Archiv für den Monat: Mai 2023

Die Kraft des Orgelwerks BWV 541

Zeugnis der Jugend oder der Reife?

Ich, Ich, Ich – ich höre bis genau 6:50 – von viel Bekümmernis…

Und richte mich wieder auf,neue Kraft fühlend“ (Beethoven):

Orgel 541 a die Noten (alte Bach-Ausgabe) als pdf.

Quellen Hans-Joachim Schulze: Nachwort zur Faksimile-Ausgabe Leipzig 1996 / Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach S.Fischer Frankfurt a M 2000 (Seite 141)

Entstehungszeit: Leipzig

“Das G-Dur” – so wird BWV 541 im Sprachgebrauch der Organisten allgemein heraushebend genannt – ist eines der bekanntesten und meistgespielten Bachschen Orgelwerke überhaupt. Aus gutem Grund natürlich: der fröhliche, mitreißende Überschwang des Präludiums und der heitere Ernst der musikalisch vielschichtigen Fuge nehmen jeden Hörer sogleich für sich ein. Darüber hinaus überzeugt die geschmeidige, zugleich unnachahmlich souveräne, ungezwungene Faktur des Ganzen, die das Werk den Leipziger Jahren, der Zeit vollkommener Meisterschaft Bachs zuweist.

Die musikwissenschaftliche Quellenforschung hat für das Werk folgende Entwicklungsstadien hochwahrscheinlich gemacht: Aus der Auswertung zahlreicher Abschriften läßt sich erschließen, daß Bachs (nicht erhaltene) Erstniederschrift wohl in den allerersten Leipziger Jahren entstanden ist. Um einiges danach nahm er eine Reihe von Verbesserungen vor und fügte zeitweise zwischen Präludium und Fuge den Triosatz BWV 528/3 in e-moll ein (vgl. das zur Entstehungsgeschichte der Triosonaten BWV 525-530, sowie das zu Präludium und Fuge C-Dur BWV 545 Gesagte!). Nicht vor 1733, vielleicht auch erst in den 1740er Jahren, wie es heißt, schritt er dann mit weiteren Änderungen und Korrekturen zur Endredaktion, wobei der Triosatz keine Aufnahme mehr fand. Diese Endfassung ist uns autograph erhalten; BWV 541 ist somit eines der wenigen freien Orgelwerke Bachs, die uns in authentischer Version vorliegen.

Zitat aus: Joachim Winkler hier

Zu Bernard Winsemius siehe Wikipedia hier

typisch der späte Bach?

Auf jeden Fall: Eine musikalische Form, deren Betrachtung Kraft spendet!

Wie höre ich die Form der Fuge, wenn ich kein Notenleser bin? Zumindest die Zeilen mit den Pausen (leeres System) kann ich erkennen – ein wichtiges Zeichen: der Tonsatz, der sich auf der ersten Seite von Stimmeinsatz zu Stimmeinsatz anreicherte, bis zur Vierstimmigkeit, wird dünner, durchsichtiger, nämlich dreistimmig (Seite 2) und sogar zweistimmig (Seite 3), bis zum auffälligen Themeneinsatz im Bass, dem weitere Einsätze, auch unvollständige, in dichtem Wechsel folgen. Gipfelpunkt Fermate auf vermindertem Akkord. (Seite 4) Danach noch dichtere Folge von Themeneinsätzen, vom Bass her, Grundtonart, sich auftürmend, bis zum gehaltenen Sopran-Grundtonart, gehalten Bass-Grundton, thematischer Abschied in der Unterstimmen.

Es hat also keinen Sinn, wie etwa im Wohltemperierten Klavier „Durchführungen“ zu nummerieren und miteinander in Beziehung zu setzen.

Zu allererst: die Geschichte des Themas verfolgen, dann die Zutaten (Motivik) zu registrieren: zum Beispiel folgt nach dem ersten Durchgang (Seite 1) – mit dem Thema in Alt, Tenor, Bass und Sopran – ein Zwischenspiel mit der Vorahnung (Tonrepetition) und (Seite 2) dem versteckten Neubeginn des Themas im Alt (wie am Anfang), Verdünnung des Satzes zur Dreistimmigkeit mit Vorahnung  und (1 Oktave tiefer) Thema im Tenor (durch Terzparallelen im Sopran verstärkt), danach echte Schlusskadenz im Bass und Zwischenspiel (Laufwerk),  ausgedünnt in Dreistimmigkeit (und Zweistimmigkeit), bis (Seite 3) Neuansatz des Themas im Bass (D-dur mit Laufwerk), dann Thema im Sopran, echte Kadenz A-moll (Seite 4). Abspaltung  Thementeil + Engführung bis Thema im Bass, mündet in Fermaten-Stopp. Danach Affirmation als Themendurchgang Alt, Sopran, Tenor (Orgelpunkt dazu im Sopran und kurz danach auch im Bass), feierliche Schlusstakt-Auflösung.

Hören Sie es? Jetzt wird es also ernst, – Form komprimiert auf kürzeste Hinweise: Wahrnehmen und Erkennen, was passiert, da draußen an der Orgel – und in unserm Gemüt. Wer den Kraftzuwachs erwartet, – erhält ihn auch… Das ist Fügung durch FUGE. Jugendfuge.

