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Béla Bartók Violinkonzert II u.a.

Form (1939)

Man sollte die Eckpunkte dessen kennen, was für den Komponisten von Bedeutung war, selbst wenn es langweilig aussieht. Auch Bartók sprach in langweiligen Worten über den Formablauf einer spannenden Komposition. Aber wenn ich diese Eckpunkte nicht (oder erst nach oftmaligem Hören) erfasse, fehlt mir der rechte hörende Zugang zum Werk. Es genügt nicht, nur „das schöne Thema“ oder seine Abwandlungen zu erkennen. Ich beginne bewusst mit der klanglich unattraktiveren historischen Aufnahme, die den authentischen Stoff bietet.

SATZ I Exposition Anfang bis 2:56 / Durchführung ab 4:37 / Reprise 8:05 Kadenz 11:10 (13:06) bis 14:37 (Ende)

SATZ II Thema ab 14:53 bis 16:05 / Var.1 bis 17:03 / Var.2 bis 18:32 / Var.3 bis19:25 / Var.4 bis 21:10 / Var.5 (scherz.) bis 21:43 / Var.6 bis 22:42 / Thema bis 23:52 (Ende)

SATZ III (folgt, Faust ab 37:37)

(man sollte wissen, dass es 2 Schlüsse gibt: Isabelle Faust spielt den von Székely gewünschten, – Solist aktiv bis zum letzten Takt -, Tetzlaff 1991 z.B. den von Bartók ursprünglich vorgesehenen)

Beschreibung Wikipedia hier

Leeres Wort „Emotion“

Das Konzert mit Isabelle Faust – jetzt Mediathek) hier (bis 21.07.23) – überragend

Bartók ab 11:09 / endet mit dem alternativen Finalteil bei 49:17

Hörenswert (für später) auch die Live-Version mit Augustin Hadelich hier

Erinnerung (Achtung: hier!) an die frühe Lektüre, die nach wie vor aktuell ist: Ernö Lendvai

 

Quelle Ernö Lendvai: Einführung in die Formen- und Harmonienwelt Bartóks, in: Béla Bartók Weg und Werk / Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle Kassel etc. 1972 (Corvina Verlag Budapest 1957)

Weitere sehr gute Interpretation mit Barnabás Kelemen hier (ohne Film)

(zum Nacharbeiten)

NEU

hier oder bei Tacet

Die CD und der Text Brückenbau am Rande der Katastrophe Ein Essay von Jan Reichow

Italian Institute Budapest 24.-30.Juni 2019 Fotos: László Emmer, László Mudra, Andrea Felvégi / Produktion © 2023 TACET Aufnahme und Produktion: Andreas Spreer

Brahms neu erfinden?

Isabelle Faust und Klaus Mäkelä

HIER (bis 26.09.22) ARTE Film Louise Narboni

Ich weiß nicht, wie oft mir das schon aufgestoßen ist: wenn irgendwo wieder einmal etwas ganz neu erfunden wird.

Und jetzt konnte ich nicht widerstehen, diesen abgegriffenen Ausdruck selbst noch einmal neu zu erfinden. Und auch einen dieser Werbetexte, die alles neu erscheinen lassen wollen, aufzugreifen, wirken zu lassen, als sei da das musikalische Evangelium nun endgültig zu einer frohen Botschaft geraten, ausgerechnet mit dem alten Brahms. Hier stimmt wirklich alles, alles lebt und pulsiert im Glanz der Instrumente, der Bilder und des lebendigen Mienenspiels. Was für ein Ernst! Ernste Musik, was für eine Freude, unwiderstehlich. Es ist unnachahmlich und lässt alle bisherigen Musterbeispiele als einen schwachen Abglanz erscheinen. Nein, als einen Vorschein dessen, was kommen muss.

ZITAT (ARTE)

Fast scheint es, als wolle Klaus Mäkelä eine Revolution einleiten: Der erst 26 Jahre junge Leiter des Orchestre de Paris macht Spontaneität in der klassischen Musik wieder hoffähig und liefert herrlich frische Interpretationen von Werken, die man durch Karajan, Muti oder Barenboim in Stein gemeißelt glaubte. Klaus Mäkelä will nicht nachahmen, er will erfinden. Das gelingt ihm, indem er sich alte Stoffe neu aneignet, ohne sie zu verraten, und dabei radikal zu seiner Subjektivität steht. Im Orchestre de Paris hat er ein Ensemble gefunden, das seiner Vorgehensweise gerecht wird – die Wahl der Solisten gestaltet sich für den gelernten Cellisten bisweilen heikler.
Für ihre erste Zusammenarbeit an der Pariser Philharmonie im Februar 2022 wählten Isabelle Faust und Mäkelä einen Meilenstein des romantischen Repertoires: das berühmte Violinkonzert von Johannes Brahms. Jeder Bogenstrich wirkt wie eine Hommage an Brahms’ moderne Handschrift. Die Solistin pflegt ihren unnachahmlichen Stil diskret und lässt Klaus Mäkelä stets ausreichend Raum. Gemeinsam schafft das Duo eine vertraute Atmosphäre. Sie scheinen sich ohne Worte zu verstehen.
Regisseurin Louise Narboni dreht mit ruhiger Hand, wagt lange Einstellungen und schafft somit einen tiefen Einblick in diese musikalische Revolution – denn der Mut gilt diesmal nicht nur den Interpreten, sondern auch der Kamera. Gekonnt bringt Narboni die authentische Symbiose von Dirigent und Solistin auf den Bildschirm.

Ich würde übrigens beim (vorsätzlich) ernsthaften Hören mit der Zugabe beginnen: dem späten Brahms-Klavierstück aus op.118, die  Nr. 5 Romanze (1893):

Die Kunst der Musik-Verfilmung. Das Understatement der Solistin. Die samtenen Farben der Instrumentation. Vielleicht sogar nach vorheriger Eingewöhnung in den Klavierklang des Original-Werkes. Hier. Gerade auch: um die Vorzüge eines reifen Orchesterklangs zu genießen. Nebenbei: wer ist eigentlich Oscar Strasnoy?

Brahms op. 118 Nr. 5 Romanze

Den anfangs gegebenen Link anwählen und einstellen auf 38:28 (= dieselbe Romanze als Zugabe Solo-Violine mit Orchester). Ein eigenartiges, quasi improvisiertes Ereignis, wie bei einer Probe; die zufällig anwesende Geigerin spielt colla parte, ohne zu stören. Wie schön, so … zart  different im Mikrobereich. Sie summt mit. Es ist menschlich anrührend.

Dann – siehe oben. Beginnend auf 0:00, Fragment einer Einspielphase mit dem Thema des langsamen Satzes Brahms Violinkonzert.

ARTE

Solissimo

Ein Versuch mit Bachs Adagio in C-dur

Thomas Zehetmair oder Hilary Hahn? Es ist nicht zu fassen, wie schön sie spielt, – ohne etwas zu „machen“, es spielt sich einfach von selbst. Was wird sie tun in diesem letzten Takt der Faksimile-Abbildung, wenn zum ersten Mal die Zweiunddreißigstel auftauchen, und dieser verminderte Akkord? Schlägt hier der Blitz ein, wie einst bei Zehetmair?

Ich dachte an ein mächtiges Glockengeläut, an die Sanctus-Rufe der H-moll-Messe, und auch an die dräuende Wellenbewegung der Streicher zu Beginn der Johannes-Passion, obwohl das ja in Moll steht und die Oboen dazu wahrlich zum Himmel schreien. Aber hier hört man auch nichts von strahlendem C-dur, hier türmen sich die Wolken stufenweise empor, majestätisch zweifellos, und im vierten Takt kommt mit großem Klagegestus das Leiden ins Spiel, (übrigens sehr nahe dem Takt 13 im Grave der Sonata II), – wie schön ist das alles, wenn eine Solissimo-Geige, klein wie sie ist, daraus nichts Weltbewegendes macht. Es erschüttert ohne jeden Kraftaufwand.

