prinzip der Bewegung, Basso continuo = Tabla). Die Moderne betrifft Indien – die indische Musik – auf ähnliche Weise wie uns, – aber auch ganz anders. (Bleibt der Grundton?).

In den alten Zeiten…

als das Wünschen noch nicht nötig war und die Schatzkammern öffentlich…

Musikkulturen 1996

Zürcher 920514 Neue Zürcher Zeitung 14.05.1992

Musikkulturen Schätze 1994  Januar 1994

Musikkulturen Festival a September 1990

Musikkulturen Festival b Ein Festival der Völker seit 1976

Aus dem Folkfestival wurde das Weltmusikfestival, und es lebte noch 10 Jahre weiter, und wenn es nicht gestorben worden wäre, lebte es vielleicht noch heute.

Dies zur Erinnerung.

Hegels Gedankengebäude

Es verschafft mir Genugtuung, diesen Beitrag gerade so betitelt zu haben und nicht mit Hegels Denk-System, was hermetischer klänge. Abgesichert, unangreifbar. An dieser Mauer kann man sich nur den Kopf einrennen, im wörtlichsten Sinn. Wie froh bin ich, wenn ich entdecke, dass an irgendeiner Stelle schon Leute damit beschäftigt sind, einzelne Steine zu lockern, herauszulösen und beiseite aufzuschichten. Am Ende ist alles wieder offen.

Wie für mich damals, als Herbert Schnädelbachs „Hegel zur Einführung“ (Junius Berlin 1999) erschien, eine Einführung, die auf Seite 166 mit einem Bekenntnis zu Schopenhauer endet.

Doch nicht daraus sei zitiert, sondern aus dem Blog von Wolfgang Koch, der sich mit Walter Seitter beschäftigt, der wiederum Franz Grillparzer gründlich gelesen hat:

Grillparzer hatte Hegel 1826 persönlich in Berlin aufgesucht und den Turbodenker dabei »so angenehm, verständig und rekonziliant, als in der Folge sein System abstrus und absprechend gefunden«. Der österreichische Klassiker erkannte in dem deutschen Philosophen »einen der größten Denkkünstler aller Zeiten«, freilich einen mit »monströsen Resultaten«, die der »verrückten Methode« der Dialektik und ihrer grundsätzlichen Aufhebbarkeit von Gegensätzen geschuldet war.

Wie für den Kulturkritiker Nietzsche war für Grillparzer Hegels Gebäude grundlegend schief ausgefallen:

»Der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, ging nach mehreren Seiten. Erstens kam dadurch der natürliche Verstandesgebrauch in Misskredit. Der Verstand dessen Aufgabe die Entfernung von Widersprüchen ist, wurde einer sogenannten Vernunft untergeordnet, die sich mit der Erzeugung von Widersprüchen beschäftigt, oder vielmehr der Widerspruch selbst ist … Zweitens, indem man alles durch das Klügeln Unaufgelöste mit dem Schimpfnamen des Unmittelbaren belegte, wurde das ganze Reich der Empfindungen mit dem Charakter des Unvollkommenen, Schwächlichen, Aufzuhebenden gestempelt … Das letzte Ergebnis endlich … war ein maßloser Eigendünkel. Wie sollte auch eine Zeit, die ihren Geist als die Inkarnation des Göttlichen betrachtete, der die ganze Natur durchsichtig war, die den Schlüssel zu allen Rätseln der Welt gefunden hatte, anders sein als hochmütig, hochmütig als Menschen und, kraft des Erfinder-Privilegiums, hochmütig als Nation«.

Denk an! Grillparzer hatte sich ernsthaft in die deutschen Meisterdenker hineingelesen und Sachprobleme der Schulphilosophie selbstständig durchdacht. Wortreich beklagte er den Einfluß Hegels auf die Literatur seiner Zeit:

»Die Natur war durchsichtig geworden, die Schlüssel zu allen Rätseln der Welt waren gefunden. Gott war nur noch ein Rattenkönig aus Menschen, oder vielmehr er war ein Deutscher, da die Deutschen ihn nach ihrem Ebenbilde geschaffen, indem sie ihn demonstrierten und allein begriffen. Da die Entwicklung des objektiven Begriffs den immerwährenden Fortschritt notwendig in sich schloß, so konnten die Mitlebenden nicht zweifeln, ihren Vorgängern unendlich überlegen zu sein; wenn nicht an Talent, doch durch die Höhe des Standpunkts, auf den alles ankam«.

Quelle Wolfgang Kochs Wienblog / taz.blogs 09.11.2015 „Walter Seitter liest Hegel, Heidegger, Hitler mit Grillparzer“ von Wolfgang Koch.

Weiterlesen HIER.

Neues von Berthold Seliger

Wer wissen will, wie in etwa (oder auch im Detail) das Musikgeschäft läuft, besitzt längst sein aufschlussreiches Buch über „Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht“ (Berlin 2013 Edition Tiamat). Und wer darüberhinaus auf dem laufenden bleiben will, der liest regelmäßig seinen Presserundbrief, dessen Version 1/16 soeben eintraf, – Berthold Seliger.

Ich zitiere Auszüge und empfehle eiligen Lesern (gibt es die hier?) das Video zum Echo 2015 (am Ende dieses Beitrags).