Kurzfassung (mit Zeitangaben, bezogen auf die obige Aufnahme mit Bernard Winsemius):

Beginn 3:20 – Durchgang Ende 4:10 – versteckter Neubeginn 4:35 – echte Schlusskadenz 5:14 –  Zwischenspiel bis 5:55 = Neuansatz Thema im Bass – in Sopran A-moll bis 6:26 – Engführung Teilthema bis Thema im Bass 6:34 und zur Fermate 6:55 – Themendurchgang Affirmation bis Ende 7:40

P.S.

Was hätte Bach wohl gesagt zu meinen wenig professionellen Höranweisungen in Sachen „Fuge“? Ein hochprofessioneller Zeitgenosse hat sich daran erinnert, als er einmal über die Fuge schlechthin nachdachte (farbige Hervorhebung von mir):

Bedenken Sie einmal, wie vielmal man den Hauptsatz in einer Fuge hören muß. Wenn man ihn nun noch dazu in eben denselben Tonarten, es sey gleich höher oder tiefer, ohne was anders dazwischen, immer in einem weg hören muß, ist es alsdenn möglich, den Ekel zu verbeißen? Wahrlich, so dachte der größte Fugenmacher unserer Zeiten, der alte Bach, nicht. Sehen Sie seine Fugen an. Wie viel künstliche Versetzungen des Hauptsatzes in andere Tonarten, wie viel vortreflich abgepassete Zwischengedanken finden Sie da nicht! Ich habe ihn selbst einmal, als ich bey meinem Aufenthalte in Leipzig mich über gewisse Materien, welche die Fuge betrafen, mit ihm besprach, die Arbeiten eines alten mühsamen Contrapunktisten für trocken und hölzern, und gewisse Fugen eines neuern nicht weniger großen Contrapunktisten, in der Gestalt nämlich, in welcher sie aufs Clavier appliziret sind, für pedantisch erklären hören, weil jener immer bei seinem Hauptsatze, ohne einige Veränderung bleibt; dieser aber, wenigstens in den Fugen, wovon die Rede war, nicht Feuer genug gezeiget hatte, das Thema durch Zwischenspiele aufs neue zu beleben.

Quelle F.W.Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst -Berlin, 9.2.1760 III/701

P.P.S 1.6.23

Noch bin ich im Zweifel, ob ich das Wort „Feuer“ inhaltlich so eng (oder so weit?) fassen darf, da schlage ich die neue ZEIT auf, lese (nach dem Artikel über Fledermäuse – gestern Nacht hatte ich sie am Himmel über dem Garten gesichtet!) mit wachsendem Interesse den Artikel des Lebensphilosophen Wilhelm Schmid, den ich einst beim Kongress in Dresden kennengelernt habe und jetzt meist mit Vorsicht umgehe, und er macht hier aufmerksam auf das Wort „Feuer“ in einer Bach-Kantate (Pfingst-Kantate, eine andere als die, die ich kennengelernt habe).

O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe,
Entzünde die Herzen und weihe sie ein.
Lass himmlische Flammen durchdringen und wallen,
Wir wünschen, o Höchster, dein Tempel zu sein,
Ach, lass dir die Seelen im Glauben gefallen.

Mein Pfingsten TV

Sendungen, die ich von A-Z erlebt habe

Also: ohne etwas anderes nebenbei zu tun. Sendungen, die ich auch ein zweites Mal einschalten würde…

Tatsächlich bin ich in beide Sendungen „hineingeraten“ und konnte mich nicht wieder lösen. Warum? Es ist die größte Musik, die existiert, zudem in bestmöglicher Aufführung. Beim ersten Chor dachte ich noch: natürlich zu schnell, aber virtuos gesungen. Bei Beginn der Johannes-Passion alles klar, die Sprünge im Verlauf begannen mich zu interessieren, die Übergänge, die hinreißenden Rezitative des Solisten, der Bass, die sparsame, aber überzeugende Regie des Chores. (Meine Sondersituation: alle Passionen etc. hundertmal auf der Bühne oder im Publikum miterlebt. Sie altern nicht!) Nach Schlusschor (der Bogen schließt sich), wird der Einzel-Choral folgen? nein – es geht weiter – warum, wohin? Übrigens: diese Bass-Arie mit den Einwürfen des Chores – unglaublich gelungen! Und ich habe den Sänger nicht erkannt: auf unserer Tournee mit dem Weihnachtsoratorium mit den Tölzern war er es, der erstmals als Bass einsprang, damals, als Quasthoff wegen Erkältung aufgeben musste: Christian Immler ! Aber wer ist der Rezitativ-Sänger? „Und ging hinaus und weinete bitterlich“, wer kann soetwas so? Mit dem Vater des Tenors habe ich schon gemeinsam Bach-Kantaten in Köln aufgeführt, als er noch ganz unbekannt war: Christoph Prégardien (später sein unvergesslicher „Atlas“ unter den Schiller-Liedern, auch „Schöne Welt, wo bist du?“), hier der fabelhafte Sohn als Evangelist. Die Stimme kenne ich doch seit 10 Jahren … und erkenne ihn nicht, wenn er dasteht.

Pfingstsonntag 28. Mai 17.00-18.25 Uhr

https://www.arte.tv/de/videos/107814-002-A/christus-sakrale-trilogie/  HIER abrufbar bis 24.08.24

Programm

Anonymus: Choral „O Traurigkeit, O Herzeleid!“
Johann Sebastian Bach: Teil I der „Johannespassion“, BWV 245
Johann Sebastian Bach: „Sehet, wir gehʼn hinauf gen Jerusalem“, BWV 159 (Auswahl)
Johann Sebastian Bach: Teil II der „Johannespassion“, BWV 245

Das Konzert wurde am 25. Februar 2022 im Auditorium von Bordeaux aufgezeichnet

TV-Text (den ich nicht kannte)

Johann Sebastian Bachs Kompositionen zum Leben Jesu gehören zu den herausragendsten Stücken der westlichen Musikliteratur. Die in ihnen enthaltene Botschaft von Menschlichkeit, Hoffnung und Licht kommt im Rahmen dieser originellen Programm-Idee besonders schön zum Ausdruck.