Wir haben in der Notenwiedergabe nur eine erste Formsuggestion geben wollen. (Achtung: in Takt 22 fehlen die von Bach sehr deutlich geschriebenen b-Vorzeichen vor den Sechzehnteln!)

 Die Welt gerät ins Schwingen

 Der Mittelpunkt G entfalt seine Kraft

 Trugschluss, Coda & Überleitung

Ist das ein Ansatz? Ich vermute, die Begeisterung, die Sympathie für eine bestimmte Interpretation bringt nichts Maßgebliches. Mich interessiert das Werk, nicht eine individuelle Interpretation. Der Anlass, verschiedene Interpretationen zu vergleichen, hätte erst recht kein Ranking zum Ziel. Allerdings begann die Herausforderung mit der neuen CD von Thomas Zehetmair. Ich hatte sie im Ohr, als ich eben behauptete, Hilary Hahn macht nichts, obwohl viel geschieht: pp zu Beginn, ein sehr feines Vibrato, und ein  gelinder dynamischer Zuwachs bis Takt 5, in Takt 6 wieder zum Level 1, und diese neue Zeile in Zweitaktgruppen gegliedert, nach dem Muster der Takte 4 und 5, Konzentration auf die G-Kadenz in Takt 11, deren letzter Ton schon subito p, der Sprung „von oben“ in den „Cis“-Takt 11 sehr sanft, ein mahnender Einschub mit sehr sorgfältig bogenförmig gestalteter Kadenzwendung über den Taktstrich 13/14 hinweg. Takt 15 als Neubeginn, dynamisch an Takt 1 anknüpfend. Der Ton G hat eine besondere Bedeutung (abgesehen von seiner natürlichen Dominantfunktion), behaupte ich jedenfalls in aller Un-Vorsicht, – es ist der Ton des Heiligen Geistes: das dem Pfingst-Choral „Komm, heiliger Geist“ nachgestaltete Fugenthema beginnt mit diesem Ton (meidet den Grundton), und der letzte Takt der Fuge hebt ihn besonders hervor mit der Gestalt des Akkordes C-E-c-g : die leere Quinte darf im Raum weiterschweben. Einzigartig!

Zurück zum Adagio: Was hat es mit dem Einwurf des Taktes 12 auf sich? Es ist zweifellos die Figur einer Interruptio, – der Abschluss der Kadenz wird verweigert, stattdessen erfolgt eine Interjektion, ein Weheruf. Bach hat ihn in einer Kantate folgendermaßen realisiert:

 Kantate BWV 102

An anderer Stelle ist von „Erd und Abgrund“ die Rede (Motette „Jesu meine Freude“):

Es war dieser Takt 12 in Thomas Zehetmairs C-dur-Adagio, der mich einst elektrisierte. Unerhört! Und völlig einleuchtend. Das war 1982. Schon vorher hatte mich Gidon Kremers Bach-Interpretation von der exemplarischen Aufnahme Szeryngs gelöst. Hier aber kam einer, der die Affekte der Bachschen Musiksprache mit Vitalität, ja mit einer gewissen Wildheit umsetzte, an dieser Stelle mit einem subito forte, das man allenfalls nur dem Bach-Sohn Emanuel zugetraut hätte… aber hinter dieser Interpretation des 20jährigen Geigers aus Salzburg, so hatte ich gelesen, stand niemand anders als Nikolaus Harnoncourt, sein Mentor in Wien. In der neuen Aufnahme – nach 38 Jahren – hat ihm der einfache emotionale Gestus nicht genügt, er nimmt den Ton b stark und den Ton cis noch stärker, und anderes wieder anders, ich würde sagen: mich stört nicht die Heftigkeit, sondern der häufige Absturz ins Unhörbare. Er hat sich offenbar bei allem etwas gedacht , und er zeigt es: die Kunst der unterschiedlichen Akkordbrechungen, die im weichen Arpeggio vorgenommene zarte Aufreihung der Einzeltöne, oder die erstaunliche Kompaktkonsonanz des Dreifachklanges, ohne ihn zu quetschen. Ab Takt 23 könnte man Akkord für Akkord analysieren und jeder ist anders, jeder ein bogentechnisches Wunder. Er zeigt uns darüberhinaus, dass bei zwei aneinandergebundenen, gleichlangen Tönen der erste als starker Ton, der angehängte aber wie eine unbetonte Silbe nachfolgt, in Ordnung, allerdings übertreibt er auch hier: oft hört man den Ton überhaupt nicht mehr, gewiss, wir ergänzen ihn intuitiv, entbehren ihn aber nichtsdestoweniger. Und – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Zeile, die mit Takt 30 beginnt, lässt eine schönklingende Sexte mit den Tönen a und fis hören, das angehängte Sechzehntel a aber geht vollständig verloren (es fehlt uns!), und dann veranlasst die Bordunwirkung der leeren G-Saite über 10 einzelne Viertel hinweg den Künstler offenbar, hier nun wieder jeden Einzelakkord für sich zu betonen, – ich will angesichts seiner Leistung nicht von mir reden, aber ich würde auf den Genuss seiner Klangtrophäen inklusive Darmsaiten-Qualität lieber verzichten. Ja, denke ich endlich, ich habe alles gut verstanden, und da wartet dann schließlich noch der Leuchtturm am Ende des Teils B, der diesseitig starke G-dur-Akkord Takt 34 auf Zählzeit 1. Und zum Ausgleich beginnt Teil C  mit einem Nichts von Halteton wie aus dem Jenseits. Nein, ich brauche eigentlich doch Töne, keine Phantome.

Letztlich muss ich inzwischen meine vorläufige Gliederung des Adagios korrigieren, denn die dritte Zeile des ersten Teils wird ja wieder aufgegriffen: der Kadenztakt 11 entspricht dem Kadenztakt 39, dem Einwurf von Takt 12 entsprechen die drei Takte 40, 41 und 42, und die Takte 43-44 sind eine Abwandlung der Takte 13-14.

Das heißt: wir haben eine kleine Reprise, die unauffällig wie ein Abgesang in Takt 34 beginnt und (von Zehetmair wieder vorsorglich markiert) die Stelle von „Erd und Abgrund“ (Takt 40) auf drei Takte dehnt, die Abschluss-Kadenztakte in die Tiefe legt (Takt 43/44). Sodann folgen noch drei Takte modulatorische Überleitung, – das Tor zur Fuge.

*    *    *

Sollte ich beschreiben, wie Christian Tetzlaff diesen Satz spielt, würde ich vielleicht sehr verkürzt sagen „so ähnlich wie Hilary Hahn“, den Takt „Erd und Abgrund“ nimmt er fast zärtlich (obwohl er ganz sicher die frühe Aufnahme von Zehetmair kennt). Auch er hat die Bachschen Solissimo-Werke zweimal aufgenommen, und er tut es in der frühen Aufnahme (Virgin 1994) ebenso wie in der jüngeren (Hänssler 2005). Vielleicht würde ich seine Akkordtechnik untersuchen, er verwendet als einziger so ausgiebig die Rückwärtsbrechung, sehr geschickt aber doch auffällig etwa ab Takt 22. Heute versteht man nicht mehr, warum Georg Kulenkampff (allerdings nur auf die Fugen bezogen) das Rückarpeggieren prinzipiell monierte, weil es den Fugenimpuls störe und „die Darstellung mit einer nicht von innen, sondern nur von außen kommenden Unruhe“ erfülle. Das war 1952 („Geigerische Betrachtungen“ Seite 55) , und seit damals hat die auf Bachs Werke bezogene Violintechnik unglaubliche Fortschritte gemacht. So kann gerade diese Arpeggio-Technik bei Tetzlaff als weiche Verzierung gelten und die nach der Kadenz in Takt 13 erstmalig auftauchenden Terzparallelen in Takt 22 gebührend ausstatten. Während z.B. die wunderbar geigende Isabelle Faust auf das Ausspielen der ersten Terz in Takt 22 und 23 verzichtet, um das obere Quart- bzw. Quintintervall in Ruhe auszukosten. Wenn ich micht nicht irre, entschließt siensich in diesem Satz nur ein einziges Mal zu einem Arpeggio in Gegenrichtung, und zwar in Takt 41 bzw. sie nimmt die beiden oberen Töne des Akkords vorweg und konzentriert sich danach allein auf den Basston A, von dem aus die folgende Sechzehntelgirlande weiterführt.

