Wer war Anna Magdalena Bach?

Mythenbildung

Es gibt wirklich blumenreiche, filmreife, wahre Details aus Anna Magdalena Bachs Leben, aber die hätte ich damals für erfunden gehalten, andere, die ich heute, wären sie wahr, für etwas skandalös hielte, aber auch spannend; nur dass sie einige der besten Werke ihres Gatten nicht nur abgeschrieben, sondern sogar selbst komponiert haben könnte, dass hätte ich im Leben nicht geglaubt, – das stand ja nicht mal in der erfundenen kleinen Chronik, an die ich damals für kurze Zeit geglaubt habe. Und ob sie in Köthen zuerst eine Mätresse des Fürsten gewesen sein könnte, das werde ich erst ganz zum Schluss in Betracht ziehen … vielleicht auch nicht.

So hat es bei mir begonnen: am Tag der Konfirmation erhielt ich dieses Buch, das ich für eine authentische Chronik hielt, die mich nun dem Alltag meines Idols Bach näher bringen konnte. Und ich habe das Buch verschlungen. Es war auch die Zeit, als ich aufrichtig versuchte, fromm zu sein oder zu werden. Mindestens so wie Albert Schweitzer. Der Kantor der Pauluskirche Bielefeld, Eberhard Essrich (Stellvertreter Bachs auf Erden, dessen Frau, wie ich fand, nicht zufällig auch Magdalena hieß) schrieb mir in einem persönlichen Brief, er wünsche mir, dass ich als Geiger ein rechter Spielmann Gottes werde. Er werde mir in Kürze auch Orgelstunden geben, wenn ich Lust habe. Ich war begeistert. Ihm verdankte ich auch das Schlüsselerlebnis einer Bach-Kantate (live!) „Jauchzet Gott in allen Landen“, deren Partitur ich mir selbst anschaffte. Sopran, Solo-Trompete, Solo-Geigen, Choral! Meine Mutter war Zeuge und führte Buch („Chronik“):

20. März 1955

  Es wurden nur 10 Stunden 31.4. bis 17.9.55, dann folgte erstmal Harmonielehre, Choräle mit sinnvollen Bass-Linien zu versehen, bezifferte Bach-Choräle auszusetzen.

 

Enttäuschung: ein Freund meines Vaters, Dr. Peter Schmidt, enthüllte bald, dass die besagte Chronik eine Fiktion aus der Feder der englischen Schriftstellerin Esther Meynell sei (siehe hier). Es gab keinen Zweifel, der Mann hatte musikwissenschaftliche Arbeiten verfasst (im ersten MGG über Forchhammer, Mühling, Ritter, Schwencke, Willing) und gab mir kleine, angestrengt lustige Lehrstunden, das Lispeln loszuwerden). Ich hielt mich jetzt an Albert Schweitzers Bach-Buch (aus der Stadtbibliothek). Brauchte ich einen Bach-Bogen? (Nein!)

eine Auswahl!

Daraus hatten wir alle gespielt, wohlwissend, dass auf der zweiten Seite stand „Die leichtesten Stücke ausgewählt und bezeichnet von Franz Ludwig“ und: dass unsere Lieblingsstücke eventuell gar nicht von Bach sind, sondern u.a. von Petzoldt. Am Klavier wollte unsereins sowieso lieber – nach fast durchgestandenem Stimmbruch – mindestens den Anfang der „Pathétique“ interpretieren.

Die rührenden, filmreifen Details aus Anna Magdalenas Alltag las ich erst 1975 in den Bach-Dokumenten und jetzt wieder im Bach-Jahrbuch 2020 (Talle S.296):

dass sie eine passionierte Gärtnerin war und den Vetter und Privatsekretät ihres Mannes, Johann Elias Bach, bat, ihr aus seiner fränkischen Heimat gelbe und ‚Himmel blaue‘ Nelken zu besorgen, eine dort erhältliche botanische Rarität. Als diese eintrafen, soll sie sie höher geschätzt haben „als ihre Kinder ihren Christ Beschehr“ , und sich sorgsam um sie gekümmert haben, „wie man kleine Kinder zu warten pflegte, damit ja keines von ihnen eingehen möge.“ Während eines Besuches in Glaucha im Jahr 1740 war J.S.Bach von den Fähigkeiten eines abgerichteten Hänflings angetan und sorgte dafür, dass er seiner Frau zugesandt wurde, die anscheinend „eine große Freundin von dergleichen Vögeln“ war.