Raphaël Pichon und sein Ensemble werden bei diesem ebenso musikalischen wie humanistischen Vorhaben von sechs Sängern unterstützt: Julian Prégardien (Evangelist), Huw Montague-Rendall (Jesus, Bariton), Ying Fang (Sopran), Paul-Antoine Benos-Djian (Countertenor), Laurence Kilsby (Tenor) und Christian Immler (Bass). In dieser Begleitung erklimmen der Chor und das Orchester Pygmalion geradezu himmlische Höhen.

Pfingstmontag 29. Mai 17.05 – 18.00 Uhr

17.05 aus Nürnberg – es war Radio, aber ich habs über TV-Kanal erwischt…

https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/meret-luethi-interpretiert-biber-das-mysterium-der-mysterien-sonaten-100.html HIER 

Hätte ich den folgenden Text vorher gelesen, hätte ich die Sendung nicht ernsthaft angehört. An einer frommen Feier mit Geige lag mir nichts. Liegt mir nichts. Aber Meret Lüthi hat was zu sagen… z.B. über ihre Stainer-Geige und den Erbauer. Oder eben :

hier

Was hat sie erzählt über den Choral „Surrexit Christus hodie“? Stundenlang in alten Gesangbüchern der Bibliothek Bern danach gesucht? Konnte Biber, obwohl Katholik, ihn nicht schon bei Samuel Scheidt oder Zeitgenossen studieren, wenn auch etwas flotter? (hier)

(Fortsetzung folgt)

Nebenbemerkung: Sonntag nach Mitternacht gerieten wir in einen „Tristan“ aus Aix-en-Provence, eine Zumutung schon während des Vorspiels. Ich brauche keine Illusion, möchte aber auch kein ausnehmend korpulentes Liebespaar in einem großbürgerlichen Wohnzimmer samt Ausblick auf das wogende Meer erleben. Ich höre dann nicht gut, obwohl wissend, dass ich dazu doch die erstaunlichsten, verzehrendsten Klänge des 19. Jahrhunderts wahrnehme, für wahr nehme, man muss mir dazu keine parallel verlaufende tiefenpsychologisch kritische Perspektive in Szene setzen.

Gern mit Sprachglossen unterwegs

Gestern bei der Lektüre der Süddeutschen Zeitung hatte ich ein seltsames Déjà-vu, als ich auf die immer gern gelesene Sprachglosse von Hermann Unterstöger stieß, der sich oft durch Leserbriefen anregen lässt. Ich dachte nicht ohne Stolz: etwas ganz Ähnliches habe ich vor langer Zeit mal geschrieben, bezog mich allerdings auf einen viel früheren Artikel, Monate zurück, bevor mir noch sämtliche Inhalte durch den Absturz des WordPress-Programms verlorengegangen und auf einem Wörter-Buchstaben-Heuhaufen gelandet waren, aus dem ich nichts mehr rekonstruieren konnte, – so dass ich am 11.11.2014 wieder bei Punkt Null neubeginnen musste. Wie man sieht: noch war ich voller Hoffnung unterwegs, noch glaubte ich, die alten Artikel könnten einmal wieder verfügbar sein:

„wieder verfügbar“???? Mitnichten!

Sehen Sie den Artikel vom 13. Dezember 2014 mit Bezug auf einen weit früher geschriebenen:

hier an Ort und Stelle

Ob mich diese Tatsache berechtigt, einen halben Artikel aus der Süddeutschen wortwörtlich wiederzugeben? Ich hoffe, ich entgehe als nützlicher, keineswegs eigennütziger Blogger der strafrechtlichen Verfolgung??? Am Pfingstsonntag frühmorgens um 4.30 Uhr, wo man sowieso nicht ungestraft ruhelos unterwegs ist…

SZ 27.05.2023

Fantastic Style

Ein Text von Andrew Manze (1996), der ebensowenig in Vergessenheit geraten sollte wie die zugehörigen Aufnahmen. (Ich knüpfe an Zitate in meinem früheren Artikel an: hier und – hier.)

Was beim flüchtigen Umgang mit den CDs irritieren könnte: ob die zweite sozusagen die erste fortsetzt oder eine relativ selbständige Rolle spielt, – jawohl, sie gehört in den Themenbereich Fantastischer Stil, der in CD 1 anhand verschiedener Komponisten dargestellt ist.