Übrigens nimmt sie den „Erd und Abgrund“-Takt deutlich im Ansatz stärker, um dann erst nachzugeben zugunsten der gedämpften G-moll-Kadenz. (Bemerkenswert, dass sie vorher die Achtel der Sextparallelen in Takt 11 „zu schnell“ spielt, vielleicht als Vorahnung, dass diese Kadenz noch zu keinem guten Ausgang kommt.)

Ich kritisiere die Meistergeigerin nicht: wenn man die ganze Sonata BWV 1005 mit Isabelle Faust hört, kann man nur staunen, was für ein gewaltiges Werk, was für ein Wunderbau das ist, und dass alles stimmt: von der Majestät des ersten Satzes bis zur atemberaubenden Geschwindigkeit des letzten. Es gibt kein Problem, und man ist glücklich, dass Bach solche Werke für die Geige geschaffen hat (und nicht – oder nur  ganz andere – für die Orgel). Es gibt nichts Größeres, nicht einmal eine zweite Konzertfuge von Bach in dieser Länge!

Nun wird einem die Größe dieses Werkes auch aufgehen, wenn es von einem der technisch versiertesten, zudem temperamentvollsten Geiger, Gil Shaham, realisiert wird; dessen Interpretation (BR Klassik) scheint jedoch vom Zufall gelenkt: das Adagio deutlich zu schnell, dafür mit Riesen-Ritardandi zwischendurch, die Fuge viel zu lustig und dadurch selbst in technischer Hinsicht nicht überzeugend; viele Akkorde wirken ziemlich rabiat, und das braucht der „Heilige Geist“ der Fuge beileibe nicht, wenn man auch sagt, er wehe, wo er will.

*    *    *

Das Adagio der C-dur-Sonata in der Ausgabe von Sol Babitz (1972)

Ich komme auf diese Ausgabe zurück, weil sie das Verständnis der Form unterstützt, indem unsere hypothetischen Sinnabschnitte nun auch auf Zeilenanfänge fallen – und zwar  nicht nur Takt 16, sondern auch Takt 34; darüberhinaus stehen auch die Parallelstellen Takt 11 und Takt 39 am Zeilenanfang, so dass ins Auge fällt, weshalb wir dem dritten Teil (ab Takt 34) Reprisencharakter zugestanden haben. (Wenn auch nicht so offensichtlich wie im Adagio der Sonata I – dort ab Takt 14 – und im Grave der Sonata II – ebenfalls ab Takt 14.)

Nebenbei: es sind Fehler drin, z.B. Takt 10 letzte Sechzehntel sind gleichmäßig, nicht punktiert (zwar ist dort radiert worden, aber ohne eine den Rhythmus betreffende Folgeaktion). Takt 11 letzte Note steht bei Bach als Achtel notiert und sollte auch so gespielt werden, auch wenn es im Paralleltakt 39 anders aussieht; so parallel ist er nun auch wieder nicht.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich an dieser Stelle, dass es die merkwürdige, sehr kunstvolle Clavierfassung BWV 968 des Violin-Adagios gibt, von der man nicht weiß, wer sie angefertigt hat. Für mich ist es sozusagen ein anderes Werk, mit dem ich mich nicht anfreunden mag. Es ist durch Kunst banalisiert. Ich kann aber nicht ausschließen, dass es mich begeistert hätte, wenn es die originale Violinfassung nicht gäbe. Man findet es leicht bei IMSLP (Petrucci), ich zeige nur eine Hälfte und lege sie auf die Seite…

*    *    *

Man könnte es überflüssig finden, wenn ich mich besonders von dem zweiten Teil des Adagios herausgefordert fühle (mit der ungestellten Frage: was ist das geheime Formgesetz, dass diese taktweisen harmonischen Fortschreitungen antreibt?). Ich weiche vorübergehend aus und gebe die klare Übersicht über die Anlage der nachfolgenden Fuge und zwar so, wie sie Hans Vogt in seinem Buch über „Johann Sebastian Bachs Kammermusik“ skizziert hat. Ich würde vielleicht nur eines ändern: nämlich die Teile durchgehend nummerieren, würde auch keinen scheinbar weniger gewichtigen als „Divertimento“ bezeichnen, also von I bis VII (natürlich würde ich nicht vergessen, an die 7 Gnaden des Heiligen Geistes zu erinnern, dies aber als nicht beweisbares Gespinst auf sich beruhen lassen).

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Voraussetzungen, Analysen, Einzelwerke / Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981 / ISBN 3-15-010298-7

Skizze zur Form des Mittelteils

Seitenblick (morgens um 9 Uhr)

Der Schlern im Frühnebel, Blick von Obervöls nach Osten, 20.09.2020

Bach Mittelteil des Adagios BWV 1005, Takt 15 bis 34 („il filo“)

Tagesarbeit mit Bach

Der Schlern am Abend

Man wird es nicht glauben: aber die obige Notation ist ein Ergebnis stundenlangen Nachdenkens und immer neuer Ansätze und Deutungen. Mit dem Stichwort „il filo“ erinnere ich mich an Mozarts Schaffensprozess, der aus dem ersten Entwurf konsequent einen „Faden“ entwickelte, und nur dieser musste dastehen, wenn er ein Werk als „komponiert“ betrachtete (siehe auch hier, gegen Ende). Bach muss keineswegs ähnlich vorgegangen sein, aber mir schien eine solche „Kurzschrift“ hypothetisch sinnvoll, wenn ich ein komplexes oder für mich undurchsichtiges Werk zu erfassen suche. Ich verknappe also den Notentext auf das, was ich als Erinnerungswert unbedingt brauche, um die Intentionen eines Verlaufes zu verstehen. In diesem Fall reagierte ich mit ungläubigem Staunen, als sich immer deutlicher herausschälte, dass der Mittelteil des Adagios sich folgendermaßen in Taktgruppen gliedert: 3 + 4 + 5 + 4 + 3.  So entstand die obige schriftliche Gestalt, die allerdings noch zu verifizieren ist.

Aus den frühen Studien Christoph Bergners zu den Präludien des Wohltemperierten Klaviers habe ich gelernt, wie Bach zuweilen absichtlich den allzu glatten Proportionen ausweicht, sie geradezu im Arbeitsprozess untergräbt durch „Dehnungen“ oder Verkürzungen. Mein erster Versuch galt dann dem Praeludium der Cello-Suite II, dessen Form ich in einem erhellenden Schriftbild darstellen wollte, statt mir mit Worten wie „improvisationsähnlich“ auszuhelfen, siehe hier.

Im Fall des vorliegenden Adagios muss ich „meine“ Gliederung Gruppe für Gruppe begründen können. Ich begann – mit immer neuen Versuchen – herauszuhören, ob eine Phrase, ein Motiv, eine Notenfolge für sich steht oder weiterstrebt, oder ob bereits ein reflexives Abklingen einsetzt. Was in diesem Fall manchmal schwierig zu entscheiden ist, weil der Eindruck eines gleichmäßigen Schwingens dominiert. Das was man als Interpret daraus macht, kann künstlich projiziert sein, z.B. wenn Hilary Hahn in dem Takt 38 – der allerdings hier noch nicht zur Debatte stand – auf der gehaltenen Sexte h/g ein ausgeprägtes Crescendo bringt, das zur C-dur-Kadenz hinzielt, aber doch sehr un-Bachisch wirkt. Dass dieser eine Sextklang länger gehalten wird als jeder andere, hat mit der bedeutungsvollen „Süße“ der ganzen Wendung zu tun, die eben den G-dur-Höhepunkt „im Herzen bewegt“.