Auf der Womex in Budapest gab es eine Session mit dem schönen Titel „Why Curation Will Save the Music Industry – The Power of Guidance in the Era of Algorithms“.
Und wer waren die Referenten? WDR-Funkhaus Europa-Chef Francis Gay und die Chefin des Lollapalooza-Festivals Berlin. Also ausgerechnet jenes Festivals, das so ziemlich das mainstreamigste und langweilste Konzertprogramm aller deutschen Festivals im abgelaufenen Jahr aufzuweisen hatte. Ganz so, wie man sich ein zum weltgrößten Konzert-Konzern Live Nation gehörendes Festival eben vorstellt, in dem die großen Namen zusammengebucht (oh, Verzeihung: zusammenkuratiert) werden, von denen man sich die größtmöglichen Profite verspricht, zu dessen Programm aber garantiert keine unbekannten Weltmusik-Acts gehören.
Wie man es schafft, ausgerechnet auf so ein Podium ausgerechnet bei der Womex ausgerechnet eine Vertreterin des weltgrößten Livemusik-Konzerns, der allüberall die kulturelle Vielfalt erschwert, Werbung für ihr Festival machen zu lassen, während unter den akkreditierten Womex-Teilnehmer*innen doch nun wahrlich genug Vertreter*innen unabhängiger Festivals aus ganz Europa zu finden gewesen wären, bleibt ein Rätsel. Und ein beträchtliches Ärgernis.

* * *

Lollapalooza Berlin 2016 hat zwar noch keinen Spielort, aber kommerziell ist bereits alles am Start: „Kommen Sie mit. Zum Melt!, zum splash!, zum Lollapalooza oder dem ‚Pure&Crafted’. Wir bieten umfassende Sponsoringberatung ‚aus einer Hand’ – und haben eine passende Medialisierung sowie Streaming-Pakete ebenfalls im Angebot“, flötet die „Festivalvermarktungsabteilung“ des HUG-Konzerns in einer Mail Ende November 2015, „Copyright © 2015 Intro GmbH&Co.KG“.
In dieser Mail steht in bemerkenswerter Offenheit, warum man Festivals wie Melt oder Lollapalooza (mit-)veranstaltet:
„Die zunehmende Fragmentierung jugendlicher Zielgruppen macht ein Engagement in jungen Umfelder immer schwieriger. Im Vergleich dazu wächst der Festivalmarkt seit Jahren und gehört zu den attraktivsten Möglichkeiten, eine Marke in jugendlichen Umfeldern zu platzieren. Musik bedeutet Emotion und Leidenschaft: Unternehmen, die sich in diesem Umfeld engagieren, werden in Umfragen überwiegend als positiv bewertet – wenn das Engagement glaubwürdig und authentisch ist. Wir bieten in unserem Netzwerk dazu optimale Marketing-Plattform quer durch alle musikalische Genres, „Millenials“ ohne Streuverluste direkt und nachhaltig anzusprechen und Markenbotschaften zu platzieren.“
Die einen kuratieren also das Ding, in dem die anderen ihre Markenbotschaften platzieren. Eine Marketing-Plattform ohne Streuverluste.
Wenn Sie dachten, da gehe es um Musik – awcmon, das haben Sie nicht wirklich gedacht, oder? So naiv sind Sie schließlich nicht? Wollen Sie M.U.S.I.K. erleben? Dann fahren Sie besser zum Fusion, nach Haldern, Roskilde, Rudolstadt oder zum Beispiel nach Barcelona zum Primavera Festival. Oder besuchen Sie den Musikclub Ihres Vertrauens.

* * *

Doch nicht nur die HUG-Unternehmensgruppe weiß, worum es wirklich geht (nämlich nicht um Kultur, sondern zuvörderst um Sponsoring und Profite). In Münster hat sich Anfang 2015 eine „Translate Entertainment GmbH“ gegründet, die „Programmplanung, Beratung, Künstlerbuchung und Organisation zum Beispiel für Corporate Events, Incentives, Galas und Stadtfeste“ sowie „inhaltliche und unternehmerische Konzeptionen für Veranstaltungen abseits vom traditionellen Konzertgeschäft“ anbietet.
Leute, die solche Firmen gründen, sprechen amtliches Musikindustriesprech, und das hört sich dann so an: „Vor Kurzem realisierte Translate für den Klambt Verlag einen IncentiveEvent mit Nena, konzipierte für einen Kunden aus dem TV ein LiveProdukt im Kids Entertainment und buchte bereits große Acts auf Veranstaltungen von Mercedes Benz, Telekom, HapagLloyd sowie weiteren Unternehmen.“ (laut „Musikmarkt“)
Gesellschafter der Firma sind Till Schoneberg mit seinem Konzertbüro Schoneberg und Florian Brauch und Florian Böhlendorf von Sparta Booking sowie Markus Hartmann von Green Entertainment. Worum es geht, fasst Translate Entertainment-Geschäftsführer Kevin Bergmeier im „Musikmarkt“ so zusammen: „…auf individuelle Anforderungen wie beispielsweise die musikaffine Inszenierung einer Marke, Entwicklung von EventKonzepten und den Einsatz eines VIP, eines Künstlers, dessen Musik oder Stimme in einer Werbekampagne können wir zielgerichtet eingehen.“

* * *

Echo? Das ist diese von der Lobbyorganisation der deutschen Musikindustrie veranstaltete Dauerwerbesendung, die das Staatsfernsehen stundenlang im Abendprogramm auszustrahlen pflegt. Alles, was Sie über den Echo @ ARD wissen müssen, habe ich anhand des Echos 2015 in weniger als zwei Minuten auf einem YouTube-Video zusammengefasst:

Autor des oben zitierten Textes und des Videos: Berthold Seliger / siehe auch hier.

Wie Frank Peter Zimmermann …

mit ein paar Worten mein Üben inspiriert hat.

