Archiv für den Monat: März 2016

Melodie (Grundlagen)

Ein Beispiel

(in Arbeit)

Nach: The Making of Melody (Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ S. 38)

Formel D-E-F kurz

Die erste Bewegung, aufsteigend und absteigend, „weg-von“ und „zurück-zu“  Ton d, lässt den Ton als „1“ erscheinen. Die Wiederholung der Bewegung bekräftigt diesen Ton als Zentrum.

(Im folgenden Beispiel zeigt A, wovon gerade die Rede ist. B ist eine Vorwegnahme, damit von vornherein klar ist, wie die Töne beziffert sein werden.)

Formel D-E-F num

Was ist das nächste?

Der fünfte Ton (Ton a), „5“: der Gegen-Pol. Sobald er auftaucht, spüren wir, dass ihm eine potentielle Richtung innewohnt und zwar nach abwärts, zum Ausgangston (dem Ton d), die Tendenz dorthin zurückzukehren.

Die Melodie erfüllt diesen Wunsch:

Choral Unterteile a'

(absteigende Tonreihe von a nach e).

Jedoch nicht die ganze Strecke. Gerade dort, wo die Spannung am intensivsten ist, wo der Wille eine weitere Bewegung zu machen am deutlichsten ausgesprochen ist – auf dem Ton  „2“  (Ton e) –, kommt die Bewegung zu einem Halt. Anwachsende Spannung. Was wird jetzt geschehen?

Was hier geschieht, ist das gerade Gegenteil dessen, was der letzte Ton zu erreichen beabsichtigte. Die Bewegung kehrt sich um, zieht weg von „1“, geht aufwärts, über „3“ und „4“, um wieder „5“ zu erreichen:

Choral Unterteile b'

Der Gang ist jetzt langsamer als beim Abwärtsgang, die Bewegung scheint neu Atem zu holen vor jedem Schritt, – e/f, f /g, g/a – wir fühlen beinahe, wie sie gegen den Druck der wirkenden Kraft arbeitet.

Mit dem Erreichen des Tones „5“ ist der Gegenpol der wirkenden Kraft erreicht, die Bewegung bestätigt einmal mehr den Willen dieses Tones, und der zweite Versuch des Abstiegs gelingt:  (a) – a g f e d. Der Weg ist vollendet, das Ziel erreicht.

Choral Unterteile c'

Die ganze zweite Hälfte dieser Melodie, von dem Moment, als die Bewegung auf „2“ zum Halt kam, haben wir gewartet auf die Erfüllung, die durch diesen Ton in Aussicht gestellt wurde. Ihre Spannung liegt allem zugrunde, bindet alles zusammen, was folgt, und ist erst aufgelöst am Ende, mit dem Eintritt von „1“.

Choral Unterteile d'

Der zweite Teil des Chorals ist im Ganzen eine Wiederholung des ersten, aber er beginnt nicht wie der erste. Da ist keine Notwendigkeit für die Wiederholung einer kurzen Phrase, deren Hauptfunktion es war, den Ton „1“ zu etablieren. Gleichwohl sollte der Beginn die Repetition einer kurzen Phrase sein. Wir beginnen also mit der zweiten Phrase a / g f e und wiederholen sie.

Choral Unterteile e'

Das bedeutet, dass wir jetzt zwei erfolglose Versuche haben; zweimal wird die Bewegung auf  „2“ gestoppt. Als Konsequenz ist die Spannung auf diesem Ton sehr erhöht. Was folgt, ist daher mehr als eine bloße Repetition der zweiten Hälfte des ersten Teils: die aufsteigende Phrase wirkt gegen eine (noch) stärkere Kraft, trägt (noch) größeres Gewicht.

Am Ende bringt die Wiederkehr der „1“ dementsprechend eine noch emphatischere Auflösung, macht einen noch stärkeren Abschluss als an der Mittelmarke. Zuckerkandl bringt diese sich wandelnden Kräfteverhältnisse in seinen Bögen und Linien über den beiden Melodiezeilen deutlich zum Ausdruck:

 Choral Phrasierung Zuckerkandl Zeile 1 Choral Phrasierung Zuckerkandl Zeile 2

Wir sehen hier zwei Dinge. Erstens, die Aktion der tonalen Kräfte organisiert die Melodie, hält sie zusammen, gibt ihr ihre Bedeutung. Zweitens, die Töne sind in ihren Bewegungen nicht einfach den wirkenden Kräften unterworfen, wie unbelebte Körper der Wirkung der Schwerkraft unterworfen sind; sie sind frei sich zu bewegen mit den wirkenden Kräften oder gegen sie, so wie der belebte Körper des Tänzers frei ist, sich mit der Schwerkraft oder gegen sie zu bewegen.

Die tonalen Kräfte bestimmen nicht die tonale Bewegung, aber sie bestimmen in der Tat eine andere Sache, und dies im striktesten Sinn: die musikalische Bedeutung dieser Bewegung. In unserem Choral war die Bewegung jederzeit frei voranzuschreiten von Ton „2“ zu Ton „1“ oder zu jedem anderen gewählten Ton; aber sobald sie tatsächlich den Schritt „2“ – „1“ wählte, konnte nichts in der Welt dieser Bewegung eine andere Bedeutung geben als „in Übereinstimmung mit der wirkenden Kraft, das Zentrum erreichend, und uns darin nichts anderes hören machen als Bewegung von einem unbalancierten zu einem perfekten Status. Genau so strikt und unmissverständlich wird die Bedeutung jeder anderen Bewegung determiniert durch die vorherrschenden dynamischen ( „kräftemäßigen“, – betrifft nicht Lautstärke!) Situationen.

(Mendelssohn sagte einmal, dass die tonale Sprache zu präzise ist, um in Worte übersetzt zu werden. Wir sehen die Wahrheit dieses Statements. Der Schriftsteller hat einen gewissen Spielraum von Freiheit, die Bedeutung seines Materials, der Worte, zu verändern; ein Komponist hat ihn nicht.)

Die Kräfte, die wir in Aktion beobachtet haben, die verantwortlich sind für den Verlauf dieser einfachen Melodie (einer wunderbaren, herausragenden Melodie in all ihrer Einfachheit), sind dieselben, die den komplexesten musikalischen Organismus formen und zusammenhalten. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen einem Volkslied und einer Beethoven-Sinfonie nur ein Gradunterschied. Das Anwachsen der Komplexität mag vergleichbar sein dem von der Arithmetik der Grundschule zur Differentialrechnung; das Prinzip bleibt das gleiche.

(Dieser Text bzw. diese freie Übertragung eines Original-Textes ist die Gebrauchsversion, hergestellt für Folkwang-Vorlesungen 2011. Im Buch von Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ sieht es folgendermaßen aus:)

Zuckerkandl Sense Melody Princeton University 1959/1971

Bach Praeludium C-dur BWV 870

Was über die Erarbeitung der Töne hinaus klar sein müsste

Zunächst natürlich die Wiederkehr des Gleichen:

Bach C-dur Praeludium a

Bach C-dur Praeludium a-b

Bach C-dur Praeludium b

(Nicht irritieren lassen: die mittlere Kopie nur, weil sonst ein halber Takt fehlen würde.)

Die Pfeile sollen ermöglichen, die Wiederkehr der um eine Quarte versetzten Textur mit der Vorgabe zu vergleichen und dem Rätsel nachzugehen, was außerhalb dieser Takte letztlich geschieht. Noch die Reinschrift zeugt von Bachs intensiver Arbeit an dem Werk (Alfred Dürr hat die einzelnen Phasen, die hierher führten, detailliert beschrieben).

Bach C-dur Prael Faksim Det

Der Ausschnitt beginnt in Takt 12 auf der zweiten Zählzeit und bricht in Takt 14 nach der dritten Zählzeit ab; es geht von hier ein System tiefer und schräg nach rechts (Dreiecke als Wegweiser). Der ursprüngliche Notentext ist durchgestrichen.

***

Alles was bis hier zu beobachten war, liegt gewiss auf der Hand, bzw. im Ohr, wenn man das Werk am Klavier einstudiert. Für viele Interpreten endet die gedankliche Arbeit an dieser Stelle; niemand wird aufstehen und sagen: ich werde mich jetzt einer gründlichen Erforschung dieses Praeludiums widmen. Etwa: Was kann ich daraus über Bachs kompositorischen Ziele erfahren,  was veränderte er, was empfand er als Verbesserung, ab wann war ein Stück wirklich fertig? Ist es nicht merkwürdig, dass die „fertigen“ Stücke, die Bach überarbeitet, zuweilen die doppelte Länge erreichen und sich in den Proportionen völlig verschieben? Zweifellos interessant, aber: der Pianist kann sich solchen Fragen auch strikt verweigern und sagen: das spielt für meine Interpretation keine Rolle. Ich nehme einfach, dem Herausgeber vertrauend, das vorliegende Werk und versuche, Takt für Takt sprechend und sinnvoll vorzutragen. Übergeordnete Beziehungen – wenn ich sie denn durch Analyse eruiere – kann ich in einer so komplexen Satzstruktur ohnehin nicht zum Ausdruck bringen.

Meine Empfehlung: man sollte immerhin die Forschungen zu Kenntnis nehmen, die greifbar und lesbar sind, vor allem auch allgemeinverständlich und kurz. Also keine umfangreichen Auflistungen, auch nicht unbedingt die Kritischen Berichte der Gesamtausgaben, aber in kluger Auswahl alle für das Verständnis des praktizierenden Musikers (!) nützlichen Details.

(Ein ausgezeichneter Pianist sprach kürzlich über die beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers, von denen es heiße – so meinte er -, sie verhielten sich zueinander wie das Alte und das Neue Testament. Dieses Fehlurteil hätte er schon dank einer kursorischen Lektüre des folgenden Buches vermeiden können.)

Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier /  Bärenreiter Kassel Basel London etc 1998 ISBN 3-7618-1229-9

Gründliche Behandlung des vorliegenden Praeludiums und seiner verschiedenen Versionen Seite 244 bis 252.