Adagio Mittelteil (Takt 15 bis 34) Rh = rhythm. Figur punktiertes Achtel plus Sechzehntel, jeweils 2- bis 3mal hintereinander. B=Bass etc.: tatsächlich ist das Adagio dreistimmig gedacht, trotz der vierstimmigen Akkorde; ganz deutlich in den „Soli“ Takt 40-42.

3 Takte ab T.12 Bassgang pro Takt G – A – A / Rh taktweise aufwärts von Bass zu Mittelstimme  u Sopran /

4 Takte ab T.18 Bassgang pro Takt A – H – C – B  (erweitert) / taktweise von B zu S zu M zu S, Akkorde in M u S sukzessive verschärft, Dom.sept.akk. in Richtung F-dur

5 Takte ab T. 22 Terzenmotiv F-dur, echtes Motiv über zwei Takte, zugleich Modell für die nächsten zwei Takte d-moll, 1 Zusatztakt Dom.sept.akk. in Richtung C-dur

4 Takte ab T. 27 Sextenmotiv C-dur (mit Neigung F) , Motiv über drei Takte + 1 Takt Dom.sept.akk. in Richtung G-dur

3 Takte ab T. 31 Orgelpunkt G 10mal G-dur (mit Neigung C)  + eine melodische Aufwärtsbewegung bis G-dur-„Abschluss“ (wird im letzten Teil exzeptionell fortgesetzt, Takt 38)

Adagio Letzter Teil (Takt 34 bis 44 erstes Achtel)

Niemand unter allen Interpret/innen spielt nach dem großen G-dur-Akkord – der geigerisch das Einfachste ist, was man als Akkord anbieten kann – weiter, als sei nichts geschehen. Und was kommt – ist auch nur eine Sequenz, eine Sequenz des rhythmischen Motivs, das wir nun -zigmal gehört haben, immerhin zum erstenmal unter einem Dach von zarten Haltetönen, g – f – e / → a, und mündend in eine überirdisch schöne, abgewandelte Form, eine Geste, die nach Deutung verlangt: der höchste Ton des Stückes wird erreicht, der nur ein einziges Mal vorkam, und zwar in Takt 9 innerhalb einer Figur des Leidens, der Seufzer-Figur, die dort in einer Steigerung von Takt 5 über Takt 7 zum dritten Mal vortragen wurde. Hier in Takt 37/38 wird die erlösende Antwort gegeben.

Völs 22.09.2020 um 4:30 h

Es ist mir aufgegangen, dass ein entscheidender Punkt die Verwandlung des Rhythmus ist: aus dem „normal“ punktierten wird in Takt 37 ein „lombardischer“, und zwar demonstrativ: vor dem Sechzehntel-a steht eine Sechzehntelpause und macht aus dem rhythmischen Glied, das auf Zählzeit 1 in dem Takt vielleicht noch jambisch gedacht ist, ein lombardisches. Daher auch die unerhörte Wirkung der (von Hilary Hahn instinktiv mit einem Crescendo versehenen)  „langen“ 1 am Anfang des Taktes 38; sie ergibt mit dem nachfolgenden Achtel (a-moll-Akkord) einen verdoppelten Trochäus, kombiniert gar (auf Zählzeit 3)  mit einem „falschen“ Iambus, besser gesagt: dem lombardischen. Unvergessen ist die rhythmische Verwandlung der Zweiergruppen von Takt 4 zu Takt 5. Ich denke an die Rekapitulation dieses Taktes aus dem Grave der Sonata II, und ich denke an den herrischen Rhythmus der Allemande in Partita I.

Eben war ich aufgewacht (nach vielen vergeblichen Suchaktionen gestern Abend) mit dem Gedanken an ein bestimmtes Bachsches Praeludium, das ich aber nicht ganz aus dem Gedächtis rekapitulieren kann. Was mir jederzeit präsent ist, ist die überirdische Wendung vom Ces-dur-Trugschluss über as-moll zum Sextakkord in Es-dur (mit dem G im Bass). Morgen früh werde ich es über IMSLP aufrufen (im Gedenken an Paul Badura-Skoda, der es in Bach-Interpretation [1990] so intensiv analysiert hat), fotografieren und hier einsetzen:

(es war ein Erinnerungsfehler! WTK I BWV 853 es-moll)

EXKURS

Also Fehlanzeige, was die gesuchte melodische Wendung angeht (C-dur-Adagio Takt 37 zu 38). Um so erstaunlicher für mich, dass wieder – wie dort – der gespreizte Septakkord F-e-a eine Schlüsselfunktion spielt: so hier im es-moll-Praeludium als Ergebnis der Dominant-„Auflösung“ in den Trugschluss (T.28 in 29), Ces-(es)-b-es, und so auch in dem g-moll-Adagio BWV 1001: Takt 3, wo man allerdings die seit bald 300 Jahren übliche Korrektur des dritten „Bass“-Tones in der Bach-Handschrift von E zu Es akzeptieren muss, – worüber ich im Blog schon allerhand Worte verloren habe, seit durch Isabelle Faust die buchstäbliche Lesart mit E wieder Schule gemacht hat.

Übrigens ist es nicht abwegig, diese Schlüsselwendungen zu vergleichen, da – abgesehen von Dur und Moll – wieder der geigerische Grundakkord (leere G- u D-Saite plus 1. Finger auf A-, 2. Finger auf E-Saite) den Ausgangspunkt des Tonsatzes abgibt. In (dorischem) G-moll mit dem Bass-Gang G-F-Es-[D], in G-dur mit den modulierenden Sequenzen E-D-Cis-A / D-C-H-G / C-B-A-G / F – – – E – D – – C.

Zurück zur motivischen Gestalt der Adagio-Takte 26/27 der Sonata C-dur!

Wir gehen also aus von dem eben so genannten „gespreizten Septakkord“, sehen den vom Trochäus zum Jambus umgewandelten Rhythmus, die Sextparallelen und den Sprung vom hohen C (+e) abwärts zum G (+h), welche Tonbuchstaben ich nicht als „heiliger Geist“ lesen möchte, weil die Musiwissenschaft kein Ratespiel ist. Obwohl ich mich frage, ob es letzlich etwas anderes ist, wenn ich in Bachs Werk nach einem ähnlichen, jedoch mit Text verbundenen Motiv suche, das – freundlich (aktiv) von oben nach unten gewandt – glaubwürdiger mit einer veränderten Bedeutung belastet werden kann, die ich freilich in diesem Motiv längst fühle. Und es korrespondiert mit dem Klagemotiv, das wir in Takt 7 als Ziel der scheinbar in sich selbst pendelnden Trochäen erlebt haben…

Im Augenblick geht mir ein einziges Motiv nicht aus dem Kopf, das aus einer Oper (?) von Campra stammt; allerdings springt es nach dem Dreitonanstieg a-h-c zum E hinab. Spitzenwendung später „l’amour, l’amour“. Eindeutig a-moll. (Es muss „Europe galante“ sein, ich denke an unsere Aufnahme mit René Jacobs… nein, siehe Link). – „Zufall“. Was tun? Der Nachweis einer Figur wie der Pathopoeia würde gar nichts bringen. Jeder Komponist kann ein bisschen mit vorgefertigter Chromatik hantieren. Aber erst die Konstellation der Elemente bringt die Wirkung genialer Kunst hervor. Zum Beispiel in der ersten Zeile des Adagios wirkt der Seufzer-Takt erst dadurch großartig, weil ausgerechnet er das prächtig anwachsende Bimbam krönt und die Kraft der gleichmäßigen Bewegung ins Tragische überführt. Und die hier behandelte Lösung der Ereignisse in Takt 38 wirkt dadurch erlösend und ergreifend, weil andere großartige Lösungen schon vorher angeboten wurden, z.B. die mit Terzen (Takt 22) und die mit Sexten (Takt 27).

(Fortsetzung sollte folgen)

Nachtrag am 8. März 2021 Hören und staunen!