Frappierend die Sonata „Victori der Christen“ CD 2 Tr. 5-11, die tatsächlich eine Bearbeitung der Mysteriensonate „Die Kreuzigung Jesu“ von I.F.Biber darstellt, siehe Text oben: sie ist „nahezu identisch“. Von Anton Schmelzer, dem Sohn! Für Leute, die diese CD besitzen, ist es sicher nützlich, zum Vergleich im Hintergrund das Original greifbar zu haben. Nebenbei handelt es sich dabei auch um eine bemerkenswerte Aufführung:

Von Andrew Manzes Schmelzer-Fassung (Anton !) desselben Werkes kann man zumindest eine kurzen, intensiven Eindruck auf YouTube erhalten:

Alles, was Mattheson über den Stil der Toccata weiß:

auf der Spur von Andreas Weil: hinüber ins Original von Johann Mattheson:

 

Aber jetzt erst weiß man zu schätzen, wie wertvoll Andreas Weils Ausführungen sind, vor allem durch die Beispiele, die man als Normalverbraucher/in natürlich nicht zur Hand hat, – und die mich sofort an ähnliche visuelle Eindrücke bei Bach erinnern:

schlechte Kopie aus Weils tollem Buch…

Es ist nicht so, dass ich im Augenblick nicht sauberer scannen kann: ich möchte nur bei niemandem den Wunsch erlöschen lassen, das Buch selbst zu erwerben. Es lohnt sich, darin ganz sorgfältig nachzulesen, auch wenn man die Mattheson-Werke z.B. im Nachdruck besitzt, – man muss sie entschlüsselt bekommen und mit „zeitgenössischem“ Leben erfüllt sehen. Der nächste Schritt ist, die benannten Musikstücke zu hören… und nachzufühlen. Buxtehude, Lübeck, Bruhns und Bach. Im oben wiedergegebenen Mattheson-Original lese man nach, dass bei all dem an die Orgel und die Meister ihrer Zeit zu denken ist. In § 69. kommt er (nach Frescobaldi) über Händel auf Bach, in § 70. auf die nächstberühmten Meister, von denen die Mehrzahl heute unbekannt ist. (Wer war z.B. der genannte Händel-Schüler Babel?) Er kommt von der Orgel auf andere geeignete Instrumente, auf die „Violdigamb“ und die Laute „in der Kammer“, wobei er die Violine nur wegen ihrer „durchdringenden Stärcke“ hervorhebt. Mir fehlen die anderen Tasteninstrumente, mir fehlt ein Hinweis auf Froberger, der gerade in seinen Praeludien erwähnenswert wäre.

Worüber ich gern in diesem Zusammenhang noch berichtet hätte: betr. Praeludien von Louis Couperin – verwandt im freien Prinzip mit Froberger – s.a. hier  (falscher Link, richtigen suchen!) Artikel in Musik & Ästhetik, eine letzten Ausgaben…

Nachgeliefert:

Hier der kurze Einblick zur weiteren Erinnerung: die erstaunliche Vorstellungswelt der Préludes von Louis Couperin, dargestellt von Niels Pfeffer in Musik & Ästhetik Heft 108, April 2023:

Ich weiß nicht, ob man versteht, dass der Artikel von Niels Pfeffer ein großes Potential Verunsicherung vermittelt für dem, der sich seiner Bach-Werke sicher zu sein scheint: als gebe es bei Louis Couperin (heimlicher Gedanke: bei Froberger, dem frühen Bach-Leitbild!) eine Ästhetik, die Bach nicht gekannt oder aufgegeben hat! Das Labyrinthische vielleicht nicht, aber das indirekte Kadenzieren, die geplante Verunsicherung. Man lese sich nur noch hinein in diese „Reflexion“:

Fortsetzung: man rate…

„… als ob das Cembalo sie von sich aus, ohne die Zustimmung [consentement] Accompagnateurs, zurückgibt.“

In welcher Zeit befinden wir uns mit diesem Zitat? In der heutigen Moderne? Wir befinden uns in einem Traktat von Michel Saint-Lambert, veröffentlich in Amsterdam – 1710.  „Ohne die Zustimmung“ – – –  Werk ohne Autor???

Warum lese ich im Zusammenhang mit Louis Couperin / Froberger nie das Wort vom „stile phantastico“? Vielleicht liegt doch der gemeinsame Bezugspunkt bei Frescobaldi?

Hören Sie Bachs Partita V mit – Niels Pfeffer (https://www.nielspfeffer.com/cembalo):

*     *     *

Und – Themawechsel, an den inspirierten Booklettext zu Anfang dieses Artikels anknüpfend – auch darüber berichten, wie Andrew Manze anlässlich seiner Aufnahme Mozartscher Violinkonzerte (2006) zu außergewöhnlichen Einsichten gekommen ist… als Geiger habe ich ihn zum ersten Mal im WDR gelobt bei der Besprechung der Matthäus-Passion mit Ton Koopman. Mitte der 90er Jahre…

Erinnerung an Albert Camus

Lektüre (und parallel Audio) der frühen 1960er Jahre

 

nach (unangenehmer) Musik: ab 1:59 spricht (liest) Albert Camus  (1954)

https://archive.org/details/LEtrangerLuParAlbertCamus hier ???

Vollständiger französischer Text:

Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.
J’ai reçu un télégramme de l’asile : « Mère décédée. Enterrement de-
main. Sentiments distingués. » Cela ne veut rien dire. C’était peut-
être hier.
L’asile de vieillards est à Marengo, à quatre-vingts kilomètres
d’Alger. Je prendrai l’autobus à deux heures et j’arriverai dans
l’après-midi. Ainsi, je pourrai veiller et je rentrerai demain soir. J’ai
demandé deux jours de congé à mon patron et il ne pouvait pas me les
refuser avec une excuse [10] pareille. Mais il n’avait pas l’air content.
Je lui ai même dit : « Ce n’est pas de ma faute. » Il n’a pas répondu.
J’ai pensé alors que je n’aurais pas dû lui dire cela. En somme, je
n’avais pas à m’excuser. C’était plutôt à lui de me présenter ses
condoléances. Mais il le fera sans doute après-demain, quand il me ver-
ra en deuil. Pour le moment, c’est un peu comme si maman n’était pas
morte. Après l’enterrement, au contraire, ce sera une affaire classée
et tout aura revêtu une allure plus officielle.