Interessante (aber ziemlich analytisch nüchterne) Zusatzlektüre:

Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach ) / Hänssler -Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986

NB

Was das Alte und das Neue Testament angeht: Hans von Bülow hat das aufgebracht, er bezog sich aber auf das Wohltemperierte Klavier insgesamt (AT) und auf Beethovens Klaviersonaten (NT). Es zeugt von grundsätzlichem Missverständnis, wenn man den zweiten Band des WTC vom ersten als ein prinzipiell anderes Werk unterscheidet.

Osterlachen – mit Vorsatz

Ich habe nicht geahnt, wie zweifelhaft dieses Vergnügen ist, von dem ich kaum etwas wusste, und wie verdächtig es den ernsten Christen war. Warum hat sich noch kein „Comedian“ dessen angenommen? Ich vermute, weil vorsätzliches Lachen immer nur albern bleibt, egal wie witzig der vorausgehende Text war. Man kann es nicht glorifizieren, nur ignorieren. Im Grunde lasse ich – als ernster Mensch – nur ein Lachen gelten, das hervorplatzt, wie eine Naturgewalt, ja, vulkanisch, und das immer aufs neue ansetzt, ununterdrückbar. Andererseits: Das schlimmste Lachen, das ich je erlebt habe, war das eines Cellisten, das wie ein epileptischer Anfall nicht enden wollte, auch nicht nach Beginn des Konzertes; kaum hatte er zu spielen begonnen, musste der Arme nur einen der Mittäter mit dem Blick zu streifen, schon brach es wieder los. Schließlich musste er vorübergehend das Podium verlassen. Ich weiß nicht, wie er sich abgedämpft hat. Unglücklicherweise habe ich auch den Anlass des Lachanfalls vergessen.

Was wollte ich sagen? Ostern – in heidnischem Sinn, aber durchaus gebändigt – bedeutet für mich Initialzündung, Neuanfang, und dafür ist es nie zu spät. Auch wenn man nicht gefastet hat, wie viele Menschen, die letztlich doch jederzeit im Jahr beginnen oder aufhören könnten, abnehmen zu wollen. Ich las DIE ZEIT vom 23. März, wohlahnend, was auf mich zukam: ausgerechnet die Rubrik WISSEN hat als Riesen-Thema: Der Traum vom ewigen Leben. Genau genommen nur 2 Seiten lang, dann folgt schon die Seegurke. Aber ich habe das Osterlachen gesucht und gefunden, jeweils am Ende der Predigt. Einmal halblustig und dann fast unstillbar.

Seite 29 Wir Genesungs-Gläubigen / Längst hat sich eine säkulare Alternative zur Auferstehung etabliert. Und natürlich erhoffen wir uns zu viel davon. Von Gero von Randow. [Fazit:]

… Der Mensch ist das Tier, das von seiner Endlichkeit weiß und gegen sie rebelliert, im religiösen Glauben an die Auferstehung oder im irdischen an die Genesung. Das ist jetzt kein besonders österlicher Gedanke, aber er muss uns nicht die Laune vermiesen. Die Ostereier bleiben uns trotzdem. Jedes einzelne.

Na, geht so.

Seite 30 Ewig leben! Oder lieber nicht? / Über die Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit. Und warum wir sie fürchten sollten. Von Evelyn Finger. [Fazit:]

… Wir lernen: der Tod ist zu fürchten, aber die Unsterblichkeit noch mehr. Was hilft? Die Endlichkeit bejahen. An Auferstehung glauben. Oder dem ungewissen Danach mit Humor begegnen, wie es der bekennende Atheist Woody Allen tut: „Was mich an der Unsterblichkeit am meisten erschreckt? Ich habe gar nicht so viel Unterwäsche!“

Nun zu meinen Plänen. Sie gelten für die nächsten 10 Jahre, vorerst nicht länger. Genau im Sinne des Prinzips: Die Endlichkeit bejahen. Andererseits nicht ohne Tricks, denn es gilt unbedingt zu vermeiden, sich in der ersten Hälfte hängen zu lassen, um dann irgendwann alles Wesentliche vom Endspurt zu erwarten. Man weiß, wie Langstreckenläufer im Training daran feilen, das rechte Timing zu lernen, also die gegebene Strecke mit angestrebten Zeiteinheiten zu koordinieren. Ich bin in der glücklichen Lage, ein musikalisches Zeitraster längst vor mir ausgebreitet zu sehen, zweimal 24 Einheiten, teilweise schon in den 80er Jahren erarbeitet, als es auf Johann Sebastian Bachs 300 Geburtstag zuging, der Rest des Jahres 2016 sollte dafür ausreichen. „Das Wohltemperierte Clavier“, alle Arbeitsmittel liegen bereit, auch die analytischen*. Nun mein erster Trick: ich beginne mit Teil II, weil Teil I aus unerfindlichen Gründen schon seit frühester Studienzeit bevorzugt wurde; jedoch gehe ich keinesfalls rückwärts, was ja auch denkbar wäre, mit Blick auf den Ostersonntag jedoch soll C-dur am Anfang stehen, wobei ich die Fuge – zugegeben: etwas willkürlich – als Osterlachen deute. Hinter den maltraitierten Übe-Noten (Kroll-Ausgabe, die 1960 in der Garderobe der Berliner Hochschule gratis zu haben war, – wer weiß welcher Nebenfächler sich davon getrennt haben mochte), also dahinter steht die mächtige Faksimile-Ausgabe, die mir Eberhard Emmert 1990 geschenkt hat. Eine private Renaissance also, eine Wiedergeburt auf anderer Ebene. Die „heilige“ Solosonate C-dur für Violine könnte dazu passen.

Aber noch wichtiger ist mir ein ideeller Neuansatz oder einstweilen: die Rekapitulation eines anderen Themas „Was ist Melodie?“ – unter Verzicht auf andere Parameter (Harmonie, Metrik), beim Punkt Zéro, oder jedenfalls so, dass ich arabische oder indische Melodik anschließen kann, – ohne dass jemand die Stimme erheben kann mit der Warnung: Vorsicht – anderer Kulturkreis! Es ist doch derselbe Erdkreis und es gibt Verbindungslinien allüberall und auch die Konklusion, dass sie fehlen, wäre keine Katastrophe, sondern ein Durchblick. Ich beginne mit Victor Zuckerkandl und der Choralmelodie „Seid froh dieweil“ (er behandelt sie als „Allelujah“).

Und während ich dies schreibe, scheint die immer noch glänzende Abendsonne seitlich in mein Arbeitszimmer, die Schwarzdrossel singt auf dem First des Nachbarhauses kraftvoll ihre März-2016-Motive und ahnt nicht, dass ich es ebenfalls als Aufgabe betrachte, jedes einzelne in mein Gedächtnis einzugravieren, als sei es von Bach.

Bach WTC II,1 Detail

***

Der Ostermorgen (es regnet) beginnt mit den Bach-Motetten (RIAS-Kammerchor!), Größeres gibt es nicht. Unterschied zwischen Ergebnis und Motiv (sie aufzulegen): „Singet dem Herrn ein neues Lied“ C-dur vgl. mit dem Praeludium Nr. 1, Ergebnis: wieder tut sich im Nacheinander der Motetten eine neue Welt auf. Die Fäden der Choräle innerhalb des Gewebes. Die Wiederholung einzelner Satzteile. Die Auflösung, dass dabei der Sinn der Worte sich anreichert, intensiviert. „Fürchte dich nicht!“

Unglaublich. (Wie schade, dass die Generation der Enkel daran nicht mehr teilnehmen kann.)

Ich nehme als Grundlage – neben dem C-dur-Klang – eine melodische Formel, die nicht auf C ruht und als Alternative betrachtet werden kann. Um sie nicht isoliert in der Welt stehen zu lassen, vergleiche man sie – abstrahierend von der begleitenden Geschichte – mit „meiner“ arabischen Formel HIER.

Formel D-E-F kurz

Es schadet nicht, sie im Blick auf eine spätere Erweiterung wahrzunehmen. Und sogar die Möglichkeit einer Nummerierung der Töne ins Auge zu fassen:

Formel D-E-F num

Dies sei unser Rüstzeug. Und wem das zu freudlos erscheint – am Tage des Osterlachens – , der sei auf den mitgedachten Text des Bachschen Weihnachtsoratoriums (Nr. 35) verwiesen:

„Seid froh dieweil!“

***   ***   ***   ***

P.S.

(An dieser Stelle sollen noch einige der analytischen Arbeitsmittel aufgeführt werden.)

Hier nur fürs erste die (für Ka Gy) transponierte und noch nicht ins Reine geschriebenen Fassung des Bach-Chorals:

Choral auf D Seid froh

Man muss sie – im Namen V. Zuckerkandls – ganz ihrer wundersamen harmonischen Logik entkleiden, ehe man das melodische Wesen der Tonfolge reflektieren kann.

Konzert, Performance, Ritual

Brauchen wir neue Rituale?

Jeder Künstler weiß, dass zu einem Konzertauftritt eine gewisse (Selbst-) Inszenierung gehört. Man zeigt Disziplin und Zielbewusstheit, Selbstkontrolle und Hochachtung für das Publikum. Man verbeugt sich, man konzentriert sich, wartet auf den Eintritt völliger Stille im Saal, man zelebriert den eigenen Einsatz und agiert sodann in einem eigenen, imaginären, vom Publikum abgeschlossenen Raum auf dem Podium. Oder man verzichtet bewusst auf einzelne Komponenten, indem man während der Darbietung hier und da einen Blick ins Publikum wirft, vielleicht sogar, um einen Huster abzustrafen oder ein knisterndes Bonbonpapier zu markieren. Die Grenzen des Üblichen haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschoben.