Kammermusik absolut

Über das Artemis-Quartett, das …

ich gestern 15. Januar in der Kölner Philharmonie nicht wahrnehmen konnte (weil der Husten, den ich von der Küste mitgebracht habe, nicht zumutbar war)  – Freund Odenthal war dort und berichtete über die wieder neue Formation – begeistert – und ich war tagsüber mit den opera 95, 96, 97 beschäftigt, streng genommen hätte mich opus 130 plus Große Fuge etwas aus der Bahn geworfen. Ich weiß nicht, warum mich dieses kurze Video dann so ergriffen hat, der Zufallsfaktor darin, der Ernst im Spiel, die Erinnerung an viele andere Begegnungen, z.B. mit dem C-dur-Quartett op. 59 Nr. 3 mit dem Fugenbeginn, Friedemann Weigle in Positur, unnachahmlich, Eckart Runge am Cello-Podest, ich werde das alles nie vergessen, eine unzerstörbare Assoziationskette zurück bis zur Serie der Beethoven-Quartette mit dem Alban-Berg-Quartett 1987/88.

Ich hatte gerade in dem Adorno-Band „Beethoven – Philosophie der Musik“ (Suhrkamp 1993) über die Violinsonate op. 96 nachgelesen und war im Begriff, einiges abzuschreiben, stark motiviert im Blick auf Samstag in Bonn, hier.

„Eine der großen Kategorien Beethovens ist die des Ernstfalls, des Nicht-länger-Spiel-Seins. Diesen Ton – der stets fast der Transzendenz zur Form sich verdankt – hat es vor ihm nicht gegeben.“ (Seite 243)

… vor ihm nicht gegeben?

Die G-dur-Violinsonate op. 96, die ich am wenigsten von allen kenne (mehr noch: ich habe früh eine Sperre entwickelt), schien mir jetzt im Gegensatz zu den benachbarten Werken wirklich zuwendungsbedürftig: das Quartett op. 95 haben wir bei Prof. Günter Kehr studiert (damals schon mit Freund H.H. Odenthal als Primarius), das Erzherzog-Trio op. 97 kannte ich schon von meinem Vater: wir Kinder haben im Konzert bei der Pizzicato-Stelle dümmlich gelacht, später habe ich mich dessen geschämt: während der Studienzeit habe ich es ständig vom Tonband gehört, zuerst vom Trio di Trieste, dann vom Beaux-Arts-Trio, es war mein Non-plus-ultra. Die Violinsonate op. 97 hörte ich im Hochschulkonzert von Jörg-Wolfgang Jahn, sicher sehr gut, beschloss aber, das Werk nie selbst einzustudieren (im Examen spielte ich die Kreutzer-Sonate), letztlich aufgrund einer törichten Fehleinschätzung. Heute habe ich manches wettgemacht, hörend (ohne Noten) und lesend, – „Beethoven Interpretationen seiner Werke“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996) Bd. II Seite 86 bis 92, sehr gut: Peter Cahn. Ich bemerkte, wie ich mich damals getäuscht habe, schon das Thema hatte ich dürftig gefunden, wie eine Verlegenheit.

Als ich die Youtube-Aufnahme jetzt aufmerksam ohne Noten hörte, 3 Minuten Exposition, 3 Minuten Wiederholung, Durchführung, wurde ich in den Bann gezogen (der „rührende“ Ernst der Interpretinnen hier), bis ich schließlich, eingelullt von den Triolen, auf die Reprise wartend, erst nach einigen weiteren Takten erkannte, dass sie sich ganz unvermerkt eingeschlichen hatte. Und hielt es für ein Manko meiner Höreinstellung, es war aber die Raffinesse Beethovens.

Adorno zum „Sich-Zeit-lassen“ (Seite 141 f). Er spricht vor allem über das Trio op. 97. (Darin habe ich es früh erkannt und gefühlt, nicht in der Violinsonate.)

In op. 97 etwa ist die Tonika (äußerst gewagt) einen Takt vorm Einsatz der Reprise schon da [T. 190], aus eben dem doppelten Grunde, daß die Reprise dann ganz dicht anschließt, weil sie ja nicht als Climax kommt, und daß sie, weil das harmonische Hauptereignis in der aufgelösten Kadenz schon vorausging, unscheinbar bleibt. Der piano-Einsatz des Hauptthemas ist bescheiden, verbunden und doch – gegenüber dem Reprisentypus des intensiven Stils – von vorn beginnend, gleichsam Atem holend – wie dieser ganze Stil (…) das Element des Atemholenden hat. Es ist das Absetzen des Erzählers in der durchgehaltenen Einheit der langen Erinnerung. Die Reprise wird in diesem Stil zum „Darauf-Zurückkommen“, zum Eingedenken. Übrigens hat der letzte Takt vor der Reprise Verwandtschaft mit dem berühmten der Eroica. Denn er ist nicht einfach die Tonika, sondern eine Überschneidung von Tonika und Dominante, damit, bei engster Verflechtung, die Reprise doch Atem holen kann, aber nicht als Erfüllung oder Neues, sondern gleichsam als Reinigung; als Hervortreten der schon vorher erreichten, aber verdunkelten Tonika, die sich jetzt herauslöst und rückwirkend spricht: ja, das ist so und so ist es schon wieder. Es ist eine der kunstvollsten und zerbrechlichsten Stelle bei Beethoven. – In op. 96 ist auch ein tour de force: dem Kopfmotiv wird, unter Ausnutzung seines Rufcharakters und wieder durch die spielende Unverbindlichkeit des Trillers, eine Art Exterritorialität gesichert, dann aber wird es doch wieder, trotz der Aufgelöstheit, als Anfang gedeutet, und ehe man sich besinnt, ist man wider drin. Der subtile Betrug, der allemal hier waltet, deutet auf die Aporie des extensiven Typus hin und diese Aporie erzwingt dann den Spätstil.

Quelle Theodor W. Adorno Beethoven / Philosophie der Musik Suhrkamp Frankfurt am Main 1993 ISBN3-518-58166-X (Seite 143 f)

(Die letzten Worte werfen Fragen auf, – das weiß Adorno, denn er fährt zwei Zeilen später fort: „Es ist das Problematische, Riskierte, Exponierte des extensiven Typus sehr herauszustellen.“)

Die erwähnte Stelle im „Erzherzogtrio“, linke Seite mitten in der Pizzicato-Stelle, über die wir Kinder gelacht haben. Die Reprise in Takt 191. (Youtube-Aufnahme genau 6:52.)

Die gleiche (ähnliche) Stelle wäre wahrzunehmen in der schon angeführten Aufnahme der (Klavier-) Violinsonate ab etwa 6:00, die Reprise hört man – wenn man sie nicht verpasst –  genau bei 7:18. (Auch die Gegenbewegungskontrapunktik vorher ist vergleichbar.)

Für den langsamen Satz (Video ab 11:33) gilt in noch höherem Maße, dass man sich ihn erarbeiten muss. Wenn man die Melodie nicht versteht – sie scheint so klar, dass man mit ihren Schwierigkeiten nicht rechnet, man denkt vielleicht an den langsamen Satz der „Pathétique“ – fragt sich zugleich, was denn daran misszuverstehen ist. Einfach schön. An den langsamen Satz des 5. Klavierkonzertes, – da ist die Gliederung klar und eindeutig. Ein Hymnus. Hier aber hilft kein Blick in die Noten, Klavier im vollen Satz 8 Takte, die Geige tritt endlich ein (Melodiegarantin) und klärt – gar nichts. Sie hängt sotto voce  dem Takt 8 des Klaviers nach, im nächsten Takt macht das Klavier dasselbe eine Oktave höher, und wiederum der nächste Takt isoliert den Schlussakkord, hängt ihm nach. Was soll das? War es so bedeutend, was bis hier erreicht wurde? Erst die letzten zwei Töne der Geige, mit espr.-Angabe hervorgehoben, auftaktig, haben ein Ziel, und der erste Ton des 12. Taktes, das ist fast wie eine große Geste in klein, – ich denke an Brahms, Violinkonzert, zweiter Satz, Takt ? – dort schien sie mir das schlichte Anfangsthema aufzugreifen und durch Opulenz zu verderben – hier ist es das Klavier, das mit seiner synkopischen Begleitfigur, die dem Geigenauftakt nachgebildet ist, alles vollends zu verunklaren scheint. Die Geige holt Ende des 14. Taktes noch einmal auf gleiche Weise aus wie Ende des 11. Taktes, also wird wohl jetzt … eine ordentliche Periode daraus, nein, es scheint nur so, denn dass der Takt 17 in Takt 18 wörtlich noch einmal erscheint, stört doch erheblich, was helfen da noch die 64stel-Ketten molto dolce, wenn nichts als eine Abschlusskadenz folgen soll, als sei nun Großes erreicht; man glaubt es nicht recht, mag der Abschlusston As auch durch sein cresc. zeigen wollen, dass noch lange nicht zuendegesungen ist…