Weiter im folgenden Link:

https://www.anthropomada.com/bibliotheque/CAMUS-Letranger.pdf HIER

Vollständiger deutscher Text (dieselbe Version, die ich damals gelesen habe)

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es
nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: «Mutter
verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.»
Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.
Das Altersheim liegt in Marengo, vierzig Kilometer von Algier
entfernt. Ich nehme den Zwei-Uhr-Omnibus und komme am
Nachmittag an. So kann ich alles erledigen, und morgen abend
bin ich wieder zurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage
Urlaub gebeten; bei einem solchen Anlaß konnte er ihn mir
nicht abschlagen. Aber einverstanden war er nicht, das sah
man. Ich sagte sogar: «Ich kann nichts dafür.» Er gab keine
Antwort. Da fiel mir ein, daß ich das nicht hätte sagen sollen.
Ich brauchte mich ja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er
mir kondolieren müssen. Aber das tut er sicher erst
übermorgen, wenn er mich in Trauer sieht. Einstweilen ist es
fast noch so, als wäre Mama nicht tot. Nach der Beerdigung
aber wird alles seine Richtigkeit haben und einen offizielleren
Anstrich bekommen.

Aufzufinden im folgenden Link: HIER

(https://machtderpolitentscheidung.files.wordpress.com/2014/01/albert-camus-der-fremde.pdf)

Albert Camus‘ Rede, gehalten nach Empfang des Nobelpreises, den er im Jahre 1957 erhielt. (Untertitelt mit englischer Übersetzung):

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos Wikipedia hier

(Fortsetzung folgt)

Zum Strom als Wärme und Energie

U.a. was ist eine Wärmepumpe?

Als erstes – Nachhilfeunterricht nehmen bei dem großen Erklärer Harald Lesch:

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/lesch-und-co-waermepumpe-102.html → hier

(an gleicher Stelle zu beachten)

Zitat aus Wikipedia Harald Lesch:

2016 setzte sich Lesch mit Aussagen aus dem Wahlprogramm der Alternative für Deutschland auseinander, die die menschengemachte globale Erwärmung leugneten, und widerlegte sie. Daraufhin schrieben ihm AfD-Anhänger Hassmails und beschwerten sich bei der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der Lesch als Professor lehrt. Besonders stark attackierten ihn Vertreter von EIKE, einem Verein zur Klimawandelleugnung und zum Kampf gegen Klimaschutz. Lesch reagierte mit einer Terra-X-Folge über die Psychologie des Hasses, in der er die Motivation hinter solchen Angriffen ergründete.

2018 war Lesch Gast in der 33. Folge von Die Anstalt. Thema war die globale Erwärmung und der gesellschaftliche Umgang mit ihr.

In einem Beitrag für die Terra-X-Reihe kritisierte Lesch 2019 mit Lithium-Ionen-Akkumulatoren betriebene Elektroautos wegen der damit verbundenen Anforderungen an das Stromnetz und einer angeblich schlechten Ökobilanz und forderte eine gleichberechtigte Berücksichtigung der Brennstoffzellen-Technologie. 2022 korrigierte er seine Haltung: der Strombedarf stelle kein Problem dar und aufgrund der auf den ganzen Lebenszyklus gesehenen guten CO2-Bilanz seien Elektroautos rein physikalisch die besten.

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Neuer Artikel von Ulrich Schnabel

Während ich alles bereit lege, um zu zitieren, sehe ich, dass ich es mit demselben Autor schon einmal so gehalten habe, noch nicht so lange her. (Siehe Link zum Wort Neuer in Untertitel). Seine Zuverlässigkeit ist mir lange bekannt, das Buch ist mir seit 11. Dezember 2008 ein vertrautes Nachschlagewerk. Nachschauwerk.

Wieder wird das Lachen zum Thema anlässlich der KI, sie kann es nicht, und ist da meiner Katze ähnlich (das ist lange her)…

oder lächelt sie doch?

ZITAT

Hört man sich dazu in den Geisteswissenschaften um, trifft man auf zwei Positionen: routinierten Widerspruch einerseits – und neugieriges Staunen andererseits.

Die erste Position vertritt etwa der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Er sagt, die KI sei »künstlich, aber nicht intelligent«. Was aussehe wie echtes Denken, sei in Wahrheit nur eine geschickte Simulation, die uns einen Denkprozess vorgaukelt. »Wir projizieren unsere Intelligenz in die Systeme«, sagt Gabriel, es gebe nur »eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen unserer Intelligenz undf diesen Projektionen in der Form von Modellen«. Am Ende sei es immer noch der Mensch, der über ihren Einsatz und ihre Ziele bestimme.

(…)

Ähnlich pragmatisch argumentiert der Philosoph Ralf Becker, wenn man ihn nach dem Begriff des Verstehens befragt. »Verstehen«, sagt Becker, sei ein Können, das sich in Handlungen ausdrückt. »Ob ich ein philosophisches Argument verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich es rekonstruieren und auf Nachfragen antworten kann. Ob ich einen Witz verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich seine Pointe erklären kann.«

Doch was, wenn ChatGPT eine Pointe richtig erklärt? »Versteht« die KI dann den Witz? Nein, meint Becker. Einzelne Erfolge genügen nicht als Probe aufs Exempel. Oft mache das Programm ja noch grobe Fehler. Das gelte für Witze wie für Mathe-Aufgaben. Und wenn man es um Romananalysen bitte, halluziniere das Programm zum Teil Figuren, die im Text gar nicht vorkommen. Am deutschen Abi, das haben Tests vor einigen Wochen gezeigt, scheiterte CHatGPT deswegen noch.