Ich erinnere mich an ein WDR-Konzert mit Friedrich Gulda, in dessen erstem Teil er mit der Sängerin Ursula Anders sein skandalumwittertes „Opus Anders“ aufführte (siehe dazu das Gespräch mit André Müller hier), während er den zweiten Teil mit Mozarts A-dur-Sonate begann, die er auf unvergessliche Weise vortrug: Das Licht im Sendesaal war nicht ganz gelöscht, und während er das Thema und die Variationen spielte, schaute er unverwandt ins Publikum, von Platz zu Platz, von Reihe zu Reihe, – es war, als wolle er jeden Einzelnen ansprechen, es herrschte atemlose Stille. Unglaublich schöne Musik! Man hatte aber weniger den Eindruck einer musikalischen Konversation, – eher den einer Prüfung. Einer Prüfung, deren Ausgang fraglich war. Vielleicht wollte er es so, vielleicht war es eine Autosuggestion, die sich unwillkürlich einstellte.

So hatte es Couperin im Jahre 1717 wohl nicht gemeint:

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1933 (Seite 11)

In meiner Jugend gab es ein „Bielefelder Kammertrio“, das mein erster Geigenlehrer mit meinem Vater zusammen gegründet hatte. Als Cellisten der ersten Zeit konnten sie einen begabten jungen Mann von der Detmolder Hochschule hinzugewinnen, der allerdings, wie sich bald herausstellte, eine schlechte Angewohnheit hatte: immer wenn er ein paar Takte Pause hatte, begann er, in aller Ruhe das Publikum zu mustern. Als suche er ein bekanntes Gesicht. Niemand fand das anregend oder kommunikativ, es wirkte so, als ob er sich die Langeweile vertrieb. Sogar wir Kinder, die heimlich lachten, wenn die Streicher im Erzherzog-Trio Pizzicato spielten, fanden das ungehörig.

Warum stört das? Man erwartet im Konzert Spannung oder auch nur Konzentration, gewiss vor allem Lebendigkeit, aber immer auf die Musik bezogen, nicht von ihr weggewandt oder ablenkend. Ich nehme ein Beispiel aus dem weniger strengen, ritualisierten Genre mit Folkloreanklängen. Man studiere intensiv die Gesichter der Mitwirkenden im folgenden Konzert, beobachte ganz besonders diejenigen, die gerade nicht aktiv am Geschehen beteiligt sind: was für ein Wunder an Beteiligung und Anteilnahme in jedem Moment, was für ein Ausstrahlung! Es geht nicht um Schönheit und Jugend der Beteiligten, es geht um den lebendigen Puls der Aufführung. (Springen Sie ruhig mitten hinein: z.B. bei 10:00.)

Carmina latina Screenshot 2016-03-22 16.29.25 Hier anklicken!

Ich habe schon kurz die Johannespassion unter Peter Deijkstra behandelt, die zur Zeit noch (bis 27. März) auf ARTE abrufbar ist, habe auch den Namen des Mannes erwähnt, der für die „Szenische Gestaltung“ verantwortlich war: Folkert Uhde. Und wenn man ihm nachgeht, weiß man auch, dass er den Begriff „Konzertdesign“ eingeführt hat und dass sich hinter dem, was ich hier zu entdecken glaubte, längst eine weitverzweigte Theorie steht.*Einfügung 19.04.2016: ein abschreckendes Beispiel ist für mich die Inszenierung der Geigerin Midori Seiler, die fabelhaft Bachs Solissimo-Werke spielt. Aber so möchte ich das keinesfalls in extenso erleben. Gleiches gilt für Vivaldis Jahreszeiten.*

Und schon habe ich Angst, dass alsbald auch ein weit sich verzweigendes System des Missbrauchs im Kommen ist, nämlich sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten auch einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man gut aufgestellt sein muss, am Ende vielleicht sogar noch etwas Klavier oder Gitarre. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit Fingerübungen ihre Zeit verplempern. Andererseits suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall Igor Levit / Marina Abramović. Und jetzt ist es die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentut, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke sind zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Grimaud water

Man kann sich damit stichprobenartig befassen, indem man hier von Track zu Track geht, man kann aber auch genau auf den Fragen beharren, die im ZEIT-Interview gleich zu Anfang gestellt werden:

DIE ZEIT: Trügt der Eindruck, dass die absolute Musik Ihnen auf der Bühne nicht mehr genügt?

Hélène Grimaud: Das trügt definitiv! [Sie berichtet von ihren „normalen“ Konzerten.] Das ist mein täglich Brot. Alles andere nimmt nur einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit ein. Das ist ein fremdes Reich, das ich ab und zu betrete. ich finde es enorm wichtig, dass alles Szenische so abstrakt wie möglich bleibt. Es geht nicht darum, den Zuschauern zu sagen, was sie fühlen sollen, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, Gefühle zu erleben.

DIE ZEIT: Dennoch könnte man auch Ihre Water-CD als Misstrauensantrag an die Musik verstehen: Die Musik scheint mehr zu brauchen als sich selbst, ein Programm oder ein ästhetisches Surplus.

Grimaud: Ich sehe das genau andersherum: Jede Partitur ist eine Art Heilige Schrift, die zum Leben erweckt werden will und muss. Dieses Leben kann gar nicht prall genug sein.

Quelle DIE ZEIT 17. März 2016 Seite 59 „Die Kunst hält das aus“ Die Pianistin Hélène Grimaud spricht über ihre neue CD „Water“, über Spiritualität und die Grenze zwischen Musik und Aktivismus. (Gespräch: Christine Lemke-Matwey)

Es gilt, all dies sorgfältig zu prüfen und auf sich wirken zu lassen. Ist das „wahrhaftig“ durchdacht oder vom Größenwahnsinn gezeichnet? Läuft es auf etwas hinaus, was man – frei nach Adorno – als spirituelles Brimborium bezeichnen könnte? Einerseits ist immer nachvollziehbar, wenn man statt einer Nummernfolge einen größeren thematischen Zusammenhang schaffen und anbieten will, zugleich aber das Bewusstsein der Rezipienten aktivieren und präparieren will. Die leere Feierlichkeit des bürgerlichen Konzerts wird als ungenügend, als der heutigen Auffassung vom Kunstwerk nicht adäquat empfunden. Man will es vermeiden, bloße Zerstreuung anzubieten, und so bemüht man sich, gewissermaßen den Radius der Assoziationen vorgeben. Aber weiß man überhaupt, was ein großes Variationen-Werk von uns fordert, kümmert man sich eigentlich im Detail um die musikalischen Inhalte? Ich höre in den Berichten über die Goldberg-Variationen immer nur das Thema. Welcher Musiker unterzieht sich der Mühe, sagen wie, ein Werk wie das von Rolf Dammann über die Variationen durchzuarbeiten? Würde es vielleicht genügen, unter der strengen Regie von Marina Abramović 30 mal hintereinander das Thema zu spielen? Und mit Douglas Gordon über das Phänomen Wasser zu meditieren? Was meint Hélène Grimaud mit dem Satz „Die Kunst hält das aus“… Die ZEIT kommt vom Wasser auf Erderwärmung und Schmelzen der Pole und fragt: „Ist das unser Problem? Überfrachten wir die Musik mit unserer Realität?“

Hélène Grimaud: Wenn Sie so wollen, dann ist jede Rezeption eine Überfrachtung, eine Überwölbung mit eigenen Erfahrungen. Die Kunst hält das aus. Für frühere Zeitalter war die Natur ein Wissensspeicher. Man ging hinaus, machte einen Spaziergang, kam zurück und schrieb nieder, was der Wind einem durch die Blätter der Bäume zugeflüstert hatte. Das ist jetzt grob vereinfacht gesagt, so romantisierend war es nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es bis heute gilt. Denn wenn wir uns diesen existentiellen Bezug zur Welt, in der wir leben, bewahrt hätten, wäre es nie so weit gekommen.

…wäre es nie so weit gekommen? Nicht ohne Grund hat sie vorher gesagt: “ (Man) kam zurück…“ Wahrscheinlich hätten wir auch keine Musik, keine Literatur, keine Bilder, wenn wir nicht zurückkämen, reflektierten, objektivierten. Denn die Kunst schließt aus, verzehrt, ignoriert schließlich alles, was nicht Kunst ist. Ich behaupte, dass auch Ravels „Jeux d’eau“ davon profitieren, dass die Künstlerin die Musik reflektiert und nicht das Lichterspiel auf dem Wasser.

Wenn Sie 5 Minuten Zeit haben, hören Sie doch, wie es bei Igor Levit war, auch was er selbst dazu sagt – und wie er das Thema der Goldberg-Variationen spielt: HIER(Nicht mehr abrufbar!)

Wollen Sie sich die Situation optisch vorstellen? HIER finden Sie eine Rezension und ein paar Bilder.

***

Und doch – könnte ich mir selbst in den Arm fallen, in die Tastatur, und versuchen, einen ganz anderen verbalen Ausdruck für dies alles zu finden. Einen Ausdruck des Schreckens und des Abscheus. Was für ein Aufwand wird hier getrieben, um eine Kunstwelt zu errichten, die sich geriert, als gehe es um nichts anderes als um die Beschwörung des wahren Augenblicks, des ungeheuer magischen Moments, der zur Ewigkeit wird. Oder um die technisch hoch aufwendige Installation einer Ewigkeit, die dann hoffentlich zu einem weltentrückten Augenblick zusammenschnurrt, man entfaltet auch die stumme Bildende Kunst – faltet sie geradezu auseinander -, bis sie in der einen genialen Performance zu einer Zeitkunst wird, versucht die Zeitkunst Musik in ein Ritual zu bannen, das uns reinigt und zu hörenden Giganten „entpersönlicht“, nein, ich finde keine Worte, und dann steckt am Ende längst die Erlebnis-Industrie dahinter, die längst alle Bastionen der künstlichen Intensivierung besetzt hat. Und im Saal sitzt allenthalben dieselbe Schickeria wie seit Menschengedenken, neuerdings aber mit dem festen Vorsatz, bei der Wiederkehr des Goldberg-Themas am Ende der Vorstellung in Ohnmacht zu fallen. Und dann hinauszugehen und zu sagen: ich widme diesen Abend den Flüchtlingen oder der Abwendung der Klimakatastrophe, nie war ich der Realität näher als im Moment dieser künstlich verordneten meditativen Einsamkeit in diesem riesigen Saal, der in den alten Zeiten als Waffenhalle (Armory) gedient haben soll. Und dann – ich sage es noch einmal (inszeniere mich womöglich gerade selbst) – versammelt sich da wieder die Menge der elitären Heerscharen und wartet auf die Gänsehaut wie in Bayreuth, wenn endlich das schwere Blech einsetzt. In diesem Fall die absehbare Wiederkehr des  zarten Themas als Wunder der intimsten Massenrührung. Eine Bach-Mirakelperzeption, die schon zu Glenn Goulds Lebzeiten weltweit eingeübt wurde, noch mehr aber nach seinem Tode: in nächtlichen Medien-Séancen mit dem Zeremonienmeister Bruno Monsaingeon.

