Gewiss, ich verstehe nichts von Wirtschaft. Und von Politik nur das, was ich den Zeitungen entnehme. Ich weiß auch nicht, ob die Politik die Bedingungen der Wirtschaft lenkt oder ob wirklich, wie viele behaupten, die Wirtschaftsbosse den Politikern die Richtlinien diktieren. Angenommen, ich wollte mir einen Weg zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen Regierung und Ökonomie bzw. zwischen Macht und Wirtschaft erschließen und jemand gäbe mir den Tipp: versuche es doch mit den alten symbolischen Darstellungen, die sich dir einprägen und die sich dann irgendwie auf die gegenwärtigen Verhältnisse beziehen lassen, so müsste ich wohl mit den beiden Bildern beginnen, die gleich folgen. Jemand hat mich auf die Idee gebracht, und ich werde darüber auch Auskunft geben. (Bilder anklicken und zu deuten versuchen!)
Die Arbeit kann beginnen. Ich habe mir das nicht gewünscht, aber es scheint unvermeidlich. Also: Worum handelt es sich?
Es geht zunächst um Thomas Hobbes, (Nach-) Shakespeare-Zeit, und seine staatstheoretischen Lehren. Zitat:
[Sie] sind Gegenstand seines Hauptwerks, des Leviathan von 1651. Dort beschäftigt er sich mit der Überwindung des von Furcht, Ruhmsucht und Unsicherheit geprägten gesellschaftlichen Naturzustands durch die Gründung des Staats, also der Übertragung der Macht auf einen Souverän.
Dies geschieht durch einen Gesellschaftsvertrag, in dem alle Menschen unwiderruflich und freiwillig ihr Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht auf den Souverän übertragen, der sie im Gegenzug voreinander schützt. Rechtlich gesehen wird er zu Gunsten des kommenden Souveräns geschlossen. Weil der gar kein Vertragspartner ist, gibt der Vertrag also den ihn Schließenden ihm gegenüber weder ein Kündigungs- noch ein Widerstandsrecht.
Will man den Souverän stürzen, ist es immer Hochverrat. Stürzt man ihn dennoch und ersetzt ihn, so schließen die kommenden Untertanen einen neuen entsprechenden „Vertrag zu Gunsten Dritter“. Hobbes wird oft wegen seines Leviathan angeführt, jedoch wird seine Theorie als Rechtfertigung absolutistischer Herrschaft auch kritisiert.
Quelle Wikipedia hier.
Zum Titelbild des Leviathan (s.o.):
Zu sehen ist der Souverän, der über Land, Städte und deren Bewohner herrscht. Sein Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. In seinen Händen hält er Schwert und Hirtenstab, die Zeichen für weltliche und geistliche Macht. Überschrieben ist die Abbildung durch ein Zitat aus dem Buch Hiob: „keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“.
Quelle Wikipedia hier.
Des weiteren sollte ich mich über Christoph Heinrich Amthor informieren, (frühe) Bach-Zeit; als sein bedeutendstes Werk gilt das Project der Oeconomic in Form einer Wissenschaft (1716). Zitat:
[Eine] der ersten systematischen Darstellungen der Ökonomie im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften […]. Amthor kennt bereits den Begriff der Politischen Ökonomie, die er einerseits als die der Privathaushalte definiert, andererseits als die von Städten und Ländern, die durch Polizeiordnung in gutem Stand gehalten werden soll. Amthors positiver Arbeitsbegriff wird bereits in Paragraph Eins des Werkes deutlich: Alle Menschen sind zur Arbeit geboren.
Quelle Wikipedia hier.