Anna Magdalena begegnete ich erst wieder, als ich schon im Collegium Aureum mitspielte und Dr. Alfred Krings kennenlernte, aus dessen Nachlass dieses sehr gebrauchte Büchlein stammte. Der Film, dessen bedeutende „Darsteller“ im Laufe der 60er Jahre sämtlich in Schloss Kirchheim/Bayrisch Schwaben auftauchten, wurde uns als den üblichen musikalisch Verdächtigen flugs zum Begriff (auch zum Gespött):

Wikipedia hier

Zitat aus Wikipedia:

Jean-Marie Straub, im Oktober 1968 in einem Gespräch mit Redakteuren der Zeitschrift Filmkritik auf die Frage, warum er diesen Titel behalten habe, obwohl doch der Film nichts mit dem Buch der englischen Autorin zu tun habe: „Aus Dank. Wenn ich das Buch nicht gelesen hätte, wäre ich vielleicht nie auf den Film gekommen. Und weil mir der Titel gefällt, wegen des Wortes Chronik.“

Der ganze Film (mit spanischen Untertiteln):

Ich habe versucht, hier noch etwas persönliche Archäologie zu betreiben, aber die eigentliche Motivation stammt aus dem erwähnten Beitrag des Bach-Jahrbuches 2020, dessen Lektüre mir Reinhard Goebel kürzlich so dringend empfahl. Siehe hier. Jetzt also zum Thema… Stopp! Zunächst noch der Aufreger HIER! …und hier (auf deutsch) die Anpreisung.

Dann die leicht fertigzustellende Recherche anhand meiner neuesten Anschaffung:

Wer ist Andrew Talle?

Titelseite nach Wikipedia

Über das Clavier-Büchlein 1722 und das Notenbuch 1725 siehe hier bei Wikipedia. Ein sehr merkwürdiger Satz steht darin:

Die Bach-Forschung hat sich für das erste Notenbuch kaum interessiert. Es gilt im Allgemeinen nur als Quelle für die älteste Fassung der Französischen Suiten.

Und ich habe diese Merkwürdigkeit auch an mir selbst festgestellt und auf die oben angedeuteten Jugenderinnerungen bezogen: als ich in den 60er Jahren im Schloss Kirchheim – quasi im Vorübergehen – bemerkte, dass das Technikteam (um Krings) eine Schallplatte nach dem „Notenbüchlein“ vorbereitete, blieb ich uninteressiert, ich witterte ein Weihnachtsvorhaben, und obwohl der bekannte Flötist Hans-Martin Linde eins der Liederchen mit seiner recht schönen Baritonstimme vortrug, hielt ich das Ganze doch für etwas „handgestrickt“. Das mag an einer leichten Aversion gegen den Habitus des schon arrivierten Interpreten gelegen haben. Als dagegen jetzt vor zwei oder drei Jahren die CD „Bach privat“ (mit Andreas Staier, Georg Nigl und Anna Lucia Richter) herauskam, war ich so begeistert, dass ich sie dreimal gekauft und verschenkt habe, nun aber selber nicht mehr besitze.