Ich könnte aber auch an dieser Stelle daran erinnern, dass bestimmte Künstler immer noch eine unvergessliche, bezwingende Wirkung ausüben, indem sie einfach – normal beleuchtet – auf der Bühne stehen oder sitzen und vollendet Beethoven-Sonaten spielen und nicht einmal durch besondere Schönheit des Gesichtsausdrucks, der Haltung, der Gestalt oder der Gesten auffallen, wie Leonidas Kavakos („distanziert und fast mürrisch“), ob mit Enrico Pace oder Daniil Trifonov. Wie geht das? – Eigentlich – nicht so, wie ich es erlebt habe – in meinem Wohnzimmer – vor dem Fernsehapparat –

Ich breche ab, – ich muss noch ein paar einleuchtende Textstellen zur heutigen Funktion der Performance abschreiben. Vielleicht auch noch einmal Wolfgang Ullrichs Buch „Alles nur Konsum“ durchblättern. Oder nein, bei Hanno Rauterberg muss stehen, was ich suche… unter dem entwaffnenden Titel „Die Kunst und das gute Leben“…

***

ZITAT RAUTERBERG

Dass sich das Wesentliche nicht festhalten lässt, dass die Wahrheit im Augenblick liegt und ja ohnehin nur lebendig ist, was wandelbar bleibt, das sind geläufige Topoi des digitalen Zeitalters – in der Performance finden sie ihre ebenso geschmeidige wie unterhaltsame Form. Sie will sich den üblichen Verwertungszwängen entziehen, will kein Produkt sein, mit dem sich handeln und spekulieren ließe. Es ist eine liquide Kunst, die mit Kameras nicht vollgültig einzufangen ist. Man soll, man muss sie mit eigenen Augen sehen, sie zelebriert das Hier und Jetzt, eine wahre nondigitale Erfahrung. Es ist die Kunst der Präsenz. Sie setzt auf Anwesenheit und Körperlichkeit, sie erlaubt es den Besuchern, sich ihrer selbst zu vergewissern: gegenwärtig zu sein.

Manchmal geht es sehr meditativ zu, beispielsweise wenn der Künstler Anthony McCall auftritt, dessen Kunst nichts als Raum, Zeit und Licht sein möchte. Im tiefsten Dunkel erstrahlen dann klirren helle Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum erfasst. Die Besucher sind es, die hier zu Performern werden: Sie baden im Licht des Künstlers, versuchen es zu ergreifen, eine irreal-reale Erfahrung. Der sogenannten Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefällt diese Art von Lebendigkeitsästhetik.

(…) Wo sonst in den Museen ein jeder Besucher für sich vor den Gemälden und Skulpturen steht und die ästhetische Erfahrung in der Regel das auf sich gestellte Individuum meint, legt es die Performance auf etwas Allumfassendes an. Sie verbindet den Raum, das Gezeigte, das Publikum. (…)

Die Performance Art kann auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurückblicken, die hat sehr unterschiedliche Spiel- und Spannungsformen entwickelt und mit Marina Abramović oder Tino Sehgal einige der populärsten Künstler der Gegenwart aufzuweisen. Doch ganz gleich, ob eine Performance ekstatisch, sanftmütig oder spielerisch gestimmt ist, ob sie das Irrationale bestärkt oder auf vernunftbetonte Dialoge abzielt, stets bemüht sie sich, die Betrachter aus ihrer gewohnten Rezeptionshaltung herauszureißen. Das Museum habe, so eine verbreitete Annahme, ein konsumbestimmtes Verhältnis zu Gemälden und Skulpturen begünstigt und damit den Besuchern eine passive Rolle verordnet. Daher müsse sich Performance vor allem der Neubelebung widmen: Die starren Formen der Kunst löst sie auf in etwas Atmosphärisches, dem Dauerhaften setzt sie das Ereignishafte entgegen und sie möchte aus dem passiven Betrachter einen aktiven Teilnehmer machen. Atmosphäre, Ereignis und Interaktion können je nach Performance unterschiedlich gewichtet sein, alle drei Aspekte aber treiben auf ihre Weise die Normalisierung der Kunst voran.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben / Über die Ethik der Ästhetik / edition suhrkamp / Berlin 2015 (Seite 58 f) Hervorhebungen in roter Farbe JR

Um noch eine weitere Anregung hinzuzufügen, die sich leicht auf Musik-Aufführungen beziehen lässt. Das Zitat stammt aus dem Vorwort eines Buches, das schon 2004 erschienen ist:

Kunst ist in Bewegung: Theater und Konzertsäle öffnen sich für Installationen und Performances. Galerien machen Platz für Darsteller und Tänzer. Der Gang durch die Stadt ist ein Auftritt. Öffentliche und private Räume werden in ihrer Funktion hinterfragt und können dabei zum Ort für ästhetische Erfahrungen werden. Der Transformation der Räume entspricht eine Neubefragung der zeitlichen Disposition von Kunst. Anfang und Ende, Dauer und Verlauf fallen aus dem Rahmen konventioneller Muster. Damit wird eine ästhetische Praxis generiert, für deren Beschreibung Schlüsselbegriffe wie Dynamik, Prozessualität, Vollzug oder Präsenz kennzeichnend sind.

Solche neuen Produktionsweisen korrelieren mit veränderten Rezeptionsstrategien. Wahrnehmung wird nicht als passive Aufnahme und ausschließlich intellektuelle Beschäftigung mit statischen Objekten verstanden, sondern als sinnlicher und körperlicher Vorgang, der aktive Teilhabe erforderlich macht. Schließlich steht der Status von Zuschauern und Zuhörern selbst auf dem Spiel, wenn ihr Erleben im ästhetischen Vorgang thematisiert wird und sie durch ihre Anwesenheit und Wahrnehmung konstitutiver Teil ästhetischer Prozesse sind.
Wenn Kunst in Bewegung ist, dann gerät auch die tradierte Konzentration auf Werkcharakter und -ästhetik ins Rutschen.

Mit anderen Worten: Die Performativierung der Kunst stellt eine besondere Herausforderung für die Analyse dar. Kunst provoziert Wissenschaft, und die Entgrenzung der Kunst stellt die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen in Frage.

Quelle Hier Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst / Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen / Hrsg.: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt.

Nachtrag zu Hélène Grimaud

Die Wasser-CD, die ich (siehe Bild oben) inzwischen besitze, ist sehr schön zu hören, leider auch beim Arbeiten, wenn ich gar nicht recht zuhöre. Sie plätschert dahin – Schönheit – „wie gleichst du dem Wasser!“ Soll ich über das Wesen des Wassers meditieren oder über die Verflüssigung unserer Seele beim Hören? Ja gern, ich mache alles mit. Aber wenn ich etwas über die Klänge, die mich beieindrucken, wissen will, schaue ich ins Booklet und lese über das erste Stück von Luciano Berio – „Wasserklavier“ No.3 from 6 Encores – per Antonio Ballista:

Die Werke dieses Programms gehen weit über lediglich neue Naturschilderungen hinaus. Ohne sentimental zu werden, regen sie an zu tiefer Versenkung in Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Gefühle, die durch Wasser stimuliert werden. Berios Wasserklavier sinnt zunächst mit süßer Melancholie über die vom Wasser symbolisierte Unbeständigkeit der menschlichen Existenz nach.

Das ist alles, und es ist natürlich zu wenig. Denn der Verlag Universal Edition gäbe uns etwas mehr in die Hand:

Wasserklavier aus 6 Encores könnte in der Tat als ideale Zugabe nach jedem Klavierrecital dienen: es ist tonale Musik, die Motive aus Brahms’ Op. 117 sowie Schuberts Op. 142 verwendet. Das Ende bleibt irgendwie offen – mit einem Fragezeichen oder das Gefühl vermittelnd, dass die Musik noch weiter klingen könnte.

Was für eine Vorgabe! Darauf wäre ich nicht gekommen, obwohl mein absolutes Lieblingsstück dabei ist. Op.117 besteht aus drei Intermezzi und Schuberts op.142 aus vier Impromptus, auch lauter Lieblingsstücke von mir. Und ich habe – als ich dies noch nicht wusste – kein einziges Motiv erkannt, jetzt aber fällt es mir wie Schuppen … nein, keine Anspielung in diesem Zusammenhang.

Im Fall Takemitsu verfahre ich ähnlich, der Verlag All Music hilft mir ebenfalls… Haben Sie’s angeklickt? – Aber muss ich denn wirklich alles selber tun?