Im bloßen Wortlaut kann es nicht liegen, jeder, auch ich selbst hätte mir sagen können: Du musst einfach immer wieder ganz langsam üben, und nicht verzagt beobachten, wie und wo du Probleme hast. Es ist seine einfache, ehrliche Art zu sprechen und im Kontrast dazu sein gewaltig zupackendes und sensibles Geigenspiel, – als sei es nicht derselbe Mensch, der dann sagt, er habe um dieses Werk (das 2. Violinkonzert von Béla Bartók) immer einen Riesenbogen gemacht… – bis er es dann ganz, ganz langsam geübt hat, wie in Zeitlupe, es musste ja einfach nur funktionieren. Das Wort Matrix und die Anspielung auf den Film tat ein übriges (zugegeben: ich habe den Film nie gesehen und mich erst jetzt bei Wikipedia schlau gemacht). Also – ich hab’s alles abgeschrieben, es soll auch auf andere Menschen wirken:

Frank Peter Zimmermann O-Ton:

Also erstmal war das natürlich eine Riesenfreude, als die Offerte kam, die Anfrage, eine große Ehre und [weil] das Orchester eins von meinen Lieblingsorchestern ist auf der Welt, und da hab ich mir gedacht, wenn ich schon die Chance hab mit diesem wunderbaren Orchester, dann muss ich doch meine Residence mit diesem Stück hier beginnen. 0:52

Also der Bartók gilt ja wohl weltweit bei allen Orchestern und bei allen Violinsolisten als mit das komplexeste Violinkonzert wohl überhaupt. Und wenn man dann abends aufs Podium geht und … dieser Riesenberg … oh Gott, jetzt habe ich dieses ganze Stück vor mir, und jetzt beginnt alles wieder von vorne. Auf der andern Seite, es ist so unglaublich beglückend, wenn man’s dann geschafft hat. 1:33

Ich hab’s erst mit 37 gelernt, auch weil ich da immer ’n Riesenbogen drum gemacht hab, weil es eben so komplex und schwer ist, der Violinpart, und dieses Jahr hatte ich also eine große Serie mit dem Stück. Es hat sich nicht so viel verändert in der Interpretation, das Bartók-Konzert ist, eigentlich ähnlich wie das Berg-Konzert oder wie überhaupt alle großen Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts, so, dass es eigentlich funktionieren muss erstmal, [eher] als dass man sich so wie bei Mozart oder Bach ein ganzes Leben lang … damit… ja, immer wieder musikalisch verändert. 2:33

Ich übe eigentlich dieses Werk extrem langsam. Ich sage immer, dass ich es eigentlich nur so lernen kann … indem ich es in Matrix-Art, also auf Matrix … also wenn man damals an diesen berühmten Film denkt, wie diese Kugel da auf den kleinen Keanu Reeves zukam und alles für ihn eigentlich in Zeitlupe war, so ist das, und soweit muss dann auch später so sein, wenn man es im schnellen Tempo spielt, dass es einem fast vorkommt, als ob man es [gerade] langsam übt. 3:22

Es ist für mich immer eine Zeit, wenn ich das Stück spiele, dass ich in Hochdruck lebe, eigentlich die ganzen Tage und Wochen auf der Überholspur, möchte ich mal sagen, auch innerlich. Man hat eine gewisse Unruhe, und ich glaube, man muss sich auch in diese Art von Stimmung bringen, ja quasi mit einem Killerinstinkt, dieses Stück zu spielen,-  das Orchester auch während der Aufführung reizen, dass es an die Grenze geht. In der Lautstärke oder grade auch in den zarten Momenten ist es ja manchmal auch so unglaublich still und fein und einzigartig… 4:21

Ich glaube, man hat so wahnsinnig viel Möglichkeiten für den Ausdruck, die Geige kann sein wie Elektra auf der einen Seite, auf der anderen kann sie so unglaublich zart … singen, und der Bartók hat das alles in dieses unglaubliche Werk hineingepackt… Die Geige ist 1711 gebaut worden von Antonius Stradivari. Die Geige ist wirklich ein Teil meines Körpers, ich spiele auf dieser Geige seit 9 Jahren, die Geige hat Fritz Kreisler gehört, eine Zeit lang, er hat da wahrscheinlich nie einen Ton Bartók drauf gespielt, er hat ja wenig zeitgenössische Musik gespielt, aber, nein, in Kombination mit einer phantastischen Geige gehört auch ein ganz toller Bogen, dieser Bogen ist eine Kopie von meinem [Dominique] Peccate, eine Kopie, die Herr Lucke gemacht hat, in Berlin, phantastischer Bogen, wo ich also wirklich bei Bartók das Gefühl hab, ich bekomme diesen richtigen Kern, also, mein Klang hat … ja, diesen Puszta-Klang irgendwie. 5:33

Das Interview stammt noch aus der Zeit 2010/2011, inzwischen musste FPZ die Kreisler-Stradivari dem Verleiher zurückgeben. Die Geschichte von der anderen Stradivari, die er seit kurzem zur Verfügung hat, kann man hier nachlesen.

An dieser Stelle geht es mir nur um die Methode des Übens. Im Original mit eingestreuten Beispielen aus der Bartók-Orchesterprobe mit FPZ nachzuhören in der youtube-Quelle.