Heute – nach der Lektüre des neuen Bach-Jahrbuches – sehe ich das oben abgebildete Titelblatt mit Erstaunen: Sehen Sie unter dem Großbuchstaben B die dreizeilige Eintragung? da hat sich Vater Bach doch tatsächlich die Buchtitel eines theologischen Autors notiert, offenbar in Ermangelung eines Merkzettels… eine grobe Respektlosigkeit seiner Frau gegenüber??? Ein Wink mit dem Zaunpfahl??  Und schon fängt es an, in mir zu arbeiten, die Mythenbildung beginnt aufs neue… hat sie ihm eine Szene gemacht? Das Wort „offenbar“ verrät es, die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Möglicherweise hatten die Buchtitel für beide etwas zu bedeuten. Ein wichtiger Punkt noch (Christoph Wolff 2000, S. 239):

Leider ist das Album in entsetzlich verstümmelter Form überliefert, denn von den ursprünglich 70 bis 75 Seiten sind nur 25 erhalten. Und so gibt das kostbare Dokument mehr andeutungsweise als erschöpfend Auskunft über die enge und tiefe musikalische Gemeinschaft der Eheleute.

Das prägt sich ein. Am hartnäckigsten aber wirkt nicht das Edle nach, sondern – wie bei Nietzsche – „Menschliches, Allzumenschliches“ :  Z.B. dieser unmögliche Wissenschaftler, dessen Konstrukte man schnell wieder vergessen muss, ehe jemand sagt: vielleicht ist ja doch was Wahres dran? Es ist so wie mit der sprichwörtlichen Schwangerschaft. Entweder ist das kleine Etwas wahr oder nicht, aber was nur etwas wahr ist, gilt für nichts. Alle Produkte des „Wissenschaftlers“ Martin Jarvis sind null und nichtig.

Was ich als erstes erzählen würde: Anna Magdalena hat nicht nur für ihren Mann Noten kopiert, sondern auch für Geld. Also: da kommt z.B. ein Musikstudent und sagt: „Ihr Mann soll so interessante Übungen für Cello geschrieben haben, die brauche ich ganz dringend und zwar bis zu meiner Abreise, das heißt: bis übermorgen früh! Mein Vater zahlt in bar.“ (Ich habe mir das ausgedacht, aber so kann es gewesen sein, und zumindest das mit der Eile und dem psychologischen Druck, das stimmt…) Das Ergebnis ist entsprechend. Und da kommt nun heute ein tüchtiger moderner Wissenschaftler daher wie Andrew Talle und fragt: Hat sie von den Originalnoten ihres Mannes abgeschrieben? (Nein!) Hat sie das, was sie geschrieben hat, innerlich gehört und sozusagen mitvollzogen? (Nein!)

Andererseits ist das, was da von Weltklassemusikern herausgelesen werden kann, so unbeschreiblich genial, dass sie konsterniert sagen: ich werde an diesem Schriftstück keinen Fliegenschiss bereinigen, es ist ein heiliges Dokument! – dann kann man das auch verstehen. So ging es vielleicht dem wunderbaren Cellisten Anner Bylsma, als er im Alter das Werk nicht mehr spielen, sondern nur noch mit Worten vermitteln konnte.  Sein Buch über die ersten drei Suiten, Bach. The Fencingmaster, wurde ein Kompendium an Anregungen über die Weisen, sich dieser Musik adäquat zu nähern, – so hieß es in einem Nachruf (SZ 28.07.2019).

Siehe im oben hervorgehobenen Artikel von Andrew Talle, Bach-Jahrbuch 2020, Seite 301, Anmerkung 24. Und für Violinisten sei erwähnt, dass im eben gegebenen Bylsma-Link ein sehr lesenswerter Essay über die Violinpartita in h-moll zu finden ist!

ZITAT Gerhart Darmstadt NMZ 2001

Eine extreme Version ist die zuletzt erschienene Ausgabe von Hans-Christian Schweiker bei Ries & Erler, ohne kritischen Apparat und ohne hinreichende Rücksicht auf Wendemöglichkeiten. In dem Vorwort erklärt er seine Absicht: „Die hier vorliegende Ausgabe orientiert sich sehr viel strenger als bisher erschienene Ausgaben an der Abschrift Anna Magdalena Bachs. Der Herausgeber hat nicht versucht, wie sonst üblich, scheinbare Unstimmigkeiten, Inkonsequenzen und ungewöhnliche Artikulationsmuster zu glätten, sondern sie musikalisch sinnvoll im Dienst der plastischen Struktur dieser Werke wiederzugeben.“ Obwohl diese Auffassung wieder zunehmend auch prominente Anhänger (zum Beispiel Anner Bylsma 1998) findet, so ist sie doch in quellenkritischer Hinsicht und in Anbetracht der Artikulationsgewohnheiten Bachs rundweg abzulehnen. Natürlich ergibt auch die perfekte Übertragung der Ungenauigkeiten unter Umständen ein interessantes und für sich gesehen gelungenes künstlerisches Ergebnis, jedoch verdient eine solche keine öffentliche Verbreitung.