Ich muss nicht betonen, dass dies böse Gedanken waren, die man besser verschweigt; aber es ist wie die Stimme meines Bruders in der Kindheit, wenn er mir nachweisen wollte, dass „meine“ Musik nichts wert sei im Vergleich zu der von ihm präferierten. Irgendwie hatte er auch recht, jedenfalls konnte ich ihm dann gerade nichts aus tiefstem Herzen entgegensetzen. Das tiefste Herz, das „Gefühl“, hatte er gepachtet.

Heute kam es mit einem Schlag, mit dem Stichwort Choral (das schon durch das Wort „Hymnus“ vorbereitet war). Es ist ein anderer Typus von Melodie, einer der auf engstem Raum mit Tönen spielt wie mit Glockenschlägen. Auch die „Freuden“-Melodie ist von dieser Art, oder die Melodie der Chorfantasie op. 80, die mir immer etwas peinlich war (ich wollte sie „groß“ finden, und es gelang nicht). Ich muss die Melodie als Choral aufschreiben, um das wirklich zu begreifen (ohne alle Akzidentien):

Es ist unerhört schwer zu spielen – und zu hören. Weil es so einfach ist. Ich bin sicher, dass man die Aufnahme anders hören wird als vorher, das Innehalten, das Weiterfließen, die unerhörte Kraft der Interpretation, die scheinbar ohne Anstrengung gelingt. Was für eine Wiederkehr des Themas in der Violine bei 14:50!!!

Man höre auch die sehr dichte Aufnahme Argerich/Kremer; was mich in diesem Satz stört ist allerdings die (zeit-, generationsbedingte) Amplitude des Violinvibratos.

*     *     *

Soweit am Morgen vor dem Konzert. Danach ist alles anders. Jetzt erst kenne ich die Sonate. („Du musst dein Leben ändern!“) Ich übertreibe. Vielleicht hätte ich es damals so pathetisch gesagt. Aber jetzt? Was tun?

(Henle-Verlag Herausgeber: Sieghard Brandenburg)

Beginne ich – eine Ausflucht! – als Pedant: hat der Triller auf der ersten Note der Sonate wirklich 2 Töne als Nachschlag? Soll er sie haben? Erst in der Konsequenz (jedes Mal!) stört es mich eher als dass es mich freut. (Niemand sonst spielt sie!) Hat der späte Beethoven den Nachschlag stillschweigend vorausgesetzt, während er sonst in Kleinigkeiten so pingelig war? Es geht ja nach dem Nachschlag nicht zum benachbarten Ton, sondern eine Quarte hinauf; hätte Beethoven ihn nicht wenigstens in den ersten Takten hineingeschrieben? (Man vergleiche „Erzherzog“ Klavier Takt 7: dort stehen die Nachschläge, obwohl sie eigentlich selbstverständlich sind.) Wahrscheinlich … hat jemand Hummels Ausführungen über Ornamentik missverstanden. – Aber ich bin nicht im Konzert gewesen als Kritiker. Ich bin erschlagen vom Gesamteindruck, also halte ich mich lieber ans Konkrete: ein solches Festival ist ein lebendes Monument. Ähnlich wie heute noch – Jahrzehnte im Nachhinein – die Aufführung aller Beethoven-Sonaten durch Alfred Brendel (trotz Levin), aller Streichquartette durch das Alban-Berg-Quartett (trotz Artemis) in den 80er Jahren. Wie vorher die Bach-Sonaten und -Partiten durch Isabelle Faust (wenn es Thomas Zehetmair nicht gäbe, der nicht „besser“ spielt, sondern nur anders, cum grano salis: unberechenbarer). Isabelle Faust ist ein Phänomen.

Gedanken vor Beginn: Warum steht auf dem Rückumschlag des Programmbuches als zweiter Name, gleich unter Beethoven, der Name Olli Mustonen? Über die Nennung in der Reihe der Interpreten hinaus? (Für mich ist er seit der CD mit op.109 als Beethoven-Interpret völlig inakzeptabel. Als Komponist interessiert er mich nicht.)

Von den Niederungen der menschlichen Physis

Für manche älteren Zuhörer hätte das Konzert mit einem persönlichen Desaster enden können, für mich zum Beispiel vor zwei Jahren, als ich des öfteren mit Cystitis zu tun hatte: im Anschluss an die wahrhaft atemberaubende Wiedergabe des Beethovenschen  Quartetts op. 95 trat der freundliche Organisator des Festivals vor das Publikum (es war ausverkauft) und teilte mit, dass für den Rest des Abends die Toilettenanlage für Künstler und Gäste wegen eines Defekts geschlossen sei, die Nachbarn des Beethovenhauses würden sich freundlicherweise hilfreich zeigen… (Für uns bedeutete das: von 19:05 bis 22:05 Uhr begeistertes, aber auch tapferes Ausharren, danach fanden wir Asyl in der nahgelegenen Kneipe „Zur ewigen Lampe“, die Atmo war umwerfend, zum Ausgleich gönnten wir uns noch 3 Kölsch.) Nach der Violinsonate trat derselbe nette Herr noch einmal vor, um nach einem Augenarzt zu fragen. Wir entwickelten augenblicklich Empathie für den Pianisten, der mehrmals die Brille abgenommen hatte, augenscheinlich um Schweiß von der Stirne zu wischen, aber vielleicht steckte ja mehr dahinter. – Es gab in der letzten Reihe oben ohnehin besorgte Blicke unsererseits: nach links, da saßen dezente, spanisch sprechende Mitwirkende des Festivals, weiter hinten Tabea Zimmermann, die sich gewiss nicht mehr an unser Interview in den 90er Jahren erinnern würde, aber auffallen wollte ich um keinen Preis; rechts von uns hatte Daniel Sepec und das Novus String Quartet Platz gefunden, wer will in dieser Umgebung schon aus niederen Gründen den Saal verlassen… Alles ging gut. Ich möchte diesen Abend nicht missen.

 

Wenn der Geist zu uns spricht

Was mich in der Sonate op. 96 vor allem überraschte – nach einem himmlischen langsamen Satz – war der Witz der Interpretin (ich hebe die Geige hervor, weil sie von ihrer melodischen Natur her nicht dazu verlockt), auch in den Tempo-Nuancen des Finales vollkommen bezaubernd. Man vergisst fast, welche Schwierigkeiten quasi en passant zu bewältigen sind. Und eine letzte Frechheit zum Schluss, wenn man nichts mehr vergessen machen kann: ähnlich wie bei Haydn die „Jakobsleiter“ in höchster Höhe und, wie man sieht, im autographen Skript mit einem absurden Fingersatz (4 4 4) versehen, – alles blitzsauber gespielt und geradezu verrückt inszeniert auf dem Weg vom poco Adagio ins Presto, so dass im Publikum Lachen und Applaus zusammen losplatzen.