Natürlich liegt es auf der Hand, mir vorzuhalten, dass meine kleine tägliche Übetätigkeit am Klavier oder mit der Geige nicht im geringsten an der Arbeit eines solchen Virtuosen Maß nehmen kann. Im Gegenteil! Es wäre nur dumm, das nicht zu tun: um wieviel mehr als er habe ich (haben SIE) es nötig, mindestens die gleiche Sorgfalt aufzuwenden und sich nicht täuschen zu lassen vom Erscheinungsbild: die Leute glauben ja immer, die besondere Leistung fiele den Meistermusikern in den Schoß, weil es bei ihnen so leicht und organisch aussieht. Es gibt genug Gründe, mich (oder Sie) zu entmutigen, aber keinen einzigen, uns am richtigen Üben zu hindern. Jede positive Erfahrung, die dabei herauskommt, ist mehr Geld wert, als eine langwierige Therapie beim Psychotherapeuten…

Meine aktuellen Probleme sind leicht benannt (man muss sie eingrenzen!):

  1. Chopin-Etüde op. 21 Nr.6  gis-moll Terzentriller – begonnen etwa Juni 2015 (siehe hier)  Ziel: ein Stück zu lernen, an das ich mich in meiner Studienzeit nicht herangetraut habe. Es geht jetzt nur noch um die Terzenläufe.
  2.  Schumann-Quartett op. 41, Nr. 2 und 3, zweite Geige, Problemstellen mit nachschlagenden Achteln. (Worum es geht? Siehe hier Video ab 1:34). Man kann sie lernen, indem man sie mit der Melodiestimme am Klavier übt (oder zur Geige singt), sehr langsam. Mir kommt aber zu Bewusstsein, dass ich immer schon Schwierigkeiten hatte, zum Beispiel in sehr schnellen Strauß-Polkas, wenn die nachschlagenden Achtel sich über mehrere Zeilen hinzogen und die Gefahr besteht, dass sie zwischendurch „umschlagen“ und plötzliche auf die betonte Zeit springen. Man kann (darf) nicht „switchen“.

Es ist übrigens sehr einfach zu üben, aber man braucht Geduld. Ich muss mir physisch die Chance geben, es zu verinnerlichen. Zeitlupe, – bis es mir auch im schnellen Tempo wie in Zeitlupe erscheint. Ich mache mir einen Plan, ich muss das Problem sonnenklar vor mir liegen haben:

Chopin gis-moll Terzenläufe  Chopin

Schumann nachschlagend  Schumann 41,2

Schumann nachschlagend b  Schumann 41,3

***

1 als Zeitlupe-Übung

Chopin gis-Lauf Übung

2 als Klavierfassung

Schumann Scherzo Trio

3 als Klavierfassung (cum grano salis)

Schumann 41,3

Zugegeben: so kann man’s nicht spielen, weder auf dem Klavier noch auf der Geige. Ich lasse es trotzdem erstmal stehen.

Die Vorübung für das schnelle Nachschlagen ist sehr einfach, wird erst bei äußerster Präzision und längerer Dauer problematisch. man kann leicht Varianten erfinden. Mit dem Fuß als Taktschläger, aber auch ohne; ohne Metronom, aber auch mit Metronom, Viertel = 120. Falls das Schwierigkeiten macht, bei 60 beginnen und allmählich aufwärts. Nicht Fuß und Metronom gleichzeitig. Denn vor allem gilt: absolut mühelos. Wie im Schlaf. Rumänische Tanzgeiger können es stundenlang. (Sie spielen beim Nachschlagen auch Abstrich/Aufstrich, mit Bogen an der Saite!)

Nachschlagen Geige

Und jetzt folgt die Schumann-Stelle, sträflich vereinfacht, auch transponiert, man sollte die Melodie singen oder pfeifen und dabei lässig die nachschlagenden Quinten ausführen. Es muss in Fleisch und Blut übergehen, – die zwei hier tätigen Geister sollen halt (wie soll ich sagen?) ein Fleisch werden.

Schumann nachschlagend einfach

Vorläufiges Ende der Übung auf dem Papier. Es ist ein Übung der Gleichmäßigkeit. Ein Lob dem Metronom! Under Psychologie: es ist ein Unterschied, ob ich „nachschlagend“ denke oder „auftaktig“ (offbeat). Synkopen (in Vierteln) sind ja ohnehin kein Problem. Ich habe das Problem gewissermaßen geschaffen, um es auf anderem Niveau zu lösen. Bewusstsein einschalten, um es nacher leichter ausschalten zu können. Oder „zu schalten und zu walten“.

Weiter! (7.2.16) Viertel (nur) 120

Schumann off beat übung

Musikkulturen landesweit?

Ja, dieses Angebot scheint doch noch zu bestehen:

WDR Weltmusik Screenshot 2016-01-24 08.24.14

Ein Nostalgie-Link? Es war einmal… Irre ich mich, oder findet man wirklich im gesamten Radioprogramm Januar 2016 keine einzige Sendung mehr, die zur Rubrik „Weltmusik“ oder „Musikkulturen“ gezählt werden könnte. War das der Sender, auf den wir gebaut haben? Der nicht mehr existiert?

Ist das schon eine gravierende Nebenwirkung der Flüchtlingsströme? Augen zu, Ohren zu und vorbeirauschen lassen? Wegschauen, wegschieben als rein organisatorische Frage. Integration hat doch mit uns nichts zu tun, mit unserer Kultur (für kurze Zeit auch bekannt unter dem Namen „Willkommenskultur“); es ist doch die Aufgabe der Anderen. Wenn sie schon mit leeren Händen kommen. Was soll es denn da auch gegeben haben… Märchen aus Tausendundeiner Nacht…

P.S.

Ich habe doch noch etwas entdeckt, – sorgfältig verborgen in der täglichen Nachtsendung „Jazz & World“, was bedeutet: Jazz im Überfluss und offenbar einmal pro Woche ein Quentchen „Weltmusik“, am Mittwoch. Vielleicht nur der Auftakt zu den großen Konzerten der Musikkulturen und den Festivals, von denen wir noch nichts erfahren?