Der ideale Jesus

Eine Inszenierung

Natürlich ist der Blog-Titel eine kleine Provokation, ich glaube aber, dass sich das „Evangelium“ selbst so versteht. Jedenfalls behaupten rhetorisch begabte Prediger dies auf der Kanzel immer wieder. Ein Ärgernis, sagt man, ein Skandalon. Andererseits wird auch gern gesagt, dass die Aufführung einer Passion kein Theaterstück sei, während manche Bach-Enthusiasten beteuern, ihr Idol hätte der größte Opern-Komponist aller Zeiten werden können. Zugegeben: ich selbst schreibe dies auch nicht als „Gläubiger“ und bedauere doch sehr, dass die heutige Jugend – von den mitteljungen Erwachsenen zu schweigen – nicht mehr imstande ist, eine Bach-Passion mit Ergriffenheit zu hören. Und zu sehen! Während ich bis lange nach Mitternacht sitze und mich nicht losreißen kann. (Keine Kunst: Ich habe 100 mal in meinem Leben mitgespielt.) Zuerst habe ich gar nicht bemerkt, dass es eine „Inszenierung“ ist, so sparsam sind ihre Mittel. Zunächst wundert einen vielleicht nur die bunte, wenn auch ordentliche Kleidung der Chorsänger… aha … sie sollen Leute wie ich und du repräsentieren, keine Festspielbesucher. Dann sehe ich Bewegungen der Sänger bzw. der Sängerin, „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“, es ist nicht lächerlich, man erlebt nur, wie sie die Standorte wechselt. Oder der Chor: da erheben sich Einzelgruppen von ihren Sitzen, mit ihrem jeweiligen Ruf „Lasst ihn kreuzigen!“, – zum Glück noch nicht ganz wie eine demonstrierende Masse. Am tiefsten prägt sich ein, wie der Sänger Tareq Nazmi sich verhält, wenn er schweigt: er hört aufmerksam und freundlich zu. Das soll nicht heißen, dass er weniger bemerkenswert singt, im Gegenteil, gerade durch seine darüber hinausreichende geistige Präsenz steigert sich auch die Wirkung der zurückgenommen-ausdrucksstark gesungenen Christus-Worte, jeder Ton triff ins Herz. Und die Präsenz hält an, wenn er „gestorben“ ist: die Gambe hebt an mit „Es ist vollbracht“, er aber verharrt an der Seite sitzend, vornübergebeugt  (nicht so pathetisch wie Rodins Denker, eher sanft, vielleicht etwas resignativ), und er bleibt für die anderen Interpreten zentraler Blickpunkt.

Ich muss mich unterbrechen und die Leser zu einem eigenen Urteil ermuntern, nein, zu keinem Urteil. Beachten Sie doch einfach, ob es irgendwo eine Geste zuviel, eine aufdringliche Einstellung, eine rein theatralische Wirkung gibt. Selbst dort, wo die herrscherliche Geste üblich ist; mir gefällt es, dass der Dirigent weder den Animateur noch den großen Visionär gibt. So wie er – möchte man selbst zuhören können.

Bis zum 27. März 2016 gibt es Gelegenheit, die ganze Aufführung, die sich mit Recht ein Gesamtkunstwerk nennen dürfte, nachzuerleben: ich werde noch mehrmals eintauchen und überprüfen, ob meine nächtliche Begeisterung mich nicht über die Realität hinweggetragen hat. Ja, ich gebe zu: ich habe nicht nur gesessen und geschaut, sondern auch eine halbe Flasche Rosado (Salamandra) dabei getrunken. Das ist nicht viel auf zwei Stunden verteilt, und ich bereue nichts! Die Situation des Zuhörers ist ein Teil der Aufführung.

Johannes Screenshot 2016-03-21 12.18.18 HIER klicken!

Auch die Ankündigung ist nicht reißerisch:

Bachs Johannes-Passion in einer Licht- und Rauminszenierung, die über eine herkömmliche Konzertaufzeichnung hinausgeht. Chor, Orchester und Solisten musizieren und agieren im Mittelschiff der gotischen St. Lorenzkirche Nürnberg.
Die neue Aufstellung unterstreicht die dramatischen Aspekte von Bachs packend-expressiver Passionsdarstellung. Für hohe musikalische Qualität sorgen ein exzellentes Solistenensemble, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Ensemble Concerto Köln unter der Leitung von Peter Dijkstra.

Der Name der Regisseurin sollte noch hervorgehoben werden: Elisabeth Malzer. Nicht zu vergessen – die szenische Gestaltung: Folkert Uhde.

P.S. August 2017

Was ich damals nicht wusste: die Produktion ist auch auf DVD herausgekommen, und sie stand am 16. Mai auf der Bestenliste (Vierteljahrespreis) beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Näheres HIER.

P.S. April 2019

Anders liegt der Fall bei der Johannespassion unter Simon Rattle, Regie Peter Sellars. Vielzuviel äußerliches Drama. Aufdringlich z.B. die Gesten des Chores in Chorälen und Turba-Auftritten. Laienspiel.

Eine Geschichte der Philosophie?

Weshalb man sich dieses Buch besser erspart

Russell Denker DENKER…  russell Titelseite

Ich besitze es seit dem 12.12.71 und sehe, dass ich es nur bis Seite 14 durchgearbeitet, ansonsten wohl nur Bilder betrachtet habe. Sonst wäre mein Ärger größer. Immerhin hatte ich eine hohe Meinung von Bertrand Russell, denn am 24. Dezember 1982 legte ich in das Buch einen ZEIT-Artikel, der mir offenbar imponiert hat. (Autor: ein gewisser Dr. Marcus Bierich, von Beruf Wirtschaftswissenschaftler, damals Vorstandsmitglied eines Versicherungskonzerns. Weiteres siehe hier.)

Russell ZEIT 1982 (Teil-Wiedergabe)

Das Buch „Denker des Abendlandes“ gibt es auch heute noch (und auch in anderen Verlagen, weitgehend unverändert, erkennbar am Namen des Übersetzers Károly Földes-Papp) zu kaufen. Der Laie verwechselt es  leicht mit dem großen und wirklich heute noch sehr empfehlenswerten Hauptwerk von Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes /  Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. Und vielleicht soll man es sogar verwechseln, obwohl kaum eine Zeile im „Denker“-Buch wirklich von Russell stammt. Vielleicht mit Ausnahme des Vorwortes, das stark nach Autorisation klingt:

russell Vorwort „Denker des Abendlandes“ Vorwort

Auf der Titelseite steht ganz deutlich und scheinbar authentisch „Verfaßt von Bertrand Russel“, im Vorwort liest man immerhin, ein Dr. Paul Foulkes habe „beim Schreiben des Textes geholfen“. Im Wikipedia-Link findet man immer noch unter den Ausgewählten Schriften auch das Werk des Jahres 1959 – „Wisdom of the West“ – als ein Russell-Werk mit dem Zusatz Hrsg. von P. Foulkes.

Wie der Fall wirklich liegt, kann man bei Ulrich Erckenbrecht nachlesen:

Die Gelddenker des Abendlandes / Bertrand Russell und seine Namensausbeuter (Seite 62 bis 82) in: Ulrich Erckenbrecht „Die Unweisheit des Westens / Scherflein zur Philosophie und Sprachkritik“ Muriverlag Göttingen 1998 ISBN 3922494153 (Postfach 1765 D-37007 Göttingen)

Nur ein einziges Zitat, – es hat einen leichten Hautgout von Kolportage, bietet aber erst einen Vorgeschmack des ganzen Skandals:

Wie kam Paul Foulkes dazu, im Namen und unter dem Namen von Bertrand Russell das Buch „Wisdom oft the West“ / „Denker des Abendlandes“ zu verfassen? Lesen wir den spannenden Spadoni! [Spadoni gehört zu den besten Russell-Kennern der Welt. Er schrieb 1986 den erhellenden Aufsatz „Who wrote Bertrand Russel’s Wisdom of the West?“  JR] Der Bestsellererfolgt von Russels „History of Western Philosophy“ brachte einen findigen und windigen Verleger auf die Idee, sich mit einem Imitatbuch an diesen Bestsellererfolg anzuhängen (solche Leute soll es ja heute noch im deutschen und internationalen Kulturbetrieb geben).

Dieser angelsächsische Verlagsmensch machte sich im Winter 1956/57, als Russell 84 Jahre alt war, an den hochwohlgeborenen Earl heran und bot ihm einen beträchtlichen Honorarvorschuß für ein neues Buch. Das traf sich gut, denn Russell brauchte in jenen Jahren dringend Geld; sein Sohn war samt Schwiegertochter davongelaufen und hatte Russell und dessen Frau die Sorge für drei Enkelkinder überlassen.

Russell verstand die Sache so, daß er selbst ganz wenig zu machen bräuchte und nur als eine Art Schirmherr für das Buch fungieren würde (die eigentliche Schreibarbeit würden andere leisten). Dazu war er gern bereit, und mit Freuden strich er als Vorschuß eintausend englische Pfund ein – das war damals eine schöne Stange Geld. Weitere fünftausend englische Pfund sollten zum Zeitpunkt der Publikation des Buches an Russell gezahlt werden. Viel Geld für wenig Arbeit!

Quelle Erckenbrecht a.a.O. Seite 66f

Vom Kitsch

Gesunder Menschenverstand und Alltagsästhetik

Das begegnet einem jeden Tag: Jemand sagt aus tiefstem Herzen, was ihm gefällt, und man kann ihm nicht recht beipflichten. Das hat mit Ästhetik nichts zu tun. Sich wohlfühlen, in der Sonne liegen, etwas sagen, was auf der Hand liegt und ein großes Wesen darum machen, dass es so ist wie es ist. Ja, kannst du denn nicht dankbar sein? Willst du etwa behaupten, Monet hat nur Kitsch gemalt? Usw., usw., es gibt 100 Möglichkeiten, jemandem zum Vorwurf zu machen, dass er nicht in den Chor einstimmt. Es verunsichert die anderen. Ja, und muss man sie nicht in ihren Sorgen ernstnehmen? Sie da abholen, wo sie stehen? Natürlich, aber ja doch. Deshalb darf man auch kein „Dislike“ drücken, wo über Kunst abgestimmt wird und viel gefühlt wird… Übrigens auch über Nicht-Kunst. Der Sonnenuntergang ist immer noch ein Thema. („Das würde man doch keinem Maler abnehmen!“)

Man fällt unentwegt Werturteile. Die Frage ist: Muss ich eigentlich Werturteile fällen? Was ich mir an die Wand hänge und zur steten Erinnerung im Blickfeld behalten will, – muss das etwa Kunstkriterien genügen? (Nein, – aber Geschmackskriterien?) Die Musik, die zufällig läuft und die ich nicht abstelle, – muss sie wertvoll sein? (Mir sagte mal jemand, er werde durch schlechte Musik kontaminiert.) Fest steht: sobald ich Musik höre (oder Ähnliches, z.B. Vogelgesang, entfernte Stimmen oder Rufe), muss ich den Ablauf Ton für Ton beobachten oder sogar analysieren. Auch wenn ich es auf Anhieb banal oder überflüssig finde. Das ist eine alte Gewohnheit. Vielleicht seit der Zeit, als ich ein paar Jahre lang arabische Musik aufgeschrieben habe, die erst durch diese genaue Beobachtung (in der Wiederholung) ihre Schönheit oder Besonderheit enthüllte. Auch manche klassische Musik hat sich so erschlossen, durch ständige Wiederholung. Erst in der Neuen Musik hat sich dieses Mittel zuweilen als wirkungslos erwiesen. (Es funktionierte „tadellos“ bis zu Schönbergs Monodram Erwartung.)