Doch selbst wenn die KI irgendwann das Abitur bestände, wäre Becker nicht überzeugt. Hinzu käme nämlich noch ein anderer Aspekt: Verstehen sei kein isolierter kognitiver Akt, sondern »stets verkörpert, in eine Situation und in eine Praxis eingebettet – etwa in Form von Nach- und Rückfragen, Wiederholunge, Übungen«.  Letztlich sei das Verstehen als »Lebensform« zu begreifen. Dafür brauche es einen Körper, der eine eigene Geschichte habe, der eigene Ziele und Absichten verfolge, der uns mit der Welt verbindet. (…)

Quelle ZEIT 17. Mai 2023 Seite 31 Unsere neue Denkaufgabe Die künstliche Intelligenz wird immer klüger, schneller und kundiger. Der Mensch aber fragt sich: Versteht sie überhaupt, was sie da rechnet? Und was heißt das eigentlich – die Welt verstehen? Von Ulrich Schnabel

Was fehlt mir noch? Ein Witz vielleicht?

Auf dem Spielplatz im Botanischen Garten bei hellem Sonnenschein: die Kinder spielen selbstvergessen im Sand, bis sich ziemlich schnell eine Wolke vor die Sonne schiebt und für Verdunklung der Szene sorgt. Ein Knabe schreckt hoch und schreit empört: „Licht an!“

*    *    *

NEU UND LESENSWERT: Ein Artikel in der FAZ (1.6.23) von Dietmar Dath: hier

ZITAT Anfang des Artikels

Wenn ich vor etwas Angst habe, das ich nicht sehen, hören, schmecken, riechen oder berühren kann, zum Beispiel vor Strahlung, Viren oder einer Pleite wegen digitaler Transformation, dann muss ich, weil mir Sinnesdaten fehlen, eben abstrahieren und nachdenken. Der Anlass der Angst gerät so vor das berühmte „geistige Auge“. Genau genommen gibt’s pro Verstand sogar zwei dieser geistigen Augen. Denn wie der Gesichtssinn, so schaut auch die Vernunft nicht nur in die Höhe („steile These“) und in die Breite („Ausführlichkeit“), sondern obendrein in die Tiefe („Korrelation“, „Kausalität“). Das linke geistige Auge schließt aus Bekanntem auf Unbekanntes per Wahrscheinlichkeitserwägung.

Dank an Berthold Seliger!

Französische Lektüre

Keine Notsituation, aber höchste Zeit (zum Lesen)

Aussicht aus dem Klinikum. Viel heller liegt das schmale grüne Buch vor mir, und etwas über 40 Jahre entfernt. Damals las ich: „Überwachen und Strafen“ sowie „Sexualität und Wahrheit 1“ von Michel Foucault. JMR wusste das, er war erst 16. Und dieses, warum las ichs nicht? Kaum, – vielleicht zu theoretisch für mich. Heute werde ich es bis zum Ende mit gleicher Aufmerksamkeit lesen (dank Erinnerung an Kant). Ich werde die Sätze abschreiben, die ich richtig gut fand, die auf dem rückseitigen Cover nicht). Das zweite Werk „Schriften zur Literatur“ ist heute nur Beifang – an derselben Stelle im Regal, wo das andere sich versteckt hatte, sträflich missachtet, unglaublicher Fehler, gerade wo es mir seit damals hätte helfen können, Flaubert näherzukommen! Siehe unten den Link zum Artikel „Die ernste Geschichte der Figura“….

1970/1976

Wie Flaubert arbeitete …. / aus dem letzen Kapitel des Buches Schriften zur Literatur von Michel Foucault: Un »fantastique de bibliothèque« / Nachwort zu Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen AntoniusSchriften  zur Literatur / Übersetzung: Karin von Hofer / Ullstein Materialien 1979 ISBN 3-548-35011-9

Die ernste Geschichte der Figura

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses

Zitate

S.32 Es könnte sein, daß der Gedanke des begründenden Subjekts es erlaubt, die Realität des Diskurses zu übergehen. Das begründende Subjekt hat ja die Aufgabe, die leeren Formen der Sprache mit seinen Absichten unmittelbat zu beleben; indem es die träge Masse der leeren Dinge durchdringt, ergreift es in der Anschauung den Sinn, der darin verwahrt ist; es begründet auch über die Zeit hinweg Bedeutungshorizonte, welche die Geschichte dann nur noch mehr entfalten muß und in denen die Sätze, die Wissenschaften, die Deduktionen ihr Fundament finden. In seinem Bezug zum Sinn verfügt das begründende Subjekt über Zeichen, Male, Spuren, Buchstaben. Aber es muß zu seiner Offenbarung nicht den Weg über die besondere Instanz des Diskurses nehmen.

Diesem Thema steht der Gedanke der ursprünglichen Erfahrung gegenüber, der ein analoge Rolle spielt. Er setzt voraus, daß in der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in einem cogito, vorgängige, gewissermaßen schon gesagte Bedeutungen die Welt durchdrungen haben, sie um uns herum angeordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiedererkennen geöffnet haben. Eine erste Komplizenschaft mit der Welt begründet uns so die Möglichkeit, von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und zu benennen, sie zu beurteilen und schließlich in der Form der Wahrheit zu erkennen. Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht; und diese Sprache sprach uns ja immer schon von einem Sein, dessen Gerüst sie gleichsam ist.