Nachtrag 18. Februar 2016

Neuerdings wird behauptet: Der WDR schafft die Welt ab. Man möchte es nicht glauben, aber schauen Sie doch selbst – HIER

Sehnsucht und Aggression

Die Sicht von ganz unten

Im SPIEGEL 3/2016 gibt Slavoj Žižek – ausgehend von Alain Badiou – folgende Erklärung für den islamischen Fundamentalismus, der im Westen oft als religiöses Phänomen missdeutet wird. Weil sich die Sehnsucht nach westlichem Lebensstil für die meisten nicht erfüllen kann, bleibt nur der Weg einer nihilistischen Umkehrung der Sichtweise:

Frustration und Neid werden radikalisiert (…) und Menschen beginnen, gewalttätige Rache zu nehmen. (…)

Badiou betont zu Recht, dass die fundamentalistische Gewalt kein emanzipatorisches Potential besitzt, egal wie antikapitalistisch sie zu sein vorgibt: es handle sich um ein Phänomen, das ein strenger inhärenter Bestandteil des globalen kapitalistischen Universums ist, sein „verstecktes Phantom“. Die Grundlage des fundamentalistischen Faschismus sei Neid (…), und der Islam liefert, so Badiou, lediglich die äußere Form, um diesen (selbst-)zerstörerischen Hass zu begründen.

(…)

Islamischer Fundamentalismus ist ein zutiefst reaktives Phänomen, im nietzscheanischen Sinne, ein Ausdruck der Machtlosigkeit, die in selbstzerstörerischen Zorn verwandelt wird. Badiou sagt auch: „Religion ist lediglich ein Mantel, sie ist in keinerlei Hinsicht der Kern der Sache, lediglich eine Form der Subjektivierung, nicht der eigentliche Inhalt der Sache.“

Er kann es gar nicht oft genug wiederholen, und noch einmal, um es zu verallgemeinern:

Ich stimme in vielem mit Badiou überein. Aber ist Religion nicht immer eine Art Mantel, nicht der Kern der Sache? ist sie nicht tatsächlich ein Modus, in dem einzelne Menschen die Umstände ihres Lebens betrachten, auch weil sie keine Möglichkeit haben, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge so zu sehen, wie sie „wirklich sind“? Badiou schlägt auch vor, hinzugehen und zu sehen, „wer die anderen, von denen die Rede ist, wer sie wirklich sind“. Als müssten wir ihre Gedanken, ihre Ideen, ihre Vision der Dinge sammeln und daraus gemeinsam, sie und wir zugleich, eine Vision vom Schicksal der Menschheit entwickeln. Diese Annahme aber, dass hinter dem Teufelskreis aus Verlangen, Neid und Hass irgendein tieferer menschlicher Kern der globalen Solidarität stünde, ist Bestandteil einer naiven, humanistischen Metaphysik.

Ich habe nicht damit gerechnet, dass der Gedankengang so ausgeht, denn allzu oft geben wir uns mit dem humanistischen Appell zufrieden, nur um endlich Ruhe zu haben und – uns abwenden können. Und mit dieser Diagnose hätte das inzwischen gebrandmarkte Wort vom Gutmenschen doch noch einen Zweck erfüllt: als ein Motiv, die Sachen besser zu durchdenken. „Gut“ genügt nicht. Vielleicht noch weniger im Blick auf Silvester in Köln:

Es war nicht einfach der Drang sexuell ausgehungerter junger Männer nach Befriedigung – das könnte man diskreter und versteckter erledigen -, es war in erster Linie ein öffentliches Spektakel, um Angst zu verbreiten, die „Muschis“ der privilegierten Deutschen einer schmerzhaften Hilflosigkeit auszusetzen und um sie zu demütigen. Natürlich ist in solchem Karneval nichts Erlösendes oder Emanzipatorisches, nichts wirksam Befreiendes – aber so funktionieren echte Karnevals.

Deshalb sind die Bemühungen, [diese Schicht von] Migranten aufzuklären, ihnen zu erläutern, dass bei uns andere sexuelle Sitten und Gebräuche herrschen, dass beispielsweise eine Frau, die in der Öffentlichkeit einen Minirock trägt und lächelt, damit keine sexuelle Einladung ausspricht, Beispiele atemberaubender Dummheit. Sie wissen das, und deshalb tun sie es. Sie tun es gerade, weil sie unsere Empfindlichkeiten verletzen wollen. Es kann also nicht darum gehen, ihnen beizubringen, was sie schon wissen, sondern ihre Haltungen, ihre Einstellungen, ihren Neid und ihre Aggression zu verändern und abzubauen.

Und das ist die schwierige Lektion aus dieser ganzen Affäre: Es genügt nicht, den Underdogs eine Stimme zu geben, sie so zu sehen, wie sie sind. Um sie wirklich zu emanzipieren, müssten sie zur Freiheit erzogen werden. Von anderen und von sich selbst.

Quelle DER SPIEGEL 16.1.2016 Seite 128 Der Karneval der Underdogs Was wir aus der Kölner Silvesternacht lernen sollten. Von Slavoj Žižek.

„… müssten … erzogen werden“? Also: in die Volkshochschule mit ihnen? Ist er da nicht wieder, in anderem Gewande: der lediglich etwas moderatere humanistische Appell, mit dem wir uns ins Privatleben zurückziehen können. Die Frage wäre allerdings, was wir tun können. 

P.S.

Ich hätte den Essay nicht behandeln müssen: die FAZ hat, wie ich sehe, den Artikel gerade heute als These 3 – „Sexuelle Gewalt als Unterschichtenphänomen“  in ihre Deutungsangebote aufgenommen:

Wie konnte es zu den Taten von Köln kommen? Wieso griffen mutmaßlich aus Nordafrika stammende Männer in der Silvesternacht Frauen in Köln an? Liegt es an der Herkunft, am Islam oder an der sozialen Lage? Die Täter sind nicht gefasst, aber es gibt schon Erklärungsversuche. FAZ.NET stellt die wichtigsten vor. 20.01.2016, von Reiner Burger, Oliver Georgi und Timo Steppat.