ZITAT zur zweiten der obigen Abbildungen (betr.: „schändliche Faulheit“):
Bei allen Analogien in der vertikalen und horizontalen Bildgestaltung werden geradezu Antithesen zur Hobbes’schen Begriffsallegorie formuliert. So liegen zu Füßen der Ökonomie eben nicht verschiedene Praxisfiguren, die dann von einer personifizierten Staatstheorie überwölbt und dominiert würden. Es ist ganz und gar umgekehrt: Am Boden und gleichsam funktionslos geworden lagern vielmehr diverse Gestalten des Müßiggangs, die sich unschwer – wie die Bild-Inskriptionen und Amthors Kommentar dazu klarstellen – als Variationen untätigen Philosophierens und Spekulierens ausweisen: von „Divinus Plato“ und „Summus Aristoteles“ über „Philosophus Plagiosus“ (einer Höflingsfigur) bis zum mönchischen „Eremita“. Von oben herab und aus dem Mund der ökonomischen
Allegorie wird das Verdikt gefällt: „Odi ignarum vulgus“, „Ich verabscheue das unwissende Volk“. Platonische Ideen, aristotelische Wissenschaft, höfisches Nichtstun und klösterliche Kontemplation werden, wie es auch in Amthors Widmungstext heißt, nicht nur als Exempel „Schändliche[r] Faulheit“ mit einem „belieben zum Müßiggange“ disqualifiziert, in ihnen können zudem regelrechte Feinde der ökonomischen Wissenschaft ausgemacht werden. Für sie ist die Verfassung des neuen Erfahrungswissens „allzu unrein und gefährlich“. Dies ist ganz im Sinne der neuzeitlichen Verwendung des Ökonomiebegriffs und der damit verbundenen „practicalischen Philosophie“ gesprochen, die die Techniken und Künste, die
„bürgerlichen Tätigkeiten“ insgesamt aus dem Schlaf im „Herzen der Kontemplation“ befreien will.
Quelle Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt / Verlag diaphanes Berlin Zürich 2015 (Seite 12)
Mit diesem letzten Zitat bin ich beim eigentlichen Anlass meiner aktuellen bürgerlichen Arbeit (Lektüre) angelangt. bzw. deren privater und äußerer Begründung.
ZITAT (zum Trost bei Lese-Stockung):
Seinem [Vogls] aufklärerischen Ansatz zum Trotz ist „Der Souveränitätseffekt“ leider ein ausgesprochen umständliches Buch, eine Melange aus den sprachlichen Zumutungen von Finanzmarktterminologie und Geisteswissenschaft. Auf seitenlange Zitate aus Gerichtsurteilen folgen noch längere Nacherzählungen aus historischen Journalen, die den Eindruck machen, Joseph Vogl wolle seine Leser allzu bereitwillig an den Mühen seiner Recherche teilhaben lassen. Das ist bedauerlich, denn stark wird „Der Souveränitätseffekt“ immer dann, wenn sein Autor sich in aktuelle politische Kontroversen stürzt. Joseph Vogl schreibt dann zum Beispiel von einer Pervertierung des politischen Souveränitätsbegriffs: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln mag.“
Quelle Der Spiegel, 10.03.2015, Kontrolle der Finanzmärkte: Wie Politik sich dem Kapital beugt. / Von Oskar Piegsa / Link s.o. unter „Begründung“. Weiteres hier.
Joseph Vogl zu den beiden Bildtafeln:
Man könnte also sagen, dass beide Bildtafeln zusammen – und emblematisch – eine Art Doppelporträt neuzeitlicher Macht vorführen, in dem der rechtlich-philosophischen Konzeption souveräner Gewalt die ökonomisch-praktische Dimension des Regierens gegenübertritt.
Damit beende ich die Phase meiner Selbstermutigung, erst in der historischen Anbindung fühle ich mich einigermaßen wohl (Shakespeare, Bach!) und schreite voran zur geduldigen Lektüre des Vogl-Buches. Aber es steht in den Sternen, ob ich eines Tages einen Erfolgsbericht anschließen kann. Immerhin war es ja nicht der erste Versuch. (Siehe hier.)
Empfehlung (1. Juni 2015)
Man könnte es sich mit dem sehr wichtigen Buch von Joseph Vogl einfacher machen (eine alte Methode, die ich schon des öfteren angewendet habe): in Form eines Schnelldurchgangs. Alle Kapitelanfänge der Reihe nach durchgehen, verweilen, wo es historische Augenblicke zu erfassen gilt, – aber: weitergehen, immer weiter. Für mich war es hochinteressant, bei Genua innezuhalten (hatte ich nicht gedacht, das moderne Finanzsystem sei in Siena oder Florenz entstanden!?), später: bei den Niederlanden, Amsterdam als Zentrum, dann England usw. Das ist alles Geschichte. Hintergrundwissen.
Aber dann ganz gründlich die letzten Kapitel: „Universeller Gläubiger“ und Souveränitätseffekt“. Das sind vielleicht 2 Din-A-4-Seiten. Wahrscheinlich haben Sie dort alles, wonach Sie suchten. Von nun an kann man an jeden Punkt rückwärts springen und ein paar Seiten lesen… Man weiß dann überall, worum es auch geht, auch schon in den „historischsten“ Details: TUA RES AGITUR. Es geht um jeden von uns!