(Man sieht in der Henle-Ausgabe, wie sorgfältig das Autograph beobachtet wurde, die Bezeichnung der Violinstimme ansonsten: Max Rostal) Von den beiden folgenden Bildern könnte man mindestens eins als überflüssig betrachten, zwischen ihnen liegt eine geraume Zeit des Beifalls für die Interpreten, beim Hinausgehen und der Wiederkehr zum Verbeugen, die Saalbeleuchtung geht an, die Realität kehrt zurück usw., ich finde es wichtig, diese Zeit außerhalb der Musik zur Kenntnis zu nehmen. Überhaupt: das Publikum, das man üblicherweise für sein Stillschweigen lobt, den Atem der Konzentration. Ich möchte ein anderes Wort in den Vordergrund rücken, es kommt aus der Mitte der Arena, es geht von der Bühne aus.

Das Klaviertrio op. 97, dem Erzherzog Rudolph gewidmet, – er wird freundlicherweise im Programmheft durch Wiedergabe seines Konterfeis geehrt -, es ist das Meister-Trio des 19. Jahrhunderts, alles was danach kommt, wird daran gemessen.

Das Zauberwort dieser Aufführung heißt Kommunikation. Man könnte ausführlich über die Paradoxie schreiben, zwei Streicher – hoch und tief – und ein übermächtiges, allmächtiges Tasteninstrument miteinander in Beziehung zu setzen. Aber nach 14 Takten ist es klar, wie es gelingt, wie zuerst das Cello, dann die Geige – noch ehe die herrliche Klaviermelodie vollständig aufgebaut ist – sich zu Wort melden: wir zwei haben etwas dazu zu sagen. Und schon beginnt man, Jean-Guihen Queyras im Auge zu behalten, mit welchem Charme er – auch ohne zu lächeln – seine Kommentare oder Bedenken vorträgt, mit welcher Emphase er seine leuchtenden Statements platziert , mit welchem Understatement die Doppelgriffstelle der beiden Streicher harmoniert, wenn sie das Klavier zum zweiten Thema hin geleiten. Unglaublich was im Scherzo an Einfällen aufblitzt, was speziell der Cellist sich im Mittelteil traut, besonders in der Chromatik, ein mikrotonales Spiel im Grenzbereich „falscher“ Töne. Ein Vergnügen. Überraschungen allenthalben, mit dem Risiko, dass man im 8taktigen Wechselspiel auch beim Finale ständig etwas erwartet, einen Dynamikschock, eine Rubatoandeutung, auf die Gefahr hin, dass fromme Kunstjünger vielleicht den Zerfall in Puzzleteile zu fürchten beginnen. Andererseits ist dies die Kehrseite der unglaublichen Ausblicke, die der langsame Satz gewährt, der ergreifende Abgesang der letzten Variation und – der Blitzeinschlag, der Aufruhr ankündigt (es ist nur f, nicht ff) und ein Gassenhauerthema gebiert, das von Rhythmus und Frechheit bebt.

Ich übertreibe vielleicht die Wirkung des Live-Erlebnisses, ich könnte mir im Augenblick nicht vorstellen, ob das geniale Ganze genauso auch in einer Aufnahme funktionieren würde, in der man die Geigerin, den Cellisten, den Pianisten also nicht leibhaftig miteinander kommunizieren sieht: die beiden Streicher als konträre Typen, mit einer Körpersprache und Mimik wie Nord und Süd, die einander an Witz und Ausdruck doch völlig kongruent sind, der Pianist, der durchaus nicht, wie einst Menahem Pressler im Beaux-Arts-Trio, permanente Führung nach außen projiziert, und doch dreinschlagen kann wie ein Donnergott. Ich würde lieber noch dreimal in das gleiche Konzert gehen, um mir jedes Detail, jede Taktgruppe in der physischen Realität einzuprägen.

Und mir all dies vorzustellen, wenn ich die Noten wieder durchgehe oder mich der alten Analysen erinnere, die ich vor (wieviel? 30???) Jahren für die Gesamtaufnahme mit dem Abeggtrio angefertigt habe. Vielleicht werde ich sie als nächste Beiträge in diesen Blog setzen; die Notenbeispiele und Zitate zumindest haben bleibenden Wert.

Wenn ich jetzt den Cellisten vielleicht über Gebühr hervorgehoben habe, so liegt das daran, dass ich ihm und seiner Spielweise schon früher aus anderem Anlass einige Aufmerksamkeit gewidmet habe: als sich seine Offenheit für die Musik anderer Kulturen zeigte, in der Zusammenarbeit mit den iranischen Brüdern Chemirani und dem kretischen Lyraspieler Sokratis Sinopoulos. (Siehe im Text vom „Glück der Unruhe“ hier.)

All das will ich ebensowenig vergessen wie die Bach-Interpretationen und das Schumann-Konzert mit Isabelle Faust. Von allen Menschen, die Geige spielen auf diesem Planeten, gehört sie zweifellos zu den unfehlbarsten.

Unvergesslich. Wie übrigens auch die kompakte Darstellung des wilden f-moll-Quartetts op. 95 durch das koreanische Novus String Quartet im Beethovenhaus.

(Handyfotos: JR)

Neue Musik – ein phantastischer Kosmos

Geigerinnen bei Peter Eötvos

Freund Berthold hat eine begeisterte Kritik geschrieben, und es wundert mich nicht: er hat offensichtlich recht; lesbar wohl nur hinter einer Bezahlschranke, aber für alle Fälle hier verlinkt. Zitat:

(…) eine Art klingender Spaziergang durch die Alhambra, jedoch auch mit ungarischen Rhythmen, es ist ja ein ungarischer Kosmopolit, der das Bauwerk durchschreitet – eine Reflexion über das Fremde also. Die Geige bleibt dabei immer tonangebend, ohne sich eitel in den Mittelpunkt zu stellen – ganz im Stil der Violinkonzerte von Schönberg, Bartok oder Ligeti (und letztlich auch Beethoven) ist die Solovioline hier nicht mehr eine virtuos konzertierende Solistin mit Begleitung eines Orchesters, vielmehr wird gemeinsam und vielstimmig Musik gemacht – mit der Violine als Impuls-, Ideen- und Taktgeberin, bei Eötvös ergänzt von einer begleitenden, umgestimmten Mandoline. Die unterstreicht einerseits das spanische Flair, um dann andererseits immer wieder zu irritieren – sie ist eine Art Sancho Panza zur solierenden Don-Quijote-Violine. Deren Solopart ist irrsinnig virtuos, und es ist atemberaubend, mit welcher Selbstverständlichkeit Isabelle Faust auch allergrößte Schwierigkeiten und all die höchsten Töne bewältigt und ihre Virtuosität doch jederzeit in den Dienst der Musik stellt. Da ist kein Protzen und kein eitles Zurschaustellen des Könnens, Isabelle Faust macht deutlich, dass sie nicht nur zu den größten Geigerinnen unserer Zeit zählt, sondern auch eine bedeutende Musikerin ist.

Quelle Neues Deutschland 10.09.2019 Höhere Wesen befehlen: Mehr Xenakis! Ein toller, aufregender Abend beim Berliner Musikfest mit den Philharmonikern und Peter Eötvös / Von Berthold Seliger

Ich habe mich auf Peter Eötvös konzentriert, nicht zum erstenmal, aber es war der Titel des Violinkonzertes Nr. 3, der mich magisch anzog, „Alhambra“, ebenso das Soloinstrument, leider im Fall Isabelle Faust nicht als Live-Video abrufbar. Oder doch, vielleicht in Ausschnitten, versuchen Sie es doch hier, drücken Sie auf den Button „Trailer ansehen“. Ich hoffe, dass der Zugang erhalten bleibt, auch wenn das Konzert schon etwas zurückliegt. Hier ein paar Bilder aus dem Interview der sympathischen Künstlerin, das nicht hier, sondern weiter unter verlinkt ist.

 

An dieser Stelle möchte ich zunächst das 2. Violinkonzert direkt zugänglich machen, das ebenfalls unter der Leitung des Komponisten, jedoch  mit der Geigerin Patricia Kopatschinskaja festgehalten ist: ein ganz anderer Typus in der Darbietungsform, wie immer eher etwas exaltiert, aber daher um so instruktiver im violinistischen Bewegungsablauf.