Warum ich Slavoj Žižek ohnehin aufmerksam wahrnehme? Weil er so wie kein anderer Philosoph über Sibelius und Wagner geschrieben hat… (nämlich in: „Parallaxe“ Suhrkamp 2006).

Nachschrift 

Ein Absatz auf der Titelseite der ZEIT passt als Ergänzung ebenso wie als Gegenargument:

Keine Frage, der Westen hat eine lange Tradition des Patriarchats. Noch in den sechziger Jahren war es ein Drama, als unverheiratete junge Frau allein auszugehen, erst recht im Minirock und geschminkt. Sex war ein Drama, auch für ledige Männer, weil er sich im Halbseidenen, in Puffs und auf Autorückbänken, vollzog. Das autoritäre Klima der frühen Bundesrepublik wurde zu Recht ausgiebig beklagt. Wenn es überwunden wurde, dann nicht, weil man ausgesucht tolerant gegenüber der Rückständigkeit der Provinz, gegenüber den Kirchen und ihren Wertvorstellungen gewesen wäre.

Heute müssen wir über die konkreten sozialen und kulturellen Hintergründe der Täter sprechen. Nicht wenige sind illegal im Land und befinden sich damit am untersten Ende der Einwandererhierarchie. Macht wird daher durch die Demonstration körperlicher Überlegenheit und gewalttätiger Virilität erworben – womit die Übergriffe nicht gerechtfertigt, aber zum Teil erklärt werden können. Über das Oktoberfest können wir ja ein andermal sprechen.

Quelle DIE ZEIT 21. Januar 2016 Seite 1 Bitte nicht stören! Woher kommt das Bedürfnis, jeden noch so handfesten Skandal sogleich zu relativieren? Von Adam Soboczynski.

Anmerkung: Der Schlusssatz über das Oktoberfest bezieht sich auf den vorausgegangenen Teil des Artikels. Ebenso lesenswert! Schauen Sie doch einfach hinein: HIER.

Streichquartett-Paradigma

KELEMEN in KÖLN

Kelemen Screenshot 2016-01-19 10.14.36

Nehmen wir also dieses Quartett als Paradigma. Warum? Weil das Programm so außergewöhnlich ist, dass man die ganze Musik daran lernen kann. Die Kunst des Hörens an der Kunst der Darstellung. Purcell – Polyphonie, Schafer – Klangwelten, Bartók – Emotion, Haydn – Konversation über 1 Thema.

Purcells Fantasien (1680) sind frühe Meisterwerke der Polyphonie, denen man allerdings nicht gerecht wird, wenn man sie an Bachs „Kunst der Fuge“ misst, die bisweilen in Quartettkonzerte einbezogen wird. Sie sind einerseits archaischer, 70 Jahre vor Bachs Alterswerk, andererseits die Arbeiten eines Zwanzigjährigen, der sich möglicherweise an der Madrigalkunst der Renaissance orientierte, die schon seit 1560/70 in England bekannt war. Vor allem sind die „Fantasien“ keine Fugen, wenngleich sie mit Imitation arbeiten. Wobei das Wort Imitation irreführt: es bedeutet nicht Gedankenarmut, sondern Beziehungsreichtum.

Purcell Fantasia orig Motive

Purcell 11. Fantasia No. 9 in 4 parts in A minor, Z 740 (23 June 1680) 34:27 / Höraufgabe: Was kann man in diesem kleinen Abschnitt zum motivischen Zusammenhang sagen? (Einzeichnen!)

Purcell Fantasia Anfang

Die Bezeichnung Z.740 bedeutet Zimmermann-Verzeichnis Nr. 740. Wenn man unter diesem Link nachschaut, bemerkt man (ebenso wie in der Jordi-Savall-youtube-Aufnahme), dass Nr. 744 fehlt. In MGG neu Bd.13 Sp.1057 steht: „(1683) [Z.744] unvollst.“. Ich vermute, dass Kelemen an dieser Stelle eine Überraschung platziert, ähnlich wie Artemis unmittelbar an Bach einen Piazzollo anschließt.

Die englische Musik dieser Zeit war durch Eigenschaften wie deklamierende Textvertonung, die Verwendung von Tanzmetren und von zumeist zweiteiligen Tanzformen in Vokal- und Instrumentalmusik geprägt und hatte die Vokalmusik der Renaissance mit ihren imitativen Einsätzen zum Vorbild; sie verfügte jedoch noch nicht über die Konstruktionsprinzipien der späteren barocken Fugenkomposition. Querstände und andere Arten unvorbereiteter Dissonanzen kommen häufig vor. Sie ergeben sich gelegentlich durch freie Stimmführung, meist jedoch durch Ausdrucks- oder Klangwirkungen. (Robert Thompson in MGG a.a.O. Sp. 1958)

Das oben wiedergegebene Notenbild stellt nur den 1. Teil der Fantasia dar (den im wahrsten Sinne „Grund“ legenden – in Gestalt des langen Basstones A ebenso wie im chromatischen Aufstieg zum Ton E  und in dem unglaublich langen Abstieg zum tiefsten E); es folgen drei weitere Teile, die leicht am Tempowechsel zu erkennen sind und auch andere Motive (auf ähnliche Art) verarbeiten.

Ein Satz aus Murray Schafer’s Streichquartett Nr. 3, gespielt vom Quartett SLSQ: HIER. (Bitte – nach Anklicken – nicht erschrecken! Es könnte zu laut eingestellt sein!)

Dem Streichquartett Nr. 2 von Murray Schafer dagegen geht die Warnung voraus, dass Sie eventuell gar nichts hören, wenn Sie es einschalten. Tun Sie es trotzdem und regeln Sie die Lautstärke nach Bedarf selbst. HIER.