S.35 Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft – und wahrscheinlich auch in allen anderen, wenn auch dort anders profiliert und skandiert – eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.

Vgl. im Blog: Kant-Artikel über das „Gewühl“ hier.

S.36 Ein Prinzip der Spezifizität. Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplitze unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welcher uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.

S.37 (…) zwei Bemerkungen (…) Geschichtsschreibung. Man behauptet häufig von der heutigen Historie, daß sie die einstigen Privilegien des einzelnen Ereignisses aufgehoben und die Strukturen der langen Dauer zur Erscheinung gebracht habe. Gewiß. Doch ich bin nicht sicher, daß die Arbeit der Historiker genau in diese Richtung geht. Oder vielmehr, ich glaube nicht, daß zwischen dem Ausfindigmachen des Ereignisses und der Analyse der langen Dauer ein Gegensatz besteht. Gerade indem man sich sich auch den geringsten Ereignissen zugewendet hat, indem man die Erhellungskraft der historischen Analyse bis in die Marktberichte hinein, in die notariellen Urkunden, in die Pfarrregister, in die Hafenarchive vorangetrieben hat, die Jahr für Jahr, Woche für Woche verfolgt werden, hat man jenseits der Schlachten, der Dekrete, der Dynastien oder der Versammlungen massive Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite in den Blick bekommen.

Die letzten 5 Seiten des Diskurses gehören Hegel und – Jean Hyppolyte .

S.50 Nicht nur ich schulde Jean Hyppolyte Dank: denn er hat für uns und vor uns den Weg durchlaufen, auf dem man sich von Hegel entfernt und Distanz nimmt, auf dem man aber auch wieder zu ihm zurückgeführt wird, aber anders und so, daß man ihn von neuem verlassen muß.

Zunächst hatte sich Jean Hyppolyte bemüht, dem großen und etwas gespenstischen Schatten Hegels, der seit dem 19. Jahrhundert herumgeisterte und mit dem man sich im Dunkeln herumschlug, eine Gegenwart zu geben. Er tat dies durch eine Übersetzung der Phänomenologie des Geistes. Daß Hegel in diesem französischen Text gegenwärtig ist, beweisen jene Deutschen, die ihn gelegentlich konsultiert haben, um seine »deutsche Version« besser zu verstehen.

Quelle Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses / Inauguralvorlesung am Collège de France – 2.Dezember 1970 / Anthropologie – Herausgegeben von Wolf Lepenies und Henning Ritter / übersetzt von Walter Seitter / Carl Hanser Verlag München 1974 / Ullstein Buch Nr. 3367 Verlag Ullstein Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1977

Altherrentraum?

Die Würde des Liedes ist unantastbar

Man hätte glücklich sein können: ein Liederabend in voller Länge im Fernsehen! Wann gibt es schon eine solche Chance für die zarten lyrischen Gebilde, von denen man meint, dass sie ihre Wirkung (und Würde) nur in einem kleinen Kreis unter Kennern entfalten. (Wenn man allerdings die Ankündigung sieht, können einen durchaus dunkle Ahnungen beschleichen.) Zumindest die heutige Jugend, so weiß man, kann man jagen mit dem sogenannten „Kunstlied“, schon die gestelzte bzw. kunstvoll gestützte, hochkultivierte Stimme signalisiert den jungen Leuten: wir sind auf einem anderen Niveau zuhaus als eure Schlagerfuzzys, die ein Vibrato fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Vielleicht fängt man sie mit dem Stichwort Liebe?

Aber bedenken Sie: geht noch jemand in irgendeinem Text den Umweg mit, wenn er über die Blätter oder Blüten des Nussbaums verläuft. Wer spricht so? Wer will das gesungen hören? Der Nussbaum breitet blättrig seine Äste aus,  „viel liebliche Blüten stehen dran, linde Winde kommen, sie herzlich zu umfahn. Es flüstern je zwei zu zwei gepaart, neigend, beugend, zierlich zum Kusse die Häuptchen zart.“  Wollen Sie? Es ist die Musik, die diese Lyrik in den Himmel hebt.

Was geschieht hier?

Technisch gesprochen: das einleuchtende Hauptmotiv, mit dem das Klavier begonnen hatte, kehrt sehr oft wieder, ehe es eine neue Tendenz angibt, aus einer These wird eine Frage. Ich gestehe, es ist diese Wendung bei 1:19, die mir die Tränen in die Augen treibt und eine Wachsamkeit erzeugt, als nähere sich eine nicht genauer bestimmbare Gefahr. Es ist ernst, auch der Sänger ist schutzlos, aber er tut, als könne er einfach still weitererzählen. Was für eine Geschichte? Gar keine.

„Mägdelein“  – dass ich nicht lache! Ich höre jemanden sagen: das ist ein Altherrentraum, typisch, – vom Mägdlein, das nicht weiß wie ihm geschieht… Andererseits: wer Ohren hat für das Lied, ist für Zweifel unerreichbar… Er (?) ist gebannt und lauscht in einen hintergründigen Raum: da ist (fast) nichts: man horcht, es rauscht im Baum, sehnend, wähnend, sinkt lächelnd in Schlaf und Traum.

Man höre es ein ums andere Mal, – wie erfahre ich wohl den Traum in einer anders gestalteten  „Erzählung“? Wie war es damals?