Violinkonzert Nr. 2 mit Patricia Kopatschinskaja

Violinkonzert Nr. 3 mit Isabelle Faust (im externen Fenster hier):

Die Aufnahme stammt von der UK-Uraufführung, nicht aus Berlin, hier also mit dem BBC Symphony Orchestra am 24. Juli 2019 in der Londoner Royal Albert Hall unter der Leitung von Peter Eötvös.

Im folgenden spricht Isabelle Faust über dieses 3. Violinkonzert von Peter Eötvös, das ihr gewidmet ist, u.a. über die leicht verunglückte Aufführung in der realen Alhambra hier. Aufführungen am 7. und 8. September in der Berliner Philharmonie. .

Auf derselben Seite findet man den folgenden Programmtext über das Werk:

Die »japanische, französische, deutsche, englische und amerikanische Kultur« haben den 1944 geborenen ungarischen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös nach eigener Aussage in der Vergangenheit zu musikalischen Werken inspiriert. In den letzten Jahren geriet dann noch ein weiterer Kulturkreis in den Blickpunkt des kompositorischen Weltenbürgers: die Musiktraditionen des Baskenlands und Spaniens. Das als Auftragswerk des Internationalen Tanz- und Musikfestivals in Granada, der Stiftung Berliner Philharmoniker, der BBC Proms und des Orchestre de Paris entstandene Dritte Violinkonzert ist von der Architektur und Geschichte der Alhambra als inspiriert.

»In der Festung Alhambra zeigt sich mustergültig die Verschränkung von spanischer und arabischer Kultur, die dank Komponisten wie Manuel de Falla, Claude Debussy, Maurice Ravel und vielen anderen Eingang in die westliche Kunstmusik gefunden hat. Die zahlreichen Brunnen, die sich in der Burganlage finden, die umgebenden Berge, der unglaubliche andalusische Sonnenuntergang – all das wurde Teil meines Stückes«, meint Peter Eötvös. Die weltweit gefeierte Geigerin Isabelle Faust, regelmäßiger Gast der Berliner Philharmoniker und des Musikfest Berlin, die das ihr gewidmete Werk im Juli 2019 in Granada uraufführte, stellt Eötvösʼ Drittes Violinkonzert Alhambra unter der Leitung des Komponisten als deutsche Erstaufführung nun auch in Berlin vor.

 Tuxyso / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 

Auf den Seiten des Schott-Verlages hier ist noch das folgende, erweiterte Statement des Komponisten zu finden:

Die zahlreichen Brunnen, die sich in der Burganlage finden, die umgebenden Berge, der unglaubliche andalusische Sonnenuntergang – all das wurde Teil meines Stückes. Angelehnt an das Wort Granada ist die wichtigste Note des Stückes der Ton g, eine Art Gravitationszentrum, das im Verlauf des Stückes immer wieder erreicht wird. Da ich eine Vorliebe für musikalische Kryptogramme habe, habe ich die Buchstaben A-L-H-A-M-B-R-A in die Hauptmelodie eingebaut.

Die Violine ist die Protagonistin des Stückes, aber sie (oder er) hat einen konstanten Begleiter in Form einer Mandoline, die in Skordatur gestimmt ist. Da die Melodie von dem Wort Alhambra abgeleitet ist, sind die wichtigsten Intervalle des Violinkonzertes die Quinte und der Tritonus. Die übergreifende Form ist frei; zwar werden manche Teile wiederholt, aber es ist kein Rondo. Es ist mehr wie ein Spaziergang in der geheimnisvollen Alhambra. Peter Eötvös

Auf derselben Internetseite kann man auch die Partitur anklicken und in ganzer Länge beim Hören mitlesen!!! Das ermöglicht mir zu sagen: ganz am Ende wurde in der Aufführung offenbar das Violinsolo des Anfangs noch einmal angehängt. Ob das in Zukunft verbindlich ist? Jedenfalls ist es von wunderschöner Wirkung. Entrückung, schmerzliche Verklärung.

Oben: das Violinsolo am Anfang der vom Schott-Verlag gezeigten Partitur (Scan)

Ja, und … aber… da bleibt doch noch ein Stachel im Fleische des musikalischen Gewissens. (Oder wie weit soll ich die Bildersprache treiben?) Ist diese Musik nicht allzu gut gemacht, ideenreich und wahnwitzig, phantastisch instrumentiert, – soll ich das Wort „kulinarisch“ ins Spiel bringen? Es kommt mir nicht über die Lippen (nur in die Tastatur hämmern, das geht). Aber ich erinnere mich an ein vergleichbares Vergnügen, als es mir ähnlich mit einem Stück von Magnus Lindberg ging, der Klarinettist hieß Krikku, ich durfte die Einführung in der Kölner Philharmonie machen. Und das Stück begeisterte mich. Nein, Kari Kriikuu, so hieß der Solist; das „Concerto“ von 2002 war es wohl nicht, bestimmt gehört dazu einer dieser einsilbigen Titel wie „Kraft“ oder „Licht“, ich muss es suchen… Das Hauptmotiv könnte ich noch singen… Ist das nicht schon ein ästhetischer Einwand? Doch, jetzt hab ich es wieder, zuerst eine fallende Terz, dann erweitert zu einem Dreitonmotiv, das war es, ich hab’s auch bei Youtube: hier. Aber stilistisch hat das doch nichts mit Eötvös zu tun, eher mit impressionistischen Vorbildern. Und wenn es so farbig instrumentiert ist, wirft man gern den Namen Richard Strauss in die Debatte, mit dem übrigens auch der junge Bartók mehr zu tun hatte als mit Schönberg und den „Dodekaphonisten“. Ach, wenn ich das doch bloß in den frühen 60er Jahren, als man nur über serielle Methoden stritt, wenn ich das vorausgeahnt hätte, diese neue Toleranz der Zukunft… „tonale Toleranz“. Als es noch nicht einmal das Wort Akzeptanz gab. Die Totschlagargumente der Hörerforschung. Viel Arbeit wäre mir erspart geblieben…

Mozart für immer!

Der ideale Dialog

Kein Mensch kann sagen, ich hätte mich nicht bemüht. Im Autoradio hatte ich nur den letzten Teil der Sonate KV 306 mitbekommen, da wo die Instrumente Abschied nehmen (voneinander? von uns? von der Mutter?), – so hatte ich das noch nie gehört. Als ich nach Hause kam, musste ich die CD bestellen, traf aber zugleich auf die Violinkonzerte, gut, dann eben die auch, die zigste Version, hatte ich nicht schon die mit Andrew Manze über den grünen Klee gelobt? Dann kamen diese neuen Konzerte an, aber die Sonaten fehlten, auf dem (separaten) Postweg verlorengegangen. Reklamation. Und heute sind sie nachgeliefert und übertreffen alle Erwartungen. Aber nicht nur die Musik, auch alles andere passt: der Text (von Wolfgang Fuhrmann), das Understatement-Cover. So etwas ist kein Zufall, vielleicht die Firma? Harmonia Mundi. Nein, es ist vor allem der eine Name, der genannt werden muss: Isabelle Faust. Womit nichts gegen Alexander Melnikov gesagt sein soll. Was wäre die Geige ohne den wunderbaren Part des Hammerflügels!? Man sagt dann immer kongenial, und das ist klingt hier auch wirklich angemessen. Noch ein Name sollte genannt werden, – auf der letzten Seite steht: The musicians express their gratitude to Andreas Staier for his Mozart expertise. Das kann ich mir vorstellen!

Es ist Vater Leopolds Hand, die man da sieht. Was für eine gute Idee, das vollständige Bild hätte mich beim Hören zu sehr beschäftigt. Die Art, wie die Geschwister herausschauen beim Vierhändigspielen, und erst der Vater. Die Mutter aber auf dem Bild an der Wand: sie war in Paris gestorben, hat sie dort die beiden Sonaten noch gehört? Die in E-moll gehört in die Nähe der A-moll-Klaviersonate…

(Fortsetzung folgt)