In seinem Kommentar zu den Haydn-Quartetten des Labels TACET schreibt Thomas Seedorf:

Von den vielen Beinamen, die Quartetten Haydns von der Nachwelt gegeben wurden, ist wohl keiner so zutreffend wie jener, den das d-moll-Quartett aus Opus 76 trägt: „Quintenquartett“. Das Intervall der Quinte wird schon im Hauptthema des ersten Satzes demonstrativ zur Hauptsache erklärt, der Satz selbst ist eine Tour de force fantasievollen Komponierens mit einem Minimum an musikalischem Material. Kontrapunktische Künste, die im Eingangssatz fast unmerklich in die dramatische Entfaltung des Quintmotivs einfließen, werden von Haydn im Menuettsatz machtvoll nach außen gekehrt: Das (sic!) Hauptteil ist als strenger Kanon angelegt, der von den beiden Violinen und dem Bratsche-Violoncello-Paar in Oktaven intoniert wird – ein Stück von unheimlicher Wucht, die dem Stück den Beinamen „Hexenmenuett“ eingebracht hat.

In a letter to violinist Stefi Geyer, Bartók described the opening movement of this quartet as his „funeral dirge“ [Totenklage]. The quartet’s first four notes — two descending minor sixths played imitatively by the first and second violins — are nearly identical to the opening motif of the second, giocoso, movement of the Violin Concerto No. 1 (1908), Bartók’s musical portrait of Geyer, with whom he was unrequitedly in love. Bartók dealt with the rejection of his love in a series of autobiographical works, of which this quartet is the culmination. Kodály called this quartet a „return to life,“ and its three accelerating movements (Lento, Allegretto, and Allegro vivace) plainly trace a course from the Liebestod-like anguish of the convoluted first movement to the heady, forceful finale.

siehe Quelle des Kommentars hier

Im Grund ist es müßig, nach Umwandlungen des „Stefi-Geyer-Motivs“ zu suchen: eindeutig bezeugt für die vier ersten Töne der Violine im 1. Violinkonzert, dessen erster Satz identisch ist mit dem ersten der „Deux Portraits“ op. 5. Zweifellos erinnern auch die ersten vier Töne (1. und 2 Geige) des Streichquartetts auf Anhieb an die ersten vier Töne der Solovioline im zweiten Satz des Violinkonzertes. Es genügt wohl, von diesem psychologisch-autobiographischen Hintergrund der verschiedenen Werke des jungen Bartók zu wissen, ansonsten kann man sich getrost auf die Musik konzentrieren. Das Vierton-Motiv ergibt ein Fugato, dessen polyphones Gewebe alles andere als gelehrt wirkt – dem paarigen Einsatz der beiden Violinen folgt im 8. Takt ein ähnlicher von Bratsche und Cello; zuvor eine charakteristische Verwendung von Terzenparallelen, die für das ganze Werk konstitutiv bleibt. Man hat an die Terzen im „Tristan“ erinnert, die im Vorspiel des Dritten Aktes die Stimmung der Liebesklage und der zehrenden Sehnsucht prägen.

Tristan III

Die Seufzer-Sekunde, deren Jammer den Mittelteil des ersten Satzes im Streichquartett erfüllt, steht im großen Kontext, der von der barocken Affektenlehre bis zu Gustav Mahler reicht:

Bach Triosonate Bach: Triosonate „Musikalisches Opfer“

Mahler Klage-Sekunden + Terzen  Mahler: Lied von der Erde  „Der Abschied“

Bartók Klage-Sekunde Bartók: 1. Streichquartett 1. Satz Mittelteil

Es sind die „Tristan“-Gesten (s.o.), mit denen auch der 2. Satz des Quartetts beginnt.

Bartók Str I Satz II

Béla Bartók Streichquartett Nr. I, gespielt vom Takácz-Quartett Hier

Im Youtube-Fenster sind auch die Einzelsätze anklickbar, („Mehr anzeigen“ öffnen!) – wie folgt:
00:00 1. Lento
09:14 2. Poco a poco accelerando all’allegretto
17:23 3. Introduzione: Allegro vivace

In den 80er Jahren habe ich mir mal zwei besonders zielgerichtete Arbeitsphasen „auferlegt“, nämlich sämtliche Beethoven-Quartette live zu hören (in der Kölner Philharmonie mit dem Alban-Berg-Quartett, begleitend habe ich alle CD-Aufnahmen dieses Ensembles erworben, auch die Gesamtpartituren nebst Sekundärliteratur erarbeitet) und mich für ein Bartók-Seminar in Szombathély/Ungarn vorzubereiten. Was lag näher als auch die CDs der 6 Bartók-Quartette mit dem Alban-Berg-Quartett einzubeziehen? Der Booklet-Kommentar von Paul Griffiths zum ersten Quartett kann eine eigene Vorstellung vom Aufbau des Werkes  sehr schnell auf den rechten Weg bringen (ich werde nachträglich die zur obigen Aufnahme – die man dann am besten in einem separaten Fenster öffnet – passenden Zeitangaben einfügen). Zu Beginn spricht er über die drei Sätze, „die zunehmend schneller, energischer und entscheidungsfreudiger werden, als skizzierten sie tatsächlich das Erscheinen einer neuen Stimme.“ (Er meint die neue kreative Phase im Leben des jungen Bartók.)