Ich war beim Allzumenschlichen und zitiere eine Passage, die nicht nur mich bewegen wird, zumal sie jenseits aller Musikfragen liegt:

2016 teilte Peter Wollny den eigenwilligen Fall eines 13jährigen Bewerbers namens Christoph Friedrich Meißner (geb. 1716) um Aufnahme in die Thomasschule mit: In dem nach dessen Vorsingen angefertigten Protokoll vom Mai 1729 lobte J.S.Bach seine „gute Stimme und feine profectus“, doch nur ein Jahr später zählte Meißner zu den schlechtesten Sängern der gesamten Schule. Wollnys Erklärung für diese überraschende Diskrepanz ist,daß es sich bei dem Jungen um Anna Magdalena Bachs Neffen handelte. Die Probleme, die Meißner verursachte, beschränkten sich jedoch nicht auf die Musik. 1731 wurde er wegen Fehlverhaltens von der Schule verwiesen. Selbst nach dieser Kalamität erlaubte Bach dem Jungen, weiterhin bei der Familie zu leben, und beschäftigte ihn neben Anna Magdalena und Carl Philipp Emanuel als Schreiber – unter anderem ist er einer der Kopisten im Originalstimmensatz der Kaffeekantate. Man spürt hier, daß A.M.Bach erheblichen Einfluß auf ihren Mann hatte – sie bewegte ihn dazu, einen Prüfungsbericht zu beschönigen und einen alles andere als vielversprechenden Kandidaten mit Vollstipendium in die Thomasschule aufzunehmen, nur weil er der Sohn ihrer Schwester war.

Verlässliches zur Quellenlage der Cello-Suiten siehe hier / zur Frage: für wen Anna Magdalena Bach die einzige vollständig erhaltene und als authentisch geltende Abschrift angefertigt hat, deren Vorlage ebenfalls eine Kopie war (also kein Autograph J.S.Bachs): siehe hier. Als Schwanenberger bezeichnet bei Andrew Talle (2020 Seite 297f) und z.B. bei Christoph Wolff (2000, Seite 404), Schreibweise „Schwanberg“ bei Sackmann (2007, Seite 16).  Bei letzterem steht, leicht irreführend, die Vorlage sei „zweifellos die autographe Reinschrift ihres Mannes“ gewesen. Was wohl nur für die Violinwerke gilt. Siehe im eben gegebenen Link:

No Longer Existing Sources: [F] : The autograph from which A. M. Bach prepared her copy. This autograph was probably already a clean copy. It is very likely that there were several autographs (composing, clean copy, and perhaps even another later clean copy).

Die Frage nach der Vorlage ist nicht müßig, und so macht es durchaus Sinn, eine Liste der Schreib- oder Denkfehler Anna Magdalenas aufzustellen (siehe Andrew Talle 2020, Seite 299). Es geht nicht um eine Verunglimpfung der bewundernswerten Schreiberin, sondern darum,  eine Fortschreibung oder Sakrifizierung der in ihrer Situation unvermeidlichen Fehler zu vermeiden, wie sie übrigens auch bei J.S.Bach selbst vorkommen und dann selbstverständlich auch zu korrigieren sind.

ZITAT Andrew Talle (a.a.O. Seite 299)

Um einen einzelnen Fall herauszugreifen: „Wie könnte sie ganze Schläge einer Allemande (Suite III, T.21) … übersprungen haben?“ (Im folgenden Beispiel nach dem ersten Taktstrich, auf Zählzeit 2 – es fehlt eine Zählzeit.)