Eine sehr interessante Erfahrung, wenn sich nach einem anfänglichen Wohlgefallen – schließlich Überdruss einstellt. Auch angesichts bestimmter Stimmungen, für die ich ursprünglich empfänglich war, z.B. beim langsamen Satz des Concierto d’Aranjuez, – oder bei der oben auf dieser Seite zugänglichen Pavane von Fauré, während ich die von Ravel sozusagen künstlich vor Abnutzung schütze (sie soll kostbar bleiben: nur Klavier! Orchesterfassung meiden!). Was ist mit Bildern im Hotel, mit denen ich mich abgebe, obwohl ich sie nicht schön finde. Dekorativ? Geschmacklich neutral? Oder sogar lügnerisch? Was erwarte ich denn? (Blumen gehen immer???) Brauche ich etwa, wenn ich mich in der Nähe des Meeres befinde, auch noch Meeresbilder? Aber welche denn? Lieber kahle Wände?  Ein Beispiel aus der Realität:

Kunstbild b

Es irritiert: manchmal sieht es so plastisch aus, als sei es ein Relief. Oder eine Nische in der Wand mit den dargestellten Gegenständen („in echt“). Ich trete näher heran und erkenne sogar die Wiedergabe von Lackbrüchen, als handele es sich um einen Jahrhunderte alten Niederländer. Zur Erläuterung liest man: MARCHÉ aux FLEURS. Ja, genau. Und den Namen: Kathryn White.

Kunstbild a

Man findet sie unter der Adresse http://www.kathrynwhite.com/. Man kann Originale kaufen. Und die Dinge gibt es wirklich. Und das Konzept.

The Art of Kathryn White fuses contemporary materials and techniques with traditional methods. Her versatility allows her to paint in both oils and watercolors and in the centuries-old medium of egg tempera.

All dies hat mit Ästhetik wenig zu tun. So wenig wie die Musik, die ungebeten an mein Ohr dringt. Wenn ich ein Buch über Ästhetik studiere, habe ich alle alltäglichen Irritationen ausgeschlossen. So wie Hegel den „gesunden Menschenverstand“, den er durchaus kennt, aus seinen Überlegungen über Geist oder Bewusstsein ausschließt. Wäre es aber auch möglich, dass ich mich auf einer abstrakten Ebene recht klug verhalte, auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes aber tölpelhaft?

Wie nun, wenn die meisten Leute, die so tun, als hätten sie Hegel längst in der Tasche, wirklich nur so tun, als hätten sie…? Und die andern schweigen, weil sie wissen, dass sie es nicht beurteilen können?

Der ungeduldige Leser wird vielleicht fragen: Bitte zur Sache! Ist es nun Kitsch? Oder nicht? Was ist mit dem Sonnenuntergang, dem gestirnten Himmel über dir, dem Blick in die weite Landschaft, was ist mit dem abstrakten Denken, – was mit der Pavane von Fauré, der feinsinnigen Darstellung bloß dekorativer Gegenstände?

Ich erfahre, dass jemand ein schwieriges Buch „Zeile für Zeile“ gelesen hat, und er kommt zu einem Urteil, das mich vermuten lässt, er hat nur nach den belastenden Indizien gesucht, die ihn sagen lassen können: dein Buch ist schlechte Theologie. Du stehst auf der anderen Seite. Und weg mit dem Buch, in den Orkus damit!

Wie sagt Hegel?

Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkeiten, Handwerken gilt die Überzeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfache Bemühung des Erlernens und Übens derselben nötig ist. In Ansehung der Philosophie dagegen scheint jetzt das Vorurteil zu herrschen, daß, wenn zwar jeder Augen und Finger hat, und wenn er Leder und Werkzeug bekommt, er darum nicht imstande sei, Schuhe zu machen, – jeder doch unmittelbar zu philosophieren und die Philosophie zu beurteilen verstehe, weil er den Maßstab an seiner natürlichen Vernunft dazu besitze. – Es scheint gerade in den Mangel von Kenntnissen und von Studium der Besitz der Philosophie gesetzt zu werden und diese da aufzuhören, wo jene anfangen.

Wir befinden uns noch in der Vorrede des Werkes, an das ich mich zu Anfang dieses Artikels dunkel erinnerte, – was mir noch deutlicher wird im folgenden Satz über das „natürliche Philosophieren“, das man ja auch auf den Schild heben könnte (oder vielmehr: gerade nicht).

Dagegen im ruhigeren Bette des gesunden Menschenverstandes fortfließend, gibt das natürliche Philosophieren eine Rhetorik trivialer Wahrheiten zum besten. Wird ihm die Unbedeutendheit derselben vorgehalten, so versichert es dagegen, daß der Sinn und die Erfüllung in seinem Herzen vorhanden sei, und auch so bei anderen sein müsse, indem es überhaupt mit der Unschuld des Herzens und der Reinheit des Gewissens u. dgl. letzte Dinge gesagt zu haben scheint, wogegen weder Einrede stattfinde, noch etwas weiteres gefordert werden könne.

(…)

Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e]. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.

Quelle Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Herausgegeben von Georg Lasson) Zweite Auflage Leipzig 1921 (Vorrede Seite 46f)

Der geduldige Leser wird den Bezug auf das Tierische, wenn es um seine Gefühle geht, sehr übel nehmen und, wenn er überhaupt die Auseinandersetzung fortzuführen bereit ist, entgegnen: Das kann dein Ernst nicht sein. Bleib doch bitte bei der Sache: Was ist denn nun konkret mit dem Kitsch?

(Fortsetzung folgt)

Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Linearität und „Musik im Delta“

Einige Anregungen zu musikhistorischen Fragen, die sich – direkt und indirekt – bei der Lektüre des Buches von Gunnar Hindrichs („Die Autonomie des Klangs“) ergeben, – wenn man gewöhnt ist, die Systeme zu wechseln. Etwa: von der Affektenlehre im Barock zur Bedeutung der „Rasas“ in indischer Musik – vielleicht letztlich in beiden Fällen auf Aristoteles zurückgehend. (Verbindung über Hellenismus in Baktrien, vgl. Lutz Geldsetzer „Nagarjuna“ Hamburg 2010, Vorwort ab Seite XII).

Das Hintertürchen, das Adorno für Komponisten offenhält, die nicht in sein Schema passen: etwa Janáček oder Bartók, – im Gegensatz zu Elgar oder Sibelius, die keine Gnade finden.

Aus meinem Exemplar der „Philosophie der Neuen Musik“ von Theodor W. Adorno (Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958), studiert ab 13.V.1960 in Berlin):

Adorno Philosophie Janacek

Bei Hindrichs nun scheint problemlos Platz für alle. Einige Umwege sind unvermeidlich, auch dank des Verdachtes einer kryptisch-theologischen Hermeneutik (seit Hegel eine gute philosophische Tradition,  vielleicht die Grundlage aller Philosophie).

Eine Assoziation* sei an dieser Stelle eingefügt; ich werde ihr nachgehen, sobald ich mich wieder an meinem Schreibtisch befinde.

Carlo Ginzburg über Italiens kulturhistorische Situation etc s.a. hier. Siehe zunächst die Quelle zum Thema Ungleichzeitigkeit bei Bloch !!! Hier

Was in der Szene der „neuen Neuen Musik“ gegen Gunnar Hindrichs vorzubringen ist, lässt sich gut bei Stefan Hetzel verfolgen. Siehe HIER. Wobei der Respekt durchaus zum Vorschein kommt:

Hindrichs ist ein äußerst ernst- und gewissenhafter, zudem ehrgeiziger intellektueller Arbeiter, das ist wohl kaum in Frage zu stellen. Schreiben kann er auch, das Buch hat zweifellos Stil und der Autor ist in der Lage, auch über längere Strecken Gedankenfäden auf abstrakter Ebene zu spinnen, die sogar – so man denn Spaß am Umgang mit Abstrakta hat und die Prämissen des Autors akzeptiert – eine deutliche Sogwirkung entfalten: eine echte Seltenheit! So gesehen, ist “Die Autonomie des Klangs” ein gut, ja sogar hervorragend gemachtes Buch. Aber mir sind nun mal Inhalte wichtiger als Form – und was die betrifft, hockt der Text im allerverstaubtesten Dachkämmerchen des Elfenbeinturms und wünscht sich zurück in eine heile Welt absoluter, metaphysisch legitimierter Autorität.

(Stefan Hetzel a.a.O.= s. den Link oben)

Im Blick auf die bedeutende Musik anderer Kulturen interessiert mich weniger die im § 26 des Hindrichs-Buches im Anschluss an Doflein hervorgehobene Spielmusik, die von der Linearität eines Materialfortschritts nicht erfasst würde – womit etwa die Linie von Bach über Beethoven zu Brahms/Wagner und Schönberg gemeint wäre – , dennoch ist der Gedanke grundsätzlich festzuhalten:

ZITAT

Der Hauptangriffspunkt gegen die Theorie von der Tendenz des musikalischen Materials bildet ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Annahme von Linearität. Wenn es eine Tendenz des Materials gibt, dann scheint sich die Musikgeschichte einer Linie gemäß zu vollziehen. Das schneidet die Mannigfaltigkeit musikalischer Entwicklungen ab.