Es gibt sogar motivische Verbindungen, die diese Pointe unterstreichen, denn der fallende Halbtonschritt im Mittelteil des ersten Satzes wird sukzessiv erweitert, bis er zunächst das Hauptthema des Allegretto und dann das  Allegro vivace bildet. Gleichwohl besteht der Großteil des ersten Satzes aus imitierender Polyphonie, die von einem – seinerseits aus paarweise absteigenden Sexten (F-As, C-E) entwickelten – Violinduett ausgeht. Die beiden Sextebn ergeben zusammen die Moll-Version eines Motivs, das Bartók in dem für Stefi Geyer kompponierten Konzert mit der Widmungsträgerin assoziiert hatte; der ganze Satz, den er al einen Begräbnisgesang beschrieb, könnte verstanden werden im Lichte ihrer persönlichen Beziehung zueinander – obwohl er auch Bartóks Abschied von der Spätromantik kennzeichnet. Der zweite Satz ist noch verworren [im engl. Orig.: „still confused“], was vor allem an der Ganztonleiter zu bemerken ist, die ganz offen als Skala (11:30 und 16:08) präsentiert wird; obwohl er ihrer kaum wird gewahr gewesen sein, benutzt Bartók wie Schönberg, Berg, Webern und Strawinsky zur selben Zeit Ostinati (15:30), um eine Musik zu stabilisieren, in der der Sinn der Tonalität aufgeweicht wurde.

Noch auffälliger treten die Ostinato-Bildungen im Finale in Erscheinung, das – wie das Allegretto – eine Art Sonatensatz darstellt, mit dem Vorwort einer Introduktion aus akkordischen Ausrufen, die die Rezitative des Violoncellos und der ersten Violine voneinander trennen (17:23 bis 18:57). Zudem wird der Satz von einem Variationselement so intensiv belebt, daß er zeitweilig auf Parodie hinausläuft. Weite Teile der „Durchführung“ sind beispielsweise ein Fugato (19:43), dessen abruptes Hauptthema in ein verspieltes grazioso-Subjekt (23:01)  umgekrempelt wird; und vor (!) dieser Passage hat das Thema eine andere Maske aufgesetzt – gleichsam die Melodie zu einer banalen, quasi opernartigen Begleitung in gis-moll (22:40). Das ist typischer Bartók – wie auch die Umformung des vorwärtsjagenden zweiten Themas in eine leidenschaftliche Adagio-Klage (20:53, 26:25)  oder die hurtige Verdrängung dieses Gedankens durch seine Inversion (21:42, 27:04). Ebenso charakteristisch aber wie die gewaltigen Variationen sind die rhythmischen Energien dieser Musik: Synkopierung des Zweiertaktes, der als Metrum vorherrscht. Nicht zum letzten Mal ist Bartók in einem Volkstanz-Scherzo am deutlichsten er selbst.

Autor: Paul Griffiths (Übersetzung EMI Electrola GmbH)

Ich schreibe nicht ohne Skrupel: Hat man etwas von diesem Text, wenn man nicht zugleich die Partitur studiert und die Musik hört? Eine Freundin schrieb soeben: Deine Vorbereitung auf Montag ist sehr erhellend, wenngleich ich das Lesen im Vorhinein oft nicht mit dem Life-Hörerlebnis  so gut zusammenbringe. Sie hat recht! Ohne Hören und hörendes Identifizieren des Gelesenen hat das alles keinen Zweck. Aber genau das ist doch das Ziel. Also: ich bin noch lange nicht fertig… (Zwischenfrage: Ist die ganze Aktion nicht übertrieben? Ein Konzert ist ein Konzert, – kein Studiengang. Falsch, falsch, falsch. Jeder Musiker, der ein Stück übt, weiß warum. Nämlich: weil es dabei immer schöner wird. Vorbereitet zuzuhören ist so ähnlich wie bewusster leben. Leben! Wissen Sie, wie lange Bartók an diesem Stück wie um sein Leben gearbeitet und „gelitten“ hat? Und wir wollen es 30 Minuten lang primavista über uns ergehen lassen, ins Programm schauen und sagen: Und was kommt nun? Ah, Haydn, – schön!)

Aber eins ist sicher: die Welt ist weit und wird durch Globalisierung nicht enger, sondern durchlässiger. Und alles ist zugleich da und ergibt mehr Wechselwirkungen als je zuvor.

Haydn Quinten-Quartett („Haydn“ bitte anklicken)

Nach dem Konzert

Jetzt müsste ich alles neu schreiben, aus einer anderen Sicht. Letztlich hat das Streichquartett von Schafer die Beleuchtung des Ganzen verändert (nicht nur im wörtlichen Sinne: indem es aus völliger Dunkelheit auftauchte). Die Purcell-Fantasia in a-moll, deren Anfangsteil ich mir für Klavier umgeschrieben hatte, fehlte ganz, ansonsten gab es eine neue Reihenfolge, – nach Purcell Bartók, Pause, Schafer, Haydn. Um es kurz zu machen: Es war, als würde das Quartett-Spiel hier neu erfunden. Nur ein einziges Mal habe ich eine solche Stille in der Philharmonie erlebt, wie jetzt in der Aufführung des Schafer-Quartetts: in einem Nô-Spiel am 28.10.2005.

Um ein Ende zu finden, lasse ich nur das aktuelle Bild des Quartetts in veränderter Besetzung folgen (die Beschriftung unter dem Foto ist irreführend; ganz links: Gábor Homoki. Wer auf dem Foto am Anfang dieses Beitrags Oskar Vargas sein soll, bleibt ein Rätsel; ich erwähne das nur, weil im Internet-Auftritt auch die Ermahnung zu lesen ist, die Biographie absolut unverändert wiederzugeben):

Kelemen Screenshot 2016-01-26 10.43.50 KELEMEN Quartet

v.l.n.r.: Gábor Homoki – Katalin Kokas – László Fenyö – Barnabás Kelemen

Bedauerlich: man findet keine Konzerttermine für 2016. Ich würde auch weitere Reisen unternehmen, um dieses Quartett noch einmal zu erleben. (Unbedingt live!)