Wie es lauten muss:

Nebenbei: Anner Bylsma ergänzt natürlich auch solche Stellen! (Vgl. seine ergreifende späte Aufnahme hier, bei 7:18)

Sechs Suiten: Das Original der Abschrift von Anna Magdalena Bach HIER

Und in der Abschrift des Bach-Schülers Johann Peter Kellner HIER

Die verschiedenen Quellen im Vergleich (Marianne Dumas) HIER

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Was ich mir 1955 in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können: die Wissenschaft hat doch einen Weg gefunden, einiges über Bachs privateste Situation herauszubringen, und zumindest indirekt sogar mit Anna Magdalenas Hilfe, ohne ihr allzuviel anzudichten. So rigoros Andrew Talle die Phantasien des australischen Forschers Martin Jarvis zerlegt, so wohlwollend verfährt er mit dem Buch von David Yearsley, dessen Thema ein konservatives Publikum möglicherweise erschrecken könnte: „Sex, Death, and Minuets“. Ich zitiere mit Sympathie, ohne richtig rot zu werden:

Yearsleys Plädoyer für Anna Magdalena Bachs sexuelles Selbstvewußtsein stützt sich zum Teil auf den Umstand, daß sie in den 1740er Jahren ein Hochzeitsgedicht kopiert hat, das einige gewagte Zweideutigkeiten enthält. Während andere Wissenschaftler vor ihm diese Anzüglichkeiten herunterspielten, geht Yearsley bereitwillig auf sie ein: „Daß Anna Magdalena Bach sich in ihrem musikalischen Notenbüchlein von 1725 Witze über Penisgröße erlaubt, ist eine Tatsache, die ebenso unwiderlegbar ist wie sie den Hütern des Bachschen Erbes peinlich war“ (S.43). Als Kontext bietet er eine Tour durch gedruckte Hochzeitsgedichte und stellt fest, daß das Vergnügen seiner Protagonistin an derlei Texten für ihre Zeit und ihr Umfeld durchaus typisch war. Indirekte Belege für A.M. Bachs musikalisches Selbstvertrauen kommen von aufschlußreichen Analysen verschiedener Kantaten, die ihr Mann vermutlich für sie  komponierte, darunter besonders „Vergnügte Pleißenstadt“ BWV 216 (1728) und „O angenehme Melodei!“ BWV 210a (1729). Yearsley bespricht diese Werke auf eindrucksvolle Weise. In suggestiver Sprache vermittelt er den verführerischen Charakter von Bachs Musik und spekuliert fundiert über Anna Magdalenas Bühnenpersönlichkeit. Die Anforderungen, die der Komponist offenbar an sie stellte, lassen vermuten, daß sie in der Tat eine große Virtuosin war – offensichtlich konnte er sich darauf verlassen, daß sie ihre Partie mit der gefragten Koketterie präsentieren konnte. In seiner charakteristischen Ausdrucksweise malt Yearsley sich auch gleich die begleitende Gestik aus, zum Beispiel „eine elegante Hand, die sie auf die Brust legt, ein Senken des Kopfes oder eine Neigung zur Seite, um eine beginnende Ohnmacht anzudeuten, ein Lächeln, ein Zwinkern und andere bereitwillige Bekundungen von Freude und Verzückung“ (S.80). Indem er seine Diskussion auf textlichen wie musikalischen Details aufbaut, gelingt es dem Autor, ein stimmiges Bild von Anna Magdalena Bachs Bühnenpräsenz zu entwickeln; zugleich relativiert er die traditionelle Meinung, daß Bachs Musik viel Frömmigkeit enthält, aber die Freuden des Fleisches weitgehend ignoriert.

Quelle Andrew Talle a.a.O. Seite 304

O angenehme Melodei!
Kein Anmut, kein Vergnügen
Kommt deiner süßen Zauberei
Und deinen Zärtlichkeiten bei.
Die Wissenschaften andrer Künste
Sind irdnen Witzes kluge Dünste:
Du aber bist allein
Vom Himmel zu uns abgestiegen,
So musst du auch recht himmlisch sein.