Im Hintergrund dieses Einwandes steht oft das Ressentiment gegen „die Moderne“ oder „das Neue“. Daneben aber gibt es auch reflektierte Stimmen. Einer der ersten wichtigen Einsprüche erfolgte von Erich Doflein. In ihm ist der Hauptgedanke aller späteren Gegenargumente vorweggenommen. Es lautet: Statt der Linearität eines Materialfortschritts sei die Vielfalt der neuen Musik anzuerkennen. Dofleins Titel für diese Vielfalt hieß „Musik im Delta“. Das Delta der neuen Musik umfaßte in seinen Augen neben dem obligaten Stil einer vollständigen Durchdringung des Tonsatzes, der zur Zwölftontechnik geführt habe, auch spielerische Formen, das Laienmusizieren, die Stücke der Musikpädagogik oder die Linie Reger-Hindemith-Orff. Die Regionen dieser auseinanderstrebenden Leitbilder bilden die Provinzen der Musik, die sich nicht mehr miteinander verständigen können. Sie alle aber besitzen in ihren regionalen Grenzen Legitimität.

Dofleins Gedanke einer Vielfalt von Formen statt eines einfachen Fortschritts des Materials – „Delta“ statt „Linie“ – läßt sich unabhängig von seiner Entfaltung in die Musikwelt des Adenauer-Deuschlands betrachten. Er beruht auch nicht auf dem Ressentiment gegen die Moderne. Statt dessen führt er die Konzeption regionaler Legitimitäten ins Feld. Zwar stellt der von ihm behauptete Gegensatz von obligatem Stil und Spielmusik keinen Gegensatz gleichrangiger Entwicklungen dar; diese inhaltliche Bestimmung des Deltas ist zeitgebunden und muß aufgegeben werden.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs / Suhrkamp Berlin 2014 (Seite 56 f)

Die Anhänger neuester Strömungen, denen das „Delta“ gleichgültig ist, interessieren sich auch in geringem Maß für das Faktum, dass klassische Musik, – also Musik einer vergangenen Epoche, einer abgelebten Gesellschaft -, den heutigen Menschen weiterhin etwas zu sagen hat. Eine vergleichbare Situation: Wer sich für Musik fremder Kulturen begeistert, scheint sich in eine vor-industrielle, mythisch befangene Gesellschaft zurückzusehnen. Er ist nicht „auf der Höhe der Zeit“. Auch das ist Quatsch, – was aber nicht ganz leicht nachweisbar ist.

*Assoziation: das oben verlinkte Buch über Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen / Fünf Studien zur Geschichte Italiens / edition suhrkamp 991 / Frankfurt am Main 1980 / Siehe dazu den späteren Artikel, – wobei ich beim Thema Italien immer das große Thema Indien mitdenke:

Italien Storia

Italien Storia Aufsätze

Zugabe in gleichzeitigen Naturalien

Texel Paal 19 a  Texel Paal 19 c

Texel Paal 19 d Texel Paal 19 d'

Texel Paal 19 HandyFotos: JR

Nachtrag 6. April 2016

Im April-Exemplar des Magazins „Musik & Ästhetik“ (Heft 78) äußert sich Christian Utz zu einem Kongress-Beitrag von Gunnar Hindrichs und bringt zum Vorschein, was in der zeitgenössischen Diskussion gegen diesen Autor vorgebracht wird.

Hindrichs (…) möchte zeigen, dass musikalische Form als „Antwort auf Notwendigkeiten des Materials“ eine normativ verstandene „ästhetische Wahrheit“ begründet, die unabhängig von einzelnen Interpretationen und deren Geschichte bestehe. Vor diesem Hintergrund wird die Musikgeschichte für Hindrichs lesbar als Werden auf ein Noch-nicht-Vollkommenes hin. Hindrichs‘ zum Apodiktischen neigender ontologischer Zugang, der auch aus Anlass seines Buchs Die Autonomie des Klangs (2014) vielfach kritisiert worden ist, mag aus einer gewissen Tradition philosophischer Denkfiguren in der deutschsprachigen Philosophie begründbar sein, kann aber gerade auf einem derartig kontrovers und intensiv debattierten Feld wie der Musikgeschichtsschreibung kaum darüber hinwegtäuschen, dass sein Modell den Stand der Diskussion verfehlt. Wenn – der postmodernen Skepsis an „Meta-Narrativen“ zum Trotz oder gerade durch diese beflügelt – Fragen der Globalgeschichte, die Historizität nicht-westlicher Musikformen oder eine integrierte Diskussion von Kunst- und Popularmusik zur Sprache kommen, wird ein Diskursfeld geöffnet, vor dessen Hintergrund Hindrichs‘ Argumentation als zirkulär und eindimensional erscheint. Aber auch zu einem im engeren Sinn musitheoretischen Diskurs vermag die fragwürdige Denkfigur einer „Einbahnstraße“ vom Material zur Form kaum etwas beizutragen.

Quelle „Gegliederte Zeit“ / Der 15. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste Berlin, 1.-54. Oktober 2015 / Von Christian Utz / in „Musik & Ästhetik“ (s.o.)

Dem soeben aufgeführten Zitat folgt ein Satz, der unbeabsichtigt, aber in willkommener Weise den Titel dieses Blogbeitrags stützt (en passant erinnere ich an die Tatsache, dass Brahms auf einem virtuellen Kongress, den etwa Wagner dominierte hätte, durchaus vorteilhaft die Ungleichzeitigkeit mancher Zeitgenossenschaften exemplifiziert hätte) :

Waren somit durch die Hauptvorträge eher gewisse „Ungleichzeitigkeiten“ des Diskurses sichtbar geworden, so brachte das sonstige Kongressprogramm ein sehr facettenreiches Spektrum von „zeit“-bezogenen Fragestellungen zur Sprache, gerade auch unter spezifischer theoretischen Gesichtspunkten (…).

Auch sonst ist diese Ausgabe von „Musik & Ästhetik“ besonders zu empfehlen, weil sie gerade den hier angesprochenen Beitrag von Hindrichs enthält („Musikalische Eschatologie“), aber auch dank der Texte „Zum Tod von Pierre Boulez“ (Larson Powell) zur Qualitätsfrage (Claus-Steffen Mahnkopf) oder über „1001 Mikrotöne“ (Hans Peter Reutter) und andere mehr. Siehe hier:  https://www.musikundaesthetik.de/.

Fotos, die nicht traurig machen

…nicht einmal in 10 Jahren. Eine Lehre aus Meer und Leere.

März 2016 26

März 2016 37

März 2016 31

März 2016 45

März 2016 36

März 2016 48

März 2016 32 Pano

(Alle Fotos aus Texel: E.Reichow)

Der nächste Morgen

Texel x

Texel y Das Pferd

Andererseits: es geht auch darum, Traurigkeit zu ertragen. (Die Anregung kam von George Steiner: „Warum Denken traurig macht„. Vielleicht hält man sich jedoch besser an Albert Camus und den Mythos von Sisyphos. Und … jederzeit an Mozart, wobei die Traurigkeit auf glückliche Weise einbezogen wäre.)

Den entscheidenden Punkt vergaß ich: Ich bin nicht traurig. Aus unvernünftigen Gründen wache ich morgens auf und lebe gern. Und was Steiner angeht: Vielleicht ist dafür das abstrakte Denken erfunden. Anstelle des assoziativen Hin- und Hergleitens (Wandering Mind) die Absicherung durch das lineare Fortschreiten. Daher die Musik? Das Bedürfnis sich fortlaufend abzusichern: vom Basso Continuo zum durchgehenden Rhythmus der Popmusik, plus Vorgabe von 4-Minuten-Komplexen. Ein Beispiel für Abstraktion soll folgen. Zunächst: die Elster in der sonnenbeschienenen Eiche am Waldrand trägt einen dünnen Ast im Schnabel. Gottseidank keine Taube, sonst müsste ich an Zeichen und Wunder glauben.

Das Beispiel (an Ort und Stelle § 64) / ZITAT:

Versuche, den musikalischen Klang und den außermusikalischen Klang als gegenüberstehende Größen zu trennen, begreife den musikalischen Klang als das Element einer Ordnung von unterschiedlichen Klängen. Sofern nun der musikalische Klang den Klang des musikalischen Kunstwerks bezeichnet, kann er indessen nicht als das Element einer solchen Ordnung begriffen werden. Denn das Kunstwerk wird als Kunstwerk nur der ästhetischen Vernunft zugänglich. Und die ästhetische Vernunft faßt das Kunstwerk nicht als ein Seiendes unter anderem Seienden auf. Ihre Ontologie kennt ausschließlich – gelungene oder mißlungene – Kunstwerke. Sofern das ästhetisch Seiende Klang ist, muß es daher der Klang des  musikalischen Kunstwerkes sein. Die Ordnung von unterschiedlichen Klängen, deren eines Element der musikalische Klang darstellt, ist hingegen eine Ordnung, die das klingende Kunstwerk als ein Element unter anderem Seienden auffaßt. Sie ist eine Ordnung nicht aus ästhetischer Vernunft. Die Versuche, den musikalischen Klang dadurch zu bestimmen, daß man ihn seinem Ort in einer Ordnung unterschiedlicher Klänge zuweist, verfehlen daher das ästhetische Sein des Klanges. Die ästhetische Vernunft bestimmt den musikalischen Klang nicht in Abgrenzung zum außermusikalischen Klang, sondern durch die Darlegung seines Eigensinnes. Sie begreift ihn in seiner Autonomie.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klanges / Eine Philosophie der Musik / suhrkamp taschenbuch wissenschaft Berlin 2014 (Seite 98)

Sind Sie ungeduldig geworden? Genau dies zu überwinden, dazu dient die Lektüre. Siehe hier die – vor Wochen noch etwas versteckt angedeutete – Quelle. Versteckt, weil mir die Bedeutung (der Wert des Werkes für mich) noch nicht klar war. Jetzt bin ich weiter, zumal mit August Halm (ab Seite 204) und der zentralen Behandlung der Kadenz ein Punkt erreicht werden dürfte, von dem sich ohne Komplikationen eine Linie nach Indien ziehen lässt (unter Einbeziehung des Gedankens von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“). Und ohne diese Möglichkeit wäre es für mich keine akzeptable Theorie der Musik.