Elly Ameling singt Schumann

Jetzt sind wir wach genug für einen Liederabend im Fernsehen, nicht wahr? Heute, Jahrzehnte nach Elly Amelings (und Fischer-Dieskaus) großer Zeit? Öffnen Sie das Programm „Liederabend“, – ach, leider scheint das Titelbild nicht zu passen, Anfassen geht ja gar nicht. Aber warum? Der Sänger, die Sängerin singt nicht als leibhaftige Darsteller:in einer lebendigen Person, diese wird von beiden nur“ lebhaft imaginiert, – als deren lyrisches Ich. So wird es völlig entgleisen…

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Noch im ersten Lied könnte man glauben, es gelingt (er fixiert sie nicht, sie wirkt glücklich, vielleicht, weil sie innerlich die gleiche Imagination hat, sie fühlt sich nicht „persönlich“ angesungen, – hoffentlich).

Dann kommen wir im zweiten Lied zu dem uns so vertrauten Titel „Der Nussbaum“, mit der Sängerin, – hoffentlich nicht, weil es „zur Frau passt“… hatte er im ersten, vorhergehenden Lied nicht schon dies Kopfnicken und Augenaufschlagen, als er sang: „… mein guter Geist, mein bess’res Ich“ (bei 1’59) ? Gottseidank, ohne sie anzuschauen. Im Nachhall des Liedes wendet er sich ihr erwartungsvoll zu, die Hände faltend. Und nun kommt im „Nussbaum“ ein Mienenspiel, das man nicht ignorieren kann, sein zartes Kopfnicken zu „viel liebliche Blüten stehen dran“ kaum noch (3:15) – sieht er dasselbe Bild, muss ers bestätigen? – , sie lächelt, windet sich etwas, er lächelt, wendet sich ihr zu, schaut bereits auf ihren Mund, (3:30) „sie zärtlich zu umfahn“. Ja, und ihre eigenen Hände finden zueinander, umschmeicheln sich, er neigt den Kopf zu ihr, dann bei „es flüstern je zwei zu zwei gepaart“ weicht er zurück mit geöffnetem Mund, gleichsam staunend (3:36), es ist ein „Ach so!“, dazu auch noch die Handgeste „Na klar!“, und wenn dann kommt „neigend, beugend, zierlich zum Kusse die Häuptchen zart“ (3:54), lacht er verständnisinnig. Man sieht die Hände von Helmut Deutsch – zu ihm wäre viel zu sagen, schade dass er sich nicht zu schade ist – und die zu Tränen rührende Wendung kommt wie ein Hohn. Die Sängerin mit übertriebenem Schmerz: „das Mägdlein, das dächte die Nächte und Tage lang“, dann wie als Clou: „und wüsste ach selber nicht was“ (4:13), Kaufmann nickt neckisch, wie zum flüchtigen Kuss ansetzend, sie beide wissen, worum es geht. Er dreht sich demonstrativ ab, mit zusammengekniffenen Lippen, das meint: so ist die Jugend, beratungsresistent, die Sängerin, lockend: „sie flüstern, sie flüstern“ … sie betont das „nächste Jahr“ und zeichnet die Größe des Baumes in die Luft, in dem es rauschet. Unerträglich, das alles. Bei 5:31 ist alles vorbei. Erwartungsvolle Stille. Nicht zu lang. Endlich als Antwort – das Tenor-Lied „Lieben von ganzer Seele“. Der Liederabend soll eine Art Dialog ergeben, das ist nun ganz deutlich. Eine Art herabgemindertes Bühnendrama.

Wenn Sie Elly Ameling noch im Ohr haben, hören Sie doch auch das Lied „Mein schöner Stern“ in diesem Damrau/Kaufmann-Lieder-Dialog. Natürlich wird es hier von dem Mann gesungen, heldenmäßig, und der Stern ist keine Imagination, er steht ihm zur Seite. Jegliche Erschütterung bleibt aus…

Die Würde eines Liedes aber ist unantastbar. (Man kann die wahrhaft lyrischen Lieder nicht einem angeblich neuen Zeitgeist anpassen. Auch mit gutem Willen re-interpretiert, sind sie zwar noch identifizierbar, aber nur als lebende Leichen. Ein solcher Liederabend scheint mir  kontraproduktiv, und wenn es der Leistung eines Regisseurs oder Image-Beraters geschuldet ist: null und nichtig.

Brauchen wir dafür ein musikalisches Grundrecht?

ARTE Liederabend noch abzurufen bis August 2023

https://www.arte.tv/de/videos/111755-000-A/liederabend-mit-jonas-kaufmann-und-diana-damrau/  hier  27:15 „Mein schöner Stern“

Wagen wir doch die Frage: Wer braucht ein lyrisches Ich? Ein Versuch steht hier.

Abschließend: zum Vibrato (Rat eines Cellisten, – so einfach ist die Regel cantabile)

es erinnert mich an die erste Hörbegegnung mit Anner Bylsma,1970er Jahre, als er mit dem Collegium Aureum das Beethovensche Tripelkonzert aufnahm, Anfang des langsamen Satzes, eine absolut neue Idee des solistischen Auftritts, vibratofrei, aber expressiv sprechend

Wie war es eigentlich 1933?

https://www.rbb-online.de/doku/b/berlin-1933.html

HIER → dort in das folgende Bild klicken:

Aus einer anderen Sendereihe:

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/komplizen-des-boesen-1933-1938-faszination-und-gewalt-102.html HIER alle Folgen HIER

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Private Motivation: siehe http://s128739886.online.de/jahreszeiten-lebenszeiten/

oder hier „Vom Wesen der Stadt“