Spielet, ihr beseelten Lieder,
Werfet die entzückte Brust
In die Ohnmacht sanfte nieder;
Aber durch der Saiten Lust
Stärket und erholt sie wieder.

Die hier avisierte Bühnenkunst findet man heute nicht ohne weiteres in der Alten Musik, obwohl alle wissen: es darf natürlich nicht antiquiert oder gar angestrengt klingen, aber doch nicht gleich kabarettistisch. Etwa so, wie die Gemälde von Gerrit van Honthorst es schon rund 100 Jahre früher ahnen ließen… (Wenn Sie mehr über die Interpreten der folgenden Aufnahme wissen wollen, gehen Sie bitte gleich auf „Ansehen auf Youtube“).

Ich gebe zu: dieser Blog-Artikel müsste allmählich ein Ende finden, aber etwas fehlt noch, fast möchte ich sagen: ein langgestreckter Höhepunkt der biographischen Ausführungen. Einmal die Aufklärung, dass zumindest das zweite Notenbüchlein 1725 „vor Anna Magdalena“ gedacht war, oder vielleicht gedacht, aber dann auch von anderen genutzt worden ist… “ Anzunehmen, daß sie auch für alle anderen Einträge auf irgendeine Weise verantwortlich war, hieße, die Beteiligung der übrigen involvierten Figuren zu mißachten“. (Seite 305)

Dann aber vor allem Andrew Talles Idee, nicht länger nur in A.M.Bachs unmittelbaren Lebenszeugnissen nach biographischen Auskünften zu suchen (es gibt keine), sondern in parallelen  Lebensläufen anderer Frauen dieser Zeit. Es gibt z.B. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts. Von der Sängerin Angelika Rosa sogar eine Serie von eigenhändigen Briefen, deren Original allerdings bei einem Bombenangriff auf Magdeburg zerstört wurde. Und es klingt wie ein Märchen:

Eines Tages, als sie von einem benachbarten Dorf zurückkehrte, wo sie sich als Hauslehrerin vorgestellt hatte, begegnete sie auf dem Heimweg Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen (1697-1755), dem jüngeren Bruder und Nachfolger Fürst Leopolds. August Ludwig war mit ihrer skandalösen Familiengeschichte vertraut, und nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, bot er ihr an, sie für eine Anstellung bei Hofe in Betracht zu ziehen. Am darauffolgenden Tag schickte er ihr um 10 Uhr morgens einen „Läufer“, der sie aufforderte, sich noch am selben Tag um 2 Uhr vorzustellen. Nach ihrem Eintreffen bei Hofe wurde sie aufgefordert, auf dem Cembalo zu spielen, zur Begleitung ihres Lehrers zu singen und einige Stücke eines blinden Komponisten (…) vom Blatt zu spielen.  „Das gelang mir denn auch so, daß ich vom Fürsten mit 200 Thalern Gehalt unter die Hofmusici aufgenommen wurde.“

Undsoweiter. Ich breche ab, und wenn Sie fragen „aber wie geht’s weiter?“ – so habe ich mein Ziel erreicht. Es steht ja alles im Bach-Jahrbuch 2020. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn sich ein zweiter australischer Spurensucher, Phantast und Filmemacher findet und daraus ein Drehbuch macht, das vom Mythos Anna Magdalena profitiert und um die Welt geht.

Nachtrag 4.12.2021 Die Geschichte ist noch nicht zuende:

Ein neues Buch ist da, ein Zeitbild unter dem Titel „Die Frau Capellmeisterin Anna Magdalena“, Autor: Eberhard Spree. Offenbar sehr empfehlenswert. Ich werde mich dieses Themas mit Sicherheit noch einmal annehmen, gerade weil es auch ein Zeitbild bietet. Einstweilen halte ich den Bericht der FAZ vom 17.11.21 für völlig glaubwürdig. Nachlesbar bei Perlentaucher hier  oder bei bücher.de hier.