Zugegeben: es gibt Stellen der absoluten Entmutigung, etwa über extensive und intensive Größe (Seite 118 f), mit Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft und Cohens Interpretation des Differentials. Stocken Sie nicht, gehen Sie weiter. Nicht warten, bis Sie Kant und Cohen vollständig im Original gelesen haben. Wer weiß, was der kluge Autor über dem Schreiben dieses Buches an lebendiger Musik versäumt hat… Wollen wir es ihm verübeln? Vergessen Sie nicht, ins Freie zu blicken. Oder in die seltsam verschlungenen Landschaften, die sich unvermutet überall in der „konkreten Realität“ öffnen.

Texel De Hors Überblick Wieder einen Tag später…

Pauschalurteile zur Musik

Ein letztes (?) Wort von Nikolaus Harnoncourt

Vorgestern, am 8. März, stand in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Dirigenten und Pionier der „Alten Musik“, und da er gerade verstorben ist, hat es (zu Unrecht!) den Charakter eines „letzten Wortes“, obwohl es schon zwei Jahre alt ist und aus unerfindlichem (oder durchaus gutem) Grund in der Schublade verblieben war.

Also Lully ist ein wirklich schlechter Komponist, der in Italien, wo er herkommt, unmöglich reüssieren konnte. Dann ist er nach Frankreich gegangen, und da hat er genau die Form gefunden, die für die französischen Musik gut war. Wie die gestutzten Hecken, die es ja in Italien noch nicht gegeben hat. Für mich eine Non-Musik.

Schlechte Musik? Von schlechten Komponisten? Kurz vorher hat er gesagt:

Das ist vielleicht nicht einfach schlecht zu finden, aber Mahler könnte ich nicht aufführen, Berlioz könnte ich nicht aufführen, Bruckner könnte ich nicht aufführen. Lully könnte ich nicht aufführen.

Hatte er die von ihm aufgeführten, auf CD eingespielten und mit großem Tamtam von der Kritik propagierten Bruckner-Sinfonien vergessen?

Jean-Philippe Rameau?

Das ist große Musik, und wenn Bruckner, dann Rameau. Denn Bruckner versucht so zu schreiben wie der Rameau, und das gelingt ihm nie.

War er recht bei Verstand? Waren solche Sätze verantwortlich dafür, dass dieses Gespräch unter Verschluss geblieben ist? Muss man es ausgerechnet jetzt hervorholen, um den verstorbenen Meister lächerlich zu machen? Hatte er je sein Placet zum Abdruck gegeben?

Gustav Mahler?

Immer“Ich!“ Das ist etwas, was mir unangenehm ist. Wenn ein Künstler immer von sich spricht. Ich hab das Gefühl, alles, jeder Ton von ihm heißt „Ich“. Das Gleiche wie bei Berlioz. Eklig.

„Ich hab das Gefühl“?? Ich, ich, ich? Entsetzlich. Oder wie soll man sagen? Jedenfalls: Mahler – „eklig“???

Kaum ein Wort, das man in größerem Zusammenhang nicht zumindest schon etwas differenzierter gehört hätte, insgesamt ein Interview (alle Originalzitate in Rot), das wie ein schlechtes Kondensat wirkt, wenn man es mit älteren, sorgfältiger ausgearbeiteten Texten vergleicht, zum Beispiel mit dem Spiegel-Interview aus dem Jahre 2007: Schön durch Schmutz / Von Kronsbein, Joachim / Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt über seine Liebe zu Alter Musik, über Ego-Komponisten und musikalische Genies in DER SPIEGEL 45/2007 vom 5.11.2007 – siehe HIER.

Zu Mahler sagt er hier immerhin noch folgendes:

Harnoncourt: Am auffallendsten ist der Ego-Bezug bei Berlioz und Mahler. Jetzt kann ich natürlich nicht sagen, dass Mahler schlechte Musik ist. Ich habe nur keine Beziehung dazu.

SPIEGEL: Auch nicht zu den berührenden Liedern?

Harnoncourt: Dazu müsste ich mich zu sehr verändern. Die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ haben mich sehr ergriffen. Ich habe selbst im Orchester gespielt, als Fischer-Dieskau sie sang. Und das ging unter die Haut. Und dann frage ich mich: Will ich das aufführen? Und ich sage sofort: Nein. Ich kann nicht genau sagen, warum.

Das ist ehrlich und relativ differenziert. Damals äußerte er sich auch noch über Bruckner ziemlich angemessen:

Harnoncourt: Nehmen Sie Bruckner und Schubert: Das sind zwei Komponisten, die beide keine Vorgänger und keine Nachfolger haben.

SPIEGEL: Wie Bach und Mozart.

Harnoncourt: Das sind zwei Gipfel, die aus der Musikgeschichte herausragen.

Viel ist damit auch nicht gesagt, aber immerhin, die Geistesverwandtschaft zwischen Schubert und Bruckner wird angedeutet. Sehr erfreulich auch die Würdigung der Lebensleistung Leopold Mozarts.

Besonders merkwürdig jedoch im SZ-Interview die Herabminderung der Bedeutung des Wissens in der Musik. Wie er dem Irrationalismus zuarbeitet, indem er zuerst sagt:

Für mich war es immer wichtig, alles zu wissen, was man wissen kann, was man erreichen kann. Um dann alles vergessen zu können, wenn es um die Aufführung geht. Denn wenn ich das Wissen höre, dann ist es eine schlechte Aufführung.

Und dann der absurde Vergleich:

Man hört, es wirkt studiert. Das finde ich auch, wenn ein Philosoph eine Rede hält. Kann mich sehr interessieren. Aber wenn ich den Denkvorgang verfolgen muss, das mag ich nicht.

Philosophie wäre also etwas anderes als ein Denkvorgang? Zweifellos ist das altersbedingt, und es ist vielleicht nicht in Ordnung, so etwas zu veröffentlichen. Harnoncourt war nicht mehr auf der Höhe seiner früheren Argumentation. Von daher vielleicht wird auch die Fehlleistung verständlich, den Schein-Pianisten Lang Lang in das letzte Mozart-Projekt einzubeziehen, als sei das alles im Vorübergehen lehr- und lernbar. Ausgerechnet bei Mozart, dem der Kollege Haydn vor allem höchste Kompositionswissenschaft bescheinigte.

Wie erfrischend ist es da, einen wachen Geist wir Reinhard Goebel über die Notwendigkeit des Wissens in der Musik reden zu hören, wie kürzlich im VAN-Magazin:

Für mich ist die Musik wie ein verschlüsseltes Bild, das man nach der Nomenklatur des 18. Jahrhunderts rückentwickeln kann. Sie können die Brandenburgischen Konzerte mit dem Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs vergleichen und Strukturen aufbauen. Was ist los, wenn wir ein Horn hören? Dann denken wir an Jagd. Was ist los, wenn wir eine Trompete hören? Dann denken wir an Fama. Was ist los, wenn wir Blockflöte hören? Dann denken wir an pastorale Güte. Was ist los, wenn wir Gamben und Bratschen hören? Dann denken wir an Trauermusik, dann denken wir ans Sterben. Das sind die objektivierbaren raisons d’être der Musik. Meine Student/innen müssen in der Lage sein, ein Stück aus sich heraus hermetisch abgeschlossen zu diskutieren: was zeigt ihnen die Partitur über die Manier des Spielens, wie ist die Beweisführung, wenn in Takt 16 das steht und in Takt 18 aber das? (…)

Diese junge Generation, die ist zum Teil so maßlos unbeschlagen, dass es schon fast wehtut. Es ist ihnen nie vorgemacht worden, etwas erklären zu müssen, außer sich selbst. „Ich will das so, also machen wir es jetzt so.“ So fängt das an. Die Selbstverliebtheit und Selbstvernarrtheit der Musiker. Und das ist ein völliges Fehlbild, was Komposition oder Kunst anbelangt, das muss ich jetzt sagen. Wenn man das nicht grundsätzlich gelernt hat, dann ist es unter Umständen später schwer, es nachzuholen. Deswegen versuche ich allen klarzumachen: suchen Sie sich irgendein Spezialgebiet, und sei es nur, weil Sie eine Meise haben. Wir brauchen ja irgendwelche Synapsen, Wachheit. Eine Studentin, eine große Virtuosin, kam einmal völlig entleert zu mir, „ich weiß nicht mehr, warum ich Musik mache, ich weiß nicht mehr wo vorne und hinten ist.“ Da habe ich gesagt, „nehmen Sie doch mal ein Buch zur Hand“. Und dann kam sie drei Tage später zurück und meinte, „das hat am Anfang so weh getan im Kopf.“ Da fiel mir ein, wie ich als Zehnjähriger meine ersten Lateinvokabeln lernen musste, irgendetwas zu lernen, wo wir keine Verbindung zu haben. Agricola, der Bauer, ara, der Altar, avia, die Großmutter, das hat so wehgetan, ich habe gebrüllt zu Hause. Bei meiner Studentin hat das dann aber total angeschlagen, heute gewinnt sie jeden Preis, kann Wissen mit Können verbinden, eine hinreißende Mischung, der kann man sich gar nicht entziehen, die spielt zehnmal so gut Geige wie der Goebel ever und hat Charme und eben Wissen!

Am schönsten Goebels Antwort auf die Frage, OB ES SCHADEN KÖNNE, ZU VIEL ZU WISSEN:

Das kann nicht sein, das Wissen ist doch die Quelle der Inspiration! Das ist atemberaubend. Im letzten Semester bin ich von Lexikon zu Lexikon gestiegen auf der Suche nach einer Erklärung eines Satzes, der gegen Johann Sebastian Bach ist. Es hat mich elementar glücklich gemacht, als ich sie gefunden habe. Das Wissen kann berauschen. Und das Mehr-Wissen berauscht noch mehr.

Quelle „Leute, ich weiß es immer noch am besten“. Ein Interview mit Reinhard Goebel. (Autor: Hartmut Welscher) in: VAN Magazin 2.3.2016 online nachzulesen HIER.